Filmtagebuch: Wallnuss
Moderator: SFI
Mein Jahresranking: 2020 von schlecht bis toll
Da ich eh nichts Besseres zu tun habe, ranke ich die Filme mal, die ich dieses Jahr erstmals gesehen habe und die auch tatsächlich (zumindest in Deutschland) 2020 erschienen sind:
36. Artemis Fowl (Kenneth Branagh)
Einer der grässlichsten Filme des Jahres hat sich vor einem öffentlichen Debakel gerettet, in dem er einfach bei Disney+ erschienen ist, statt sein hässliches Gesicht auch noch im Kino zu zeigen. Die Umsetzung der Romanreihe, die es literarisch locker mit "Harry Potter" und Konsorten aufnehmen kann, ist ein Albtraum. Artemis wird im Film zum unsympathischen, neunmalklugen Rotzbengel, in einer Story, die so wenig zu erzählen hat wie sie bieder inszeniert ist. Aus einer an sich vielversprechenden Mischung aus Sci-Fi und Fantasy wird hier eine austauschbare CGI-Orgie mit dummen Elfen, die noch dümmere Laserwaffen einsetzen und generischen, reizlosen Wortmüll von sich geben. Humoristisch gemeinter Höhepunkt dieses filmgewordenen Auffahrunfalls: Ein Moment, als der mürrische Erzähler einen ahnungslosen Passanten anfurzt. Niveaulimbo: Der Film!
35. The New Mutants (Josh Boone)
- Ewig verschoben ist das "X-Men"-Spinoff nun erschienen. Endlich? Wohl kaum. Der Mix aus "The Breakfast Club", "Glass" und "A Cure for Wellness" ist größtenteils inkompetentes Filmemachen, und gelingt nicht mal als harmloser Horrorspaß für Teenager. Die durch die Bank tolle Besetzung wird in eindimensionalen Rollen verheizt und darf einen sinnentleerten Dialog nach dem anderen sprechen. Furchtbar dumm: Nach einer Minimalhandlung mit Schockmomenten aus der Rummelplatz-Geisterbahn wird ein ödes CGI-Massaker ans Ende gestellt, welches in seinen grotesken Ausartungen auch noch metaphorisch gemeint ist – und das in so einem bierernsten, langweiligen Durcheinander.
34. The Old Guard (Gina Prince-Bythewood)
- Der Actionfilm mit Charlize Theron von Netflix fühlt sich wie der Pilotfilm für eine Serie an, die nie bestellt werden wird. Gott sei Dank, muss ich hinzufügen. Das lausige Script um unsterbliche Söldner (die sich letztlich als Abklatsch einer Superheldentruppe herausstellen) ist mit wenig Mühe zusammengeschustert worden und hat kein Interesse an Charakterzeichnung oder einem vernünftigen Worldbuilding. Insgesamt dürfte der Film mehr Kopfschüsse in Gefechten verzeichnen als Dialogzeilen. Ein trauriges Resümee für einen Fantasy-Actioner, der ausgerechnet in den Fantasy- und Actionmomenten nichts Originelles zu bieten hat. Größtes Ärgernis: Das krude, unrhythmische Editing.
33. Die fantastische Reise des Dr. Doolittle (Stephen Gaghan)
- Eine Verschwendung von Geld & Lebenszeit. Robert Downey Jr. kaspert sich einen als die bekannte Buchfigur, die hier anders als zuletzt in den Eddie-Murphy-Vehikeln wieder näher an ihre Ursprünge zurückgeführt wird, aber genauso albern bleibt. Der furchtbar künstlich getrickste Kinderfilm hat keine interessante Botschaft, eine vollständige Abwesenheit liebenswerter Charaktere und ganz besonders schlimm: Er ist fürchterlich unwitzig. Das große Finale besteht aus einem ausgedehnten Furz- und Fäkalienwitz, merkwürdige Anspielungen an "Der Pate" sind tonal dermaßen daneben, dass meine Hand regelmäßig mit Wucht die Stirn gesucht hat. Ein Schuss in den Ofen, leider, und das mit Ansage.
32. Bill & Ted Face the Music (Dean Parisot)
Die Kultdilogie aus den späten 80ern / frühen 90ern für einen Neuaufguss zurückzuholen ist stellvertretend für die Einfallslosigkeit im Hollywood-Sektor: Lieber Altes aufwärmen als Neues erdenken. Doof nur, wenn dieses alte Material so sehr in seine Zeit eingebunden war, dass es 2020 nur noch wie infantile, altmodische Selbstparodie wirkt. Dermaßen einfalls- und witzlos hätte die Rückkehr von Bill & Ted aber dann auch wieder nicht ausfallen müssen. Aber: So sieht ein Film eben aus, wenn es ihn gar nicht geben sollte. Wären Keanu Reeves und Alex Winter nicht, man könnte diese schon in wenigen Monaten für immer vergessene, unnötige Mikrowellen-Ware getrost vergessen, doch das Duo hat so viel Spaß dabei, sich wieder als Kindsköpfe zu präsentieren, dass sie in wenigen Momenten doch ansteckend sind.
31. Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga (David Dobkin)
Wohlfühl-Kino, bzw. Wohlfühl-Streaming, immerhin ist die ESC-Verfilmung direkt bei Netflix gelaufen. Als Alternative zum dieses Jahr ausgefallenen Show-Event mag der Film seinen Job erfüllt haben, eigentlich ist er aber eine konzeptionelle Mogel-Packung. Der Humor ergibt sich so gut wie nie aus dem ESC, aus seinem Ruf, aus seinen Abläufen oder seinen Traditionen. Es entpuppt sich letztlich als das x-te Will-Ferrell-Vehikel, welches zufällig vor der Kulisse der europäischen Musikveranstaltung stattfindet. Mehr will die Komödie, die nebenbei noch Stars wie Pierce Brosnan oder Rachel McAdams an Bord hat, zugegeben aber nicht sein. Auf keine Kuhhaut gehen dafür fast sämtliche Songs und die nervig-erzwungenen Gastauftritte von ESC-"Ikonen" wie Conchita Wurst, Alexander Rybak oder Netta.
30. Tyler Rake: Extraction (Sam Hargrave)
Ultrabrutale Endlos-Action. Klingt gut? Nun: Für Action-Puristen ist das Netflix-Original mit Chris Hemsworth sicher eine Ausnahmeerscheinung in 2020, der die Härte vergangener Tage beschwört und eine furios geschnittene Ballerszene an die nächste reiht. Wer jetzt nach dem Plot fragt, für den gibt es keine Antwort: Eine Geschichte erzählt dieser Film nur notdürftig, lieber reiht er stumpfe, unendlich lange Tötungsszenen aneinander. Das ist filmisch nicht schlecht gemacht (eine äußerst aufwendige Szene, die als One-Shot konzipiert ist, sticht heraus), langweilt aber, weil die gewaltverherrlichende Tötungsorgie so stupide und substanzlos wie die letzten "John Wick"-Filme ausfällt. Handwerklich sind sie denen und eigentlich der gesamten Genre-Konkurrenz wenigstens deutlich überlegen. Der überflüssige Fortsetzungs-Köder ist dann bei einem Film ohne jede Spur von Handlung aber irgendwie amüsant.
29. The Trial of the Chicago 7 (Aaron Sorkin)
Auch Aaron Sorkin ist mittlerweile zu Netflix abgewandert und hat den namentlich beeindruckendsten Cast des Jahres zusammengestellt. Sorkin gilt als brillanter Autor, doch dieses Mal wird sein Stil zur Fassade: Der Gerichtsfilm und die schnellen, rhetorisch perfekt ausgeklügelten Dialogzeilen sorgen für eine unnachahmliche Coolness, verhindern damit aber das Aufkommen echter Emotionen. Wie Sorkin versucht, mit verschiedenen komplexen Ideen zu jonglieren und dabei so akkurat wie möglich den Prozess von 1969 nachzuzeichnen, ist löblich, aber eine zu große Herkulesaufgabe für den Autorenfilmer. Letztlich begeht sein Werk die Todsünde aller Filme: Es langweilt über zu weite Strecken, es erstickt in seinen prestigesuchenden Gesten. Ein beeindruckender Film, aber weiß Gott kein wirklich guter.
28. Vergiftete Wahrheit (Todd Haynes)
Wäre Mark Ruffalo kein Schauspieler, der jedem Stoff interessante Seiten abgewinnen kann, wäre dieses Biopic umso schwerer zu verkaufen gewesen. Der Umweltskandal um das Chemieunternehmen DuPont ist spannender, hochaktueller Filmstoff, der hier aber besonders bräsig und düster erzählt wird, dem dabei leider das Momentum tonal ähnlicher Stoffe wie "Spotlight" abgeht. Schade ist, dass die Erzählweise so konventionell und vorhersehbar abläuft. Auf diese Weise setzt sich die Empörung kaum ein, schlimmer noch: Dem Film gelingt es zu keiner Sekunde, die echten komplexen Zusammenhänge zwischen Umweltschutz, Wirtschaft und juristischer Verflechtung aufzuzeigen, womit das eigentliche Sujet narrativ ohne eine Entsprechung dasteht.
27. Onward: Keine halben Sachen (Dan Scanlon)
Anspruchslose Unterhaltung für die Kleinen, die für einen Pixar-Film erstaunlich schluderig daherkommt. Die ersten 15 Minuten sind ein grausiges 80er Jahre Teendrama, danach wird es etwas besser. Sobald die Handlung Fahrt aufnimmt, gibt es viele schöne Abenteuerabschnitte à la "Indiana Jones" oder "Der Herr der Ringe", denen jedoch – so ehrlich muss man sein – das emotionale Futter fehlt. So brillant die Animationen auch sein mögen, so seltsam unausgegoren ist die Fantasywelt geraten: In einer Welt, in der Zauberer, Elfen, Orks und Trolle nebeneinander leben, ist vor einigen Generationen die Magie verloren gegangen, weil moderne Technik wie Flugzeuge oder Smartphones für Bequemlichkeit sorgen. Eine tolle Idee, aber sie dient nur als Setting und wird nie groß vertieft, schlimmer noch, der Film behandelt ganz andere Themen, die vom Setting unangetastet bleiben. Ein ähnlicher Blender wie "Zoomania", aber trotzdem noch nett.
26. Mank (David Fincher)
Cineastischer Elitarismus in Reinkultur! Fincher verfilmt die Entstehungsgeschichte von "Citizen Kane" aus Sicht des Drehbuchautoren Herman J. Mankiewicz und erlaubt sich den Spaß, sämtliche Szenen in derselben Ästhetik wie "Citizen Kane" zu verfilmen, bzw. den Klassiker von Orson Welles immer wieder direkt zu zitieren. Das ist in dieser spielerischen Herangehensweise und hinsichtlich des mehr als dünnen Plots eigentlich nicht mehr als ein sehr teurer, sehr aufwendiger Studentenfilm, den die irren Produzenten bei Netflix wohl in Hoffnung auf einige Oscar-Statuen finanziert haben. Hinsichtlich des Drehbuchs ist das totaler Käse, der auf überkonstruierte Art und Weise versucht, die damaligen Gouverneurswahlen in Kalifornien als politischen Kommentar zum Trump-Amerika aufzublasen. Eine charmante Fingerübung, als funktionaler Spielfilm aber für jeden, der sich nicht für Filmgeschichte interessiert, kaum zu gebrauchen.
25. Der schwarze Diamant (Benny Safdie, Josh Safdie)
Wäre Regisseur John Cassavetes ein Millennial gewesen, hätte das vielleicht diesen Film ergeben. Könnte man Filme wie Menschen betrachten, sie personifizieren, so wäre das hier ein Adrenalin-Junkie mit ADHS. In rastloser Inszenierung jagt Adam Sandler durch eine Art kunterbunten hyperschnellen Großstadtthriller, wobei hier vor allem ein Schnittmassaker verdeutlichen soll, wie kurzweilig das Treiben ist. Anders als ähnliche Turbo-Filme, die sich aber wenigstens zwischendurch dann doch kurze Atempausen gönnen, gibt es hier keine Gedanken ans Luftholen. Das ist in dieser Konsequenz fraglos inspirierend, und Adam Sandler in der manischen Hauptrolle ist eine kleine Schauspiel-Sensation, doch für nicht jeden ist diese anstrengende Sinnesüberlastung ein filmisches Erlebnis. Ich für meinen Teil habe sie in der zweiten Hälfte als ziemliche Tortur empfunden.
24. Jim Knopf und die Wilde 13 (Dennis Gansel)
Die erste Realverfilmung der Jugendbuch-Klassiker von Michael Ende war eine erstaunlich gelungene Adaption, die dicht am literarischen Original und doch mit hübschen visuellen Einfällen die Geschichten um Jim Knopf und Lokomotivführer Lukas ins 21. Jahrhundert transportierten. Beim zweiten Streich gelingt das nicht mehr wirklich, weil die Leichtigkeit und die Entspanntheit abhanden gekommen sind. Teil 2 ist größer, düsterer und gleichzeitig wie so häufig bei Sequels hauptsächlich mehr von allem, was beim ersten Mal gut funktioniert hat. Das Buch von Ende wird wieder überzeugend auf die Leinwand gebracht, doch schon das konnte seinerzeit nicht mehr mit der erfrischenden Simplizität des Vorgängers mithalten. Ein Phänomen, welches sich leider beim Vorgang der Adaption mit in den Film eingeflossen ist.
23. Soul (Pete Docter)
Der ambitionierteste Pixar-Film bislang bekommt nur einen Start bei Disney+ – eine kleine Tragödie. Wer hätte schon erwarten können, dass in einem Animationsfilm, dessen Hauptzielgruppe immer noch Kinder sind, u.a. C.G. Jung auftaucht und über das Unterbewusste spricht. Oder in der Szenen, die abstrakt das "Dasein der Seele außerhalb der irdischen Existenz" abbilden sollen, der Filmklassiker "Irrtum im Jenseits" von 1946 zitiert wird. So weit hat sich Pixar noch nie aus dem Fenster gelehnt – und dementsprechend überladen ist der Endeindruck. In einem Mix aus "Alles steht Kopf", "Coco" und "Alle Hunde kommen in den Himmel" will das Studio gleichzeitig die afroamerikanische Lebenswelt im Jahr 2020 abbilden, zivilisationsanalytische Fragen zum Sinn des Lebens stellen, spirituelle Richtungen der Weltreligionen vereinen und dennoch vor allem Kinder unterhalten. Das Ergebnis ist ein unausgegorener Film, der seine komplexen Ideen immer zugunsten von albernem Slapstick und einer lächerlich simplen Körpertausch-Geschichte zurückstellen muss, und nie die emotionale Kraft erreicht, die sich mit Pixar assoziieren lässt. Ausgerechnet diesem Film fehlt bei aller Ambition letztlich die Seele, wenn er auf den letzten Metern eine kraftvolle Botschaft für Hollywood-Kitsch opfert.
22. Birds of Prey: The Emancipation of Harley Quinn (Cathy Yan)
Manchmal macht es einfach Klick, und dann will ich auch gar nicht groß herum analysieren. Der neueste Film aus dem DC-Filmuniversum ist ein kleiner, derber Actionfilm-Spaß rund um Harley Quinn und ein paar andere Powerfrauen, die in launiger Manier Knochen zertrümmern und Bösewichte zerprügeln, wie es sonst nur in "Atomic Blonde" oder "The Raid" vorgemacht wird. Sicher: Das Drehbuch ist eine unstrukturierte Aneinanderreihung chaotischer Szenen, keine der Figuren bekommt sonderlich viel Substanz, aber was hier betrieben wird, ist kein Comicblockbuster von der Stange, sondern ein ästhetisch aufpoliertes Comeback der B-Movie-Zunft, die mancher gerne für ausgestorben hält. Wer sich drauf einlassen kann, hat einen netten Filmabend vor sich, in dem der unbestreitbare Höhepunkt eine surreale Traumsequenz ist, in der Margot Robbie als Harley Quinn sich in das Musikvideo von "Diamonds are a girls best friend" von Marilyn Monroe hineindenkt.
21. Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden (Aritz Moreno)
Eine spanische Groteske durch und durch, doch leider verwechselt dieser thematisch interessante Film regelmäßig Tempo mit Enthusiasmus. Die schwarze Komödie ist irre schnell erzählt, und dabei durchweg unterhaltsam, doch versucht sie auch so krampfhaft an die Meisterwerke von Luis Buñuel zu erinnern, dass sie manchmal vergisst, sich die Zeit zu nehmen, um etwas Eigenes zu werden. Gestaltlerisch ist das nicht wirklich überzeugend, eine eher wirre Mischung aus verschiedenen Stilen, die kein einheitliches Ganzes formen. Der Humor aber zündet durchaus, wenn sich aus den im Titel behaupteten obskuren Geschichten mehrere Filme im Film ergeben, die in ihrer jeweiligen Ausrichtung zu überraschen wissen. Da es sich hier um einen Debütfilm handelt, könnte bei Folgewerken mehr inszenatorisches Selbstbewusstsein zu den vorhandenen schrägen Ideen hinzukommen.
20. 1917 (Sam Mendes)
Hier wird "Dunkirk" mit der Ästhetik von "Birdman" inszeniert. Ohne sichtbaren Schnitt begibt sich ein britischer Soldat von seinem aktuellen Standort bis ganz nach vorne an die Front, um eine wichtige Botschaft zu übermitteln und damit einen Haufen an Menschenleben zu retten. In der ersten Hälfte sorgt die unendliche Kamerafahrt für eine starke Imersion ins Geschehen und hat einige famose Momente parat. Besonders im Gedächtnis blieb mir die Stelle, in der man meherere Minuten einem sterbenden Soldaten beim aus dem Leben scheiden beiwohnen kann und sieht, wie sich langsam die Farbe aus seinem Gesicht verabschiedet. Im späteren Verlauf wird die mit zahlreichen Gastauftritten von Stars (Colin Fith, Andrew Scott, Benedict Cumberbatch, Mark Strong) gepflasterte Kriegsfilm-Odyssee zum absurden Adventure-Videospiel mit Level-Logik und strapaziert die Glaubwürdigkeit des Konzepts zu arg über. Ein interessanter, durchaus nicht unspannender Film, der jedoch etwas blutleer und heroisch verbleibt.
19. Enola Holmes (Harry Bradbeer)
Abseits der Kinoleinwände ermittelt bei Netflix "nur" die kleine Schwester von Sherlock Holmes, die ihrem Bruder natürlich im Hinblick auf ihren Verstand ebenbürtig ist. Enolas Geschichte ist ein Jugendfilm aus dem Lehrbuch, und lebt zu 100 Prozent vom subtilen, reifen Spiel der Hauptdarstellerin Millie Bobbie Brown. Sie darf ihre Spielfreude besonders immer dann vorführen, wenn sie sich direkt an den Zuschauer richtet und die vierte Wand durchbricht, ein Stilmittel, dessen komödiantisches Potenzial hier nicht ausgereizt, aber vernünftig genutzt wird. Das Drumherum ist ein handelsüblicher Krimi, mit all den kleinen Wirrungen, die diese Filme so in sich haben – und wenn man ganz ehrlich ist, hat all das mit Sir Arthur Conan Doyle und dem Mythos rund um Sherlock Holmes rein gar nichts zu tun. Wenn einen das nicht stört, ist der harmlose Spaß den Abend durchaus wert.
18. Cats (Tom Hooper)
Liebe Internetgemeinde: Was war an dieser Musical-Verfilmung bitte so furchtbar? Natürlich lässt sich der Geist von Andrew Lloyd Webber nicht in einen Film übertragen. Natürlich sieht eine am Computer erzeugte Zwitterwesensversion von Mensch und Katze surreal und unwirklich aus. Natürlich können Stars wie Ian McKellen, Taylor Swift oder Jason Derulo nicht mit echten Musical-Darstellern konkurrieren. Trotzdem ist das hier ein Film geworden, der künstlerisch ein Wagnis eingeht, der mutig mit seinen Stilmitteln eine Melange aus Theater und Kino erzeugen will. Nicht jeder Einfall glückt dabei, dennoch ist diese ziemlich direkte Übertragung des Bühnenstücks in ein filmisches Kleid vor allem eine große Liebeserklärung an das Musical-Theater – und hat die groteske Aufregung drum herum nicht verdient.
17. Jojo Rabbit (Taika Waititi)
Ein kleiner Junge aus der Hitler-Jugend, dessen imaginärer Freund der Führer persönlich ist, entkommt durch die Freundschaft zu einem jüdischen Mädchen seiner Indoktrinierung. Dieser Plot könnte in jedem Genre erzählt werden und deshalb versucht der Film gleich alle Tonalitäten auf einmal. Der emotional herausfordernde schnelle Mix aus bitterer Tragödie und herzenswarmer Komödie ist eine der ungewöhnlichsten Herangehensweise an das dunkle Kapitel der NS-Zeit seit langem, funktioniert über weite Strecken aber mit einer bemerkenswerten Treffsicherheit. Der Humor ist erfreulich subversiv und damit tiefgehend, die NS-Ikonographie und ihr Pathos werden auf hintergründige Weise vorgeführt, sodass sich mit sicherem zeitlichen Abstand zu dieser Zeit darüber Amüsement einstellen mag. Nicht so gelungen ist der Versuch, parallel auch eine Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, da so die Fokussierung auf die schlauen historischen Kommentare verwässert wird. Ebenfalls gestalten sich die Auftritte von Sam Rockwell und Rebel Wilson in unnötigen Klischeefiguren als tendenziell nervig.
16. Emma (Autumn de Wilde)
Wirklich überzeugende, in ihrer sinnlichen Erzählweise sogar emotional kluge Verfilmung des literarischen Meisterwerks von Jane Austen. Mit viel Mühe wird eine prunkvolle Welt gezeichnet, in der die Titelfigur beständig arrogantes Auftreten mit gesundem Selbstbewusstsein verwechselt. Die Risse im Marmor, durch welche die Vorlage zu einem Meilenstein in Hofdarstellungen wurde, sind hier minutiös herausgearbeitet und ein großer Spaß, auch wenn Anya Taylor-Joy vielleicht an manchen Stellen fehlbesetzt wirkt. Statt einer simplen Romantic Comedy bemühen sich die Macher des Films um eine feministische Neuinterpretation des Romans. Nicht an allen Stellen geglückt, ist der Unterhaltungswert dennoch hoch und manche Dialogzeile so elegant, dass sie sich leicht auch Wochen nach der Filmsichtung erinnern und in eigenen Wortgefechten einbinden lässt.
15. Knives Out (Rian Johnson)
Den ungewöhnlichsten Genre-Twist des Jahres hat sich Rian Johnson zuzuschreiben und es gehört schon eine große Portion Irrwitz dazu, ein klassisches Agatha-Christie-Whodunnit innerhalb weniger Minuten in einen beinharten Suspense-Thriller der Marke Alfred Hitchcock umzuwandeln. Über weite Strecken haftet dem etwas anderen Krimi so der postmoderne Schleier der Unvorhersehbarkeit an, ehe letztlich dann doch auf den Genre-üblichen Erklärbärmonolog des hier gar nicht mal so schlauen Ermittlers zurückgegriffen wird. Die fabelhafte Besetzung ist bis in die kleinste Rolle toll besetzt, besonders hervorragend ist Ana de Armas in der weiblichen Hauptrolle und der majestätisch agierende Christopher Plummer, der nur in Rückblenden auftritt – immerhin ist er die Leiche. Etwas zu schlau will das Drehbuch aber schon sein und in der zweiten Hälfte werden so viele unglaubwürdige Wendungen aneinandergereiht, dass nur noch der Spaß-Faktor entscheidet, wie sehr man bereit ist, hierüber hinwegzusehen.
14. Da 5 Bloods (Spike Lee)
Jetzt ist sogar Spike Lee bei Netflix gelandet? Ja, so ist es. Und ungeachtet dessen, wie man zum Streamingmarkt stehen mag, ist sein Kriegsdrama, welches er dort lanciert hat, die Sichtung allemal wert. Wenn die ehemaligen Vietnam-Veteranen nach mehreren Jahrzehnten in das Land zurückkehren, das sie einst traumatisiert verließen, ergibt das viele starke Momente, die auch aus dem Fundus der Filmgeschichte schöpfen: Eine Bar heißt "Apocalypse Now" und natürlich darf Wagners Wallkürenritt nicht fehlen. Als amüsantes Roadmovie mit Tiefgang funktioniert der Netflix-Oscaranwärter spielerisch. Bei den Versuchen, gleichzeitig auch einen Kommentar zum strukturellen Rassismus in den USA einzuweben, wandelt er Film aber auf der Schwelle zwischen klugen Beobachtungen (herrlich: Ein Dialog über "Rambo" stellt fest, wie rassistisch auch das Denken in Hollywood war und ist) und plumpen Überzeichnungen.
13. Der Fall Richard Jewell (Clint Eastwood)
Großmeister Clint hat einen neuen Film und erst nach einer gefühlten Ewigkeit gab es den auch mal bei uns zu sehen. Gelohnt hat sich die Wartezeit: So schnörkellos und aufrichtig an der Spannungsschraube können nur wenige drehen und für Eastwood ist das gerade mal Routine. Sieht aber nie so aus, fühlt sich nie so an. Strukturell und thematisch ist die Verfilmung des Sicherheitsmannes, der beim Attentat auf die Olympischen Spiele in Atlanta 1996 eine entscheidende Rolle spielte, eng mit seinem Heldenporträt "Sully" verbunden und insgesamt ist das Werk etwas zu groß, etwas zu aufgedunsen auf verschiedene Akteure, um die selbe emotionale Stringenz von "Sully" zu beweisen. Trotzdem ist das großes, spannendes Kino nach wahren Begebenheiten und die Sichtung definitiv wert.
