[CD] Ayreon - The Human Equation

Eindrücke, Klangchecks aktueller aber auch älterer Scheiben im Review. Dazu Musik DVDs und Konzertberichte.

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Vince
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[CD] Ayreon - The Human Equation

Beitrag von Vince » 14.07.2007, 00:30

Ayreon
The Human Equation (2004)

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Technische Daten
Vertrieb: InsideOut
Laufzeit: 102:04 Min.
Anzahl der Tracks: 20
Extras: Keine
Booklet: 24 Seiten
Verpackung: Jewelcase

Tracklist

CD 1:
1. Day One: Vigil – 1:33
2. Day Two: Isolation – 8:42
3. Day Three: Pain – 4:58
4. Day Four: Mystery – 5:37
5. Day Five: Voices – 7:09
6. Day Six: Childhood – 5:05
7. Day Seven: Hope – 2:47
8. Day Eight: School – 4:22
9. Day Nine: Playground – 2:15
10. Day Ten: Memories – 3:57
11. Day Eleven: Love – 4:18

CD 2:
12. Day Twelve: Trauma – 8:59
13. Day Thirteen: Sign – 4:47
14. Day Fourteen: Pride – 4:42
15. Day Fifteen: Betrayal – 5:24
16. Day Sixteen: Loser – 4:46
17. Day Seventeen: Accident – 5:42
18. Day Eighteen: Realization – 4:31
19. Day Nineteen: Disclosure – 4:42
20. Day Twenty: Confrontation – 7:03

Kritik
Was für ein außergewöhnliches Konzept die Band des Niederländers Arjen Lucassen verfolgt und wie es sich über alle bisher erschienenen Alben erstreckt, kann man im Grunde in einem Roman abhandeln; den hier gegebenen Rahmen würde es definitiv sprengen. Nur so viel: Das Debüt “The Final Experiment” beginnt im 21. Jahrhundert, wo die Zerstörung der Erde bevorsteht. Ayreon, ein im Mittelalter lebender Minnesänger, empfängt Visionen von jenem bevorstehenden Schrecken und soll nun die Welt ändern...
Das Ganze trug teilweise absonderliche Früchte, über das hochgelobte “Into the Electric Castle” bis zum futuristischen Doppelpack “The Universal Migrator 1 & 2" erstreckt sich eine universelle Geschichte, die fast zu größenwahnsinnig erscheint für jede Form von Kunst. Aber Lucassen bemüht sich nach Kräften, dem Bombast mit seiner Kunst gerecht zu werden. Seine Ideen klammert er an Gastmusiker, die seines Ermessens gut ins Konzept passen, schneidert die Texte und Melodien nach Zusage den Gästen maß und bringt so jedes Mal ein urgewaltiges Ensemblestück auf den Markt, ein bombastisch arrangiertes Gemisch aus Heavy- und Progressive Metal mit Einflüssen aus dem Elektronik- und Folklorebereich. Und man muss schon ein wenig Faible für Orchester-Feeling und Theatralik haben, um damit klar zu kommen.

Mir fehlt dieses Faible ganz entschieden und doch muss ich anerkennen, dass Lucassens 2004er-Arbeit ein ganz großes Stück Musik ist. Es mag mir in die Karten spielen, dass die Geschichte von “The Human Equation” die bodenständigste überhaupt ist im Oeuvre des Niederländers: Es geht um einen Mann, der nach einem Autounfall im Koma liegt und im Unterbewusstsein mit seinen inneren Stimmen kämpft, während Ehefrau und bester Freund am Krankenbett wachen und den geliebten Menschen bei seinem Tanz auf dem Drahtseilakt zwischen Leben und Tod begleiten.

Die Garde an Mitwirkenden liest sich wie das Who is Who der aktuellen Progszene: Da geben sich Herren wie James LaBrie (Dream Theater; als “Me”) und Mikael Akerfeldt (Opeth; als “Fear”) mit Devon Graves (Psychotic Waltz; als “Agony”) und Devin Townsend (Strapping Young Lad; als “Rage”) die Klinke in die Hand. Das alleine dürfte schon jeden Genrefreund ins Verzücken setzen. Und dann werden noch Neuentdeckungen wie Marcela Bovio (als “Wife”) gefeatured, die sich als nicht weniger als brillant herausstellen und unter dem Strich die wahre Entdeckung des Albums sind.

