Kurzkommentar zu "Mord im Orient-Express" vom 15.07.2018:
Er bändige keine Löwen, entgegnet Hercule Poirot einer jungen Dame, die seinen Namen fälschlicherweise "Hercules" ausspricht - und präsentiert sich somit einer neuen Generation von Zuschauern als neu aufgefrischte Kamelle, die sich ihren Platz in der Unterhaltungskultur nach wie vor verdient hat, selbst wenn die zugehörigen Buchbände inzwischen vergilbt sind. Mit harten Bandagen kämpft "Mord im Orient-Express", einer der wohl klangvollsten Titel unter den Agatha-Christie-Romanen, gegen das Vergessenwerden seines Protagonisten an.
Dabei trägt der Eifer zur Modernisierung sichtbare Früchte. Alte Kulissen in ultramoderner Präsentation, das hat schon die Méliès-Hommage "Hugo Cabret" von Martin Scorsese zum Erfolg gemacht. Ein altmodisch eingerichteter Zug, der durch eine romantische Schneelandschaft braust, beschwört erst recht die Lust am klassischen Abenteuer. Dazu schillernde Kostüme (alleine dieser Mantel, den Johnny Depp stolzierend aufträgt) und ein satt aufgestellter Star-Cast - die Voraussetzungen stimmen.
Poirot selbst wird zunächst aus Beobachterperspektive in einem Prolog charakterisiert, der eigens zum Zwecke seiner Präsentation zurechtgeschnitten ist. Wer ihm dabei zusieht, wie er zwei Eier mit Auge und Löffel abmisst, soll erkennen, dass es ihm um das Gleichgewicht geht. Und um zu verhindern, dass jemand den Sinn für Ausgeglichenheit mit Empfindlichkeit oder peniblen Anwandlungen verwechseln könnte, lässt man ihn gleich noch in einen Kuhfladen treten - einmal aus Versehen, einmal mit voller Absicht. Die mit diesen Zutaten gestrickte Persönlichkeit treibt ihn an, der nach eigenem bescheidenen Ermessen beste Detektiv zu sein, den die Welt kennt, und prompt ist die deduktive Methodik der Roman- und Filmfigur dechiffriert. Ihr nimmt das natürlich ein wenig von ihrem Geheimnis, andererseits kichert Hauptdarsteller Kenneth Branagh beim Blättern in seinen Romanen genug herum, damit ihn immer noch etwas Geheimnisvolles und Unergründliches umweht.
Wie bei so vielen Filmen „auf Achse“ zehrt der rollende Tatort von dem besonderen Gefühl, dass die Ortschaft im permanenten Wandel begriffen ist, was nicht nur ein Gefühl von Freiheit beschert, sondern auch neue Möglichkeiten für die Entwicklungen des Falls eröffnet - nicht umsonst haben sich auch Mr. Moto, Sherlock Holmes & Co. des öfteren auf Reisen begeben. Die Cinematografie wirkt - wie eben auch bei "Hugo Cabret" - überstilisiert, aber durchaus eindrucksvoll; mit den Farben der Morgenröte und des Sonnenuntergangs wird gespielt wie auf einem Aquarell. Branagh ist unter seinem außergewöhnlich frisierten Backenbart charmant, bei seinen Mitfahrern befinden sich ebenso viele Paradiesvögel wie graue Mäuse, was einmal mehr auf ein Verwirrspiel in der Beantwortung des Whodunit hindeutet (lenkt der Paradiesvogel nicht immer ab und es ist am Ende die graue Maus?). Wenn man in der richtigen Stimmung ist, kann dieser Neuanstrich einer alten Krimi-Tapete durchaus Freude bereiten.
Als der Zug schließlich wegen einer Lawine entgleist, kippt die Stimmung ein wenig. Grundsätzlich ist es ein schöner Kniff, Poirot und seine Verdächtigen miteinander auf engem Raum zu versammeln, so wie man es mit Geschworenen in einem Beratungszimmer machen würde. Das Verdächtigen-Karussell dürfte sich aber gerne mit noch mehr Elan drehen. Bevor sich der Detektiv zu seinem finalen Plädoyer aufschwingt und auf eine durchaus ungewöhnliche Auflösung stößt, geht ein wenig der Drive verloren, vielleicht weil die Einzelfiguren nicht genug auf den Prüfstand gestellt werden. Nicht zuletzt ist es auch die Tatsache, dass der Stoff bereits zum vierten Mal verfilmt wird, mit der die Euphorie für den Poirot einer neuen Generation gedämpft wird.
Dennoch bietet "Mord im Orient-Express" ein unterhaltsames, wenn auch nicht allzu tiefschürfendes Abenteuer, das verständlicherweise auf exotische Fortsetzungen hofft, denn wo Schneelandschaften sind, da folgen meist auch Dschungelgebiete und Savannen. Ob es dazu kommt, bleibt in Anbetracht des mäßigen Echos von Kritik und Publikum fraglich.