12. Der Unsichtbare (Leigh Whannell)
So effektiv darf Horror gerne häufiger sein. Dass hier ein unsichtbarer Killer Jagd macht, ist nicht der wahre Grund, warum es sich bei diesem Film leicht gruseln lässt. Als erster Genre-Film verarbeitet diese lose H.G. Wells Adaption sozialkritische Aspekte mit existentialistischen Zwischentönen. Elisabeth Moss ist großartig in der Rolle der Verfolgten, die nicht einfach bloß die nächste Scream Queen ist, sondern ein Missbrauchsopfer. Der smarte Dreh für diese moderne Neuinterpretation ist die Verarbeitung des #metoo-Skandals. Statt eines Monsters heißt das wahre Grauen hier toxische Maskulinität. Ohne erhobenen Zeigefinger wandelt sich das Horrordrama zum Ende so in eine feministische Ermächtigungsgeschichte.
11. Waves (Trey Edward Shults)
Eine eigensinnige Betrachtung des sogenannten "American Way of Life", in welchem die Familie gerne als Rückzugsort, als sicherer Hafen propagiert wird. Hier steht sozusagen der "Afroamerican Way of Life" im Vordergrund, in dem die Familie nicht weniger wichtig ist, aber auch einen enormen Druck ausübt. Wie "Moonlight" wird die Dekonstruktion fragiler schwarzer Männlichkeit betrachtet und in nüchternen, aber nachdenklichen Bilder aufgedröselt. Formell ist das ein brillantes Drehbuch, einzig die popkulturell aufgeladene, farblich warme Inszenierung schießt in ihrem Musikvideo-Pathos gelegentlich über das Ziel hinaus. Die emotionale Kraft dieses Films mindert das keineswegs.
10. Für Sama (Waad al-Kateab, Edward Watts)
Mit Zeitsprüngen und Smartphone-Aufnahmen aus verschiedenen Jahren zeigt dieser großartige Dokuementarfilm den Syrienkrieg von Baschar al-Assad gegen einen Teil des eigenen Landes aus der Perspektive einer Mutter aus Aleppo. In ungestellten, unaufdringlichen Wechseln wird so die gekippte Stimmung im Land deutlich: Von der Studentenrevoltevon 2012 bis ins Jahr 2016, dem Moment, in dem Waad al-Kateab (die zu ihrem eigenen Schutz ihren Namen änderte) ihr Heimatland für immer verließ. Ein zeitgemäßes, erschreckendes Porträt, das sich deshalb so tief ins Unterbewusstsein eingräbt, weil es in seiner Handykamera-Ästhetik die Unaufgeregtheit von Social Media Videos auf Instagram für sich einnimmt, und sie mit Momenten des Schreckens füllt.
09. The Peanut Butter Falcon (Tyler Nilson, Michael Schwartz)
Endlich mal ein großes, in seinen Motiven und Themen uramerikanisches Drama um Personen, welches sich nicht gezwungen fühlt, auf die Tränendrüse zu drücken. Verdammt nochmal, so gestaltet sich ein gefühlvoller Film, der echte Gefühle transportiert und sie nicht behaupten muss. Cineastische Empathie kann so einfach sein, in dem man die Figuren nicht im Dienste eines Plots oder einer Aussage stellt, sondern sie wie in dieser Tragikomödie kommunizieren lässt – verbal und nonverbal. Wenn der junge am Down-Syndrom erkrankte Mann von der Diskriminierung berichtet, die ihm im Alltag begegnet, oder wenn seine idealistische Pflegerin jeder Zeit alles für ihn stehen und liegen lassen würde, ist das kein Kitsch der Marke Traumfabrik, sondern eine Bestandsaufnahme verunsicherter, junger Menschen, die versuchen, in ihrem Leben einer Richtlinie zu folgen, die sie selbst noch nicht verstanden haben oder definieren können. Aufrichtiges Kino, ohne Plädoyer, mit (Fein-)Gefühl.
08. Queen & Slim (Melina Matsoukas)
Was wurde dieser Film nicht stark missverstanden? Überall las man von der afroamerikanischen Version der "Bonnie & Clyde"-Geschichte. Doch mit Arthur Penn hat dieser Film rein gar nichts zu tun, denn der Fokus liegt nie auf der Sexualisierung von Gewaltikonographien. Stattdessen wird hier das festgefahrene Rassenverständnis der USA unter dem Mikroskop zensiert, ohne auf der sogenannten White Trash Sozialisation herumzuhacken. Offensichtlich wurde dieser Film mit sehr viel Wut im Bauch gedreht, und einige Monate später veröffentlicht hätte er wie kein anderer die politische Stimmungslage in den #BlackLivesMatter-Monaten auffangen können. Das hier mag ein Personenstück, ein Thriller sein, und es ist doch ein durch und durch politischer, ideologischer Film, der aufrütteln will – was ihm ohne große Mühe gelingt.
07. Tenet (Christopher Nolan)
Ist das Größenwahn, eine für sich betrachtet philosophische Fingerübung als Multimillionen-Produktion umzusetzen? Wird diese Geschichte nur deshalb als Actionfilm, als postpostmoderne "James Bond"-Iteration aufgeladene Handlung erzählt, um den Mainstream in dieses selbstreflexive Stück Kino zu täuschen? Klares Ja. Verwerflich allein ist das gar nicht, wenn die Mischung so virtuos und ausgeklügelt ihr Spektrum an Raffinesse auf der Leinwand entfaltet. Es ist leicht, dieses schwierige Stück Film als Sci-Fi-Epos misszuverstehen, als physikalischen Zeitreisefilm, denn im Kern geht es um die Philosophie der Zeit, sowohl im echten Leben als auch in der Erzählkunst. Christopher Nolan gelingt ein mutiger, mit Aussagen beinahe überladener cineastischer Essay. Muss er sich dafür entschuldigen, diesen auf die möglichst unterhaltsamste Art und Weise inszeniert zu haben?
06. Pinocchio (Matteo Garrone)
Sein "Das Märchen der Märchen" gehörte zu den besten Filmen der 2010er und ist das zentrale Märchenfilm-Meisterwerk der jüngeren Filmgeschichte. Nach einem Ausflug in Mafia-Gefilde im ähnlich meisterhaften "Dogman" backt Matteo Garrone nun kleinere Brötchen und verfilmt ohne großes Aufsehen die Geschichte des hölzernen Knaben, der ein normaler Junge werden will. Ohne große Abweichungen von der Originalgeschichte besticht diese Version durch ihre schaurig reale Optik, durch die die perfide Pädagogik der berühmten Story zum skurrilen Bodyhorror transformiert wird. Allein das ist eine Meisterleistung, wäre da nicht auch noch die einmalige Ausstattung, die dieses Jahr in Punkto Detailverliebtheit und Patina im Filmbereich ihres Gleichen sucht und den richtigen Spagat aus Märchenverfilmung und Kunstkino hinbekommt.
05. Jean Seberg: Against all Enemies (Benedict Andrews)
Schauspielerin Jean Seberg wird filmhistorisch vor allem durch ihre Rolle im Nouvelle-Vauge-Klassiker "Außer Atem" assoziiert. Das ihr jetzt ein Film gewidmet wurde, der sich ebenso in der Zukunft als Klassiker herausstellen könnte, ist eine der tollen Geschichten, die das Kino selbst schafft. Kristen Stewart spielt die französische Film-Ikone mit faszinierendem Dekor. Der Fokus liegt nicht auf Sebergs Filmen, sondern auf ihrer Affäre mit Bürgerrechtler Hakim Jamal, durch welche sie zur Zielscheibe des FBI wurde. Über 100 Minuten lässt sich so hautnah miterleben, wie die zerbrechliche Psyche einer Frau, die ein Leben auf der Überholspur lebt, um ihre inneren Dämonen still zu halten, von äußeren Umständen vollständig annihiliert wird. Ohne Frage: Das stärkste Personendrama des Jahres!
04. The Gentlemen (Guy Ritchie)
Warum Guy Ritchie immer noch eine der stärksten Stimmen des zeitgenössischen Kinos ist, stellt sein neuester Streich unter Beweis, bei dem er zu seinen Ursprüngen zurückfindet, aber die perfektionistische Ausgestaltung seiner Hollywood-Ausflüge übernimmt. Das destruktive, rasante Gauner-Epos, irgendwo zwischen "Der Pate" und "Snatch" angesiedelt, verlangt vollste Konzentration vom Zuschauer, da es offen damit spielt, mehrere Sachen von der ersten Szene an auf einmal zu versuchen. Eine unchronologisch erzählte Charakterstudie eines Alphamännchens und seiner Fassaden ist der oberflächliche Fokus, gleichzeitig wird aber die britische Selbstwahrnehmung im Post-Brexit-Zeitalter verhandelt. Und wäre das nicht genug, sorgt die selbstironische, innovative Regie für einen Meta-Kommentar auf die Funktionalität und Effektivität des postmodernen Kinos. Der coolste, aber auch der intelligenteste Film der jüngeren Vergangenheit.
03. Little Women (Greta Gerwig)
"Betty und ihre Schwestern" wurde so oft verfilmt, dass es zu dem Stoff nichts mehr zu sagen gibt oder? Falsch! Wie immer ist das Kino das beste Medium für Neuausrichtungen, für kreatives Umdenken. Intellektuell, so kann man diese Verfilmung eines sogenannten Bildungsromans wohl am ehesten bezeichnen. Das geniale Drehbuch zeigt auf, wie viel sich aus einem bekannten Stoff herausholen lässt, durch einen einzigen narrativen Taschenspielertrick: die Ellipse. Dramaturgisch und chronologisch verrückt ist diese Adaption keine stringente Geschichte, sondern ein Mosaik von Momenten, die weiblichen Individualismus feiern, ohne einen bemühten Feminismus des 21. Jahrhunderts predigen zu müssen. Gleichzeitig ist dieser Film eine Lehrstunde in Publikumsmanipulation: Durch simpelste Informationsvorenthaltungen wird auf der Klaviatur der Erwartungen gespielt, ähnlich furios, wie es Alexandre Desplat im traumhaften Soundtrack tut.
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02. Kajillionaire (Miranda July)
Vielleicht ist es den Begleitumständen des Corona-Jahres 2020 geschuldet, dass das wahre filmische Meisterwerk von einer Familie handelt, einer Familie aus Betrügern, deren größter Betrug die Illusion einer intakten Familie ist. Soziale Inkompatibilität ist das erste und wichtigste Attribut, welches der Tochter des Betrügerpaares anhaftet, brillant gespielt von Evan Rachel Wood. Sie ist eine Empathin, gleichzeitig der Lebenswirklichkeit der verschiedenen sozialen Schichten aber fremd. Ihre Handlungen, aber auch ihre Verwurzlung in das Treiben der eigenen Verwandten, sind das Zentrum dieses berührenden Films, der lange Zeit von seiner Skurrilität a la Wes Anderson heraus Aufmerksamkeit bezieht. Natürlich sind das Kunstfiguren, und dennoch rühren sie zu Tränen, denn sie sprechen unser Innerstes an: Das Gefühl, einerseits den eigenen Weg gehen zu wollen, andererseits aber auch dazugehören zu müssen. Dermaßen brillant habe ich das Gefälle aus Individualismus und Gesellschaftswesen selten präsentiert gesehen. Bravo!
01. Hamilton (Thomas Kail)
Auf Disney+ ist dieses Jahrhundertwerk jetzt als filmische Aufbereitung eines Konzertmitschnitts veröffentlicht worden. Das "Hamilton"-Broadwaymusical ist vielleicht das medienübergreifende popkulturelle Meisterwerk des vergangenen Jahrzehnts. Nun rufen Puristen: Ein Konzertmitschnitt sei kein Film, sei nicht the real deal. Und natürlich gilt für die Theatererfahrung: Nichts ist vergleichbar damit, im Raum gewesen zu sein, in dem es passierte. "Hamilton" auf Disney+ gar nicht erst der Versuch, die Audience Experience eines Broadway-Stücks erlebbar zu machen. Stattdessen bringt uns die Kamera ganz nah ran an die Akteure, begrenzt bewusst unseren Blickwinkel, verweigert uns gerne den Blick auf die ganze Bühne. Die Regie ist für die Kamera akzentuiert, setzt Schwerpunkte, entschlankt. "Hamilton" auf Disney+ ist ein Film, und doch kein Film. Es ist eine Melange, ein Zwitterwesen, ein hungriges Biest. Eine neue Erfahrung. Was es aber nicht ist: Ein Kompromiss, bei dem der Cineast seine Ansprüche auf komplexes Filmhandwerk herunterschlucken muss.
36. Artemis Fowl (Kenneth Branagh)
Einer der grässlichsten Filme des Jahres hat sich vor einem öffentlichen Debakel gerettet, in dem er einfach bei Disney+ erschienen ist, statt sein hässliches Gesicht auch noch im Kino zu zeigen. Die Umsetzung der Romanreihe, die es literarisch locker mit "Harry Potter" und Konsorten aufnehmen kann, ist ein Albtraum. Artemis wird im Film zum unsympathischen, neunmalklugen Rotzbengel, in einer Story, die so wenig zu erzählen hat wie sie bieder inszeniert ist. Aus einer an sich vielversprechenden Mischung aus Sci-Fi und Fantasy wird hier eine austauschbare CGI-Orgie mit dummen Elfen, die noch dümmere Laserwaffen einsetzen und generischen, reizlosen Wortmüll von sich geben. Humoristisch gemeinter Höhepunkt dieses filmgewordenen Auffahrunfalls: Ein Moment, als der mürrische Erzähler einen ahnungslosen Passanten anfurzt. Niveaulimbo: Der Film!
35. The New Mutants (Josh Boone)
- Ewig verschoben ist das "X-Men"-Spinoff nun erschienen. Endlich? Wohl kaum. Der Mix aus "The Breakfast Club", "Glass" und "A Cure for Wellness" ist größtenteils inkompetentes Filmemachen, und gelingt nicht mal als harmloser Horrorspaß für Teenager. Die durch die Bank tolle Besetzung wird in eindimensionalen Rollen verheizt und darf einen sinnentleerten Dialog nach dem anderen sprechen. Furchtbar dumm: Nach einer Minimalhandlung mit Schockmomenten aus der Rummelplatz-Geisterbahn wird ein ödes CGI-Massaker ans Ende gestellt, welches in seinen grotesken Ausartungen auch noch metaphorisch gemeint ist – und das in so einem bierernsten, langweiligen Durcheinander.
34. The Old Guard (Gina Prince-Bythewood)
- Der Actionfilm mit Charlize Theron von Netflix fühlt sich wie der Pilotfilm für eine Serie an, die nie bestellt werden wird. Gott sei Dank, muss ich hinzufügen. Das lausige Script um unsterbliche Söldner (die sich letztlich als Abklatsch einer Superheldentruppe herausstellen) ist mit wenig Mühe zusammengeschustert worden und hat kein Interesse an Charakterzeichnung oder einem vernünftigen Worldbuilding. Insgesamt dürfte der Film mehr Kopfschüsse in Gefechten verzeichnen als Dialogzeilen. Ein trauriges Resümee für einen Fantasy-Actioner, der ausgerechnet in den Fantasy- und Actionmomenten nichts Originelles zu bieten hat. Größtes Ärgernis: Das krude, unrhythmische Editing.
33. Die fantastische Reise des Dr. Doolittle (Stephen Gaghan)
- Eine Verschwendung von Geld & Lebenszeit. Robert Downey Jr. kaspert sich einen als die bekannte Buchfigur, die hier anders als zuletzt in den Eddie-Murphy-Vehikeln wieder näher an ihre Ursprünge zurückgeführt wird, aber genauso albern bleibt. Der furchtbar künstlich getrickste Kinderfilm hat keine interessante Botschaft, eine vollständige Abwesenheit liebenswerter Charaktere und ganz besonders schlimm: Er ist fürchterlich unwitzig. Das große Finale besteht aus einem ausgedehnten Furz- und Fäkalienwitz, merkwürdige Anspielungen an "Der Pate" sind tonal dermaßen daneben, dass meine Hand regelmäßig mit Wucht die Stirn gesucht hat. Ein Schuss in den Ofen, leider, und das mit Ansage.
32. Bill & Ted Face the Music (Dean Parisot)
Die Kultdilogie aus den späten 80ern / frühen 90ern für einen Neuaufguss zurückzuholen ist stellvertretend für die Einfallslosigkeit im Hollywood-Sektor: Lieber Altes aufwärmen als Neues erdenken. Doof nur, wenn dieses alte Material so sehr in seine Zeit eingebunden war, dass es 2020 nur noch wie infantile, altmodische Selbstparodie wirkt. Dermaßen einfalls- und witzlos hätte die Rückkehr von Bill & Ted aber dann auch wieder nicht ausfallen müssen. Aber: So sieht ein Film eben aus, wenn es ihn gar nicht geben sollte. Wären Keanu Reeves und Alex Winter nicht, man könnte diese schon in wenigen Monaten für immer vergessene, unnötige Mikrowellen-Ware getrost vergessen, doch das Duo hat so viel Spaß dabei, sich wieder als Kindsköpfe zu präsentieren, dass sie in wenigen Momenten doch ansteckend sind.
31. Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga (David Dobkin)
Wohlfühl-Kino, bzw. Wohlfühl-Streaming, immerhin ist die ESC-Verfilmung direkt bei Netflix gelaufen. Als Alternative zum dieses Jahr ausgefallenen Show-Event mag der Film seinen Job erfüllt haben, eigentlich ist er aber eine konzeptionelle Mogel-Packung. Der Humor ergibt sich so gut wie nie aus dem ESC, aus seinem Ruf, aus seinen Abläufen oder seinen Traditionen. Es entpuppt sich letztlich als das x-te Will-Ferrell-Vehikel, welches zufällig vor der Kulisse der europäischen Musikveranstaltung stattfindet. Mehr will die Komödie, die nebenbei noch Stars wie Pierce Brosnan oder Rachel McAdams an Bord hat, zugegeben aber nicht sein. Auf keine Kuhhaut gehen dafür fast sämtliche Songs und die nervig-erzwungenen Gastauftritte von ESC-"Ikonen" wie Conchita Wurst, Alexander Rybak oder Netta.
30. Tyler Rake: Extraction (Sam Hargrave)
Ultrabrutale Endlos-Action. Klingt gut? Nun: Für Action-Puristen ist das Netflix-Original mit Chris Hemsworth sicher eine Ausnahmeerscheinung in 2020, der die Härte vergangener Tage beschwört und eine furios geschnittene Ballerszene an die nächste reiht. Wer jetzt nach dem Plot fragt, für den gibt es keine Antwort: Eine Geschichte erzählt dieser Film nur notdürftig, lieber reiht er stumpfe, unendlich lange Tötungsszenen aneinander. Das ist filmisch nicht schlecht gemacht (eine äußerst aufwendige Szene, die als One-Shot konzipiert ist, sticht heraus), langweilt aber, weil die gewaltverherrlichende Tötungsorgie so stupide und substanzlos wie die letzten "John Wick"-Filme ausfällt. Handwerklich sind sie denen und eigentlich der gesamten Genre-Konkurrenz wenigstens deutlich überlegen. Der überflüssige Fortsetzungs-Köder ist dann bei einem Film ohne jede Spur von Handlung aber irgendwie amüsant.
29. The Trial of the Chicago 7 (Aaron Sorkin)
Auch Aaron Sorkin ist mittlerweile zu Netflix abgewandert und hat den namentlich beeindruckendsten Cast des Jahres zusammengestellt. Sorkin gilt als brillanter Autor, doch dieses Mal wird sein Stil zur Fassade: Der Gerichtsfilm und die schnellen, rhetorisch perfekt ausgeklügelten Dialogzeilen sorgen für eine unnachahmliche Coolness, verhindern damit aber das Aufkommen echter Emotionen. Wie Sorkin versucht, mit verschiedenen komplexen Ideen zu jonglieren und dabei so akkurat wie möglich den Prozess von 1969 nachzuzeichnen, ist löblich, aber eine zu große Herkulesaufgabe für den Autorenfilmer. Letztlich begeht sein Werk die Todsünde aller Filme: Es langweilt über zu weite Strecken, es erstickt in seinen prestigesuchenden Gesten. Ein beeindruckender Film, aber weiß Gott kein wirklich guter.
28. Vergiftete Wahrheit (Todd Haynes)
Wäre Mark Ruffalo kein Schauspieler, der jedem Stoff interessante Seiten abgewinnen kann, wäre dieses Biopic umso schwerer zu verkaufen gewesen. Der Umweltskandal um das Chemieunternehmen DuPont ist spannender, hochaktueller Filmstoff, der hier aber besonders bräsig und düster erzählt wird, dem dabei leider das Momentum tonal ähnlicher Stoffe wie "Spotlight" abgeht. Schade ist, dass die Erzählweise so konventionell und vorhersehbar abläuft. Auf diese Weise setzt sich die Empörung kaum ein, schlimmer noch: Dem Film gelingt es zu keiner Sekunde, die echten komplexen Zusammenhänge zwischen Umweltschutz, Wirtschaft und juristischer Verflechtung aufzuzeigen, womit das eigentliche Sujet narrativ ohne eine Entsprechung dasteht.
27. Onward: Keine halben Sachen (Dan Scanlon)
Anspruchslose Unterhaltung für die Kleinen, die für einen Pixar-Film erstaunlich schluderig daherkommt. Die ersten 15 Minuten sind ein grausiges 80er Jahre Teendrama, danach wird es etwas besser. Sobald die Handlung Fahrt aufnimmt, gibt es viele schöne Abenteuerabschnitte à la "Indiana Jones" oder "Der Herr der Ringe", denen jedoch – so ehrlich muss man sein – das emotionale Futter fehlt. So brillant die Animationen auch sein mögen, so seltsam unausgegoren ist die Fantasywelt geraten: In einer Welt, in der Zauberer, Elfen, Orks und Trolle nebeneinander leben, ist vor einigen Generationen die Magie verloren gegangen, weil moderne Technik wie Flugzeuge oder Smartphones für Bequemlichkeit sorgen. Eine tolle Idee, aber sie dient nur als Setting und wird nie groß vertieft, schlimmer noch, der Film behandelt ganz andere Themen, die vom Setting unangetastet bleiben. Ein ähnlicher Blender wie "Zoomania", aber trotzdem noch nett.
26. Mank (David Fincher)
Cineastischer Elitarismus in Reinkultur! Fincher verfilmt die Entstehungsgeschichte von "Citizen Kane" aus Sicht des Drehbuchautoren Herman J. Mankiewicz und erlaubt sich den Spaß, sämtliche Szenen in derselben Ästhetik wie "Citizen Kane" zu verfilmen, bzw. den Klassiker von Orson Welles immer wieder direkt zu zitieren. Das ist in dieser spielerischen Herangehensweise und hinsichtlich des mehr als dünnen Plots eigentlich nicht mehr als ein sehr teurer, sehr aufwendiger Studentenfilm, den die irren Produzenten bei Netflix wohl in Hoffnung auf einige Oscar-Statuen finanziert haben. Hinsichtlich des Drehbuchs ist das totaler Käse, der auf überkonstruierte Art und Weise versucht, die damaligen Gouverneurswahlen in Kalifornien als politischen Kommentar zum Trump-Amerika aufzublasen. Eine charmante Fingerübung, als funktionaler Spielfilm aber für jeden, der sich nicht für Filmgeschichte interessiert, kaum zu gebrauchen.
25. Der schwarze Diamant (Benny Safdie, Josh Safdie)
Wäre Regisseur John Cassavetes ein Millennial gewesen, hätte das vielleicht diesen Film ergeben. Könnte man Filme wie Menschen betrachten, sie personifizieren, so wäre das hier ein Adrenalin-Junkie mit ADHS. In rastloser Inszenierung jagt Adam Sandler durch eine Art kunterbunten hyperschnellen Großstadtthriller, wobei hier vor allem ein Schnittmassaker verdeutlichen soll, wie kurzweilig das Treiben ist. Anders als ähnliche Turbo-Filme, die sich aber wenigstens zwischendurch dann doch kurze Atempausen gönnen, gibt es hier keine Gedanken ans Luftholen. Das ist in dieser Konsequenz fraglos inspirierend, und Adam Sandler in der manischen Hauptrolle ist eine kleine Schauspiel-Sensation, doch für nicht jeden ist diese anstrengende Sinnesüberlastung ein filmisches Erlebnis. Ich für meinen Teil habe sie in der zweiten Hälfte als ziemliche Tortur empfunden.
24. Jim Knopf und die Wilde 13 (Dennis Gansel)
Die erste Realverfilmung der Jugendbuch-Klassiker von Michael Ende war eine erstaunlich gelungene Adaption, die dicht am literarischen Original und doch mit hübschen visuellen Einfällen die Geschichten um Jim Knopf und Lokomotivführer Lukas ins 21. Jahrhundert transportierten. Beim zweiten Streich gelingt das nicht mehr wirklich, weil die Leichtigkeit und die Entspanntheit abhanden gekommen sind. Teil 2 ist größer, düsterer und gleichzeitig wie so häufig bei Sequels hauptsächlich mehr von allem, was beim ersten Mal gut funktioniert hat. Das Buch von Ende wird wieder überzeugend auf die Leinwand gebracht, doch schon das konnte seinerzeit nicht mehr mit der erfrischenden Simplizität des Vorgängers mithalten. Ein Phänomen, welches sich leider beim Vorgang der Adaption mit in den Film eingeflossen ist.
