Vince hat geschrieben: ↑11.02.2019, 18:05
Für mich selbst beantworte ich die Frage nach dem besten Film des vergangenen Jahres schon mal mit "ja".
Ich beantworte sie für mich selbst mit "nein". Ich kann den Hype nicht ganz nachvollziehen. "Hereditary" ist ein guter Genrefilm, aber mir die Wurst vom Teller gezogen hat er jetzt auch nicht.
Dieser Text, auch wenn er "Hereditary" davon abgrenzt, nutzt den Begriff "Studentenhorror" und der passt eigentlich gut - mit genau dieser Art von Film habe ich ein Problem, obwohl ich die Vertreter dieser Richtung eigentlich alle gut, aber eben nicht überragend fand. Alle ziehen mit so viel Mühe eine zweite Ebene ein, sei es Fremdeln mit dem eigenen Kind ("The Babadook"), Rassismus ("Get Out"), sexuell übertragbare Krankheiten ("It Follows") oder hier eben den Umgang mit Verlust, dass sie anscheinend keine Energie mehr für den Horrorpart haben. Gibt da zwar immer ein paar gruselige Stellen, aber nachhaltig verunsichert oder zumindest kurzfristig auf Habachtstellung bin ich da nicht. Man mag die James-Wan-Geisterbahnen mit dem Modewort Jump Scares schmähen - oft funktionieren die für mich aber besser (und sind auch nicht unbedingt hintergrundlos - bei der Zweitsichtung von "Insidious" ist mir aufgefallen wie viel es da um die Überforderung einer jungen Familie geht). Auch sonst fallen mir zahlreiche Werke ein, die Subtext und effektiven Horror besser zusammenbekommen haben (z.B. "Poltergeist", "Candyman" oder "The Descent").
Aber zurück zu "Hereditary": Ob es daran lag, dass Sascha Westphal der Ansicht war, dass man
einen Text über das neue Horrorkino nicht ohne das Spoilern des Endes von "Hereditary" schreiben kann und ich es daher schon vor der Sichtung kannte, daran, dass ein Vorbild
exzessiv von Kritikern und Marketing erwähnt wurde oder daran, dass der Film sehr offensichtlich ist, weiß ich nicht. Aber das Ende war mir schon bald klar (nicht zuletzt wegen des epd-film-Textes) und hat daher keinen Wow-Effekt gehabt, aber Filme, die nur einmalig mögliche Überraschungen bauen, sind ja eh nur Taschenspielertricks. Da hat "Hereditary" mehr zu bieten, wenn er in Hälfte eins als fast reinrassiges Drama funktioniert, sich aber auch durchaus krude Dinge zutraut - etwa wie im Review erwähnte Szene, bei der man denkt "Ist gerade wirklich das passiert, von dem ich denke, dass es passiert ist?" und mehrere Minuten auf die Bestätigung warten muss. Die Darsteller sind super, von Collette als gestresster bis hysterischer Mutter über Byrne als Identifikationsfigur bis hin zu den hervorragend gecasteten Jungdarstellern. Hälfte zwei steigert dann die unheimliche, übersinnliche Komponente, verknüpft Geisterhaftes mit familiären Abgründen und lässt den Zuschauer raten, was nun Einbildung, was Spuk und was die Wiederkehr familiärer Dispute ist. Doch es könnte irgendwie gruseliger sein und wenn das Finale dann zum Budenzauber wird, dann wirkt das wie ein Stilbruch, ebenso wie die Auflösung, die sich vom Hauptthema etwas wegbewegt
von der Verlustangst zum familiär geprägten Erbfluch inklusive Teufelsanbetern
. Manches im Finale ist immer noch schön gruselig
(die Leute auf dem Dachboden)
, manches immerhin erfrischender Quatsch
(die hysterisch an der Decke hängende und den Kopf gegen die Dachbodentür hämmernde Mutti)
, aber Stilbruch bleibt Stilbruch. Wie gesagt: Durchaus ein gelungener Genrefilm, ambitioniert, atmosphärisch und stark besetzt, aber auch nicht ohne Schwächen.

Jimmy Dix: "Du glaubst wohl nicht an die Liebe?" - Joe Hallenbeck: "Doch ich glaube an die Liebe. Ich glaube auch an Krebs." [Last Boy Scout]
Perry Van Shrike: "Look up 'idiot' in the dictionary. You know what you'll find?" - Harry Lockhart: "A picture of me?" - Perry Van Shrike: "No! The definition of the word idiot, cause that is what you fucking are!" [Kiss Kiss, Bang Bang]