[CD] Le Grand Guignol - The Great Maddening

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Sir Jay
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[CD] Le Grand Guignol - The Great Maddening

Beitrag von Sir Jay » 19.09.2024, 22:40

Le Grand Guignol - The Great Maddening
Bild
Technische Daten
Vertrieb: Maddening Media (ALIVE)
Erscheinungsjahr: 2007
Laufzeit: 55:40 Min.

Besetzung
Ingo Merten (aka Might) - Bass
Patrick Damiani (aka Hagalaz) - Gitarre, Bass
Philip Breuer (aka Tyrann) - Vocals
Yves Blaschette (aka Berzerk) - Gitarre, Keyboard
Michel Spithoven (aka Boltthorn) - Drums

Bild

Tracklist
1. Circvs L
2. Degenesis (Amor & Seuche)
3. Dimension: Canvas
4. Mens Insana In Corpore Insano
5. Madness And Her Thousand Young
6. The Healing Process
7. Finis Coronat Opus
8. I, Who Brought Forth Myself
9. Alsuntia
10. Lucilinburhuc
11. In, Beyond Or Through

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Manchmal spült einem der Youtube Algorithmus etwas ans Ufer, von dem man niemals geglaubt hätte, dass es überhaupt existieren kann, schon gar nicht etwas, das eine so derartige Nachhaltigkeit entfaltet, wie dieses Schmuckstück hier, das mich seit knapp einem Jahr nicht mehr loslässt.

Ursprünglich 1996 in Luxemburg unter dem Namen Vindsval mit Anlehnung an nordische Mythologie gegründet, wagte die Band 2006 einen kreativen Neustart und nannte sich in “Le Grand Guignol” um. Beklagte die Band noch dass ihr ursprünglicher Name durch die sich schnell gewandelten Musikalischen Ambitionen womöglich falsche Erwartungen an Pagan- oder Folk-Metal schüren würde, wird der neue Name dem Charakter des Debütalbums “The Great Maddening” mehr als gerecht.

“Le Grand Guignol” - grob übersetzt “Großes Kaspertheater” - ist eigentlich die Gattungsbezeichnung für eine künstlerische Bewegung, die im 19. Jahrhundert in Paris aufkam und das Publikum mit noch nie zuvor gesehenen grotesken Darbietungen schockte.
Unheimliche entstellte Gestalten, verunstaltete Körper und andere Perversitäten gehörten zur Spezialität dieses Horrortheaters - und das alles stets unter dem euphemistischen Deckmantel eines "Kasperletheaters"...

Und “The Great Maddening” ist sozusagen die vertonte Metal Interpretation dieses Theaters.
Wenn man es nicht besser wüsste wird man dennoch mit dem Opener “Cirqvs L.” auf verblüffende Weise in Jahrmarkt-Stimmung gebracht, ehe die Blas- und Streichinstrumente nun auch von harten Gitarren begleitet werden, womit der Charakter des Albums bereits klar gesetzt ist. Das hier ist deutlich mehr als nur einfacher Metal.
Zwar verfolgt das Album keinen durchgehenden roten Faden - ist also kein klassisches Konzeptalbum - dennoch handeln die größtenteils in Englisch geschriebenen Texte meist von dem Streben nach dem Erreichen einer neuen Erkenntnisebene und den damit verbundenen Formen des Wahnsinns, was - nicht zuletzt auch wegen einiger in Latein eingestreuten Textfetzen - in gewissermaßen auch an Tools “Lateralus” erinnert, auch wenn die Lyrics hier mehr dem Duktus von Ritter Poesie entsprechen.

Doch obwohl die Texte manchmal Powermetaleske, ritterliche Vibes versprühen, wird bald klar, das hier noch völlig andere Eben angesteuert werden, denn stimmungstechnisch ist das hier eine wahrhaftige Achterbahnfahrt quer durch den Jahrmarkt, mit Zwischenstopps im Freakshowkabinett, in der Geisterbahn und im Opernhaus ehe man zwischenzeitlich schweißgebadet auf der Intensivstation aufwacht bevor es dann aber auch schon wieder weiter in die Irrenanstalt geht - gebaut in einem Dom gotischer Theatralik.
Hier trifft Glockenspiel auf Krächzgesang, die Violine auf Blast Beats, und weibliche Opernarien auf morbides Gelächter von durchgeknallten Horrorclowns.

Der Einfallsreichtum scheint hier gar keine Grenzen zu kennen und doch wirkt nichts davon willkürlich, sondern absolut wohlüberlegt. Der Sänger Philip Breuer betont selbst, dass jede Note und jedes Instrument mit Bedacht und Sorgfalt platziert sind. Die eindrucksvollste Demonstration dieser Akribie kulminiert am Ende des vierten Tracks “Mens Insana In Corpore Insano” (Ein verrückter Geist in einem verrückten Körper) - diese letzten 3 Minuten des knapp 8 minütigen Tracks sind mit musikalisch das beste, was mir in den letzten Jahrzehnten in die Ohren geflossen ist. Hier werden mit Elementen der klassischen Musik und dezentem Einsatz der E-Gitarre ein unfassbarer Stimmungsaufbau erzeugt durch beeindruckend präzise arrangierte Riffs und Percussion, dass man gar nicht mehr aus dem Staunen herauskommen möchte und als ob das noch nicht genug wäre wird mit unheilvollem Glockenspiel ein erneuter Stimmungswechsel angestimmt, der das kurz zuvor etablierte Thema in eine völlig abgedrehte Aufwärtsspirale feuert, ehe man in der bereits erwähnten Intensivstation aufwacht. Schnappatmung garantiert!