23. Soul (Pete Docter)
Der ambitionierteste Pixar-Film bislang bekommt nur einen Start bei Disney+ – eine kleine Tragödie. Wer hätte schon erwarten können, dass in einem Animationsfilm, dessen Hauptzielgruppe immer noch Kinder sind, u.a. C.G. Jung auftaucht und über das Unterbewusste spricht. Oder in der Szenen, die abstrakt das "Dasein der Seele außerhalb der irdischen Existenz" abbilden sollen, der Filmklassiker "Irrtum im Jenseits" von 1946 zitiert wird. So weit hat sich Pixar noch nie aus dem Fenster gelehnt – und dementsprechend überladen ist der Endeindruck. In einem Mix aus "Alles steht Kopf", "Coco" und "Alle Hunde kommen in den Himmel" will das Studio gleichzeitig die afroamerikanische Lebenswelt im Jahr 2020 abbilden, zivilisationsanalytische Fragen zum Sinn des Lebens stellen, spirituelle Richtungen der Weltreligionen vereinen und dennoch vor allem Kinder unterhalten. Das Ergebnis ist ein unausgegorener Film, der seine komplexen Ideen immer zugunsten von albernem Slapstick und einer lächerlich simplen Körpertausch-Geschichte zurückstellen muss, und nie die emotionale Kraft erreicht, die sich mit Pixar assoziieren lässt. Ausgerechnet diesem Film fehlt bei aller Ambition letztlich die Seele, wenn er auf den letzten Metern eine kraftvolle Botschaft für Hollywood-Kitsch opfert.
22. Birds of Prey: The Emancipation of Harley Quinn (Cathy Yan)
Manchmal macht es einfach Klick, und dann will ich auch gar nicht groß herum analysieren. Der neueste Film aus dem DC-Filmuniversum ist ein kleiner, derber Actionfilm-Spaß rund um Harley Quinn und ein paar andere Powerfrauen, die in launiger Manier Knochen zertrümmern und Bösewichte zerprügeln, wie es sonst nur in "Atomic Blonde" oder "The Raid" vorgemacht wird. Sicher: Das Drehbuch ist eine unstrukturierte Aneinanderreihung chaotischer Szenen, keine der Figuren bekommt sonderlich viel Substanz, aber was hier betrieben wird, ist kein Comicblockbuster von der Stange, sondern ein ästhetisch aufpoliertes Comeback der B-Movie-Zunft, die mancher gerne für ausgestorben hält. Wer sich drauf einlassen kann, hat einen netten Filmabend vor sich, in dem der unbestreitbare Höhepunkt eine surreale Traumsequenz ist, in der Margot Robbie als Harley Quinn sich in das Musikvideo von "Diamonds are a girls best friend" von Marilyn Monroe hineindenkt.
21. Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden (Aritz Moreno)
Eine spanische Groteske durch und durch, doch leider verwechselt dieser thematisch interessante Film regelmäßig Tempo mit Enthusiasmus. Die schwarze Komödie ist irre schnell erzählt, und dabei durchweg unterhaltsam, doch versucht sie auch so krampfhaft an die Meisterwerke von Luis Buñuel zu erinnern, dass sie manchmal vergisst, sich die Zeit zu nehmen, um etwas Eigenes zu werden. Gestaltlerisch ist das nicht wirklich überzeugend, eine eher wirre Mischung aus verschiedenen Stilen, die kein einheitliches Ganzes formen. Der Humor aber zündet durchaus, wenn sich aus den im Titel behaupteten obskuren Geschichten mehrere Filme im Film ergeben, die in ihrer jeweiligen Ausrichtung zu überraschen wissen. Da es sich hier um einen Debütfilm handelt, könnte bei Folgewerken mehr inszenatorisches Selbstbewusstsein zu den vorhandenen schrägen Ideen hinzukommen.
20. 1917 (Sam Mendes)
Hier wird "Dunkirk" mit der Ästhetik von "Birdman" inszeniert. Ohne sichtbaren Schnitt begibt sich ein britischer Soldat von seinem aktuellen Standort bis ganz nach vorne an die Front, um eine wichtige Botschaft zu übermitteln und damit einen Haufen an Menschenleben zu retten. In der ersten Hälfte sorgt die unendliche Kamerafahrt für eine starke Imersion ins Geschehen und hat einige famose Momente parat. Besonders im Gedächtnis blieb mir die Stelle, in der man meherere Minuten einem sterbenden Soldaten beim aus dem Leben scheiden beiwohnen kann und sieht, wie sich langsam die Farbe aus seinem Gesicht verabschiedet. Im späteren Verlauf wird die mit zahlreichen Gastauftritten von Stars (Colin Fith, Andrew Scott, Benedict Cumberbatch, Mark Strong) gepflasterte Kriegsfilm-Odyssee zum absurden Adventure-Videospiel mit Level-Logik und strapaziert die Glaubwürdigkeit des Konzepts zu arg über. Ein interessanter, durchaus nicht unspannender Film, der jedoch etwas blutleer und heroisch verbleibt.
19. Enola Holmes (Harry Bradbeer)
Abseits der Kinoleinwände ermittelt bei Netflix "nur" die kleine Schwester von Sherlock Holmes, die ihrem Bruder natürlich im Hinblick auf ihren Verstand ebenbürtig ist. Enolas Geschichte ist ein Jugendfilm aus dem Lehrbuch, und lebt zu 100 Prozent vom subtilen, reifen Spiel der Hauptdarstellerin Millie Bobbie Brown. Sie darf ihre Spielfreude besonders immer dann vorführen, wenn sie sich direkt an den Zuschauer richtet und die vierte Wand durchbricht, ein Stilmittel, dessen komödiantisches Potenzial hier nicht ausgereizt, aber vernünftig genutzt wird. Das Drumherum ist ein handelsüblicher Krimi, mit all den kleinen Wirrungen, die diese Filme so in sich haben – und wenn man ganz ehrlich ist, hat all das mit Sir Arthur Conan Doyle und dem Mythos rund um Sherlock Holmes rein gar nichts zu tun. Wenn einen das nicht stört, ist der harmlose Spaß den Abend durchaus wert.
18. Cats (Tom Hooper)
Liebe Internetgemeinde: Was war an dieser Musical-Verfilmung bitte so furchtbar? Natürlich lässt sich der Geist von Andrew Lloyd Webber nicht in einen Film übertragen. Natürlich sieht eine am Computer erzeugte Zwitterwesensversion von Mensch und Katze surreal und unwirklich aus. Natürlich können Stars wie Ian McKellen, Taylor Swift oder Jason Derulo nicht mit echten Musical-Darstellern konkurrieren. Trotzdem ist das hier ein Film geworden, der künstlerisch ein Wagnis eingeht, der mutig mit seinen Stilmitteln eine Melange aus Theater und Kino erzeugen will. Nicht jeder Einfall glückt dabei, dennoch ist diese ziemlich direkte Übertragung des Bühnenstücks in ein filmisches Kleid vor allem eine große Liebeserklärung an das Musical-Theater – und hat die groteske Aufregung drum herum nicht verdient.
17. Jojo Rabbit (Taika Waititi)
Ein kleiner Junge aus der Hitler-Jugend, dessen imaginärer Freund der Führer persönlich ist, entkommt durch die Freundschaft zu einem jüdischen Mädchen seiner Indoktrinierung. Dieser Plot könnte in jedem Genre erzählt werden und deshalb versucht der Film gleich alle Tonalitäten auf einmal. Der emotional herausfordernde schnelle Mix aus bitterer Tragödie und herzenswarmer Komödie ist eine der ungewöhnlichsten Herangehensweise an das dunkle Kapitel der NS-Zeit seit langem, funktioniert über weite Strecken aber mit einer bemerkenswerten Treffsicherheit. Der Humor ist erfreulich subversiv und damit tiefgehend, die NS-Ikonographie und ihr Pathos werden auf hintergründige Weise vorgeführt, sodass sich mit sicherem zeitlichen Abstand zu dieser Zeit darüber Amüsement einstellen mag. Nicht so gelungen ist der Versuch, parallel auch eine Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, da so die Fokussierung auf die schlauen historischen Kommentare verwässert wird. Ebenfalls gestalten sich die Auftritte von Sam Rockwell und Rebel Wilson in unnötigen Klischeefiguren als tendenziell nervig.
16. Emma (Autumn de Wilde)
Wirklich überzeugende, in ihrer sinnlichen Erzählweise sogar emotional kluge Verfilmung des literarischen Meisterwerks von Jane Austen. Mit viel Mühe wird eine prunkvolle Welt gezeichnet, in der die Titelfigur beständig arrogantes Auftreten mit gesundem Selbstbewusstsein verwechselt. Die Risse im Marmor, durch welche die Vorlage zu einem Meilenstein in Hofdarstellungen wurde, sind hier minutiös herausgearbeitet und ein großer Spaß, auch wenn Anya Taylor-Joy vielleicht an manchen Stellen fehlbesetzt wirkt. Statt einer simplen Romantic Comedy bemühen sich die Macher des Films um eine feministische Neuinterpretation des Romans. Nicht an allen Stellen geglückt, ist der Unterhaltungswert dennoch hoch und manche Dialogzeile so elegant, dass sie sich leicht auch Wochen nach der Filmsichtung erinnern und in eigenen Wortgefechten einbinden lässt.
15. Knives Out (Rian Johnson)
Den ungewöhnlichsten Genre-Twist des Jahres hat sich Rian Johnson zuzuschreiben und es gehört schon eine große Portion Irrwitz dazu, ein klassisches Agatha-Christie-Whodunnit innerhalb weniger Minuten in einen beinharten Suspense-Thriller der Marke Alfred Hitchcock umzuwandeln. Über weite Strecken haftet dem etwas anderen Krimi so der postmoderne Schleier der Unvorhersehbarkeit an, ehe letztlich dann doch auf den Genre-üblichen Erklärbärmonolog des hier gar nicht mal so schlauen Ermittlers zurückgegriffen wird. Die fabelhafte Besetzung ist bis in die kleinste Rolle toll besetzt, besonders hervorragend ist Ana de Armas in der weiblichen Hauptrolle und der majestätisch agierende Christopher Plummer, der nur in Rückblenden auftritt – immerhin ist er die Leiche. Etwas zu schlau will das Drehbuch aber schon sein und in der zweiten Hälfte werden so viele unglaubwürdige Wendungen aneinandergereiht, dass nur noch der Spaß-Faktor entscheidet, wie sehr man bereit ist, hierüber hinwegzusehen.
14. Da 5 Bloods (Spike Lee)
Jetzt ist sogar Spike Lee bei Netflix gelandet? Ja, so ist es. Und ungeachtet dessen, wie man zum Streamingmarkt stehen mag, ist sein Kriegsdrama, welches er dort lanciert hat, die Sichtung allemal wert. Wenn die ehemaligen Vietnam-Veteranen nach mehreren Jahrzehnten in das Land zurückkehren, das sie einst traumatisiert verließen, ergibt das viele starke Momente, die auch aus dem Fundus der Filmgeschichte schöpfen: Eine Bar heißt "Apocalypse Now" und natürlich darf Wagners Wallkürenritt nicht fehlen. Als amüsantes Roadmovie mit Tiefgang funktioniert der Netflix-Oscaranwärter spielerisch. Bei den Versuchen, gleichzeitig auch einen Kommentar zum strukturellen Rassismus in den USA einzuweben, wandelt er Film aber auf der Schwelle zwischen klugen Beobachtungen (herrlich: Ein Dialog über "Rambo" stellt fest, wie rassistisch auch das Denken in Hollywood war und ist) und plumpen Überzeichnungen.
13. Der Fall Richard Jewell (Clint Eastwood)
Großmeister Clint hat einen neuen Film und erst nach einer gefühlten Ewigkeit gab es den auch mal bei uns zu sehen. Gelohnt hat sich die Wartezeit: So schnörkellos und aufrichtig an der Spannungsschraube können nur wenige drehen und für Eastwood ist das gerade mal Routine. Sieht aber nie so aus, fühlt sich nie so an. Strukturell und thematisch ist die Verfilmung des Sicherheitsmannes, der beim Attentat auf die Olympischen Spiele in Atlanta 1996 eine entscheidende Rolle spielte, eng mit seinem Heldenporträt "Sully" verbunden und insgesamt ist das Werk etwas zu groß, etwas zu aufgedunsen auf verschiedene Akteure, um die selbe emotionale Stringenz von "Sully" zu beweisen. Trotzdem ist das großes, spannendes Kino nach wahren Begebenheiten und die Sichtung definitiv wert.
12. Der Unsichtbare (Leigh Whannell)
So effektiv darf Horror gerne häufiger sein. Dass hier ein unsichtbarer Killer Jagd macht, ist nicht der wahre Grund, warum es sich bei diesem Film leicht gruseln lässt. Als erster Genre-Film verarbeitet diese lose H.G. Wells Adaption sozialkritische Aspekte mit existentialistischen Zwischentönen. Elisabeth Moss ist großartig in der Rolle der Verfolgten, die nicht einfach bloß die nächste Scream Queen ist, sondern ein Missbrauchsopfer. Der smarte Dreh für diese moderne Neuinterpretation ist die Verarbeitung des #metoo-Skandals. Statt eines Monsters heißt das wahre Grauen hier toxische Maskulinität. Ohne erhobenen Zeigefinger wandelt sich das Horrordrama zum Ende so in eine feministische Ermächtigungsgeschichte.
11. Waves (Trey Edward Shults)
Eine eigensinnige Betrachtung des sogenannten "American Way of Life", in welchem die Familie gerne als Rückzugsort, als sicherer Hafen propagiert wird. Hier steht sozusagen der "Afroamerican Way of Life" im Vordergrund, in dem die Familie nicht weniger wichtig ist, aber auch einen enormen Druck ausübt. Wie "Moonlight" wird die Dekonstruktion fragiler schwarzer Männlichkeit betrachtet und in nüchternen, aber nachdenklichen Bilder aufgedröselt. Formell ist das ein brillantes Drehbuch, einzig die popkulturell aufgeladene, farblich warme Inszenierung schießt in ihrem Musikvideo-Pathos gelegentlich über das Ziel hinaus. Die emotionale Kraft dieses Films mindert das keineswegs.
10. Für Sama (Waad al-Kateab, Edward Watts)
Mit Zeitsprüngen und Smartphone-Aufnahmen aus verschiedenen Jahren zeigt dieser großartige Dokuementarfilm den Syrienkrieg von Baschar al-Assad gegen einen Teil des eigenen Landes aus der Perspektive einer Mutter aus Aleppo. In ungestellten, unaufdringlichen Wechseln wird so die gekippte Stimmung im Land deutlich: Von der Studentenrevoltevon 2012 bis ins Jahr 2016, dem Moment, in dem Waad al-Kateab (die zu ihrem eigenen Schutz ihren Namen änderte) ihr Heimatland für immer verließ. Ein zeitgemäßes, erschreckendes Porträt, das sich deshalb so tief ins Unterbewusstsein eingräbt, weil es in seiner Handykamera-Ästhetik die Unaufgeregtheit von Social Media Videos auf Instagram für sich einnimmt, und sie mit Momenten des Schreckens füllt.
09. The Peanut Butter Falcon (Tyler Nilson, Michael Schwartz)
Endlich mal ein großes, in seinen Motiven und Themen uramerikanisches Drama um Personen, welches sich nicht gezwungen fühlt, auf die Tränendrüse zu drücken. Verdammt nochmal, so gestaltet sich ein gefühlvoller Film, der echte Gefühle transportiert und sie nicht behaupten muss. Cineastische Empathie kann so einfach sein, in dem man die Figuren nicht im Dienste eines Plots oder einer Aussage stellt, sondern sie wie in dieser Tragikomödie kommunizieren lässt – verbal und nonverbal. Wenn der junge am Down-Syndrom erkrankte Mann von der Diskriminierung berichtet, die ihm im Alltag begegnet, oder wenn seine idealistische Pflegerin jeder Zeit alles für ihn stehen und liegen lassen würde, ist das kein Kitsch der Marke Traumfabrik, sondern eine Bestandsaufnahme verunsicherter, junger Menschen, die versuchen, in ihrem Leben einer Richtlinie zu folgen, die sie selbst noch nicht verstanden haben oder definieren können. Aufrichtiges Kino, ohne Plädoyer, mit (Fein-)Gefühl.
08. Queen & Slim (Melina Matsoukas)
Was wurde dieser Film nicht stark missverstanden? Überall las man von der afroamerikanischen Version der "Bonnie & Clyde"-Geschichte. Doch mit Arthur Penn hat dieser Film rein gar nichts zu tun, denn der Fokus liegt nie auf der Sexualisierung von Gewaltikonographien. Stattdessen wird hier das festgefahrene Rassenverständnis der USA unter dem Mikroskop zensiert, ohne auf der sogenannten White Trash Sozialisation herumzuhacken. Offensichtlich wurde dieser Film mit sehr viel Wut im Bauch gedreht, und einige Monate später veröffentlicht hätte er wie kein anderer die politische Stimmungslage in den #BlackLivesMatter-Monaten auffangen können. Das hier mag ein Personenstück, ein Thriller sein, und es ist doch ein durch und durch politischer, ideologischer Film, der aufrütteln will – was ihm ohne große Mühe gelingt.
07. Tenet (Christopher Nolan)
Ist das Größenwahn, eine für sich betrachtet philosophische Fingerübung als Multimillionen-Produktion umzusetzen? Wird diese Geschichte nur deshalb als Actionfilm, als postpostmoderne "James Bond"-Iteration aufgeladene Handlung erzählt, um den Mainstream in dieses selbstreflexive Stück Kino zu täuschen? Klares Ja. Verwerflich allein ist das gar nicht, wenn die Mischung so virtuos und ausgeklügelt ihr Spektrum an Raffinesse auf der Leinwand entfaltet. Es ist leicht, dieses schwierige Stück Film als Sci-Fi-Epos misszuverstehen, als physikalischen Zeitreisefilm, denn im Kern geht es um die Philosophie der Zeit, sowohl im echten Leben als auch in der Erzählkunst. Christopher Nolan gelingt ein mutiger, mit Aussagen beinahe überladener cineastischer Essay. Muss er sich dafür entschuldigen, diesen auf die möglichst unterhaltsamste Art und Weise inszeniert zu haben?
06. Pinocchio (Matteo Garrone)
Sein "Das Märchen der Märchen" gehörte zu den besten Filmen der 2010er und ist das zentrale Märchenfilm-Meisterwerk der jüngeren Filmgeschichte. Nach einem Ausflug in Mafia-Gefilde im ähnlich meisterhaften "Dogman" backt Matteo Garrone nun kleinere Brötchen und verfilmt ohne großes Aufsehen die Geschichte des hölzernen Knaben, der ein normaler Junge werden will. Ohne große Abweichungen von der Originalgeschichte besticht diese Version durch ihre schaurig reale Optik, durch die die perfide Pädagogik der berühmten Story zum skurrilen Bodyhorror transformiert wird. Allein das ist eine Meisterleistung, wäre da nicht auch noch die einmalige Ausstattung, die dieses Jahr in Punkto Detailverliebtheit und Patina im Filmbereich ihres Gleichen sucht und den richtigen Spagat aus Märchenverfilmung und Kunstkino hinbekommt.
05. Jean Seberg: Against all Enemies (Benedict Andrews)
Schauspielerin Jean Seberg wird filmhistorisch vor allem durch ihre Rolle im Nouvelle-Vauge-Klassiker "Außer Atem" assoziiert. Das ihr jetzt ein Film gewidmet wurde, der sich ebenso in der Zukunft als Klassiker herausstellen könnte, ist eine der tollen Geschichten, die das Kino selbst schafft. Kristen Stewart spielt die französische Film-Ikone mit faszinierendem Dekor. Der Fokus liegt nicht auf Sebergs Filmen, sondern auf ihrer Affäre mit Bürgerrechtler Hakim Jamal, durch welche sie zur Zielscheibe des FBI wurde. Über 100 Minuten lässt sich so hautnah miterleben, wie die zerbrechliche Psyche einer Frau, die ein Leben auf der Überholspur lebt, um ihre inneren Dämonen still zu halten, von äußeren Umständen vollständig annihiliert wird. Ohne Frage: Das stärkste Personendrama des Jahres!
04. The Gentlemen (Guy Ritchie)
Warum Guy Ritchie immer noch eine der stärksten Stimmen des zeitgenössischen Kinos ist, stellt sein neuester Streich unter Beweis, bei dem er zu seinen Ursprüngen zurückfindet, aber die perfektionistische Ausgestaltung seiner Hollywood-Ausflüge übernimmt. Das destruktive, rasante Gauner-Epos, irgendwo zwischen "Der Pate" und "Snatch" angesiedelt, verlangt vollste Konzentration vom Zuschauer, da es offen damit spielt, mehrere Sachen von der ersten Szene an auf einmal zu versuchen. Eine unchronologisch erzählte Charakterstudie eines Alphamännchens und seiner Fassaden ist der oberflächliche Fokus, gleichzeitig wird aber die britische Selbstwahrnehmung im Post-Brexit-Zeitalter verhandelt. Und wäre das nicht genug, sorgt die selbstironische, innovative Regie für einen Meta-Kommentar auf die Funktionalität und Effektivität des postmodernen Kinos. Der coolste, aber auch der intelligenteste Film der jüngeren Vergangenheit.
03. Little Women (Greta Gerwig)
"Betty und ihre Schwestern" wurde so oft verfilmt, dass es zu dem Stoff nichts mehr zu sagen gibt oder? Falsch! Wie immer ist das Kino das beste Medium für Neuausrichtungen, für kreatives Umdenken. Intellektuell, so kann man diese Verfilmung eines sogenannten Bildungsromans wohl am ehesten bezeichnen. Das geniale Drehbuch zeigt auf, wie viel sich aus einem bekannten Stoff herausholen lässt, durch einen einzigen narrativen Taschenspielertrick: die Ellipse. Dramaturgisch und chronologisch verrückt ist diese Adaption keine stringente Geschichte, sondern ein Mosaik von Momenten, die weiblichen Individualismus feiern, ohne einen bemühten Feminismus des 21. Jahrhunderts predigen zu müssen. Gleichzeitig ist dieser Film eine Lehrstunde in Publikumsmanipulation: Durch simpelste Informationsvorenthaltungen wird auf der Klaviatur der Erwartungen gespielt, ähnlich furios, wie es Alexandre Desplat im traumhaften Soundtrack tut.
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02. Kajillionaire (Miranda July)
Vielleicht ist es den Begleitumständen des Corona-Jahres 2020 geschuldet, dass das wahre filmische Meisterwerk von einer Familie handelt, einer Familie aus Betrügern, deren größter Betrug die Illusion einer intakten Familie ist. Soziale Inkompatibilität ist das erste und wichtigste Attribut, welches der Tochter des Betrügerpaares anhaftet, brillant gespielt von Evan Rachel Wood. Sie ist eine Empathin, gleichzeitig der Lebenswirklichkeit der verschiedenen sozialen Schichten aber fremd. Ihre Handlungen, aber auch ihre Verwurzlung in das Treiben der eigenen Verwandten, sind das Zentrum dieses berührenden Films, der lange Zeit von seiner Skurrilität a la Wes Anderson heraus Aufmerksamkeit bezieht. Natürlich sind das Kunstfiguren, und dennoch rühren sie zu Tränen, denn sie sprechen unser Innerstes an: Das Gefühl, einerseits den eigenen Weg gehen zu wollen, andererseits aber auch dazugehören zu müssen. Dermaßen brillant habe ich das Gefälle aus Individualismus und Gesellschaftswesen selten präsentiert gesehen. Bravo!
01. Hamilton (Thomas Kail)
Auf Disney+ ist dieses Jahrhundertwerk jetzt als filmische Aufbereitung eines Konzertmitschnitts veröffentlicht worden. Das "Hamilton"-Broadwaymusical ist vielleicht das medienübergreifende popkulturelle Meisterwerk des vergangenen Jahrzehnts. Nun rufen Puristen: Ein Konzertmitschnitt sei kein Film, sei nicht the real deal. Und natürlich gilt für die Theatererfahrung: Nichts ist vergleichbar damit, im Raum gewesen zu sein, in dem es passierte. "Hamilton" auf Disney+ gar nicht erst der Versuch, die Audience Experience eines Broadway-Stücks erlebbar zu machen. Stattdessen bringt uns die Kamera ganz nah ran an die Akteure, begrenzt bewusst unseren Blickwinkel, verweigert uns gerne den Blick auf die ganze Bühne. Die Regie ist für die Kamera akzentuiert, setzt Schwerpunkte, entschlankt. "Hamilton" auf Disney+ ist ein Film, und doch kein Film. Es ist eine Melange, ein Zwitterwesen, ein hungriges Biest. Eine neue Erfahrung. Was es aber nicht ist: Ein Kompromiss, bei dem der Cineast seine Ansprüche auf komplexes Filmhandwerk herunterschlucken muss.
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Wow! Deine Tenet Wertung lässt mich wieder hoffen, nachdem der Streifen die Tage Thema im Freundeskreis war und zerissen wurde. Ich will ihn einfach gut finden.
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Das wollte ich auch - ist er aber wirklich nicht.
Ich mache keine Rechtschreibfehler, ich gebe Wörtern lediglich eine individuelle Note
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Ich gehe nicht mit jeder Wertung mit, aber wie immer sehr schön zu lesen.
- deBohli
- Palmenkicker
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Eine tolle Liste, danke dafür. Zwar finden wir uns nicht überall, doch bei Queen And Slim, Little Women, Hamilton und Kajillionaire kann ich zustimmen, es sind tolle Produktionen.