Das Konzept verspricht nicht nur viel, es hält vorerst auch alles: Die Vorstellung, die fragile Stimme Akerfeldts als “Fear” zu vernehmen, oder Devin Townsend als “Rage” durch die Songs wüten zu hören, könnte perfekter nicht sein. Die Musiker werden durch die Bank den hohen Erwartungen gerecht - auch gerade der nicht immer unumstrittene LaBrie singt seinen Kritikern ein saftiges “Fuck You” ins Gesicht - die “Hauptrolle” trägt er souverän.

Das für mich unvereinbare Element liegt ausgerechnet im Essentiellen dieses Albums - wann immer die Figuren miteinander in Kontakt treten, entsteht Rollengesang und der wird in meinen Ohren immer etwas Artifizielles an sich haben. Die teils deutlichen Zugeständnisse an Elemente aus der Folklore wirken diesbezüglich wie ein Katalysator, glaubt man unter dem Einsatz von Synthesizern, Geige und Flötenspiel bald ein mittelalterliches Theaterstück aufgeführt zu bekommen. Lässt man sich auf “The Human Equation” ein, muss man diesen Umstand unbedingt berücksichtigen.

Auch die Geschichte selbst ist auf den zweiten Blick nicht ganz so ausgefuchst wie man sich das vielleicht erwartet. Die Figuren lamentieren eben in einer ordinären Alltagssprache ihrem Wesen gemäß. Der “Stolz” verhält sich eben protektionistisch, um jeden Kratzer vom Selbstbild abzuwehren, die “Angst” wechselt zwischen wimmernder Zurückhaltung und bedrohlichem Growling und die “Wut” gibt voll auf die Zwölf, während das “Ich” nurmehr voller Fragen ist und seine Gefühle löchert. So darf die These gewagt werden, dass das Werk seine Anzugskraft weniger aus dem inhaltlichen Konzept bezieht, sondern vielmehr aufgrund seiner Rollenbesetzung und vor allem seiner abwechslungsreichen Melodik, die durchsetzt ist mit musikalischen Einflüssen aus allen Richtungen. Orgellastige 60er-Jahre-Psychedelics wechseln sich ab mit klassisch-melodischen Balladen, typisch progressiver Frickelei, Townsend’schen Bombast-Metal-Konstruktionen, brachialem Heavy Metal und mittelalterlicher Folklore. Jeder Song ein Tag, 20 Tage insgesamt an der Zahl, aufgeteilt auf zwei Datenträger, und jeder Tag hat ein anderes Gesicht. Herausragend auf der ersten Seite die melodischen und eingängigen “Day Two: Isolation”, “Day Four: Mystery” und “Day Eleven: Love”. Auf der zweiten Seite “Day Twelve: Trauma”, “Day Fourteen: Pride” und “Day Seventeen: Accident”.

Mit einem Durchgang ist es nicht getan; die Geschichte an sich hat man zwar ebenso schnell verinnerlicht wie die eines Kinofilmes - eben nach dem ersten Mal. Der musikalische Anspruch geht aber freilich darüber hinaus. Gegenüber Konzeptalben wie denen von “Coheed and Cambria” oder “The Mars Volta” fehlt es - ganz bewusst - an mystischer Verschachtelung und Kodierung, die den Inhalt dem technischen Anspruch der Musik ebenbürtig macht. Folglich hat man eben den Inhalt viel schneller erschlossen und der Effekt ist der, dass jener Inhalt zu schillern beginnt wie das Federkleid eines Pfaus - mit jedem neuen Durchgang bleibt zwar die gleiche Geschichte, sie erscheint aber in einem neuen Licht.

So bleibt ein gewöhnungsbedürftiges wie eigenwilliges Konzeptalbum, dem man - daran besteht kein Zweifel - den Status eines Meisterwerkes zusprechen kann. Dazu muss man aber zum einen mit der Künstlichkeit der gesungenen Dialoge klarkommen, zum anderen über die Einfachheit in der Qualität der Dialoge hinwegsehen; Lucassen (der nur wenigen Auserwählten wie Devin Townsend Einfluss auf die Textgestaltung gewährt hat) wird sich beim Schreiben wohl kein Bein ausgerissen haben. Das sind beides Kritikpunkte, die vom Künstler in vollem Bewusstsein geduldet werden konnten und genau deswegen KANN man das Album als makellos betrachten. Zumal die Besetzung, inklusive der fantastischen Marcela Bovio, ein Traum ist. Das liegt aber letztendlich alles im Ohr des Belauschers.
:liquid7:

Extras
In der vorliegenden Ausgabe als normales 2-Disc-Set gibt es keine Extras. Allerdings wurde “The Human Equation” noch in zwei weiteren Versionen veröffentlicht. Einmal als Special Edition mit zusätzlicher DVD und einmal als Limited Edition, die neben der DVD noch als Buchausgabe erscheint.
:liquid0:

Artdesign
Das Artdesign von Jef Bertels hat das seine dazu beigetragen, dass ich mich schließlich auf den Kauf eingelassen habe. Beeindruckendes Artwork, das je nach Größe unterschiedlich wirkt. In solchen Fällen wünscht man sich wirklich wieder Vinyl zurück, damit man alles in ganzer Pracht bestaunen kann. Das Cover der normalen CD ist übrigens nur ein Detailschnitt; das Gesamtwerk (das wiederum einen ganz anderen Eindruck macht) kann man auf der Innenseite des Booklets begutachten; oder man greift zur angesprochenen Buchausgabe des Albums im Hochformat.
:liquid9:

Fazit
Viele Stars, viel Musik, machmal für wenig Geld. Da muss man ein bisschen auf den Kurs achten. Wer mit gesungenen Dialogen und ein klein wenig Folklore klarkommt, darf ruhig mal reinschnuppern; alleine der Besetzung ist man das ja fast schon schuldig.

Testequipment
AIWA NSX-SZ315

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Frances TM
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Beitrag von Frances TM » 14.07.2007, 11:22

Öhm, ja... erstmal wieder sprachlos.^^ Ich wollte die Review eigentlich nur mal anchecken und hab sie dann doch in einem Rutsch durchgelesen. Hast eben einen tollen Schreibstil. :D
Auch deine Review-Auswahl find ich top. Ayreon wäre ansonsten wohl spurlos an mir vorbeigegangen. Dabei sind Konzeptalben imo die höchste Form des Songwritings. Schön immer wieder Künstler zu entdecken, die diese Art von Ausdruck wählen.

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Beitrag von jack warrior » 14.07.2007, 12:01

Vince gute Arbeit. War ja selbst schon am überlegen dazu ne Review zu schreiben, aber bin momentan an Killing is my business dran.
Aber: ich seh die Cd eventeull nen Ticken besser, müsste sie mal wieder hören. Realization finde ich zb mega genial, mit dicken anleihen an Jethro Tull. Aber wie gesagt müsste sie mal wieder hören.

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Beitrag von Vince » 14.07.2007, 14:41

Frances TM hat geschrieben:Öhm, ja... erstmal wieder sprachlos.^^ Ich wollte die Review eigentlich nur mal anchecken und hab sie dann doch in einem Rutsch durchgelesen. Hast eben einen tollen Schreibstil. :D
Also ein größeres Kompliment geht ja kaum. Oller Schmeichler. :wink:
Danke euch beiden!

Jethro Tull ist auch nicht so das meine, Flöte und ich sind noch net so gute Freunde geworden. ;)

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Beitrag von Sir Jay » 25.09.2012, 11:46

habe mich jetzt mal die letzte woche etwas intensiver mit dem Album beschäftigt und muss zugeben, dass es der elektrischen Burg in nichts nach steht; hier und da sogar noch ein wenig mehr brillieren kann, aber auch so einige kleine Durststrecken hat.

Gerne hätte ich dir jetzt deine 7/10 um die Ohren gehauen aber in der Kritik hast du ja adäquat zum Ausdruck gebracht, dass es mehr deine persönlichen Präferenzen sind, die dich am uneingeschränkten Genuss hindern. ;)

Ich finde es großartig und komme auch hier mit den wenigen Growl und Krächz passagen gut zurecht. Überhaupt hat Lucassen ein erstaunlich gutes Gespür solche Extrema gekonnt zusammen zu bringen (gut da werden mir jetzt dieter bohlen hörer vielleicht widersprechen, doch deren meinung ist ohnehin nicht ernst zu nehmen :lol: ). Wie hier von Rock zu Metal und wieder zurückgeführt wird, dass kann auf einem ähnlich hohen Niveau eigentlich nur noch STeven Wilson.

Ich werde jedenfalls langsam zum Ayreon Fan und werde mir als nächstes die Scheibe mit Bruce Dickinson als Gastsänger zu Gemüte führen 8-)

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