Birdy
Originaltitel: Birdy
Herstellungsland: USA
Erscheinungsjahr: 1984
Regie: Alan Parker
Darsteller: Matthew Modine, Nicolas Cage, John Harkins, Sandy Baron, Karen Young, Bruno Kirby, Nancy Fish, George Buck, Dolores Sage, Robert L. Ryan, James Santini, Maud Winchester
Zwei Jungdarsteller mit wenig Erfahrung liefern sich hier vor einem komplexen Parallelspiel zwischen zwei Erzählebenen ein Duell der Extraklasse, und das ist es wohl, was Alan Parkers Verfilmung von William Whartons erstem Roman “Birdy” ausmacht.
Die Metapher vom Vogel im Käfig und der Sehnsucht nach der Freiheit mag vielleicht etwas abgestanden sein und ordnet sich irgendwo neben dem weinenden Clown und den kartenspielenden Hunden ein. Tatsächlich übernimmt sie aber die totale Regentschaft und ist trotz ihrer geradezu platten Offensichtlichkeit ein wunderschöner, ständiger Begleiter über die vollen zwei Stunden - in einem Facettenreichtum, der es unmöglich macht, sie nicht zu akzeptieren.
Worum es geht, ist von vornherein klar: Die Freiheit, selbst über sein Schicksal zu entscheiden. Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zwängen soll vor dem Hintergrund des Krieges verdeutlicht werden. Der Roman beschrieb noch den Zweiten Weltkrieg, was für die Verfilmung auf den Vietnamkrieg geändert wurde. Es ist aber vollkommen irrelevant, welche Epoche dahintersteht. Im Grunde ist “Birdy” allenfalls indirekt ein Antikriegsfilm, denn Szenen eines solchen kommen höchstens drei- oder viermal vor; als sekundenlange Rückblenden.
Parker wendet sich von dem Spezifikum Krieg ab und strebt eine universellere Aussage an, für welche sich der Krieg lediglich als Exempel anbietet.
Mit Matthew Modine und Nicolas Cage stehen sich zwei junge Männer gegenüber, die zu diesem Zeitpunkt jeweils noch nicht in mehr als sechs Filmen mitgewirkt hatten. Sie dürfen den kompletten Film unter sich aufteilen; er gehört mit Haut und Haar ihnen allein.
Birdy (Modine) und sein Kumpel Al (Cage) symbolisieren zwei Möglichkeiten, auf die festgefahrene Institution der Gesellschaft zu reagieren: Man passt sich ihr an oder kapselt sich ab. Man betrachtet den gebotenen Raum als Feld von Möglichkeiten und Gelegenheiten oder als Gefängnis, das genau diese Möglichkeiten und Gelegenheiten eindämmt.
Es bleibt zwar ein wenig fraglich, aus welchem Grund diese beiden unterschiedlichen Typen zueinander gefunden haben - die Szene des Kennenlernens bleibt zu kurz und zu unpsychologisch - doch wenigstens später stellt Parker die tiefliegenden Gemeinsamkeiten zwischen Birdy und Al heraus, die durch eine oberflächliche Fassade von Albernheiten lange Zeit verdeckt wird. Natürlich ist Modines Figur diejenige, von der die Impulse ausgehen, da Cages Al sich komplett den Normen und Anforderungen an die ihm zugedachte gesellschaftliche Rolle hingibt. Dass dies bei ihm intuitiv geschieht, ist ein wichtiger Punkt, denn Al scheint trotz seiner Anpassung frei zu sein; weil er die Fesseln nicht spürt, kann er auch nicht eingesperrt sein. Im Gegensatz zu seinem Freund, der die gleichen Voraussetzungen - jung, männlich, der Arbeiterklasse entstammend - erfährt und sie doch anders empfindet, nämlich als Einschränkung.
Das komplexe Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Individuum wird in längeren Rückblenden erzählt, ausgehend von einer Gegenwart, in der Birdy in der Irrenanstalt sitzt und glaubt, er sei ein Vogel, während sein alter Freund alles tut, um den Vietnamkollegen aus seiner Lethargie zu befreien. Im Hier und Jetzt macht sich eine zunehmende Verzweiflung breit, als Al es nicht schafft, Birdy von seinem anormalen Verhalten zu loszureißen. Die stückhaften Erinnerungen wirken indes wie ein Countdown, der zwar gnadenlos die Zeit bis zum entscheidenden Ultimatum frisst, zugleich aber auch immer mehr Beweggründe entblättert. Analog zur zunehmenden Panik, Birdy könne für immer hinter den Gittern einer psychiatrischen Anstalt verschwinden, entfaltet sich so eine merkwürdige Zufriedenheit: Man beginnt langsam zu verstehen, was mit dem Jungen damals geschehen ist.