Zorro: Rächer der Enterbten, Dunkler Ritter von Mexiko
Die Maske des Zorro
Sie sind das wohl größte massenkulturelle Phänomen, dass aus dem kulturellen Schmelztiegel der Vereinigten Staaten von Amerika hervorgegangen ist: die Superhelden! 1938 erschien das erste Comicheft um einen außerirdischen Moses, der von einem US-Farmerpaar aufgezogen und zum Erretter der Menschheit wird. Keine Frage: Die Mythologie von „Superman“ hat die moderne Vorstellung von Heldenbildern elementar geprägt. Die oftmals maskierten Hüter des Gesetzes, vorzugsweise mit Umhang und Alter Ego, haben die Popkultur im Sturm erobert. Viel erkennen im Erfolg der Comicfiguren in Film, Fernsehen und Videospielen eine Weiterentwicklung der antiken Heroen, wie zum Beispiel Odysseus, Achilles oder Herakles. Doch soweit muss man gar nicht zurückgehen, um eine Heldenfigur zu finden, die mit Maske im Gesicht und schwarzem Umhang den Kampf gegen das Böse aufnimmt – und sie stammt sogar aus den USA. 1919 veröffentlichte der Autor Johnston McCulley einen Groschenroman, mit dem unscheinbaren Titel „The Curse of Capistrano“. Seine Heldenfigur kennt dafür heue noch die ganze Welt: Zorro.
Zorro, das ist eigentlich der spanische Edelmann Don Diego de la Vega, der zur Zeit der spanischen Kolonialherrschaft in Mexiko mit Maske, Mantel und Degen die Landbesetzer bekämpft. Verbindungen zu Volkshelden à la Robin Hood oder realen mexikanischen Volksheiligen wie Jesús Malverde sind offensichtlich. Wer jedoch eine der modernsten filmischen Iterationen gesehen hat, nämlich „Die Maske des Zorro“ von 1998, dem mag noch eine andere Verbindung kommen. Schauen wir uns den Charakter an: Ein reicher, unscheinbarer Landbesitzer, der in seinem Herrenschloss ein unauffälliges Leben in Wohlstand führt, und sich für den Schutz des kleinen Mannes in schwarze Gewänder hüllt, um als Heldenmythos das Böse zu bekämpfen? Keine Frage: Regisseur Martin Campbell orientierte sich bei seiner filmischen Wiedergeburt des Mythos an alten Abenteuerfilmen mit Douglas Fairbanks oder Errol Flynn, doch ist es nicht nur der Zeit geschuldet, dass den modernen Zuschauer vieles an die Comicfigur „Batman“ und seine filmischen Auftritte erinnern lässt.
So lässt sich Campbell keine Zeit, um schon in den ersten zehn Minuten seines Actionfilms klassische „Zorro“-Atmosphäre aufkommen zu lassen. Besser noch: Der augenzwinkernd inszenierte Auftritt des degenfechtenden Kämpfers, der einige arme Bauern vor der Hinrichtung bewahrt und den niederträchtigen Don Rafael Montero konfrontiert, ist ein „Zorro“-Film im Miniatur-Format, der trotz seiner wenigen Dialogzeilen mühelos an „Das Zeichen des Zorro“ erinnert, jene erste Verfilmung des Stoffes von 1920. Doch schon im Anschluss an dieses nostalgische Intro wartet die Neuinterpretation mit ihrem größten Twist auf: Don Diego wird enttarnt, sein Mythos gelüftet, sein Vermächtnis ihm entrissen. Er sieht sich in einem Gefängnis wieder, erst nach 20 Jahren glückt ihm die Flucht. Hier führt in das Drehbuch von John Eskow sowie dem Autorenduo Ted Elliot & Terry Russo mit dem Ganoven Alejandro Murrieta zusammen – und aus dem Heldenmärchen wird ein Mentorendrama: Alejandro geht bei Don Diego in die Lehre.
Für die restliche Handlung müssen keine Worte verloren werden: Es versteht sich von selbst, dass letztlich das Gute über das Böse gewinnt. Und es ist genauso offensichtlich, dass in der Geschichte auch eine junge Schönheit auftauchen muss, die es für den jungen Alejandro zu erobern gilt. „Die Maske des Zorro“ ist nicht darin bestrebt, die Mythologie von Abenteuergeschichte neu zu erfinden. Ihr Anliegen ist die reizvolle Variation. Und ohne große Interpretationen zu benötigen, lässt sich erkennen, dass Martin Campbell sich bei seiner Regie mindestens so sehr von Comic-Strips wie der eigentlichen literarischen und filmischen Vorlage des Charakters bedient hat. Große Actionszenen mit meist explosivem Ausgang sind in ihrer selbstironischen Natur den Supermännern der Comicgeschichte näher als den Mantel-und-Degen-Filmen der Goldenen Ära Hollywoods. Schon drei Jahre vor seinem „Zorro“-Film versuchte er sich an der Neuerfindung eines anderen filmischen Mythos: Er war verantwortlich für „James Bond 007 – GoldenEye“, in dem er dem britischen Doppel-Null-Agenten aus seiner bis dato größten Krise half.
Auch bei „Die Maske des Zorro“ gelingt ihm das, ohne die Wurzeln des Ausgangsmaterials zu verkennen. Die phänomenalen Degenszenen wurden sogar von Robert Anderson choreographiert, jenem legendären Fechtkünstler, der viele Jahrzehnte zuvor Errol Flynn, den vielleicht größten Stars des Abenteuerkinos trainierte – und in den Kampfszenen der „Star Wars“-Filme übrigens selbst im Kostüm eines gewissen Darth Vader steckte. Und in rasanten Verfolgungsjagden beweist das Stunt-Personal, dass man auf Pferden fast alles machen kann. Unzweifelhafter Höhepunkt: Im Stehen auf zwei galoppierenden Pferden abspringen, über einen in der Luft hängenden Baumstamm hechten und wieder auf beiden Pferden im Stand landen. Dabei verzichtet der Film, der im Hintergrund von Kino-Großvisier Steven Spielberg produziert wurde, auf Effektorgien und Tricks aus dem Computer. Visuell ist die Zeitreise dennoch opulent geraten: Was in den alten glorreichen Zeiten des Hollywood-Kinos in Filmen um Ritter, Piraten, Volkshelden und Cowboys allzu oft durch theatralische Studiokulissen geprägt war, ersetzt „Die Maske des Zorro“ durch Authentizität. Gedreht wurde die meiste Zeit vor Ort in Mexiko, die wenigen künstlichen Momente des Films funktionieren ausschließlich als Hommage an die so gern verklärte „gute alte Zeit“.
Authentizität gilt auch im Hinblick auf die Besetzung. Zum ersten Mal steckt tatsächlich ein spanischstämmiger Darsteller unter der Maske des Superhelden: Antonio Banderas ist eine Idealbesetzung für die Leinwand-Legende. Ihm gelingt die schwierige Aufgabe, die glorreichen Actionszenen durch sein subtiles Spiel emotional zu erden – gleichzeitig wahrt er aber auch eine kühne Selbstironie, ohne die ein so klassischer Abenteuerfilm 1998 wohl kaum funktionieren könnte. Ihm ist es zu verdanken, dass das Schwingen von Balustrade zu Balustrade nie in Pathos untergeht. Zudem teilt er eine tolle Chemie mit seinen Co-Stars: Anthony Hopkins gibt dem gealterten Don Diego eine prächtige würdevolle Darstellung, die zwar einerseits seine Stärken als versierter Charakterdarsteller nicht immer ausspielt, aber dem Film einen unweigerlichen Glanz mitgibt. Der größte Besetzungscoup ist aber die Britin Catherine Zeta-Jones in der weiblichen Hauptrolle. Nicht nur gibt sie den Männern in ihrem Leben gehörig Paroli, sie ist sichtlich voller Spaß bei der Sache. Grandios: Ihr einziger Fechtkampf gegen Banderas, der als erotische Verführung konzipiert ist – und bei dem es nicht darum geht, den Gegner zu verwunden, sondern mit der Klinge sanft zu entkleiden.
Superhelden haben oft im Kern zwei Wesenszüge: Sie sind sowohl jugendliche Draufgänger als auch väterliche Vorbilder. Die „Zorro“-Figur auf zwei Personalien aufzusplittern, von der je eine die dramaturgische Funktion des Heldenbildes erfüllt, ist ohne Frage der intelligenteste Aspekt der Geschichte. Der langsame Aufbau mag dem Film letztlich eine Überlänge von insgesamt 137 Minuten verpassen, doch beweist Campbell hiermit, die Vorbilder verstanden zu haben. Nur wer sich Zeit nimmt, seine Charaktere in Stellung zu bringen und auch Erzählzeit aufbringt, um die Schurken, hier Don Rafael Montero alias Stuart Wilson und Captain Harrison Love aka Matt Letscher, aufzubauen, verdient sich das Crescendo am Ende. Die finalen großen Actionszenen wollen nicht mehr und nicht weniger als die Lust nach Abenteuern wecken, selbst der Soundtrack von James Horner verzichtet auf große Töne, bleibt auf humorvoller Distanz. Der Vorwurf der Konventionalität greift hier zu kurz. „Die Maske des Zorro“ ist ein Lustspiel, ein Kostümfest voller Spaß, Erotik und Spannung – und missachtet dennoch die Intelligenz der Zuschauer nicht.
Martin Campbell widerlegt mit diesem Film eine alte Binsenweisheit: „Leichte“ Filme sind nicht gleichzeitig auch „leicht zu machen“. Es gehört einiges an Energie, Geschick und Raffinesse dazu, den südlichen Bruder von Robin Hood ohne weiteres zum Degen-schwingenden Batman der Spätneunziger zu machen und dabei gleichzeitig den Zauber alter Abenteuerfilme heraufzubeschwören. Eine Mischung aus Ironie, Action und Romantik ist das Rezept jedes Hollywood-Blockbusters, aber das Geheimnis liegt wie so oft in der Dosierung. Hier wurde alles richtig gemacht. Kameramann Phil Meheux erschafft Bilder, die spektakulär sind, aber spielerisch aussehen. Die Schauspieler tragen ihre Kostüme mit Würde, haben jedoch keine Angst, sich auch mal lächerlich zu machen. Und der Zuschauer darf hier mitfeiern und mit großen Augen staunen und muss sich hinterher trotzdem nicht dafür schämen, einfach nur unterhalten worden zu sein. Im Zuge der Superheldenwelle der 2000er mag „Die Maske des Zorro“ etwas in Vergessenheit geraten sein. Die Formel für den Erfolg dieser Filme findet sich jedoch schon hier in Formvollendung.
Sie sind das wohl größte massenkulturelle Phänomen, dass aus dem kulturellen Schmelztiegel der Vereinigten Staaten von Amerika hervorgegangen ist: die Superhelden! 1938 erschien das erste Comicheft um einen außerirdischen Moses, der von einem US-Farmerpaar aufgezogen und zum Erretter der Menschheit wird. Keine Frage: Die Mythologie von „Superman“ hat die moderne Vorstellung von Heldenbildern elementar geprägt. Die oftmals maskierten Hüter des Gesetzes, vorzugsweise mit Umhang und Alter Ego, haben die Popkultur im Sturm erobert. Viel erkennen im Erfolg der Comicfiguren in Film, Fernsehen und Videospielen eine Weiterentwicklung der antiken Heroen, wie zum Beispiel Odysseus, Achilles oder Herakles. Doch soweit muss man gar nicht zurückgehen, um eine Heldenfigur zu finden, die mit Maske im Gesicht und schwarzem Umhang den Kampf gegen das Böse aufnimmt – und sie stammt sogar aus den USA. 1919 veröffentlichte der Autor Johnston McCulley einen Groschenroman, mit dem unscheinbaren Titel „The Curse of Capistrano“. Seine Heldenfigur kennt dafür heue noch die ganze Welt: Zorro.
Zorro, das ist eigentlich der spanische Edelmann Don Diego de la Vega, der zur Zeit der spanischen Kolonialherrschaft in Mexiko mit Maske, Mantel und Degen die Landbesetzer bekämpft. Verbindungen zu Volkshelden à la Robin Hood oder realen mexikanischen Volksheiligen wie Jesús Malverde sind offensichtlich. Wer jedoch eine der modernsten filmischen Iterationen gesehen hat, nämlich „Die Maske des Zorro“ von 1998, dem mag noch eine andere Verbindung kommen. Schauen wir uns den Charakter an: Ein reicher, unscheinbarer Landbesitzer, der in seinem Herrenschloss ein unauffälliges Leben in Wohlstand führt, und sich für den Schutz des kleinen Mannes in schwarze Gewänder hüllt, um als Heldenmythos das Böse zu bekämpfen? Keine Frage: Regisseur Martin Campbell orientierte sich bei seiner filmischen Wiedergeburt des Mythos an alten Abenteuerfilmen mit Douglas Fairbanks oder Errol Flynn, doch ist es nicht nur der Zeit geschuldet, dass den modernen Zuschauer vieles an die Comicfigur „Batman“ und seine filmischen Auftritte erinnern lässt.
So lässt sich Campbell keine Zeit, um schon in den ersten zehn Minuten seines Actionfilms klassische „Zorro“-Atmosphäre aufkommen zu lassen. Besser noch: Der augenzwinkernd inszenierte Auftritt des degenfechtenden Kämpfers, der einige arme Bauern vor der Hinrichtung bewahrt und den niederträchtigen Don Rafael Montero konfrontiert, ist ein „Zorro“-Film im Miniatur-Format, der trotz seiner wenigen Dialogzeilen mühelos an „Das Zeichen des Zorro“ erinnert, jene erste Verfilmung des Stoffes von 1920. Doch schon im Anschluss an dieses nostalgische Intro wartet die Neuinterpretation mit ihrem größten Twist auf: Don Diego wird enttarnt, sein Mythos gelüftet, sein Vermächtnis ihm entrissen. Er sieht sich in einem Gefängnis wieder, erst nach 20 Jahren glückt ihm die Flucht. Hier führt in das Drehbuch von John Eskow sowie dem Autorenduo Ted Elliot & Terry Russo mit dem Ganoven Alejandro Murrieta zusammen – und aus dem Heldenmärchen wird ein Mentorendrama: Alejandro geht bei Don Diego in die Lehre.
Für die restliche Handlung müssen keine Worte verloren werden: Es versteht sich von selbst, dass letztlich das Gute über das Böse gewinnt. Und es ist genauso offensichtlich, dass in der Geschichte auch eine junge Schönheit auftauchen muss, die es für den jungen Alejandro zu erobern gilt. „Die Maske des Zorro“ ist nicht darin bestrebt, die Mythologie von Abenteuergeschichte neu zu erfinden. Ihr Anliegen ist die reizvolle Variation. Und ohne große Interpretationen zu benötigen, lässt sich erkennen, dass Martin Campbell sich bei seiner Regie mindestens so sehr von Comic-Strips wie der eigentlichen literarischen und filmischen Vorlage des Charakters bedient hat. Große Actionszenen mit meist explosivem Ausgang sind in ihrer selbstironischen Natur den Supermännern der Comicgeschichte näher als den Mantel-und-Degen-Filmen der Goldenen Ära Hollywoods. Schon drei Jahre vor seinem „Zorro“-Film versuchte er sich an der Neuerfindung eines anderen filmischen Mythos: Er war verantwortlich für „James Bond 007 – GoldenEye“, in dem er dem britischen Doppel-Null-Agenten aus seiner bis dato größten Krise half.
Auch bei „Die Maske des Zorro“ gelingt ihm das, ohne die Wurzeln des Ausgangsmaterials zu verkennen. Die phänomenalen Degenszenen wurden sogar von Robert Anderson choreographiert, jenem legendären Fechtkünstler, der viele Jahrzehnte zuvor Errol Flynn, den vielleicht größten Stars des Abenteuerkinos trainierte – und in den Kampfszenen der „Star Wars“-Filme übrigens selbst im Kostüm eines gewissen Darth Vader steckte. Und in rasanten Verfolgungsjagden beweist das Stunt-Personal, dass man auf Pferden fast alles machen kann. Unzweifelhafter Höhepunkt: Im Stehen auf zwei galoppierenden Pferden abspringen, über einen in der Luft hängenden Baumstamm hechten und wieder auf beiden Pferden im Stand landen. Dabei verzichtet der Film, der im Hintergrund von Kino-Großvisier Steven Spielberg produziert wurde, auf Effektorgien und Tricks aus dem Computer. Visuell ist die Zeitreise dennoch opulent geraten: Was in den alten glorreichen Zeiten des Hollywood-Kinos in Filmen um Ritter, Piraten, Volkshelden und Cowboys allzu oft durch theatralische Studiokulissen geprägt war, ersetzt „Die Maske des Zorro“ durch Authentizität. Gedreht wurde die meiste Zeit vor Ort in Mexiko, die wenigen künstlichen Momente des Films funktionieren ausschließlich als Hommage an die so gern verklärte „gute alte Zeit“.
Authentizität gilt auch im Hinblick auf die Besetzung. Zum ersten Mal steckt tatsächlich ein spanischstämmiger Darsteller unter der Maske des Superhelden: Antonio Banderas ist eine Idealbesetzung für die Leinwand-Legende. Ihm gelingt die schwierige Aufgabe, die glorreichen Actionszenen durch sein subtiles Spiel emotional zu erden – gleichzeitig wahrt er aber auch eine kühne Selbstironie, ohne die ein so klassischer Abenteuerfilm 1998 wohl kaum funktionieren könnte. Ihm ist es zu verdanken, dass das Schwingen von Balustrade zu Balustrade nie in Pathos untergeht. Zudem teilt er eine tolle Chemie mit seinen Co-Stars: Anthony Hopkins gibt dem gealterten Don Diego eine prächtige würdevolle Darstellung, die zwar einerseits seine Stärken als versierter Charakterdarsteller nicht immer ausspielt, aber dem Film einen unweigerlichen Glanz mitgibt. Der größte Besetzungscoup ist aber die Britin Catherine Zeta-Jones in der weiblichen Hauptrolle. Nicht nur gibt sie den Männern in ihrem Leben gehörig Paroli, sie ist sichtlich voller Spaß bei der Sache. Grandios: Ihr einziger Fechtkampf gegen Banderas, der als erotische Verführung konzipiert ist – und bei dem es nicht darum geht, den Gegner zu verwunden, sondern mit der Klinge sanft zu entkleiden.
Superhelden haben oft im Kern zwei Wesenszüge: Sie sind sowohl jugendliche Draufgänger als auch väterliche Vorbilder. Die „Zorro“-Figur auf zwei Personalien aufzusplittern, von der je eine die dramaturgische Funktion des Heldenbildes erfüllt, ist ohne Frage der intelligenteste Aspekt der Geschichte. Der langsame Aufbau mag dem Film letztlich eine Überlänge von insgesamt 137 Minuten verpassen, doch beweist Campbell hiermit, die Vorbilder verstanden zu haben. Nur wer sich Zeit nimmt, seine Charaktere in Stellung zu bringen und auch Erzählzeit aufbringt, um die Schurken, hier Don Rafael Montero alias Stuart Wilson und Captain Harrison Love aka Matt Letscher, aufzubauen, verdient sich das Crescendo am Ende. Die finalen großen Actionszenen wollen nicht mehr und nicht weniger als die Lust nach Abenteuern wecken, selbst der Soundtrack von James Horner verzichtet auf große Töne, bleibt auf humorvoller Distanz. Der Vorwurf der Konventionalität greift hier zu kurz. „Die Maske des Zorro“ ist ein Lustspiel, ein Kostümfest voller Spaß, Erotik und Spannung – und missachtet dennoch die Intelligenz der Zuschauer nicht.
Martin Campbell widerlegt mit diesem Film eine alte Binsenweisheit: „Leichte“ Filme sind nicht gleichzeitig auch „leicht zu machen“. Es gehört einiges an Energie, Geschick und Raffinesse dazu, den südlichen Bruder von Robin Hood ohne weiteres zum Degen-schwingenden Batman der Spätneunziger zu machen und dabei gleichzeitig den Zauber alter Abenteuerfilme heraufzubeschwören. Eine Mischung aus Ironie, Action und Romantik ist das Rezept jedes Hollywood-Blockbusters, aber das Geheimnis liegt wie so oft in der Dosierung. Hier wurde alles richtig gemacht. Kameramann Phil Meheux erschafft Bilder, die spektakulär sind, aber spielerisch aussehen. Die Schauspieler tragen ihre Kostüme mit Würde, haben jedoch keine Angst, sich auch mal lächerlich zu machen. Und der Zuschauer darf hier mitfeiern und mit großen Augen staunen und muss sich hinterher trotzdem nicht dafür schämen, einfach nur unterhalten worden zu sein. Im Zuge der Superheldenwelle der 2000er mag „Die Maske des Zorro“ etwas in Vergessenheit geraten sein. Die Formel für den Erfolg dieser Filme findet sich jedoch schon hier in Formvollendung.
- John_Clark
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Es gibt hier einige Review-Schreiber, deren Art einen Text zu kreieren ich sehr bewundere. Du bist einer von denen. Nice to have you back!
- Nachtwaechter
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- Registriert: 12.03.2013, 11:14
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Schön geschrieben und vollste Zustimmung. Direkt aus dem Regal geholt und zumindest mal bereit gelegt. ;-)
Angetan bin ich auch von James Horners Pathos-Flamenco, der zwar gnadenlos alles zukleistert, aber genau dadurch das altmodische Hollywoodflair aufleben lässt.
Schade das die Fortsetzung, bei aller Opulenz schwächelt, auch wenn da dein Superhelden-Vergleich (aus der Erinnerung heraus) noch präsenter war!
Angetan bin ich auch von James Horners Pathos-Flamenco, der zwar gnadenlos alles zukleistert, aber genau dadurch das altmodische Hollywoodflair aufleben lässt.
Schade das die Fortsetzung, bei aller Opulenz schwächelt, auch wenn da dein Superhelden-Vergleich (aus der Erinnerung heraus) noch präsenter war!
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Ich bin schon lange der Ansicht, du solltest alle deine Reviews mal in einem Buch veröffentlichen.
Der Strudel des Kaninchenbaus
Die totale Erinnerung – Total Recall
Hollywood, das ist die Traumfabrik. Hier wird Fiktion mit kühlem Geiste hergestellt, mit kompetenten Händen produziert, mit Präzision erschaffen. Hollywood verkauft Filme, und Filme verkaufen Träume. Der Schlauberger sagt dazu „Eskapismus“ und was er eigentlich meint, ist die Flucht aus der realen Welt, aus der Wirklichkeit. Es ist kein Zufall, dass die häufigsten Berufswünsche im Leben vieler kleiner Jungen meist zwischen Cowboy und Astronaut tendieren, sind doch Western und Science-Fiction-Filme zwei der ältesten Genres des Kinos. Junge Erwachsene nutzen das Kino und seine Magie, um sich in andere Rollen hineinzuträumen. Zuerst erleben sie zwei Stunden eine spannende, abwechslungsreiche Geschichte auf der Leinwand – und daheim im Bett denken sie sich selbst in solche Geschichten hinein. Um genau das, um eine Prise Eskapismus, um eine Flucht aus der Langeweile und Gleichströmigkeit des Alltags, ist auch der Protagonist Douglas Quaid im Film „Die totale Erinnerung – Total Recall“ bemüht. Doch statt ins Kino zu gehen, wählt er den drastischeren Weg: Implantierte Erinnerungen.
Im Jahr 2084 kann der Bauarbeiter an nichts anderes denken, als einmal den kolonialisierten Mars zu besuchen. Er träumt sogar davon, mit einer attraktiven Brünetten auf der Marsoberfläche zu spazieren. Zum Glück kann ihm geholfen werden: Die Firma REKALL Inc. kann mit eingepflanzten künstlichen Erinnerungen „Urlaubspakete“ direkt ins Hirn einsetzen. Und schon die Szene, in der Arnold Schwarzenegger in der Rolle dieses Douglas Quaid sich von einem Fachmann von REKALL Inc. das Prozedere erklären lässt, gibt einen Vorgeschmack auf die brillante Satire, die der niederländische Regisseur Paul Verhoeven mit diesem Film im Sinn hat: Eine Dekonstruktion des 80er-Jahre-Actionkinos mit all seinen Klischees und Stereotypen. Da beginnt das Schmunzeln schon, als der REKALL-Mitarbeiter mit der einlullenden Art eines PKW-Verkäufers dem ahnungslosen Quaid erklärt, dass er für seine Mars-Erinnerung mehrere exotische Berufe wählen kann: Playboy, Spitzensportler, Industriemagnat oder Geheimagent. Natürlich wählt Arnie den Geheimagenten – immerhin ist dies die einzige fremde Rolle für ihn. Als Bodybuilding-Weltmeister war er in der Realität bereits Spitzensportler, Frauenheld und verdiente seine erste Million tatsächlich mit Immobilien.
Selbstverständlich geht bei Quaids Traumreise etwas schief. Sein Gedächtnis wurde schon einmal überschrieben. Und von diesem Moment an bricht sein ganzes Leben zusammen. Seine schöne, ihn verwöhnende Ehefrau attackiert ihn mit dem Küchenmesser, sein Arbeitskollege will ihn öffentlich exekutieren und in einer Videobotschaft spricht sein vergangenes Ich plötzlich zu ihm. Was folgt ist oberflächlich einer der vielen Filme, die Arnold Schwarzenegger schon vor dem Jahr 1990 drehte: Die Einmannarmee, die sich durch eine Vielzahl kreativer und brutaler Actionszenen arbeitet und häufiger das automatische Maschinengewehr nachlädt, als sich in Worten zu artikulieren. Doch „Total Recall“ geht einen Schritt weiter: Hinter dem reißerischen Spektakel steht eine hintersinnige Reflexion über das Gefüge aus Wirklichkeit (also dem, was wir Realität nennen) und Illusion (also dem, was eine Täuschung, umgangssprachlich „unecht“ ist). Kein Wunder: Das komplexe Projekt basiert auf einer Kurzgeschichte, Titel: „Erinnerungen en gros“, des legendären Science-Fiction-Autors Philip K. Dick. Das Script der „Alien“-Autoren Ronald Shushett und Dan O’Bannon geisterte seit den späten 70ern durch die Traumfabrik, ursprünglich waren Schauspieler wie Dustin Hoffman und Richard Dreyfuss für die Hauptrolle vorgesehen. Als Schwarzenegger mit dem Projekt in Berührung kam und Verhoeven hinzu bat, wurde aus der düsteren Allegorie auf psychische Krankheiten ein ultrabrutales Blockbuster-Spektakel. Doch der tonale Wechsel war Kalkül, ist er doch genau das, wovon der Film erzählt: Vom Traum des Menschen, größer zu sein als er ist, aber auch von den kapitalistischen Herrschern, die jene Träume kommerzialisieren.
