Stephen-King-Verfilmungen sind sehr oft Kopfsache, weil sie es normalerweise mit einer Vorlage zu tun haben, die hauptsächlich Stimmungen und Bewusstseinsströme abbildet, weniger Tatsachenbeobachtungen. Das gilt für das Gedankenspiel "Gerald's Game" um so mehr. Ähnlich wie bei "Rose Madder", "Tommyknockers" oder "Das Mädchen" steigt der 90er-Jahre-King eben gerne vollständig in die Wahrnehmung der zumeist weiblichen Hauptfigur und lässt die Umgebung zu einem surrealen Alptraum zerfließen. In diesem Fall ist jener ausgestattet mit der Kulisse eines Ferienhauses. Das Schlafzimmer, in dem eigentlich die Ehe gerettet werden sollte, wird zu einem Höllenkäfig. In ihm muss die Protagonistin aufgrund ihrer unglücklichen Situation über unzählige Stunden verweilen, ungehört und von der Welt vergessen, mit Schmerzen an den Handgelenken und verdurstend, während sie bei wechselnden Lichtverhältnissen langsam ins Delirium driftet und Gestalten wahrzunehmen beginnt.
Obwohl Studios in regelmäßigen Abständen wie die Fliegen über Kings Büchertürme herfallen (aktuell durchlaufen wir ja wieder eine Hochkonjunktur), machen sie wohlweislich einen großen Bogen um derartige Werke, die sich als so inkompatibel zum Medium Film entpuppen. Wer es dennoch versucht, scheitert mit grobschlächtigen Konkretisierungen des Unverfilmbaren (wie zuletzt "Big Driver"). Glücklicherweise hat Mike Flanagan nicht nur seine Sensibilität als Regisseur psychologischer Horrorfilme mehrfach bewiesen, sondern verfügt auch noch über einen persönlichen Bezug zum 1992er Roman, handelt es sich doch um sein liebstes Werk des Autors. Und so ehrt er es mit einem brillant geschnittenen und gespielten Zwitterwerk, das seine wahre Natur irgendwo im Zwielicht von stillem Ausdauer-Horror und Missbrauchsdrama verbirgt.
Während die gefesselte Ehefrau also hilflos auf dem Bett liegt, bleibt ihr viel Zeit, welche sie nur zum Teil mit Befreiungsversuchen verbringt. Oft flüchtet sie auch in ihr Unterbewusstsein und unternimmt dort Ausflüge in die Erinnerung, die Flanagan mit dem romantischen Orangerot einer Sonnenfinsternis ausschmückt. Natürlich ergeben sich bald schon Parallelen zwischen den vergangenen Erlebnissen (die verstörend wirken, weil sie weich und fast schon unschuldig dargestellt werden) und der aktuellen Situation der Frau; zwischen den Geschehnissen, die ihr als Kind zustießen und jenen, für die sie sich als Erwachsene entschied. Nachfolgend setzt der Regisseur viel daran, diese Ebenen miteinander zu verknüpfen, wenngleich er vor bedeutsamen Allegorien (streunender Hund) ebenso wenig zurückschreckt wie vor therapeutischen Rollenspielen. Ein großer Teil der Laufzeit ist als Dialog angelegt, der sich zwischen der Frau, ihrem selbstbewussten Alter Ego und einer immer noch sehr redseligen Illusion ihres inzwischen toten Mannes abspielt. Die Konventionen des Horrorfilms haben uns darauf geeicht, dass den letzteren beiden Gestalten nicht zu trauen ist, weil sie höchstwahrscheinlich ein falsches Spiel spielen. Doch Flanagan verwendet sie auf eine völlig andere Weise: Wie ein äußerst praktisch veranlagtes Psychiater-Paar nämlich, das seiner Patientin nicht nur einen Ausweg aus der emotionalen Krise vorschlägt, sondern ihr auch gleich noch eine Lektion in Sachen Survival-Grundlagen verpasst.
So kommt es immer wieder zu geschickt arrangierten Überblendungen zwischen Wahnvorstellungen und Realität, bei denen man das arbeitende Gehirn der unglücklich Gefangenen regelrecht vor sich pulsieren sehen kann. Horrorszenen in Form merkwürdiger Kreaturen aus dem Schatten spielen natürlich auch eine Rolle, drängen sich aber nicht mit Krawall in den Vordergrund, sondern rücken Schritt für Schritt vor, sozusagen im Gleichschritt mit der untergehenden Sonne, so dass die Furcht vor der nächsten Nacht viel Raum zur Entfaltung bekommt. Daran haben auch die Newton Brothers ihren Anteil, verwenden sie doch als musikalisches Leitmotiv hauptsächlich eine mit Grillenzirpen untersetzte Stille, was hervorragend zur sommerlichen Getragenheit passt, mit der vor dem Fenster die Sträucher im Wind sanft bewegt werden.
Natürlich ist bei einem solchen Szenario von einer schauspielerischen One-Woman-Show auszugehen. Carla Gugino nutzt die Bühne und beweist sich (genau wie kurz im Anschluss in „Spuk in Hill House“ - wieder unter Flanagan) als Darstellerin, die nicht nur in Support-Rollen überzeugt, sondern absolut dazu in der Lage ist, einen Film fast alleine zu tragen. Nicht bloß entspricht sie dem sanften Charakter des Films, tatsächlich prägt sie ihn. Wobei es auch ihr nicht ganz gelingen will, dass man darüber hinwegsieht, wie wenig sie vor allem anfangs in Bezug auf rohe Gewalt unternimmt, um ihrer misslichen Lage zu entkommen. Es bleibt zumindest offen, ob so ein Bettpfosten wirklich stark genug ist, um sich gegen eine verzweifelte Frau in lebensbedrohlicher Situation zu behaupten...
Es gibt aber guten Grund dafür, auf weichen Suspense zu setzen, denn "Gerald's Game" ist kein Terrorfilm, in dem es einfach ums nackte Überleben ginge, sondern eine meditative Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. In dieser Hinsicht pflegt Flanagan den einzig sinnvollen Umgang mit der Vorlage. Seiner vorsichtigen, abtastenden Regie ist es nicht zuletzt zu verdanken, dass die Verknüpfung zwischen den schmerzhaften Kindheitserinnerungen und der akuten Notfallsituation überhaupt funktioniert und die Metaphorik im Mondlicht ihre Wirkung entfalten kann.
Einen Dämpfer muss man trotzdem noch hinnehmen: Mit dem frei zur Vorlage gedichteten Epilog wird unnötigerweise die diffuse Linie zwischen Realität und Wahnvorstellung wieder scharf gestellt und die bis dahin gefahrene mystische Linie somit aufs Abstellgleis geschoben. Das ist schade, denn als Wandler zwischen den Welten reicht Mike Flanagan an die ideale Verfilmung von „Gerald's Game“ so nah heran wie nur möglich.