Eigentlich kann kein Wort die Ideen, die hier ausgearbeitet werden, würdig beschreiben, kein Superlativ kann den Ambitionen hier gerecht werden. “The Great Maddening” ist - um mal den oft unbedacht bemühten Begriff zu benutzen - ein wahrhaftiges Meisterwerk des über den Tellerrand hinausschauenden Metal. Hier und da wird die Band gerne mal mit den Etiketten des “Experimental”- oder “Symphonic Extreme” Metal beschrieben, doch ich als Progmetal-Liebhaber fühle mich hier absolut verstanden und empfinde dieses Album auch als absolute Frischzellenkur gerade im Vergleich zu den eigentlichen Platzhirschen des Genres, bei denen sich bei mir seit vielen Jahren eine gewisse Form von Übersättigung und Abnutzung einstellte (Looking at you Dream Theater and Opeth).

‘Le Grand Guignol” haben hier ein absolutes Kunststück - ich möchte gar von einem Wunder sprechen - vollbracht, viel Vertrautes in ein ein ungewöhnliches Gewand einzuweben, und dabei so treffsicher und souverän mit geradezu Undenkbarem zu beschmücken, dass kein Vergleich der Welt diesem widerspenstigen und doch erhabenem Ungetüm standhalten kann. Auch nach nun mittlerweile 17 vergangenen Jahren nicht.

Gerade in Anbetracht seiner Einzigartigkeit und der thematisch inhärenten Mystik wird die Unnahbarkeit dieses Albums erst durch die traurige Tatsache veredelt, dass es sich bei “The Great Maddening” auch um das einzige Album von “Le Grand Guignol” handelt, die sich schon bald unangekündigt auflösen sollte und deren Verbleib wie einer spurlosen Entführung gleicht. Recherchen im Netz führen zu diversen Interviews, die zwar ein sehr sympathisches und humorvolles Bild von Band Vocalist Philip Breuer zeichnen, aber allesamt aus dem Release Jahr 2007 stammen. Es existieren diverse Bandeinträge bei Metal Archives und co sowie eine brach liegende Myspace- und Facebook Präsenz, wobei letztere einige Postings alle paar Jahre aufweist, bis auch da seit 2019 nichts mehr passiert ist. Kontaktversuche anhand der Band E-Mails landen wohl im Äther.
Die schiere Unauffindbarkeit der Bandmitglieder sowie die die lediglich 333 verbuchten Monatlichen Hörer bei Spotify machen das Label “Geheimtipp” im Zusammenhang mit dieser Band zu einer frevelhaften Untertreibung. Obskurer geht es wirklich kaum und damit schimmert eine einzigartige Patina der Besonderheit über dieser Band, die die Magie irgendwie perfekt macht.

Naja fast, denn erweiterte Recherchen führten letztlich doch zu Lebenszeichen.
Das so ziemlich einzige Video auf Youtube, das sich der Besprechung dieser Band gewidmet hat, zog wohl auch die Aufmerksamkeit des Gitarristen Patrick Damiani auf sich, der prompt der auch kommentierte. Darauffolgend ergab sich auch zwischen mir und Patrick ein sehr freundlicher kleiner Austausch per E-Mail, der Aufschluss über die Auflösung und die weiteren Lebenspfade der Bandmitglieder gab.

Drummer Michel Spithoven hat zwei Bands (Abstract Rapture und Count Wizzard)
Sänger Philip Breuerhat eine Band (Corrosive Agent)
Er hat ein Tonstudio (Tidalwave Studio) und in unzähligen Projekten mitgewirkt…

Auch wenn durch diese Durchbrechung der Fan-Künstler Mauer die eingangs von mir hervorgehobene mystische Aura sich ein Stück weit auflöst, ist es dennoch schön zu sehen, das hinter einem solchen monströsen Werk keineswegs verschrobene Exzentriker stecken, sondern normale, coole Dudes, die schlicht und einfach weitergezogen sind und sich nun über solch unverhofft späte Nachzügler wie mich wundern dürfen.
Ich bin glücklich!
:liquid10:

Einige Interviews:
https://www.amboss-mag.de/interviews/ar ... ignol.html
https://www.metal.de/interviews/le-grand-guignol-36635/

Andere Reviews
https://www.progarchives.com/artist.asp?id=3846
https://www.metal.de/reviews/le-grand-g ... ning-8583/


Ich habe mir natürlich im Anschluss auch einen physischen Datenträger besorgt, der mittlerweile aber auch so einige Ocken kostet.

Hier hat aber alles angefangen, danke Youtube :)

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Re: [CD] Le Grand Guignol - The Great Maddening

Beitrag von Vince » 22.09.2024, 18:23

Schöne Kritik. Das meine ist die Platte nicht so ganz, muss ich leider sagen, aber stimmungstechnisch erinnerte es mich zeitweise doch ein bisschen an eine Band, die ich sehr mag, auch wenn die eigentlich ganz andere Musik macht: Major Parkinson. Falls noch nicht bekannt, kannst du da vielleicht auch mal reinhören. Wie gesagt, komplett andere Musik, aber ähnlich avantgardistisch im Ausdruck wie dieses Album hier.

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Re: [CD] Le Grand Guignol - The Great Maddening

Beitrag von Sir Jay » 23.09.2024, 14:14

ich glaube das ist genau das Problem mit dem Avantardismus. Der ist so schwer definierbar, dass es in dem Bereich echt nur Hit und Miss gibt.
Anderes aus dem Bereich kann mir genauso mal gerne tierisch auf den Keks gehen, hier jedoch wurde für mich alles genau so richtig abgestimmt, dass es Klick gemacht hat :) Von daher will ichs gerne auch mal mit Major Parkinson probieren.

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