Passenderweise ist der Widersacher dieses Films ein kolonialistischer Machthaber, der den roten Planeten ausbeutet und selbst die Atemluft für die verschiedenen Mars-Distrikte kontrolliert. Und Quaid erfährt bald, dass er einst vor seiner Amnesie, vor dem falschen Traum, in das ihn der kapitalistische Schurke zwängte, ein Mitglied jener Rebellen war, die auf dem Mars mit Waffengewalt für die Freiheit der Bevölkerung gegen die raffgierige Ausbeutung der dortigen Ressourcen kämpft. Auf welche Seite sich Paul Verhoeven als Künstler und Erzähler stellt, ist unübersehbar. Doch wie er diese Geschichte erzählt, ist sein narratives Tennis, nämlich als ein Fest der Doppelbödigkeit. So wie Quaid nie sicher sein kann, ob seine Erlebnisse tatsächlich stattfinden oder nur der implantierte Traum von REKALL sind, so zieht auch Verhoeven dem Zuschauer regelmäßig den Boden unter den Füßen weg. Eine famose Szene verdeutlicht das Vexierspiel aus Erwartungshaltung und Erfüllung in simpelsten Bildern: Bei seiner Flucht rennt Quaid in eine Sicherheitsschleuse und ist nur noch durch eine Röntgenscheibe sichtbar, sodass nur sein Skelett und seine Waffe zu sehen sind. Als er von links und rechts umzingelt ist, springt er frontal durch die Scheibe, so als würde er aus dem Fernseher heraus in die reale Welt des Konsumenten springen. Er zerbricht metaphorisch und buchstäblich die vierte Wand.
Der Geniestreich des Paul Verhoeven ist die Herangehensweise an sein Material: „Total Recall“ ist kein düsterer, schwermütiger Film für Philosophen, sondern erfüllt in jeder Hinsicht das Verlangen des Publikums an einen Arnold-Schwarzenegger-Actioner. Mit dicken Kanonen, viel zu engen Outfits und einem dümmlichen Oneliner nach dem anderen befriedigt „Total Recall“ die Gelüste nach knalliger, naiver Unterhaltung. Verhoeven holte extra seinen Scriptdoctor Gary Goldman zum Projekt, um Schwarzeneggers Sprüche an seine Erfolge mit „Terminator“ oder „Conan, der Barbar“ erinnern zu lassen. Der selbst tritt so auf, wie man es von ihm kennt. Arnie spielt hier nicht anders als sonst, besser gesagt: Er schauspielert nicht im klassischen Sinne, sondern lässt sein Leinwand-Charisma für ihn wirken. Wenn er mit seiner Scheinfrau Lori, die von der damals noch unbekannten Sharon Stone mit düsterer sexueller Energie gespielt wird, kämpft oder dem von Michael Ironside verkörpten Richter, ein Handlanger Coohagens, dann ist Verhoevens Film das erwartete phantastische Schwarzenegger-Spektakel und in etwa so subtil wie eine Dampfwalze. Und in den Actionszenen zeigt der skandalumwitterte Filmemacher seinen Hang zur Explizität: Die Schusswechsel sind in ihrer ungeschönten Härte äußerst schonungslos, die Gewaltdarstellung in vielerlei Hinsicht fatalistisch.
Doch all das ist, wie könnte es anders sein, nur ein kapitalistischer Trick eines Profis aus der Traumfabrik Hollywoods, der mit diesen plumpen Mitteln einen Traum verkaufen will. Verhoeven selbst übernimmt die Position eines REKALL-Mitarbeiters, der seinem Publikum ermöglichen will, über Wirklichkeit und Illusion der Geschichte zu rätseln. Eine Auflösung bietet er nicht: Beide Realitäten haben bis zur letzten Sekunde Gültigkeit. Hierin entpuppt sich „Total Recall“ als im bestmöglichen Sinne postmoderner Film, dessen Eleganz und Tiefgründigkeit gerne übersehen wird. So sehr, dass Verhoevens Meisterwerk bei der Videotheken-Generation als „Ballerfilm“ in das kollektive Gedächtnis einging, dessen tiefere Absichten im Dunkeln blieben. Bis heute hält „Total Recall“ seinem Publikum den Spiegel vor – und wie so oft, wenn man in einen Spiegel blickt, weiß man nicht ganz genau, was man darin erkennt. Während Quaid in der finalen Szene zweifelt, ob das Erlebte echt oder ein Traum gewesen ist, entsteht im Hinterkopf des Rezipierenden die Frage, ob er gerade wirklich nur einen weiteren Actionkracher der Marke "Hirn aus" gesehen hat oder ob er beim Abfeiern des konventionellen, selbstironischen Krawalls Verhoeven auf den Leim gegangen ist.
Erst der Abspann verweist traditionell auf die Illusoren, die den eskapistischen Trip möglich gemacht haben. So auch hier: Der Soundtrack stammt vom Maestro Jerry Goldsmith und ist eine seiner besten Arbeiten, deren hypnotische Qualität spielend existenzielle Gefühle und Arnie-Action-Aggressionen vermitteln kann. Eric Brevig und Rob Bottin gilt währenddessen die Bewunderung für die verblüffend genialen Spezialeffekte und wunderbaren Studiokulissen, mit denen die Mars-Kolonie und ihre teils mutierten Bewohner zum Leben erweckt wurden. Und der deutsche Kameramann Jost Vacano sorgt für die ausgetüftelten Bildgestaltungen, die durch die Bank eine „wirkliche“ Immersion vermitteln. Magie gibt es eben wirklich und existiert nicht nur in Träumen. Nein, sie findet im Kino statt, sie ist ein Produkt der Traumfabrik. Im Falle von "Die totale Erinnerung – Total Recall" ein exzellentes Produkt. Nicht umsonst wurden die Motive des Films immer wieder aufgegriffen. Quaid bekam als Actionheld zu Beginn der 1990er noch eine rote Pille als Ausstieg aus seinem Ego-Trip durch die intergalaktische Spionage angeboten, am Ende des Jahrzehnts war es schließlich Neo, der Superheld aus „Matrix“, der zwischen einer blauen und einer roten Pille wählen durfte: Die eine, bei der Neo in seiner Realität verbleibt, und die andere, mit der er aus seiner Illusion erwacht. Wer beide Sci-Fi-Meilensteine einst im Kino sah, konnte sie hier 1999 bei "Matrix" wirklich erleben: Die totale Erinnerung.
Hollywood, das ist die Traumfabrik. Hier wird Fiktion mit kühlem Geiste hergestellt, mit kompetenten Händen produziert, mit Präzision erschaffen. Hollywood verkauft Filme, und Filme verkaufen Träume. Der Schlauberger sagt dazu „Eskapismus“ und was er eigentlich meint, ist die Flucht aus der realen Welt, aus der Wirklichkeit. Es ist kein Zufall, dass die häufigsten Berufswünsche im Leben vieler kleiner Jungen meist zwischen Cowboy und Astronaut tendieren, sind doch Western und Science-Fiction-Filme zwei der ältesten Genres des Kinos. Junge Erwachsene nutzen das Kino und seine Magie, um sich in andere Rollen hineinzuträumen. Zuerst erleben sie zwei Stunden eine spannende, abwechslungsreiche Geschichte auf der Leinwand – und daheim im Bett denken sie sich selbst in solche Geschichten hinein. Um genau das, um eine Prise Eskapismus, um eine Flucht aus der Langeweile und Gleichströmigkeit des Alltags, ist auch der Protagonist Douglas Quaid im Film „Die totale Erinnerung – Total Recall“ bemüht. Doch statt ins Kino zu gehen, wählt er den drastischeren Weg: Implantierte Erinnerungen.
Im Jahr 2084 kann der Bauarbeiter an nichts anderes denken, als einmal den kolonialisierten Mars zu besuchen. Er träumt sogar davon, mit einer attraktiven Brünetten auf der Marsoberfläche zu spazieren. Zum Glück kann ihm geholfen werden: Die Firma REKALL Inc. kann mit eingepflanzten künstlichen Erinnerungen „Urlaubspakete“ direkt ins Hirn einsetzen. Und schon die Szene, in der Arnold Schwarzenegger in der Rolle dieses Douglas Quaid sich von einem Fachmann von REKALL Inc. das Prozedere erklären lässt, gibt einen Vorgeschmack auf die brillante Satire, die der niederländische Regisseur Paul Verhoeven mit diesem Film im Sinn hat: Eine Dekonstruktion des 80er-Jahre-Actionkinos mit all seinen Klischees und Stereotypen. Da beginnt das Schmunzeln schon, als der REKALL-Mitarbeiter mit der einlullenden Art eines PKW-Verkäufers dem ahnungslosen Quaid erklärt, dass er für seine Mars-Erinnerung mehrere exotische Berufe wählen kann: Playboy, Spitzensportler, Industriemagnat oder Geheimagent. Natürlich wählt Arnie den Geheimagenten – immerhin ist dies die einzige fremde Rolle für ihn. Als Bodybuilding-Weltmeister war er in der Realität bereits Spitzensportler, Frauenheld und verdiente seine erste Million tatsächlich mit Immobilien.
Selbstverständlich geht bei Quaids Traumreise etwas schief. Sein Gedächtnis wurde schon einmal überschrieben. Und von diesem Moment an bricht sein ganzes Leben zusammen. Seine schöne, ihn verwöhnende Ehefrau attackiert ihn mit dem Küchenmesser, sein Arbeitskollege will ihn öffentlich exekutieren und in einer Videobotschaft spricht sein vergangenes Ich plötzlich zu ihm. Was folgt ist oberflächlich einer der vielen Filme, die Arnold Schwarzenegger schon vor dem Jahr 1990 drehte: Die Einmannarmee, die sich durch eine Vielzahl kreativer und brutaler Actionszenen arbeitet und häufiger das automatische Maschinengewehr nachlädt, als sich in Worten zu artikulieren. Doch „Total Recall“ geht einen Schritt weiter: Hinter dem reißerischen Spektakel steht eine hintersinnige Reflexion über das Gefüge aus Wirklichkeit (also dem, was wir Realität nennen) und Illusion (also dem, was eine Täuschung, umgangssprachlich „unecht“ ist). Kein Wunder: Das komplexe Projekt basiert auf einer Kurzgeschichte, Titel: „Erinnerungen en gros“, des legendären Science-Fiction-Autors Philip K. Dick. Das Script der „Alien“-Autoren Ronald Shushett und Dan O’Bannon geisterte seit den späten 70ern durch die Traumfabrik, ursprünglich waren Schauspieler wie Dustin Hoffman und Richard Dreyfuss für die Hauptrolle vorgesehen. Als Schwarzenegger mit dem Projekt in Berührung kam und Verhoeven hinzu bat, wurde aus der düsteren Allegorie auf psychische Krankheiten ein ultrabrutales Blockbuster-Spektakel. Doch der tonale Wechsel war Kalkül, ist er doch genau das, wovon der Film erzählt: Vom Traum des Menschen, größer zu sein als er ist, aber auch von den kapitalistischen Herrschern, die jene Träume kommerzialisieren.
Passenderweise ist der Widersacher dieses Films ein kolonialistischer Machthaber, der den roten Planeten ausbeutet und selbst die Atemluft für die verschiedenen Mars-Distrikte kontrolliert. Und Quaid erfährt bald, dass er einst vor seiner Amnesie, vor dem falschen Traum, in das ihn der kapitalistische Schurke zwängte, ein Mitglied jener Rebellen war, die auf dem Mars mit Waffengewalt für die Freiheit der Bevölkerung gegen die raffgierige Ausbeutung der dortigen Ressourcen kämpft. Auf welche Seite sich Paul Verhoeven als Künstler und Erzähler stellt, ist unübersehbar. Doch wie er diese Geschichte erzählt, ist sein narratives Tennis, nämlich als ein Fest der Doppelbödigkeit. So wie Quaid nie sicher sein kann, ob seine Erlebnisse tatsächlich stattfinden oder nur der implantierte Traum von REKALL sind, so zieht auch Verhoeven dem Zuschauer regelmäßig den Boden unter den Füßen weg. Eine famose Szene verdeutlicht das Vexierspiel aus Erwartungshaltung und Erfüllung in simpelsten Bildern: Bei seiner Flucht rennt Quaid in eine Sicherheitsschleuse und ist nur noch durch eine Röntgenscheibe sichtbar, sodass nur sein Skelett und seine Waffe zu sehen sind. Als er von links und rechts umzingelt ist, springt er frontal durch die Scheibe, so als würde er aus dem Fernseher heraus in die reale Welt des Konsumenten springen. Er zerbricht metaphorisch und buchstäblich die vierte Wand.
Der Geniestreich des Paul Verhoeven ist die Herangehensweise an sein Material: „Total Recall“ ist kein düsterer, schwermütiger Film für Philosophen, sondern erfüllt in jeder Hinsicht das Verlangen des Publikums an einen Arnold-Schwarzenegger-Actioner. Mit dicken Kanonen, viel zu engen Outfits und einem dümmlichen Oneliner nach dem anderen befriedigt „Total Recall“ die Gelüste nach knalliger, naiver Unterhaltung. Verhoeven holte extra seinen Scriptdoctor Gary Goldman zum Projekt, um Schwarzeneggers Sprüche an seine Erfolge mit „Terminator“ oder „Conan, der Barbar“ erinnern zu lassen. Der selbst tritt so auf, wie man es von ihm kennt. Arnie spielt hier nicht anders als sonst, besser gesagt: Er schauspielert nicht im klassischen Sinne, sondern lässt sein Leinwand-Charisma für ihn wirken. Wenn er mit seiner Scheinfrau Lori, die von der damals noch unbekannten Sharon Stone mit düsterer sexueller Energie gespielt wird, kämpft oder dem von Michael Ironside verkörpten Richter, ein Handlanger Coohagens, dann ist Verhoevens Film das erwartete phantastische Schwarzenegger-Spektakel und in etwa so subtil wie eine Dampfwalze. Und in den Actionszenen zeigt der skandalumwitterte Filmemacher seinen Hang zur Explizität: Die Schusswechsel sind in ihrer ungeschönten Härte äußerst schonungslos, die Gewaltdarstellung in vielerlei Hinsicht fatalistisch.
Doch all das ist, wie könnte es anders sein, nur ein kapitalistischer Trick eines Profis aus der Traumfabrik Hollywoods, der mit diesen plumpen Mitteln einen Traum verkaufen will. Verhoeven selbst übernimmt die Position eines REKALL-Mitarbeiters, der seinem Publikum ermöglichen will, über Wirklichkeit und Illusion der Geschichte zu rätseln. Eine Auflösung bietet er nicht: Beide Realitäten haben bis zur letzten Sekunde Gültigkeit. Hierin entpuppt sich „Total Recall“ als im bestmöglichen Sinne postmoderner Film, dessen Eleganz und Tiefgründigkeit gerne übersehen wird. So sehr, dass Verhoevens Meisterwerk bei der Videotheken-Generation als „Ballerfilm“ in das kollektive Gedächtnis einging, dessen tiefere Absichten im Dunkeln blieben. Bis heute hält „Total Recall“ seinem Publikum den Spiegel vor – und wie so oft, wenn man in einen Spiegel blickt, weiß man nicht ganz genau, was man darin erkennt. Während Quaid in der finalen Szene zweifelt, ob das Erlebte echt oder ein Traum gewesen ist, entsteht im Hinterkopf des Rezipierenden die Frage, ob er gerade wirklich nur einen weiteren Actionkracher der Marke "Hirn aus" gesehen hat oder ob er beim Abfeiern des konventionellen, selbstironischen Krawalls Verhoeven auf den Leim gegangen ist.
Erst der Abspann verweist traditionell auf die Illusoren, die den eskapistischen Trip möglich gemacht haben. So auch hier: Der Soundtrack stammt vom Maestro Jerry Goldsmith und ist eine seiner besten Arbeiten, deren hypnotische Qualität spielend existenzielle Gefühle und Arnie-Action-Aggressionen vermitteln kann. Eric Brevig und Rob Bottin gilt währenddessen die Bewunderung für die verblüffend genialen Spezialeffekte und wunderbaren Studiokulissen, mit denen die Mars-Kolonie und ihre teils mutierten Bewohner zum Leben erweckt wurden. Und der deutsche Kameramann Jost Vacano sorgt für die ausgetüftelten Bildgestaltungen, die durch die Bank eine „wirkliche“ Immersion vermitteln. Magie gibt es eben wirklich und existiert nicht nur in Träumen. Nein, sie findet im Kino statt, sie ist ein Produkt der Traumfabrik. Im Falle von "Die totale Erinnerung – Total Recall" ein exzellentes Produkt. Nicht umsonst wurden die Motive des Films immer wieder aufgegriffen. Quaid bekam als Actionheld zu Beginn der 1990er noch eine rote Pille als Ausstieg aus seinem Ego-Trip durch die intergalaktische Spionage angeboten, am Ende des Jahrzehnts war es schließlich Neo, der Superheld aus „Matrix“, der zwischen einer blauen und einer roten Pille wählen durfte: Die eine, bei der Neo in seiner Realität verbleibt, und die andere, mit der er aus seiner Illusion erwacht. Wer beide Sci-Fi-Meilensteine einst im Kino sah, konnte sie hier 1999 bei "Matrix" wirklich erleben: Die totale Erinnerung.
Der talentierte Alain Delon: Im Körper des Freundes
Nur die Sonne war Zeuge
„Er hat eine rege Phantasie“, sagt Millionärssöhnchen Philippe Greenleaf an einer Stelle des Films „Nur die Sonne war Zeuge“ über seinen Begleiter Tom Ripley. Ein kurzer Satz, nicht mehr als fünf Worte, und doch reicht das aus, um diesen Tom Ripley und sein Wesen zu beschreiben – und um anzukündigen, was Philippe zum Verhängnis wird. Ripley ist eigentlich eine Figur der Literaturgeschichte. 1955 tauchte er im ersten von insgesamt fünf Romanen auf, welche die Kriminalautorin Patricia Highsmith über ihn, den jungen, mörderischen Identitätsdieb aus den Staaten, schrieb. Genau dieses erste Buch, „Der talentierte Mr. Ripley“, diente für den französischen Regisseur René Clément als Vorlage, als er 1960 seine Adaption drehte und dabei einen der größten Stars des europäischen Kinos zum Ruhm verhalf: Alain Delon.
Delon spielt jenen Tom Ripley, der im Auftrag von Senior Greenleaf nach Italien geschickt wurde, um Sohnemann zu einer Rückkehr in die USA zu überreden. Doch Tom genießt das römische Lotterleben an der Seite des verwöhnten Playboys und dessen Geliebter, der sinnlichen Brünetten Marge. Doch eines Tages wird Tom erwischt, als er sich heimlich vor dem Spiegel mit Philippes Klamotten einkleidet. Bei einer gemeinsamen Bootsfahrt offenbart sich Philippes brutale Art gegenüber seinen Liebsten – und Tom zeigt seine wahren Absichten. Beim Kartenspiel theoretisieren die beiden Männer darüber, ob Tom mit einem Mord an Philippe durchkäme und ob er so dessen Vermögen vereinnahmen könne. Philippe lacht während der Unterhaltung viel, doch Tom ist es ernst. Todernst.
Schon bevor ein gesprochenes Wort im Film ertönt, erweist sich Clément als Filmemacher mit geistreicher visueller Sprache. Die Namen der Schauspieler erscheinen handschriftlich auf dem Bildschirm. Handschriften erzeugen ein falsches Gefühl von Identität, wie sich später zeigt als Ripley in einer beängstigenden Szene mit berechnender Präzision die Signatur von Greenleaf bis zum letzten Grad Perfektionismus studiert und einübt. Ehe der Film beginnt, werden die restlichen Namen vor römischen Postkarten eingeblendet. Postkarten, im Jahr 1960 noch mehr als im 21. Jahrhundert ein Beleg für luxuriöse Fernreisen, symbolisieren den Neid und die Besessenheit, die Ripley zu seinen entsetzlichen Gewalttaten verleiten. Anders als im Roman versteht der Film die Geschehnisse unter gleißendem Sonnenlicht als Metapher für den Versuch eines jeden, sich in bestehenden Gesellschaftshierarchien über Besitzgüter einzuordnen.
Dieses gleißende Sonnenlicht an den Postkarten-Landschaften lässt „Nur die Sonne war Zeuge“ wie einen Urlaubsfilm aussehen. Der Originaltitel heißt ganz schlicht bloß „Plein soleil“, „Volle Sonne“ also, gedreht wurde neben Rom auch in Neapel und auf Ischia. Die Farbregie ist regelrecht sensationell: Leuchtende, bunte Farben und ein exzellentes Gespür für sommerliche Atmosphäre lassen das italienische Lokalkolorit besser aufkommen als in vielen Reisebroschüren. Der Filmpublizist Georg Seeßlen schrieb dazu: „Cléments Film ist sicher der erste Thriller, der die Gestaltung der Farbkamera bewusst als Mittel der Suspense-Erzeugung benutzt hat“ – und in der Tat ist es die unnormal idyllische, friedliche Zurschaustellung der Dolce Vita, welche den Schrecken der Geschichte überbetont. Dazu kommt die leichtfüßige, träumerische Musik des legendären Komponisten Nino Rota, die am Prädikat „Sommerfilm“ oberflächlich keinen Zweifel lässt. Auch sie kontrastiert mustergültig die düstere, psychologisch morbide Spannung der Geschichte, und Clément findet gemeinsam mit seinem Kameramann Henri Decaë die richtige visuelle Sprache für dieses ungewöhnliche Mischverhältnis: Landschaftspanoramen wechseln sich beständig und konsequent mit Nahaufnahmen der Darsteller ab, sorgen so für ein Höchstmaß an Konzentration.
Jene Darsteller sind es, die aus „Nur die Sonne war Zeuge“ ein unvergessliches cineastisches Erlebnis machen, allen voran Alain Delon. In den auslaufenden 1950ern hatte er im französischen Genre-Kino erste Erfolge verbuchen können, doch seine überragende Performance als Tom Ripley ließ ihn zu einem der bedeutendsten Schauspieler in der Geschichte seiner Nation werden. Sogar Patricia Highsmith selbst bezeichnete ihn als die Idealbesetzung für ihre Romanfigur. Der eiskalte Engel unter den europäischen Schauspielern fügt sich mit seinen hellblauen Augen und seinem attraktiven Äußeren perfekt in die Mise en Scène des Films ein: Sein hübsches Gesicht gepaart mit seiner höflichen, freundlichen Ausstrahlung lassen seine Taten umso grausamer wirken und jeder Moment, in dem Delon seinen Blicken eine unheimliche Aura mitgibt, lässt die Leinwand in Flammen stehen. Als er erstmals die Fassade fallen lässt, wird er zur ambivalenten Gestalt, zu einem kriminellen Bollwerk an der sonst hier so friedlichen Küste Italiens.
Seine Co-Stars spielen ebenso stark: Maurice Ronet ist als Philippe Greenleaf zu jeder Zeit als eingebildeter, verwöhnter Macho überzeugend, und die Chanson-Sängerin Marie Laforêt verleiht ihrer Marge eben die sorgende Unschuld, die einen Verrat durch Ripley so glaubhaft werden lässt. Dennoch gehört der Film vollkommen Delon, dessen ausgereiftes, einvernehmendes Charisma jenen Balanceakt gelingen lässt, der im Hinblick auf die literarische Vorlage so essentiell ist: Trotz seiner schrecklichen Taten und trotz seiner geheimnisvollen, verdorbenen und unnahbaren Charakterisierung ist Tom Ripley die zentrale Identifikationsperson für das Publikum, er ist als Sympathieträger konzeptioniert. Zwei Drittel der Geschichte handeln von seinem doppelbödigen, höchst riskanten Spiel als Betrüger, Mörder und Identitätsdieb. „Nur die Sonne war Zeuge“ ist kein Kriminalfilm über die Suche nach einem Täter, sondern macht die Zuschauenden zu Komplizen. Jedes weitere Hindernis, jeder mögliche Fehler wird zur streng getakteten Suspense-Sequenz ausgeweitet – ohne jede Effekthascherei. Die Kamera bleibt ruhig, dicht und hat es nicht nötig, die Tragweiten der verschiedenen Szenen überbetonen zu müssen.
Der meisterhafte Klassiker ist deshalb so schaurig, weil er den Weg der moralischen Uneindeutigkeit verfolgt. Der Ermordete ist ein Unsympath, aber mit verständlichen Motiven. Der Mordende ist ein Sympath, doch seine Beweggründe bleiben im Dunkeln. Zu diesem Zweck entfernte Clément auch eine psychologische Komponente der Romanvorlage, in der Ripleys Homosexualität und sein Interesse an Greenleaf verdeutlicht werden. Im Film bleibt es rätselhaft: Ist Tom nur ein habgieriger Mittelständler, der seine große Chance nutzt? Will er Rache an Philippe üben, für all dessen ignorante Auftritte ihm gegenüber? Oder ist es bloß eine allzu menschliche Neigung, dass wir während der Fütterungszeit lieber die Schlange anstelle der Maus sind?