Alan Parker konfrontiert uns immer wieder mit Situationen, in welche die Freunde gleichermaßen geraten, die jedoch unterschiedliche Reaktionen zur Folge haben. Eine erbarmungslose Dualität durchzieht die Handlung: Der eine ist ein Weiberheld, der andere weiß mit ihnen nichts anzufangen. Was für den einen “prachtvolle Titten” sind, nennt der andere “hinderliches Drüsengewebe”. Al fürchtet einen gefährlichen Sturz seines Freundes von einem Häuserdach; Birdy hingegen vertraut auf seine Fähigkeit, fliegen zu können. Eine Realität wird auf zweierlei Art interpretiert.
Dabei kommt es nie darauf an, die Realität zugunsten eines besseren Lebens für Birdy zu biegen und die sozialen Strukturen in Frage zu stellen. “Birdy” will kein Plädoyer für einen revolutionären Umbruch sein, sondern er fordert mehr Verständnis für jene, die sich nicht der Norm anpassen wollen oder können. Es geht um Individualität und eine flexiblere, relative Handhabung des Systems.
Die Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Männern, anfangs durch die Tauben und den melancholischen Score ein wenig an John Woos Filme über Familie und Tradition erinnernd, gibt der Handlung ihre Bahn vor, sie sorgt dafür, dass sich die Wege der beiden nicht gabeln, sondern immer parallel laufen. Aus dieser Parallelität stellt Alan Parker allerdings nicht unbedingt eine gegenseitige Symbiose heraus: Birdy scheint von Al gar nichts mehr lernen zu müssen, er wirkt gelassen und erfüllt wie ein Zen-Meister. Die Motivation, sich Al anzuschließen, bleibt für ihn daher schleierhaft. Es ist vielmehr Al, der sich in seinem oberflächlicheren Leben eine tiefere Erkenntnis von Birdy erhofft. Nicht bewusst, aber nur durch ihn wird er erwachsen; nicht durch die Mädchen, mit denen er schläft, auch nicht durch den Krieg. Somit entwickelt sich überraschenderweise Nicolas Cage zur Identifikationsfigur, nicht etwa der Außenseiter.
Die Metaphorik ist allgegenwärtig und unverkennbar. Erstmals kommt in einem Film eine frei schwebende Kamera zum Einsatz, die an Drähten befestigt in einer furiosen Fahrt durch die Straßen der Stadt fliegt. Ein beeindruckendes, egoperspektivisches Bild, das Birdys träumerisches Gefühl der Freiheit aktiv vermitteln soll. Die Sehnsucht, die sich in Matthew Modines hervorragender Leistung spiegelt, sie wird hier mit einem Aufwand realisiert, den man in einem Antikriegsdrama vom visuellen Standpunkt aus gesehen nicht erwartet hätte.
Bilder von vergitterten Fenster, von Käfigen, gebrochenen Sonnenstrahlen oder diebisch durchs Haus schleichenden Katzen tun ihr Übriges, um dem Sinnbild Ausdrucksstärke zu verleihen. Aber auch die Tatsache, dass Al im Krieg physisch verletzt wurde, während Birdy einen psychischen Schaden davontrug, bleibt nicht ohne Aussage. Die Welt kann Al körperlich verletzen; geistig passt er sich pragmatisch der jeweiligen Situation an. Doch für Birdy könnte der Einberufungsbescheid der größere Schock sein als die tatsächliche Gefahrensituation im Krieg.
“Birdy” klingt von Natur aus klischeebehaftet und scheint im ersten Moment tatsächlich der manifestierte Kuckuck zu sein, der übers Nest fliegt, erzählt in einem ernst gemeinten Drama mit moralischer Aussage. Doch die Vogelmetapher weiß Alan Parker einfühlsam zu verarbeiten. Geboten wird eine unglaublich feinfühlige Charakterstudie mit einem differenzierten Standpunkt. Die vorgefestigten Erwartungen an einen Film über die Auswirkungen des Krieges werden auf positive Art gebrochen, indem vom Krieg selbst nicht einmal eine Minute zu sehen ist. Den Rhythmus bestimmen ein starker Nicolas Cage und ein noch stärkerer Matthew Modine in einer einseitig erscheinenden Kommunikation; doch tatsächlich ist hier der Kommunizierende derjenige, der nicht spricht. Die Erkenntnis kommt mit dem Schlussgong, und die Pointe kurz vor dem Abspann lässt den kompletten Film in einem anderen Licht erscheinen.
Bereits seit längerer Zeit gibt es eine DVD von Columbia mit 4 Sprachen, FSK 12 und uncut.
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