Bis heute ist „Nur die Sonne war Zeuge“ ein Referenzwerk des Thriller-Genres, und ein Film, der seine Klasse und Qualität nicht mehr zu beweisen braucht. Während Clément in Italien drehte, schufen in seiner französischen Heimat Filmemacher wie François Truffaut oder Jean-Luc Godard die Epoche der „Nouvelle Vague“, in deren Verlauf Filmemacher alter Tage heftig in die Kritik gerietem, so auch Clément. Dabei war er mit seiner Highsmith-Verfilmung auf der Höhe der Zeit und einem anderen Filmschaffenden außerhalb Frankreichs viel nähergekommen: Ebenfalls 1960 veröffentlichte schließlich der britische Alfred Hitchcock seinen „Psycho“. Auch dieser Film schuf Sympathien für einen Mörder, erklärte in der letzten Szene aber zumindest dessen Motive. Auch dieser Film sollte zum Klassiker und Meisterwerk des Genres werden.
Die von Clément gewählte Schlussszene für „Nur die Sonne war Zeuge“ stieß bei Patricia Highsmith höchstpersönlich auf Kritik. Während ihr Tom Ripley am Ende des Romans mit all seinen Taten ungeschoren davon kommt, hat sein Leinwand-Pedant in Form von Alain Delon nicht so viel Glück. Dem Film allerdings hier einen moralisierenden Ausgang vorzuwerfen, wie Highsmith es tat, greift zu kurz: Die zufälligen Umstände, die Ripleys Taten offenlegen, lassen seinen bestechend poetisch fotografierten Abgang umso tragischer wirken – und erhöhen ein letztes perfides Mal die Sympathien für den Mörder, bei dessen Taten nur wir Zuschauer die Zeugen waren. Und die Sonne natürlich.
„Er hat eine rege Phantasie“, sagt Millionärssöhnchen Philippe Greenleaf an einer Stelle des Films „Nur die Sonne war Zeuge“ über seinen Begleiter Tom Ripley. Ein kurzer Satz, nicht mehr als fünf Worte, und doch reicht das aus, um diesen Tom Ripley und sein Wesen zu beschreiben – und um anzukündigen, was Philippe zum Verhängnis wird. Ripley ist eigentlich eine Figur der Literaturgeschichte. 1955 tauchte er im ersten von insgesamt fünf Romanen auf, welche die Kriminalautorin Patricia Highsmith über ihn, den jungen, mörderischen Identitätsdieb aus den Staaten, schrieb. Genau dieses erste Buch, „Der talentierte Mr. Ripley“, diente für den französischen Regisseur René Clément als Vorlage, als er 1960 seine Adaption drehte und dabei einen der größten Stars des europäischen Kinos zum Ruhm verhalf: Alain Delon.
Delon spielt jenen Tom Ripley, der im Auftrag von Senior Greenleaf nach Italien geschickt wurde, um Sohnemann zu einer Rückkehr in die USA zu überreden. Doch Tom genießt das römische Lotterleben an der Seite des verwöhnten Playboys und dessen Geliebter, der sinnlichen Brünetten Marge. Doch eines Tages wird Tom erwischt, als er sich heimlich vor dem Spiegel mit Philippes Klamotten einkleidet. Bei einer gemeinsamen Bootsfahrt offenbart sich Philippes brutale Art gegenüber seinen Liebsten – und Tom zeigt seine wahren Absichten. Beim Kartenspiel theoretisieren die beiden Männer darüber, ob Tom mit einem Mord an Philippe durchkäme und ob er so dessen Vermögen vereinnahmen könne. Philippe lacht während der Unterhaltung viel, doch Tom ist es ernst. Todernst.
Schon bevor ein gesprochenes Wort im Film ertönt, erweist sich Clément als Filmemacher mit geistreicher visueller Sprache. Die Namen der Schauspieler erscheinen handschriftlich auf dem Bildschirm. Handschriften erzeugen ein falsches Gefühl von Identität, wie sich später zeigt als Ripley in einer beängstigenden Szene mit berechnender Präzision die Signatur von Greenleaf bis zum letzten Grad Perfektionismus studiert und einübt. Ehe der Film beginnt, werden die restlichen Namen vor römischen Postkarten eingeblendet. Postkarten, im Jahr 1960 noch mehr als im 21. Jahrhundert ein Beleg für luxuriöse Fernreisen, symbolisieren den Neid und die Besessenheit, die Ripley zu seinen entsetzlichen Gewalttaten verleiten. Anders als im Roman versteht der Film die Geschehnisse unter gleißendem Sonnenlicht als Metapher für den Versuch eines jeden, sich in bestehenden Gesellschaftshierarchien über Besitzgüter einzuordnen.
Dieses gleißende Sonnenlicht an den Postkarten-Landschaften lässt „Nur die Sonne war Zeuge“ wie einen Urlaubsfilm aussehen. Der Originaltitel heißt ganz schlicht bloß „Plein soleil“, „Volle Sonne“ also, gedreht wurde neben Rom auch in Neapel und auf Ischia. Die Farbregie ist regelrecht sensationell: Leuchtende, bunte Farben und ein exzellentes Gespür für sommerliche Atmosphäre lassen das italienische Lokalkolorit besser aufkommen als in vielen Reisebroschüren. Der Filmpublizist Georg Seeßlen schrieb dazu: „Cléments Film ist sicher der erste Thriller, der die Gestaltung der Farbkamera bewusst als Mittel der Suspense-Erzeugung benutzt hat“ – und in der Tat ist es die unnormal idyllische, friedliche Zurschaustellung der Dolce Vita, welche den Schrecken der Geschichte überbetont. Dazu kommt die leichtfüßige, träumerische Musik des legendären Komponisten Nino Rota, die am Prädikat „Sommerfilm“ oberflächlich keinen Zweifel lässt. Auch sie kontrastiert mustergültig die düstere, psychologisch morbide Spannung der Geschichte, und Clément findet gemeinsam mit seinem Kameramann Henri Decaë die richtige visuelle Sprache für dieses ungewöhnliche Mischverhältnis: Landschaftspanoramen wechseln sich beständig und konsequent mit Nahaufnahmen der Darsteller ab, sorgen so für ein Höchstmaß an Konzentration.
Jene Darsteller sind es, die aus „Nur die Sonne war Zeuge“ ein unvergessliches cineastisches Erlebnis machen, allen voran Alain Delon. In den auslaufenden 1950ern hatte er im französischen Genre-Kino erste Erfolge verbuchen können, doch seine überragende Performance als Tom Ripley ließ ihn zu einem der bedeutendsten Schauspieler in der Geschichte seiner Nation werden. Sogar Patricia Highsmith selbst bezeichnete ihn als die Idealbesetzung für ihre Romanfigur. Der eiskalte Engel unter den europäischen Schauspielern fügt sich mit seinen hellblauen Augen und seinem attraktiven Äußeren perfekt in die Mise en Scène des Films ein: Sein hübsches Gesicht gepaart mit seiner höflichen, freundlichen Ausstrahlung lassen seine Taten umso grausamer wirken und jeder Moment, in dem Delon seinen Blicken eine unheimliche Aura mitgibt, lässt die Leinwand in Flammen stehen. Als er erstmals die Fassade fallen lässt, wird er zur ambivalenten Gestalt, zu einem kriminellen Bollwerk an der sonst hier so friedlichen Küste Italiens.
Seine Co-Stars spielen ebenso stark: Maurice Ronet ist als Philippe Greenleaf zu jeder Zeit als eingebildeter, verwöhnter Macho überzeugend, und die Chanson-Sängerin Marie Laforêt verleiht ihrer Marge eben die sorgende Unschuld, die einen Verrat durch Ripley so glaubhaft werden lässt. Dennoch gehört der Film vollkommen Delon, dessen ausgereiftes, einvernehmendes Charisma jenen Balanceakt gelingen lässt, der im Hinblick auf die literarische Vorlage so essentiell ist: Trotz seiner schrecklichen Taten und trotz seiner geheimnisvollen, verdorbenen und unnahbaren Charakterisierung ist Tom Ripley die zentrale Identifikationsperson für das Publikum, er ist als Sympathieträger konzeptioniert. Zwei Drittel der Geschichte handeln von seinem doppelbödigen, höchst riskanten Spiel als Betrüger, Mörder und Identitätsdieb. „Nur die Sonne war Zeuge“ ist kein Kriminalfilm über die Suche nach einem Täter, sondern macht die Zuschauenden zu Komplizen. Jedes weitere Hindernis, jeder mögliche Fehler wird zur streng getakteten Suspense-Sequenz ausgeweitet – ohne jede Effekthascherei. Die Kamera bleibt ruhig, dicht und hat es nicht nötig, die Tragweiten der verschiedenen Szenen überbetonen zu müssen.
Der meisterhafte Klassiker ist deshalb so schaurig, weil er den Weg der moralischen Uneindeutigkeit verfolgt. Der Ermordete ist ein Unsympath, aber mit verständlichen Motiven. Der Mordende ist ein Sympath, doch seine Beweggründe bleiben im Dunkeln. Zu diesem Zweck entfernte Clément auch eine psychologische Komponente der Romanvorlage, in der Ripleys Homosexualität und sein Interesse an Greenleaf verdeutlicht werden. Im Film bleibt es rätselhaft: Ist Tom nur ein habgieriger Mittelständler, der seine große Chance nutzt? Will er Rache an Philippe üben, für all dessen ignorante Auftritte ihm gegenüber? Oder ist es bloß eine allzu menschliche Neigung, dass wir während der Fütterungszeit lieber die Schlange anstelle der Maus sind?
Bis heute ist „Nur die Sonne war Zeuge“ ein Referenzwerk des Thriller-Genres, und ein Film, der seine Klasse und Qualität nicht mehr zu beweisen braucht. Während Clément in Italien drehte, schufen in seiner französischen Heimat Filmemacher wie François Truffaut oder Jean-Luc Godard die Epoche der „Nouvelle Vague“, in deren Verlauf Filmemacher alter Tage heftig in die Kritik gerietem, so auch Clément. Dabei war er mit seiner Highsmith-Verfilmung auf der Höhe der Zeit und einem anderen Filmschaffenden außerhalb Frankreichs viel nähergekommen: Ebenfalls 1960 veröffentlichte schließlich der britische Alfred Hitchcock seinen „Psycho“. Auch dieser Film schuf Sympathien für einen Mörder, erklärte in der letzten Szene aber zumindest dessen Motive. Auch dieser Film sollte zum Klassiker und Meisterwerk des Genres werden.
Die von Clément gewählte Schlussszene für „Nur die Sonne war Zeuge“ stieß bei Patricia Highsmith höchstpersönlich auf Kritik. Während ihr Tom Ripley am Ende des Romans mit all seinen Taten ungeschoren davon kommt, hat sein Leinwand-Pedant in Form von Alain Delon nicht so viel Glück. Dem Film allerdings hier einen moralisierenden Ausgang vorzuwerfen, wie Highsmith es tat, greift zu kurz: Die zufälligen Umstände, die Ripleys Taten offenlegen, lassen seinen bestechend poetisch fotografierten Abgang umso tragischer wirken – und erhöhen ein letztes perfides Mal die Sympathien für den Mörder, bei dessen Taten nur wir Zuschauer die Zeugen waren. Und die Sonne natürlich.
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Huch, dann habe ich dir wohl unrecht getan diesmal ;) Sind auf jeden Fall stark geschriebene Reviews. Ich hab davon allerdings nicht mal nen Bruchteil von gesehen. Glückwunsch übrigens zum Moderatorenposten im Bond-Forum, hätte ich nicht gedacht. Cool
Unser neuestes Projekt: https://open.spotify.com/show/35s3iDdkQ12ikEFT9hOoTP - Talk rund um Filme und Serien
Lesestunde aus der Disney-Bibliothek
Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte
In der Filmwelt steht ein Wort alleine für märchenhafte Welten, für träumerische Geschichten und für Millionen von glänzenden Kinderaugen: Disney. Benannt nach ihrem Schöpfer, dem Trickfilm-Pionier Walt Disney, ist die Filmschmiede hinter Micky Maus eine feste Institution in Hollywood, aber auch in Kinderzimmern auf der ganzen Welt. Doch während der 1940er schien es fast, als sei das zu diesem Zeitpunkt erst knapp zwanzig Jahre junge Studio bereits am Ende. Im Zweiten Weltkrieg arbeiteten bis zu 700 Mitarbeiter der US-Flugabwehr in den Disney-Studios. Im staatlichen Interesse mussten die Filmemacher Propaganda-Cartoons entwickeln. Mit Trickfilmen à la „Bambi“ oder „Dumbo“ war im Kino kein Geld zu verdienen. Aufgrund des fehlenden Budgets griff man zu einer Notlösung: Mehrere gezeichnete Kurzfilme wurden zu abendfüllenden Spielfilmen zusammengeschnitten.
Diese sogenannten Anthologien sind im Disney-Kanon längst in Vergessenheit geraten. So sehr sie damals erfolgreich die Kosten des Unternehmens senkten, so schwach war oft auch ihre Qualität. Einen übergreifenden Handlungsbogen hatten die Cartoon-Collagen nicht, sodass sie eher als Kuriosität der Disney-Historie gelten. Doch auch in dieser unrühmlichen Epoche des Studios versteckt sich eine Perle: „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“. Erschienen ist der 65-minütige Trickfilm im Jahr 1949, war damit der sechste und letzte der Anthologie-Filme. Erzählt werden in zwei Segmenten zwei Klassiker der Literaturgeschichte: „Das Erlebnis von Taddäus Kröte“ basiert auf dem britischen Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame, während „Das Abenteuer von Ichabod und dem kopflosen Reiter“ den vielleicht ältesten Mythos der Vereinigten Staaten von Amerika verfilmt: „Die Sage von der schläfrigen Schlucht“, eher bekannt als „Sleepy Hollow“, eine Kurzgeschichte des Schriftstellers Washington Irving.
Eine inhaltliche Klammer, ein übergeordnetes Thema, welches die zwei je halbstündigen Filme miteinander verbindet, gibt es streng genommen nicht. Wie bei den Anthologie-Vorgängern scheint auch hier die Zusammenstellung bloße Willkür zu sein. Ganz so einfach ist es jedoch kaum: Beide Hauptfiguren, sowohl Taddäus Kröte als auch Ichabod Crane, sind in letzter Konsequenz Besessene, und werden für ihre Ignoranz und Selbstgenügsamkeit bestraft. Außerdem sind beide Geschichten eine ungewöhnliche Wahl für einen Film der Marke Disney, welche heute vor allem für geschliffenes Entertainment für die ganze Familie bekannt ist. Denn beide Segmente erzählen im Kern erwachsene, durchaus auch düstere Geschichten, die trotz ihrer kindgerechten Aufmachung ihr Wesen nicht verleugnen.
Eröffnet wird der Film, bei dem die Zeichentrick-Künstler James Algar, Clyde Geronimi und Jack Kinney als Regisseure angegeben sind, von Realaufnahmen einer edlen Bibliothek. Aus dem Off ertönt im Originalton die Stimme des legendären Sherlock-Holmes-Darstellers Basil Rathbone. Er stellt die These auf, dass es sich bei einer Kröte um die wohl bemerkenswerteste Figur der britischen Literaturgeschichte handelt. Von hieran beginnt der erste Kurzfilm, der die Geschichte aus „Der Wind in den Weiden“ gekürzt, aber weitgehend originalgetreu adaptiert. Taddäus Kröte ist ein Adrenalin-Junkie, der sich mit den tollsten Reichtümern umgibt und jeder wilden Idee nachjagt – sehr zum Ärger seiner Freunde Meister Dachs, Ratte und Maulwurf Mauli. Als er zum ersten Mal ein Automobil erspäht, will er es unbedingt besitzen – und fällt auf eine fiese Betrüger-Bande herein, landet schlussendlich im Gefängnis.
Schon ein Jahrzehnt zuvor wollten die Macher „Der Wind in den Weiden“ verfilmen, und der Kurzfilm begeistert von Beginn an mit fantastischen Zeichnungen, deren detailreich gepinselte Figuren, Bewegungen und Hintergrunde eine beeindruckende Leistung ihrer Zeit sind. Die aufwendige Einführung der Taddäus-Figur präsentiert sich in einer Musical-Nummer, die zum Besten gehört, was das Medium Zeichentrick bis dato hervorbrachte. Zudem begeistert die Darstellung der Besessenheit ungemein: Als Taddäus die erste Begegnung mit einem Auto hinter sich hat, werden seine Augen zu farbigen Spiralen, er selbst macht wilde Motorengeräusche, hüpft auf der Straße auf und ab. Die Gesetze und Verhältnisse eines Cartoons sind das ideale Mittel, um die Romanvorlage in ihrer satirischen Deutlichkeit widerzugeben. Wie Grahame arbeitet auch der Film die Kritik am Konsumismus heraus, dem Taddäus Kröte manisch verfallen ist. Ohne Konsumgüter findet er in seinem Leben keine Erfüllung.
In der Charakterzeichnung ist „Das Erlebnis von Taddäus Kröte“ exzellent, und Liebhaber des Genres werden vor allem den spektakulären Schluss genießen. Da holt sich Taddäus, nun ein wenig geläutert, mit der Hilfe seiner Freunde sämtliche Besitztümer von einer frechen Wiesel-Bande zurück. Die lange Sequenz ist ein Musterbeispiel für gelungene Slapstick-Unterhaltung. Insbesondere die spielerische, gekonnt akzentuierte Orchestermusik von Oliver Wallace holt das größtmögliche Maß an Komik aus den Szenen heraus. Viele Passagen waren so einflussreich, dass sie in späteren Filmen erneut zum Einsatz kamen. Die Bewegungsabläufe aus dem Slapstick-Finale tauchten in Disneys „Robin Hood“ 1973 wieder auf, die Wiesel-Schurken waren Vorbilder für die Gegenspieler in „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“, mit dem Robert Zemeckis 1988 eine Hommage an die glorreichen Cartoon-Zeiten veröffentlichte. Auch Taddäus Kröte selbst hatte in dem Film einen Cameo-Auftritt.
Es ist jedoch das zweite Segment, welches „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“ zum elementaren Geheimtipp der Disney-Anthologie-Filme werden lässt. Das Aufeinandertreffen von Ichabod Crane und dem kopflosen Reiter aus Sleepy Hollow gilt, veröffentlicht im Jahre 1820, als eine der ersten Kurzgeschichten der US-Literatur. Darin buhlt der abergläubische Landschulmeister Ichabod um die Hand der schönen Katrina van Tassel, auch, um so in ihre reiche Familie Einzug zu erhalten. Bei einer herbstlichen Feier erzählt sein Nebenbuhler Brom Bones die Geschichte eines Reiters ohne Kopf, der in den Wäldern von Sleepy Hollow sein Umwesen treiben soll. Und – wie könnte es anders sein – auf dem Heimweg wird Ichabod tatsächlich von der schaurigen Gestalt gejagt, danach ward er nie wieder gesehen.
Jene Jagd hat bis heute das Potenzial, Kinder zu verängstigen. In expressionistischen Bildern wird der Auftritt des kopflosen Reiters selbst im Kinderfilm-Look zum gezeichneten Albtraum, mit einem Kürbis unter dem Arm jagt er den Lehrer durch einen finsteren Wald. Die irrwitzige Verfolgungsjagd inspirierte den Filmemacher Tim Burton ganze fünfzig Jahre später, seine eigene Verfilmung „Sleepy Hollow“ in die Kinos zu bringen. Doch schon der Teil davor, jetzt nicht mehr von Basil Rathbone, sondern von Bing Crosby aus dem Off erzählt, ist formidabel: Drei Musical-Einlagen erzählen, wie Ichabod Crane in die kleine Stadt einzieht, sich in Katrina verguckt (und in Wahrheit nur – ähnlich manisch wie Taddäus Kröte seine Besitzgüter – das Vermögen ihrer reichen Familie auf besessene Weise begehrt) und vom schicksalsträchtigen Abend, an dem Brom Bones die Schauergeschichte vom kopflosen Reiter erzählt. Der dort von Crosby gesungene Song „Headless Horseman“ wäre vor Veröffentlichung beinahe herausgeschnitten worden, galt als zu düster für einen Kinderfilm. Es dauerte bis 1996, ehe ein Disney-Lied wieder so finster klang: Damals sang der schurkische Frollo aus „Der Glöckner von Notre Dame“ sein „Hellfire“ – zu einer Melodie, die stark an „Headless Horseman“ angelehnt war.
Beim storchenbeinigen Ichabod Crane verzichtet der artistisch bemerkenswerte elfte Spielfilm der Walt Disney Company gänzlich darauf, ihn sympathisch zu zeichnen. Aus seinen unehrenhaften Motiven gegenüber Katrina macht der Film keinen Hehl. Eine so wenig liebenswerte Hauptfigur sollte es in der Zukunft von Disney, die 1950 mit "Cinderella" vom Anthologie-Weg abkamen und damit einen langersehnten Hit landeten, nie wieder geben. Und dementsprechend bekommt Ichabod auch kein Happy End, welches er ohnehin nicht verdient hätte. Ein solches erlebt nur der Zuschauer, der mitansehen durfte, wie „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“ handwerklich herausragende Trickfilm-Unterhaltung für alle Altersstufen bietet und dabei auch noch zwei Literaturklassikern gerecht wird.
In der Filmwelt steht ein Wort alleine für märchenhafte Welten, für träumerische Geschichten und für Millionen von glänzenden Kinderaugen: Disney. Benannt nach ihrem Schöpfer, dem Trickfilm-Pionier Walt Disney, ist die Filmschmiede hinter Micky Maus eine feste Institution in Hollywood, aber auch in Kinderzimmern auf der ganzen Welt. Doch während der 1940er schien es fast, als sei das zu diesem Zeitpunkt erst knapp zwanzig Jahre junge Studio bereits am Ende. Im Zweiten Weltkrieg arbeiteten bis zu 700 Mitarbeiter der US-Flugabwehr in den Disney-Studios. Im staatlichen Interesse mussten die Filmemacher Propaganda-Cartoons entwickeln. Mit Trickfilmen à la „Bambi“ oder „Dumbo“ war im Kino kein Geld zu verdienen. Aufgrund des fehlenden Budgets griff man zu einer Notlösung: Mehrere gezeichnete Kurzfilme wurden zu abendfüllenden Spielfilmen zusammengeschnitten.
Diese sogenannten Anthologien sind im Disney-Kanon längst in Vergessenheit geraten. So sehr sie damals erfolgreich die Kosten des Unternehmens senkten, so schwach war oft auch ihre Qualität. Einen übergreifenden Handlungsbogen hatten die Cartoon-Collagen nicht, sodass sie eher als Kuriosität der Disney-Historie gelten. Doch auch in dieser unrühmlichen Epoche des Studios versteckt sich eine Perle: „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“. Erschienen ist der 65-minütige Trickfilm im Jahr 1949, war damit der sechste und letzte der Anthologie-Filme. Erzählt werden in zwei Segmenten zwei Klassiker der Literaturgeschichte: „Das Erlebnis von Taddäus Kröte“ basiert auf dem britischen Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame, während „Das Abenteuer von Ichabod und dem kopflosen Reiter“ den vielleicht ältesten Mythos der Vereinigten Staaten von Amerika verfilmt: „Die Sage von der schläfrigen Schlucht“, eher bekannt als „Sleepy Hollow“, eine Kurzgeschichte des Schriftstellers Washington Irving.
Eine inhaltliche Klammer, ein übergeordnetes Thema, welches die zwei je halbstündigen Filme miteinander verbindet, gibt es streng genommen nicht. Wie bei den Anthologie-Vorgängern scheint auch hier die Zusammenstellung bloße Willkür zu sein. Ganz so einfach ist es jedoch kaum: Beide Hauptfiguren, sowohl Taddäus Kröte als auch Ichabod Crane, sind in letzter Konsequenz Besessene, und werden für ihre Ignoranz und Selbstgenügsamkeit bestraft. Außerdem sind beide Geschichten eine ungewöhnliche Wahl für einen Film der Marke Disney, welche heute vor allem für geschliffenes Entertainment für die ganze Familie bekannt ist. Denn beide Segmente erzählen im Kern erwachsene, durchaus auch düstere Geschichten, die trotz ihrer kindgerechten Aufmachung ihr Wesen nicht verleugnen.
Eröffnet wird der Film, bei dem die Zeichentrick-Künstler James Algar, Clyde Geronimi und Jack Kinney als Regisseure angegeben sind, von Realaufnahmen einer edlen Bibliothek. Aus dem Off ertönt im Originalton die Stimme des legendären Sherlock-Holmes-Darstellers Basil Rathbone. Er stellt die These auf, dass es sich bei einer Kröte um die wohl bemerkenswerteste Figur der britischen Literaturgeschichte handelt. Von hieran beginnt der erste Kurzfilm, der die Geschichte aus „Der Wind in den Weiden“ gekürzt, aber weitgehend originalgetreu adaptiert. Taddäus Kröte ist ein Adrenalin-Junkie, der sich mit den tollsten Reichtümern umgibt und jeder wilden Idee nachjagt – sehr zum Ärger seiner Freunde Meister Dachs, Ratte und Maulwurf Mauli. Als er zum ersten Mal ein Automobil erspäht, will er es unbedingt besitzen – und fällt auf eine fiese Betrüger-Bande herein, landet schlussendlich im Gefängnis.
Schon ein Jahrzehnt zuvor wollten die Macher „Der Wind in den Weiden“ verfilmen, und der Kurzfilm begeistert von Beginn an mit fantastischen Zeichnungen, deren detailreich gepinselte Figuren, Bewegungen und Hintergrunde eine beeindruckende Leistung ihrer Zeit sind. Die aufwendige Einführung der Taddäus-Figur präsentiert sich in einer Musical-Nummer, die zum Besten gehört, was das Medium Zeichentrick bis dato hervorbrachte. Zudem begeistert die Darstellung der Besessenheit ungemein: Als Taddäus die erste Begegnung mit einem Auto hinter sich hat, werden seine Augen zu farbigen Spiralen, er selbst macht wilde Motorengeräusche, hüpft auf der Straße auf und ab. Die Gesetze und Verhältnisse eines Cartoons sind das ideale Mittel, um die Romanvorlage in ihrer satirischen Deutlichkeit widerzugeben. Wie Grahame arbeitet auch der Film die Kritik am Konsumismus heraus, dem Taddäus Kröte manisch verfallen ist. Ohne Konsumgüter findet er in seinem Leben keine Erfüllung.
In der Charakterzeichnung ist „Das Erlebnis von Taddäus Kröte“ exzellent, und Liebhaber des Genres werden vor allem den spektakulären Schluss genießen. Da holt sich Taddäus, nun ein wenig geläutert, mit der Hilfe seiner Freunde sämtliche Besitztümer von einer frechen Wiesel-Bande zurück. Die lange Sequenz ist ein Musterbeispiel für gelungene Slapstick-Unterhaltung. Insbesondere die spielerische, gekonnt akzentuierte Orchestermusik von Oliver Wallace holt das größtmögliche Maß an Komik aus den Szenen heraus. Viele Passagen waren so einflussreich, dass sie in späteren Filmen erneut zum Einsatz kamen. Die Bewegungsabläufe aus dem Slapstick-Finale tauchten in Disneys „Robin Hood“ 1973 wieder auf, die Wiesel-Schurken waren Vorbilder für die Gegenspieler in „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“, mit dem Robert Zemeckis 1988 eine Hommage an die glorreichen Cartoon-Zeiten veröffentlichte. Auch Taddäus Kröte selbst hatte in dem Film einen Cameo-Auftritt.
Es ist jedoch das zweite Segment, welches „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“ zum elementaren Geheimtipp der Disney-Anthologie-Filme werden lässt. Das Aufeinandertreffen von Ichabod Crane und dem kopflosen Reiter aus Sleepy Hollow gilt, veröffentlicht im Jahre 1820, als eine der ersten Kurzgeschichten der US-Literatur. Darin buhlt der abergläubische Landschulmeister Ichabod um die Hand der schönen Katrina van Tassel, auch, um so in ihre reiche Familie Einzug zu erhalten. Bei einer herbstlichen Feier erzählt sein Nebenbuhler Brom Bones die Geschichte eines Reiters ohne Kopf, der in den Wäldern von Sleepy Hollow sein Umwesen treiben soll. Und – wie könnte es anders sein – auf dem Heimweg wird Ichabod tatsächlich von der schaurigen Gestalt gejagt, danach ward er nie wieder gesehen.
Jene Jagd hat bis heute das Potenzial, Kinder zu verängstigen. In expressionistischen Bildern wird der Auftritt des kopflosen Reiters selbst im Kinderfilm-Look zum gezeichneten Albtraum, mit einem Kürbis unter dem Arm jagt er den Lehrer durch einen finsteren Wald. Die irrwitzige Verfolgungsjagd inspirierte den Filmemacher Tim Burton ganze fünfzig Jahre später, seine eigene Verfilmung „Sleepy Hollow“ in die Kinos zu bringen. Doch schon der Teil davor, jetzt nicht mehr von Basil Rathbone, sondern von Bing Crosby aus dem Off erzählt, ist formidabel: Drei Musical-Einlagen erzählen, wie Ichabod Crane in die kleine Stadt einzieht, sich in Katrina verguckt (und in Wahrheit nur – ähnlich manisch wie Taddäus Kröte seine Besitzgüter – das Vermögen ihrer reichen Familie auf besessene Weise begehrt) und vom schicksalsträchtigen Abend, an dem Brom Bones die Schauergeschichte vom kopflosen Reiter erzählt. Der dort von Crosby gesungene Song „Headless Horseman“ wäre vor Veröffentlichung beinahe herausgeschnitten worden, galt als zu düster für einen Kinderfilm. Es dauerte bis 1996, ehe ein Disney-Lied wieder so finster klang: Damals sang der schurkische Frollo aus „Der Glöckner von Notre Dame“ sein „Hellfire“ – zu einer Melodie, die stark an „Headless Horseman“ angelehnt war.
Beim storchenbeinigen Ichabod Crane verzichtet der artistisch bemerkenswerte elfte Spielfilm der Walt Disney Company gänzlich darauf, ihn sympathisch zu zeichnen. Aus seinen unehrenhaften Motiven gegenüber Katrina macht der Film keinen Hehl. Eine so wenig liebenswerte Hauptfigur sollte es in der Zukunft von Disney, die 1950 mit "Cinderella" vom Anthologie-Weg abkamen und damit einen langersehnten Hit landeten, nie wieder geben. Und dementsprechend bekommt Ichabod auch kein Happy End, welches er ohnehin nicht verdient hätte. Ein solches erlebt nur der Zuschauer, der mitansehen durfte, wie „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“ handwerklich herausragende Trickfilm-Unterhaltung für alle Altersstufen bietet und dabei auch noch zwei Literaturklassikern gerecht wird.
Für eine Handvoll Gnade
Erbarmungslos
Manchmal ist der Originaltitel eines Films zutreffender als sein deutsches Pendant. „Erbarmungslos“, so heißt der Western, mit dem Clint Eastwood sich 1992 vom Genre verabschiedete, durch welches er zur Ikone wurde. „Erbarmungslos“, das ist ein Charakterzug, der auf viele Charaktere von Clint Eastwood zutrifft, auf seinen Poncho-tragenden Italowestern-Helden aus der „Dollar-Trilogie“ von Sergio Leone oder auf „Dirty Harry“, den abgebrühten Cop aus San Francisco, den er 1971 erstmals unter der Regie von Don Siegel verkörpert. Am Schluss von „Erbarmungslos“ ist ein Grabstein zu sehen, darunter wird eine Widmung eingeblendet: „Für Sergio und Don.“ In Ehren an seine Lehrmeister endet Eastwood, sein Film steht aber als Beweis dafür, was ihn als Filmemacher von seinen Vorbildern unterscheidet. „Erbarmungslos“ waren die Eastwood-Helden von Leone und Siegel, seinen eigenen Protagonisten umschreibt der englische Originaltitel besser: „Unforgiven“, also „Unverziehen“.
William Munny ist der Charakter, den Clint Eastwood für seinen letzten Western-Auftritt wählt. Er ist ein Pistolero vergangener Tage. Einst ein Postkutschendieb und Mörder haben ihn die Liebe weich und die Zeit alt werden lassen. Verwitwet lebt er als Schweinefarmer mit seinen Kindern in einer Zeit, als der Westen langsam die Gestalt einer Zivilisation annahm. Ein junger Reiter klopft an seine Tür, er kennt Munny nur aus Legenden. Er will sich einen Namen machen, und hat ihn bereits eigenmächtig ausgesucht: Scofield Kid. Munny soll ihn in die Kleinstadt Big Whiskey begleiten, um dort 1000 Dollar zu verdienen. Prostituierte haben ein Kopfgeld auf zwei Cowboys ausgesetzt, die einer von ihnen das Gesicht zerschnitten haben. Da seine Schweinezucht finanziell vor dem Ende steht, willigt Munny ein.
Doch Munny trifft bei Schießübungen selbst einfachste Ziele nicht. Auf sein Pferd kann der armselige, greise Mann nur mit viel Mühe steigen. Einen ehemaligen Partner, Ned Logan, bittet er darum, hin und wieder nach seinen Kindern zu sehen. Der hat so viel Mitleid mit ihm, dass er sich dem Recken anschließt. Gemeinsam reiten sie, Clint Eastwood und Morgan Freeman, der den Ned Logan spielt, Seite an Seite im Licht des Sonnenuntergangs, übernachten am Lagerfeuer, erschließen in fantastischen Landschaftsaufnahmen das unbefleckte Amerika. Doch die Westernklischees haben ihren Glanz verloren: Über das Töten spricht Ned wie ein traumatisierter Heimkehrer aus einem bitteren Krieg, Munny kann sich an seine Ruhmestage kaum erinnern. Er war die meiste Zeit betrunken, in seinen Träumen verfolgen ihn seine vielen sinnlosen Opfer. Als Mann ist er nicht länger aktiv, aus Treue zu seiner verstorbenen Frau masturbiert er nicht einmal mehr.
Schnell wird klar, was Munny sich wirklich von seinem Trip erhofft: Vergebung, Absolution von seinen Gräueltaten. Seine Frau liebte ihn, obwohl er ein kaltherziger, ruchloser Mörder gewesen ist. Sie sah etwas in ihm, dass sie lieben konnte. Munny versucht, diesen Mann zu finden, der er in den Augen seiner Frau war. Er hat sich, um mit dem Begriff des Originaltitels zu sprechen, seine Historie des Tötens nie verziehen. Das Töten, bzw. die Nachwehen des Tötens stehen im Zentrum dieses brillanten Films, der zum allerbesten gehört, was in den 1990ern in den Lichtspielhäusern zu sehen war. Eastwood gelingt in „Erbarmungslos“ die vollständige Dekonstruktion seines Leinwandimages als cooler Held mit dem lockeren Colt, aber ihm gelingt auch die Demontage eines Genres. Das Drehbuch des „Blade Runner“-Autoren David Webb Peoples ist eine in ihrer Essenz zutiefst verstörende Tragödie: Es ist die Geschichte eines Mörders, der seinem Wesen entkommen will, aber sich damit nur selbst verleugnet. Er ist dazu verdammt, ein Mörder zu sein, verdient es vielleicht nicht besser.
„Erbarmungslos“ ist einer der finstersten Filme, die das Westerngenre hervorgebracht hat. Kameramann Jack N. Green taucht nahezu alle Bilder fast vollständig in Schwarz, die Musik von Lennie Niehaus erklingt nur in wenigen Szenen. Ein einziges Mal gibt es etwas Licht, wird es kurz humorvoll. Da sitzt ein Brite, formidabel gespielt von Richard Harris, in einem Zug, nebst seinem Biographen, und fabuliert über die Vorzüge der Monarchie. Vor einem König habe man zu viel Ehrfurcht, um ihn zu töten. Einen Präsidenten lässt es sich hingegen leicht ermorden. Der Gentleman ist English Bob, ein Held des Wilden Westens, der selbst am Kopfgeld der Huren interessiert ist. Sein Biograph schreibt über dessen Abenteuer Pulp-Literatur, zum Beispiel über English Bobs Aufeinandertreffen mit Two Gun Corcoran, den er im Duell erlegte. Wie der Autor später erfährt, ist das jedoch alles gelogen: Bob war damals in Wahrheit sturzbesoffen, konnte seinen Gegner nur dank dessen Ladehemmung töten. Die Moral: Die alten Mythen des Westens sind verlogene Träume. Die Helden hat es nie gegeben.
Der Western ist der Heimatfilm der Vereinigten Staaten. Die besten Filme des Genres behandeln die amerikanische Identität, den Kampf alttestamentarischer Gebärden gegen das aufkeimende Korsett der Zivilisation und des Kapitalismus. Schonungslos zeigt dieser Spätwestern den hässlichen Kern des Frontiermythos. Verkörpert wird das im Antagonisten des Films: Little Bill, dem Sheriff von Big Whiskey. Er will verhindern, dass Kopfgeldjäger in seiner Start Jagd auf die Nutten-Schlitzer machen – und verbietet Schusswaffen in der Stadt. Nur er als Repräsentant des Gesetzes darf noch einen Revolver tragen. In diesem Plot liegt weitaus mehr verborgen als die Skepsis des bekennenden Republikaners Clint Eastwood über Waffenverbote und Gewaltmonopole. 1992 erschien „Erbarmungslos“ kurz nach dem Golfkrieg von George Bush – und das Gebaren der selbsternannten Weltpolizei USA entpuppt sich urplötzlich als Erbe des Wilden Westen.
Little Bill ist eine der faszinierendsten Figuren, die das postmoderne Kino hervorgebracht hat. Auch er ist ein ehemaliger Kopfgeldjäger wie William Munny, doch auf der Seite des Gesetzes kann er durch Gesetze geschützt weitermorden. Zwei Männer prügelt er fast tot, um den Frieden der Stadt zu wahren. Wie Munny träumt er von einem Leben ohne Gewalt: In der Natur zimmert er sich eine erbärmliche, schief geratene Hütte, über die ganz Big Whiskey lacht. Gene Hackman gewann für seine Darstellung von Little Bill den Oscar und trumpft einmalig gut auf: Fast eingeschnappt wirkt er, als jemand seine Fähigkeiten als Tischler kritisiert, überzeugt gibt er den „Herrscher“ über die Stadt. In einer erschütternden Szene wird er gar zur dämonischen Verkörperung des korrumpierten Rechts: Mit einer Peitsche misshandelt er den Charakter von Morgan Freeman, und wie diese unerträgliche Szene durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle gefilmt wird, weckt Assoziationen an die Ära des Ku-Klux-Klans. Vor dem Hintergrund der Unruhen in Los Angeles 1992, als weiße Polizisten mit der Misshandlung des Afroamerikaners Rodney King ungeschoren davonkamen, gelingt Eastwood ein unter die Haut gehendes Exempel für filmischen Revisionismus.
Sein Meisterwerk ist ein Film voll brutaler Ruhe, in der das Akt des Tötens existenziell wirkt. Als das zentrale Trio einen der zwei Cowboys tödlich verwundet, sitzen sie alle in ihrer Deckung und hören dem schreienden Opfer beim Aushauchen seines Lebens zu. Als Scofield Kid schließlich zum ersten Mal selbst tötet, wird er damit nicht fertig – und greift zum Alkohol. Big Whiskey, der Name des Kaffs, in dem ein Großteil des Plots spielt, ist nicht zufällig gewählt. In „Erbarmungslos“ trinken die Männer, um morden zu können – und trinken, um ihre Taten zu verarbeiten. Den ganzen Film über entsagt Munny dem Alkohol, doch als er Kid schließlich die Flasche ab- und einen großen Schluck nimmt, weiß der Zuschauer auch dank der perfektionierten spartanischen Mimik des ikonischen Darstellers Clint Eastwood: Der Rausch des Tötens hat wieder von ihm Besitz ergriffen. Er hat sein inneres Monster akzeptiert.
Ironischerweise hat der Ausnahme-Künstler Eastwood mit diesem entmythologisierenden Western seinen eigenen Mythos genährt: Als Schauspieler, Regisseur und Produzent schuf er ein famoses, reflektiertes und melancholisches Epos, entkam mit einem Film über Männer, die ihrer Vergangenheit nicht entkommen, seiner Vergangenheit als coolster Gunslinger des Kinos. Das obligatorische finale Duell von „Erbarmungslos“ hat nichts Erbauendes. William Munny rettet nicht bei tiefhängender Sonne die Schwachen vor den Starken, auch seine Rache für den getöteten Ned ist nur faule Ausrede: Er richtet im strömenden Regen ein Massaker an Little Bill und dessen Deputys an. Dann kehrte er ganz wie Clint Eastwood dem Western den Rücken zu, und zieht mit seinen Kindern nach San Francisco. Doch sein Film entlarvt auch diese Flucht als scheinheilig. Erst als Munny zum Schluss wieder der Massenmörder vergangener Tage geworden ist, lässt Eastwood zynisch im Hintergrund die US-Flagge wehen. Denn – so die Kernaussage seines Films – wie sehr sich die USA auch anstrengen, ihre Historie zu verdrängen, bleibt sie dennoch unverziehen, bzw.: Unforgiven.
Manchmal ist der Originaltitel eines Films zutreffender als sein deutsches Pendant. „Erbarmungslos“, so heißt der Western, mit dem Clint Eastwood sich 1992 vom Genre verabschiedete, durch welches er zur Ikone wurde. „Erbarmungslos“, das ist ein Charakterzug, der auf viele Charaktere von Clint Eastwood zutrifft, auf seinen Poncho-tragenden Italowestern-Helden aus der „Dollar-Trilogie“ von Sergio Leone oder auf „Dirty Harry“, den abgebrühten Cop aus San Francisco, den er 1971 erstmals unter der Regie von Don Siegel verkörpert. Am Schluss von „Erbarmungslos“ ist ein Grabstein zu sehen, darunter wird eine Widmung eingeblendet: „Für Sergio und Don.“ In Ehren an seine Lehrmeister endet Eastwood, sein Film steht aber als Beweis dafür, was ihn als Filmemacher von seinen Vorbildern unterscheidet. „Erbarmungslos“ waren die Eastwood-Helden von Leone und Siegel, seinen eigenen Protagonisten umschreibt der englische Originaltitel besser: „Unforgiven“, also „Unverziehen“.
William Munny ist der Charakter, den Clint Eastwood für seinen letzten Western-Auftritt wählt. Er ist ein Pistolero vergangener Tage. Einst ein Postkutschendieb und Mörder haben ihn die Liebe weich und die Zeit alt werden lassen. Verwitwet lebt er als Schweinefarmer mit seinen Kindern in einer Zeit, als der Westen langsam die Gestalt einer Zivilisation annahm. Ein junger Reiter klopft an seine Tür, er kennt Munny nur aus Legenden. Er will sich einen Namen machen, und hat ihn bereits eigenmächtig ausgesucht: Scofield Kid. Munny soll ihn in die Kleinstadt Big Whiskey begleiten, um dort 1000 Dollar zu verdienen. Prostituierte haben ein Kopfgeld auf zwei Cowboys ausgesetzt, die einer von ihnen das Gesicht zerschnitten haben. Da seine Schweinezucht finanziell vor dem Ende steht, willigt Munny ein.
Doch Munny trifft bei Schießübungen selbst einfachste Ziele nicht. Auf sein Pferd kann der armselige, greise Mann nur mit viel Mühe steigen. Einen ehemaligen Partner, Ned Logan, bittet er darum, hin und wieder nach seinen Kindern zu sehen. Der hat so viel Mitleid mit ihm, dass er sich dem Recken anschließt. Gemeinsam reiten sie, Clint Eastwood und Morgan Freeman, der den Ned Logan spielt, Seite an Seite im Licht des Sonnenuntergangs, übernachten am Lagerfeuer, erschließen in fantastischen Landschaftsaufnahmen das unbefleckte Amerika. Doch die Westernklischees haben ihren Glanz verloren: Über das Töten spricht Ned wie ein traumatisierter Heimkehrer aus einem bitteren Krieg, Munny kann sich an seine Ruhmestage kaum erinnern. Er war die meiste Zeit betrunken, in seinen Träumen verfolgen ihn seine vielen sinnlosen Opfer. Als Mann ist er nicht länger aktiv, aus Treue zu seiner verstorbenen Frau masturbiert er nicht einmal mehr.
Schnell wird klar, was Munny sich wirklich von seinem Trip erhofft: Vergebung, Absolution von seinen Gräueltaten. Seine Frau liebte ihn, obwohl er ein kaltherziger, ruchloser Mörder gewesen ist. Sie sah etwas in ihm, dass sie lieben konnte. Munny versucht, diesen Mann zu finden, der er in den Augen seiner Frau war. Er hat sich, um mit dem Begriff des Originaltitels zu sprechen, seine Historie des Tötens nie verziehen. Das Töten, bzw. die Nachwehen des Tötens stehen im Zentrum dieses brillanten Films, der zum allerbesten gehört, was in den 1990ern in den Lichtspielhäusern zu sehen war. Eastwood gelingt in „Erbarmungslos“ die vollständige Dekonstruktion seines Leinwandimages als cooler Held mit dem lockeren Colt, aber ihm gelingt auch die Demontage eines Genres. Das Drehbuch des „Blade Runner“-Autoren David Webb Peoples ist eine in ihrer Essenz zutiefst verstörende Tragödie: Es ist die Geschichte eines Mörders, der seinem Wesen entkommen will, aber sich damit nur selbst verleugnet. Er ist dazu verdammt, ein Mörder zu sein, verdient es vielleicht nicht besser.
„Erbarmungslos“ ist einer der finstersten Filme, die das Westerngenre hervorgebracht hat. Kameramann Jack N. Green taucht nahezu alle Bilder fast vollständig in Schwarz, die Musik von Lennie Niehaus erklingt nur in wenigen Szenen. Ein einziges Mal gibt es etwas Licht, wird es kurz humorvoll. Da sitzt ein Brite, formidabel gespielt von Richard Harris, in einem Zug, nebst seinem Biographen, und fabuliert über die Vorzüge der Monarchie. Vor einem König habe man zu viel Ehrfurcht, um ihn zu töten. Einen Präsidenten lässt es sich hingegen leicht ermorden. Der Gentleman ist English Bob, ein Held des Wilden Westens, der selbst am Kopfgeld der Huren interessiert ist. Sein Biograph schreibt über dessen Abenteuer Pulp-Literatur, zum Beispiel über English Bobs Aufeinandertreffen mit Two Gun Corcoran, den er im Duell erlegte. Wie der Autor später erfährt, ist das jedoch alles gelogen: Bob war damals in Wahrheit sturzbesoffen, konnte seinen Gegner nur dank dessen Ladehemmung töten. Die Moral: Die alten Mythen des Westens sind verlogene Träume. Die Helden hat es nie gegeben.
Der Western ist der Heimatfilm der Vereinigten Staaten. Die besten Filme des Genres behandeln die amerikanische Identität, den Kampf alttestamentarischer Gebärden gegen das aufkeimende Korsett der Zivilisation und des Kapitalismus. Schonungslos zeigt dieser Spätwestern den hässlichen Kern des Frontiermythos. Verkörpert wird das im Antagonisten des Films: Little Bill, dem Sheriff von Big Whiskey. Er will verhindern, dass Kopfgeldjäger in seiner Start Jagd auf die Nutten-Schlitzer machen – und verbietet Schusswaffen in der Stadt. Nur er als Repräsentant des Gesetzes darf noch einen Revolver tragen. In diesem Plot liegt weitaus mehr verborgen als die Skepsis des bekennenden Republikaners Clint Eastwood über Waffenverbote und Gewaltmonopole. 1992 erschien „Erbarmungslos“ kurz nach dem Golfkrieg von George Bush – und das Gebaren der selbsternannten Weltpolizei USA entpuppt sich urplötzlich als Erbe des Wilden Westen.
Little Bill ist eine der faszinierendsten Figuren, die das postmoderne Kino hervorgebracht hat. Auch er ist ein ehemaliger Kopfgeldjäger wie William Munny, doch auf der Seite des Gesetzes kann er durch Gesetze geschützt weitermorden. Zwei Männer prügelt er fast tot, um den Frieden der Stadt zu wahren. Wie Munny träumt er von einem Leben ohne Gewalt: In der Natur zimmert er sich eine erbärmliche, schief geratene Hütte, über die ganz Big Whiskey lacht. Gene Hackman gewann für seine Darstellung von Little Bill den Oscar und trumpft einmalig gut auf: Fast eingeschnappt wirkt er, als jemand seine Fähigkeiten als Tischler kritisiert, überzeugt gibt er den „Herrscher“ über die Stadt. In einer erschütternden Szene wird er gar zur dämonischen Verkörperung des korrumpierten Rechts: Mit einer Peitsche misshandelt er den Charakter von Morgan Freeman, und wie diese unerträgliche Szene durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle gefilmt wird, weckt Assoziationen an die Ära des Ku-Klux-Klans. Vor dem Hintergrund der Unruhen in Los Angeles 1992, als weiße Polizisten mit der Misshandlung des Afroamerikaners Rodney King ungeschoren davonkamen, gelingt Eastwood ein unter die Haut gehendes Exempel für filmischen Revisionismus.
Sein Meisterwerk ist ein Film voll brutaler Ruhe, in der das Akt des Tötens existenziell wirkt. Als das zentrale Trio einen der zwei Cowboys tödlich verwundet, sitzen sie alle in ihrer Deckung und hören dem schreienden Opfer beim Aushauchen seines Lebens zu. Als Scofield Kid schließlich zum ersten Mal selbst tötet, wird er damit nicht fertig – und greift zum Alkohol. Big Whiskey, der Name des Kaffs, in dem ein Großteil des Plots spielt, ist nicht zufällig gewählt. In „Erbarmungslos“ trinken die Männer, um morden zu können – und trinken, um ihre Taten zu verarbeiten. Den ganzen Film über entsagt Munny dem Alkohol, doch als er Kid schließlich die Flasche ab- und einen großen Schluck nimmt, weiß der Zuschauer auch dank der perfektionierten spartanischen Mimik des ikonischen Darstellers Clint Eastwood: Der Rausch des Tötens hat wieder von ihm Besitz ergriffen. Er hat sein inneres Monster akzeptiert.
Ironischerweise hat der Ausnahme-Künstler Eastwood mit diesem entmythologisierenden Western seinen eigenen Mythos genährt: Als Schauspieler, Regisseur und Produzent schuf er ein famoses, reflektiertes und melancholisches Epos, entkam mit einem Film über Männer, die ihrer Vergangenheit nicht entkommen, seiner Vergangenheit als coolster Gunslinger des Kinos. Das obligatorische finale Duell von „Erbarmungslos“ hat nichts Erbauendes. William Munny rettet nicht bei tiefhängender Sonne die Schwachen vor den Starken, auch seine Rache für den getöteten Ned ist nur faule Ausrede: Er richtet im strömenden Regen ein Massaker an Little Bill und dessen Deputys an. Dann kehrte er ganz wie Clint Eastwood dem Western den Rücken zu, und zieht mit seinen Kindern nach San Francisco. Doch sein Film entlarvt auch diese Flucht als scheinheilig. Erst als Munny zum Schluss wieder der Massenmörder vergangener Tage geworden ist, lässt Eastwood zynisch im Hintergrund die US-Flagge wehen. Denn – so die Kernaussage seines Films – wie sehr sich die USA auch anstrengen, ihre Historie zu verdrängen, bleibt sie dennoch unverziehen, bzw.: Unforgiven.
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Hast du die Bewertung evtl. vergessen?
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Ich bin kein großer Freund von den Punkten, um ehrlich zu sein. Es fällt mir immer schwieriger, die noch zu vergeben, daher lasse ich sie zumeist weg – zumal sie hinsichtlich einer Art Vergleichbarkeit nur wenig taugen. Aus meinen Texten liest sich aber (hoffentlich) heraus, ob ich einen Film mies, schwach, ok, gut oder toll fand. :)
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
ok, muss jeder selbst wissen..ich finde sie ganz sinnvoll für einen Schnell-Überblick, weil man ja nicht immer gleich nen halbes Buch lesen möchte ;) Deshalb finde ich es hilfreich, selbst wenn die Vergleichbarkeit in der Tat ein Problem ist manchmal ;) Und die Punktebewertung vor allem auch oft tagesformabhängig ist, zumindest ist das bei mir so, dass ich z. B. an einem bescheidenen Film einen Film natürlich besonders zu schätzen weiß, der mich einfach in irgendeiner Form glücklich gemacht oder positiv berührt, etc. hat
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Mich treibt eigentlich eine andere Frage um: Schreibst du diese "Monster" eigentlich nur für das Forums'Tagebuch, oder werden die auch anderweitig veröffentlicht???
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Ich bin in mehreren Internet-Foren unterwegs und je nachdem, welcher Film es ist und wie zufrieden ich mit dem Text bin, poste ich sie auch dort. Anderweitig bzw. außerhalb kleiner Internet-Foren veröffentliche ich die allerdings nicht. Ich mag aber diese Filmtagebuch-Idee hier, weil man so auch mal Texte zu Filmen anbieten kann, für die sich sonst kein Schwein interessiert, siehe weiter oben: "Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte".Nachtwaechter hat geschrieben: ↑02.02.2021, 20:01Schreibst du diese "Monster" eigentlich nur für das Forums'Tagebuch, oder werden die auch anderweitig veröffentlicht?
Das ist sicherlich richtig. Ich stehle mich aber wie gesagt gerne davon, weil ich mir stark abgewöhnt habe, in Punkten zu denken - und dir gar nicht sagen könnte, was für mich ein 7 oder 8 oder 9 Punkte Film genau wäre. Das ist imo viel beliebiger als ein erklärender, argumentativer Text, auch wenn man sicher nicht immer Zeit und Muße hat, sich durch diese durchzuquälen.
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Dann solte eine Plattform wie letterboxd genau dein Ding sein!Wallnuss hat geschrieben: ↑02.02.2021, 21:52Ich bin in mehreren Internet-Foren unterwegs und je nachdem, welcher Film es ist und wie zufrieden ich mit dem Text bin, poste ich sie auch dort. Anderweitig bzw. außerhalb kleiner Internet-Foren veröffentliche ich die allerdings nicht. Ich mag aber diese Filmtagebuch-Idee hier, weil man so auch mal Texte zu Filmen anbieten kann, für die sich sonst kein Schwein interessiert, siehe weiter oben: "Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte".Nachtwaechter hat geschrieben: ↑02.02.2021, 20:01Schreibst du diese "Monster" eigentlich nur für das Forums'Tagebuch, oder werden die auch anderweitig veröffentlicht?
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Süßwaren-Märchen ohne Karies-Gefahr
Charlie und die Schokoladenfabrik
Den meisten Kinderbüchern wohnt ein pädagogischer Holzhammer inne. Schon die Märchengeschichten von vor mehreren Jahrhunderten dienten letztlich der Erziehung des eigenen Nachwuchses. Zum Glück spielen da nicht alle Schriftsteller mit: Der Waliser Roald Dahl schrieb Kinderbücher auf Augenhöhe mit seiner Zielgruppe, schlug sich stets auf die Seite der unglücklichen Kleinen. Seinen Helden Charlie Bucket führt er in „Charlie und die Schokoladenfabrik“ so ein: „Charlie war der glücklichste Junge auf der Welt. Er wusste es nur noch nicht.“ In der Tat: Zu Beginn sieht es für den Knaben nicht gut aus: Mit Mama, Papa und seinen vier Großeltern lebt er in einem kleinen Haus am Existenzminimum, hat kaum Essen auf dem Teller. Zum Geburtstag gibt es kein Spielzeug, keine großen Geschenke, sondern nur eine Tafel Schokolade.
Im Jahr 1971, sieben Jahre nach Veröffentlichung des Buches, wurde Dahls vielleicht bekanntestes Buch ein erstes Mal verfilmt – und in den USA zum Kult. Doch er schimpfte über das Musical mit Gene Wilder als Schokoladenfabrikanten Willy Wonka. Die süßliche Inszenierung des Regisseurs Mel Stuart war ihm zu soft. Es fehlten die traurigen und sardonischen Elemente. Er zog seine Konsequenzen, verkaufte nie die Adaptionsrechte für die Fortsetzung „Charlie und der gläserne Fahrstuhl“. Hätte er bis 2005 gelebt, hätte er diese Meinung vielleicht überdacht. Denn für die Neuverfilmung von „Charlie und die Schokoladenfabrik“ nahm ein Filmemacher auf dem Regiestuhl Platz, der nicht nur zu den visionärsten Künstlern der US-Filmgeschichte gehört, sondern Dahls Vorliebe für Außenseiter, für verschrobene Welten und für die Macht der kindlichen Phantasie teilt. Auftritt: Tim Burton.
Der eröffnet seine Version des Klassikers nicht mit bunten Farben oder idyllischen Bildern, sondern so, wie es Dahl gefallen hätte: Mit grauen Schornsteinen einer winterlich verschneiten Fabrik. Die Kamera fährt zur gespenstischen Musik seines Stammkomponisten Danny Elfman in eins der Rohre. Im Innern werden hunderttausende Tafeln Schokolade verarbeitet und von Fließbändern durch die Gegend befördert. Eine Hand in einem lilafarbenen Handschuh durchbricht die visuelle Tristesse – und verteilt je eine goldene Eintrittskarte willkürlich auf fünf verschiedene Schokotafeln. Die Hand ist die von Willy Wonka und jede der Karten berechtigen ihren Finder, einen Tag lang die geheime Fabrik des Chocolatiers zu besichtigen. Normalerweise hat hier niemand Zutritt, um Industriespione fernzuhalten. Man erzählt sich die tollsten Geschichten über Wonka. Einmal soll er in Indien einem Sultan einen Palast ganz aus Schokolade gebaut haben.
Tim Burton ist es über mehrere Jahrzehnte gelungen, mit eigensinniger Note emotionale Popcorn-Unterhaltung und handwerklich brillante und tiefsinnige Filmkunst unter einen Hut zu kriegen. Damit ist er die perfekte Wahl für „Charlie und die Schokoladenfabrik“, vereint doch kaum ein anderer Filmemacher so mühelos das Komische mit dem Bizarren. Allein das löcherige, schiefgebaute Haus, in dem Charlie und seine Familie leben, ist eine kreative Kulisse, die andere Fantasy-Filme erblassen lässt. In einer halbstündigen Prolog-Sequenz zeigt er das traurige und graue Leben von Charlie Bucket im blitzschnellen Wechsel mit der Einführung der Kinder, welche an die goldenen Tickets von Willy Wonka gelangen. Einer von ihnen ist ein verfressener deutscher Junge, der in der bayerischen Version von Düsseldorf lebt. Ein weiterer ist Videospiel-süchtig, während die zwei weiblichen Gewinnerkinder so verwöhnt wie arrogant auftreten. Sie alle werden von der Presse begeistert geknipst, stolz stehen die Eltern hinter ihnen.
Als Charlie endlich die entscheidende Tafel Schokolade hat, gibt es für ihn erstmals Grund zu Freude. Er hat – natürlich – das letzte goldene Ticket, und es ist Jungschauspieler Freddie Highmore zu verdanken, dass in dieser Sekunde dem Zuschauer ganz warm ums Herz werden kann. Doch die große Explosion kommt erst: In der Fabrik treffen die Kinder auf Willy Wonka, den Burton mit seinem Lieblingsschauspieler Johnny Depp besetzt hat. Es ist ihre vierte Zusammenarbeit. Depp, mit hysterischer Piepsstimme und bleich-geschminkter Haut, spielt seinen psychopathischen, latent-sadistischen Schokoladen-Fabrikanten auf großartige Weise als Gothic-Zwitter aus Michael Jackson und Howard Hughes. Als er die Tür zur Fabrik öffnet, zitiert Burton den legendären Film „Der Zauberer von Oz“. Bei dem waren einst alle Szenen in der Realität nicht grau, sondern gleich ohne Farbe gefilmt, erst im zauberhaften Land wurde es quietschbunt. So auch hier: Grüne, essbare Wiesen, braune Flüsse voll Schokolade, pinke Wikingerboote aus Lakritze und ein Raum voll domestizierter, nach Zeitplan arbeitender Eichhörnchen sprengen die Grenzen des Erwarteten.
Von nun an ist Burton nicht zu bremsen: Der prächtig inszenierte und entwaffnend schlichte Film bietet eine kuriose Idee nach der nächsten, und wird vollends zur verschwenderischen Johnny-Depp-Freakshow: Auf die Frage eines Kindes, ob wirklich alles in der Fabrik essbar sei, antwortet er gruselig: „Natürlich. Sogar ich bin essbar. Aber das nennt man Kannibalismus und wird in den meisten Gesellschaften nicht gerne gesehen.“ Seine Fabrikarbeiter entpuppen sich als Oompa Loompas: Tausende importierte liliputanische Arbeitskräfte, die Wonka aus einem südlichen Land zu sich holte, und mit Kakaobohnen bezahlt. Schon in der Vorlage sind diese Wesen nicht unproblematisch, warf man Dahl doch Rassismus und Verharmlosung der Kolonialgeschichte Afrikas vor. Burton bleibt aller Kritik zum Trotz dicht am Original: Ein einziger Schauspieler, der Kenianer Deep Roy, spielt sämtliche Oompa Loompas.
Wer das Buch kennt, weiß wie es weitergeht: Nach und nach fallen die vier missratenen Bälger ihren Schwächen zum Opfer. Sie zeigen sich vorlaut und frech, und werden dafür bestraft, zu riesigen Blaubeeren aufgeblasen oder in den Müllschlucker geworfen. Die famose Darstellung dieser schonungslosen Verläufe vor exzentrischer Kulisse toppt Burton zusätzlich durch Musical-Einlagen, in denen die Oompa Loompas mit Häme über die Kinder ablästern und dabei munter die Genres wechseln, vom Broadway-Gesang bis zur Beatles-Parodie. Die Verszeilen sind direkt Dahls Buch entnommen. Selbstzweck ist das nicht: Burton behält die Moral der Vorlage im Auge. „Die Eltern sind die Schuldigen“, singen die zwerghaften Billigarbeiter (mit der Stimme von Elfman, nicht von Roy), und verdeutlichen, dass die Kinder nur zu diesen unsozialen, bestialischen Charakteren wurden, weil ihre Eltern ihnen jede Liebe verweigerten – und sie so ihre Phantasie verloren haben.
Dasselbe kann man über Tim Burton ganz und gar nicht sagen. Er setzt von Computereffekten bis hin zu wahnsinnigen Videoclip-Montagen jedes Mittel ein, um „Charlie und die Schokoladenfabrik“ zum cineastischen Fest zu machen. In der verrücktesten Szene, in welcher der Ego-Shooter-Nerd Mike Teavee auf Wonkas modernste TV-Erfindungen trifft, mit denen sich der Zuschauer in die Mattscheibe hineinbeamen kann, probiert der Junge das sofort aus – und landet in „2001: Odyssee im Weltraum“, dem Sci-Fi-Filmmeisterwerk von Stanley Kubrick. Der Monolith, ein rechteckiger Stein, der dort die Fortschritte der Menschheit und die Inspiration ganzer Zivilisationen symbolisiert, wird bei Burton ebenso symbolträchtig durch eine Tafel Schokolade ersetzt. Ganz entkommt er dem Konservativismus der Vorlage aber nicht: So liebevoll er hier seine Leidenschaft fürs Kino zelebriert, so unpassend wirkt die Moral der Szene, wenn durch die singenden Oompa Loompas das Fernsehen zur Verblödungsmaschine für Kinder erklärt wird.
Am Ende ist es auch der Vorlage geschuldet, dass ausgerechnet Charlie ab dem Eintritt in die Schokoladenfabrik nur noch als Staffage im Hintergrund herumsteht. Er ist ein passiver Held, der durch seine Bescheidenheit und für sein Nichtstun belohnt wird. Burton findet jedoch einen intelligenten Weg, den „glücklichsten Jungen der Welt“ im letzten Akt wieder ins Zentrum zu rücken. Regelmäßig zeigt er Rückblenden, die im freudschen Sinne Wonkas Kindheit aufarbeiten. In ihnen bekommt sogar Horror-Legende Christopher Lee als dämonischer Zahnarzt-Vater einen Gastauftritt. Anders als im Roman hat Charlie so nach seinem Gewinn die Aufgabe, Wonka mit seinem Vater zu versöhnen und ihn aus seiner Einsamkeit zu befreien.
Wenn sich dann alles im zartbitteren, feinfühligen Epilog ausgeht, scheint die Filmgeschichte mit Roald Dahl versöhnt. Sein radikales Märchen hat endlich originalgetreu den Weg aufs Zelluloid gefunden, sein Plädoyer ist nach über 40 Jahren auch dort noch gültig: Kinder brauchen Liebe und Fürsorge, um sie an andere weitergeben zu können. Und dabei müssen sie auch mal ihre Fantasie nutzen und kindisch sein dürfen. Wie sagt Charlie selbst im Film? „Süßigkeiten müssen keinen Sinn ergeben. Deshalb sind es ja Süßigkeiten.“
Den meisten Kinderbüchern wohnt ein pädagogischer Holzhammer inne. Schon die Märchengeschichten von vor mehreren Jahrhunderten dienten letztlich der Erziehung des eigenen Nachwuchses. Zum Glück spielen da nicht alle Schriftsteller mit: Der Waliser Roald Dahl schrieb Kinderbücher auf Augenhöhe mit seiner Zielgruppe, schlug sich stets auf die Seite der unglücklichen Kleinen. Seinen Helden Charlie Bucket führt er in „Charlie und die Schokoladenfabrik“ so ein: „Charlie war der glücklichste Junge auf der Welt. Er wusste es nur noch nicht.“ In der Tat: Zu Beginn sieht es für den Knaben nicht gut aus: Mit Mama, Papa und seinen vier Großeltern lebt er in einem kleinen Haus am Existenzminimum, hat kaum Essen auf dem Teller. Zum Geburtstag gibt es kein Spielzeug, keine großen Geschenke, sondern nur eine Tafel Schokolade.
Im Jahr 1971, sieben Jahre nach Veröffentlichung des Buches, wurde Dahls vielleicht bekanntestes Buch ein erstes Mal verfilmt – und in den USA zum Kult. Doch er schimpfte über das Musical mit Gene Wilder als Schokoladenfabrikanten Willy Wonka. Die süßliche Inszenierung des Regisseurs Mel Stuart war ihm zu soft. Es fehlten die traurigen und sardonischen Elemente. Er zog seine Konsequenzen, verkaufte nie die Adaptionsrechte für die Fortsetzung „Charlie und der gläserne Fahrstuhl“. Hätte er bis 2005 gelebt, hätte er diese Meinung vielleicht überdacht. Denn für die Neuverfilmung von „Charlie und die Schokoladenfabrik“ nahm ein Filmemacher auf dem Regiestuhl Platz, der nicht nur zu den visionärsten Künstlern der US-Filmgeschichte gehört, sondern Dahls Vorliebe für Außenseiter, für verschrobene Welten und für die Macht der kindlichen Phantasie teilt. Auftritt: Tim Burton.
Der eröffnet seine Version des Klassikers nicht mit bunten Farben oder idyllischen Bildern, sondern so, wie es Dahl gefallen hätte: Mit grauen Schornsteinen einer winterlich verschneiten Fabrik. Die Kamera fährt zur gespenstischen Musik seines Stammkomponisten Danny Elfman in eins der Rohre. Im Innern werden hunderttausende Tafeln Schokolade verarbeitet und von Fließbändern durch die Gegend befördert. Eine Hand in einem lilafarbenen Handschuh durchbricht die visuelle Tristesse – und verteilt je eine goldene Eintrittskarte willkürlich auf fünf verschiedene Schokotafeln. Die Hand ist die von Willy Wonka und jede der Karten berechtigen ihren Finder, einen Tag lang die geheime Fabrik des Chocolatiers zu besichtigen. Normalerweise hat hier niemand Zutritt, um Industriespione fernzuhalten. Man erzählt sich die tollsten Geschichten über Wonka. Einmal soll er in Indien einem Sultan einen Palast ganz aus Schokolade gebaut haben.
Tim Burton ist es über mehrere Jahrzehnte gelungen, mit eigensinniger Note emotionale Popcorn-Unterhaltung und handwerklich brillante und tiefsinnige Filmkunst unter einen Hut zu kriegen. Damit ist er die perfekte Wahl für „Charlie und die Schokoladenfabrik“, vereint doch kaum ein anderer Filmemacher so mühelos das Komische mit dem Bizarren. Allein das löcherige, schiefgebaute Haus, in dem Charlie und seine Familie leben, ist eine kreative Kulisse, die andere Fantasy-Filme erblassen lässt. In einer halbstündigen Prolog-Sequenz zeigt er das traurige und graue Leben von Charlie Bucket im blitzschnellen Wechsel mit der Einführung der Kinder, welche an die goldenen Tickets von Willy Wonka gelangen. Einer von ihnen ist ein verfressener deutscher Junge, der in der bayerischen Version von Düsseldorf lebt. Ein weiterer ist Videospiel-süchtig, während die zwei weiblichen Gewinnerkinder so verwöhnt wie arrogant auftreten. Sie alle werden von der Presse begeistert geknipst, stolz stehen die Eltern hinter ihnen.
Als Charlie endlich die entscheidende Tafel Schokolade hat, gibt es für ihn erstmals Grund zu Freude. Er hat – natürlich – das letzte goldene Ticket, und es ist Jungschauspieler Freddie Highmore zu verdanken, dass in dieser Sekunde dem Zuschauer ganz warm ums Herz werden kann. Doch die große Explosion kommt erst: In der Fabrik treffen die Kinder auf Willy Wonka, den Burton mit seinem Lieblingsschauspieler Johnny Depp besetzt hat. Es ist ihre vierte Zusammenarbeit. Depp, mit hysterischer Piepsstimme und bleich-geschminkter Haut, spielt seinen psychopathischen, latent-sadistischen Schokoladen-Fabrikanten auf großartige Weise als Gothic-Zwitter aus Michael Jackson und Howard Hughes. Als er die Tür zur Fabrik öffnet, zitiert Burton den legendären Film „Der Zauberer von Oz“. Bei dem waren einst alle Szenen in der Realität nicht grau, sondern gleich ohne Farbe gefilmt, erst im zauberhaften Land wurde es quietschbunt. So auch hier: Grüne, essbare Wiesen, braune Flüsse voll Schokolade, pinke Wikingerboote aus Lakritze und ein Raum voll domestizierter, nach Zeitplan arbeitender Eichhörnchen sprengen die Grenzen des Erwarteten.
Von nun an ist Burton nicht zu bremsen: Der prächtig inszenierte und entwaffnend schlichte Film bietet eine kuriose Idee nach der nächsten, und wird vollends zur verschwenderischen Johnny-Depp-Freakshow: Auf die Frage eines Kindes, ob wirklich alles in der Fabrik essbar sei, antwortet er gruselig: „Natürlich. Sogar ich bin essbar. Aber das nennt man Kannibalismus und wird in den meisten Gesellschaften nicht gerne gesehen.“ Seine Fabrikarbeiter entpuppen sich als Oompa Loompas: Tausende importierte liliputanische Arbeitskräfte, die Wonka aus einem südlichen Land zu sich holte, und mit Kakaobohnen bezahlt. Schon in der Vorlage sind diese Wesen nicht unproblematisch, warf man Dahl doch Rassismus und Verharmlosung der Kolonialgeschichte Afrikas vor. Burton bleibt aller Kritik zum Trotz dicht am Original: Ein einziger Schauspieler, der Kenianer Deep Roy, spielt sämtliche Oompa Loompas.
Wer das Buch kennt, weiß wie es weitergeht: Nach und nach fallen die vier missratenen Bälger ihren Schwächen zum Opfer. Sie zeigen sich vorlaut und frech, und werden dafür bestraft, zu riesigen Blaubeeren aufgeblasen oder in den Müllschlucker geworfen. Die famose Darstellung dieser schonungslosen Verläufe vor exzentrischer Kulisse toppt Burton zusätzlich durch Musical-Einlagen, in denen die Oompa Loompas mit Häme über die Kinder ablästern und dabei munter die Genres wechseln, vom Broadway-Gesang bis zur Beatles-Parodie. Die Verszeilen sind direkt Dahls Buch entnommen. Selbstzweck ist das nicht: Burton behält die Moral der Vorlage im Auge. „Die Eltern sind die Schuldigen“, singen die zwerghaften Billigarbeiter (mit der Stimme von Elfman, nicht von Roy), und verdeutlichen, dass die Kinder nur zu diesen unsozialen, bestialischen Charakteren wurden, weil ihre Eltern ihnen jede Liebe verweigerten – und sie so ihre Phantasie verloren haben.
Dasselbe kann man über Tim Burton ganz und gar nicht sagen. Er setzt von Computereffekten bis hin zu wahnsinnigen Videoclip-Montagen jedes Mittel ein, um „Charlie und die Schokoladenfabrik“ zum cineastischen Fest zu machen. In der verrücktesten Szene, in welcher der Ego-Shooter-Nerd Mike Teavee auf Wonkas modernste TV-Erfindungen trifft, mit denen sich der Zuschauer in die Mattscheibe hineinbeamen kann, probiert der Junge das sofort aus – und landet in „2001: Odyssee im Weltraum“, dem Sci-Fi-Filmmeisterwerk von Stanley Kubrick. Der Monolith, ein rechteckiger Stein, der dort die Fortschritte der Menschheit und die Inspiration ganzer Zivilisationen symbolisiert, wird bei Burton ebenso symbolträchtig durch eine Tafel Schokolade ersetzt. Ganz entkommt er dem Konservativismus der Vorlage aber nicht: So liebevoll er hier seine Leidenschaft fürs Kino zelebriert, so unpassend wirkt die Moral der Szene, wenn durch die singenden Oompa Loompas das Fernsehen zur Verblödungsmaschine für Kinder erklärt wird.
Am Ende ist es auch der Vorlage geschuldet, dass ausgerechnet Charlie ab dem Eintritt in die Schokoladenfabrik nur noch als Staffage im Hintergrund herumsteht. Er ist ein passiver Held, der durch seine Bescheidenheit und für sein Nichtstun belohnt wird. Burton findet jedoch einen intelligenten Weg, den „glücklichsten Jungen der Welt“ im letzten Akt wieder ins Zentrum zu rücken. Regelmäßig zeigt er Rückblenden, die im freudschen Sinne Wonkas Kindheit aufarbeiten. In ihnen bekommt sogar Horror-Legende Christopher Lee als dämonischer Zahnarzt-Vater einen Gastauftritt. Anders als im Roman hat Charlie so nach seinem Gewinn die Aufgabe, Wonka mit seinem Vater zu versöhnen und ihn aus seiner Einsamkeit zu befreien.
Wenn sich dann alles im zartbitteren, feinfühligen Epilog ausgeht, scheint die Filmgeschichte mit Roald Dahl versöhnt. Sein radikales Märchen hat endlich originalgetreu den Weg aufs Zelluloid gefunden, sein Plädoyer ist nach über 40 Jahren auch dort noch gültig: Kinder brauchen Liebe und Fürsorge, um sie an andere weitergeben zu können. Und dabei müssen sie auch mal ihre Fantasie nutzen und kindisch sein dürfen. Wie sagt Charlie selbst im Film? „Süßigkeiten müssen keinen Sinn ergeben. Deshalb sind es ja Süßigkeiten.“
Bourne to be Wild: Wer bin ich, und wenn ja, seit wann?
Die Bourne Identität
Werden Menschen als gut oder böse geboren oder kommt jedes Lebewesen unschuldig zur Welt? Die Philosophie diskutiert diesen Umstand seit jeher. Platon ließ in seinem Dialog „Symposion“ noch Sokrates sagen: „Ein Mensch gilt von Kindesbeinen an bis in sein Alter als der gleiche. Aber obgleich er denselben Namen führt, bleibt er doch niemals in sich selbst gleich.“ Tatsächlich stammt der Begriff Identität aus der lateinischen Sprache, kommt vom Wort īdem – was übersetzt „der- oder dasselbe“ bedeutet. Die Psychologie ist sich sicher: Die Identität, der Kern unseres Wesens, ist ein soziales Konstrukt. Wer man selbst ist, darüber entscheidet die Eigen- und Fremdwahrnehmung. Jeder Charakter ist ein Konglomerat seiner lebensgeschichtlichen Vergangenheit – und damit stets im Wandel. Was aber, wenn die eigene Vergangenheit vollkommen ausgelöscht, jede Erinnerung einem genommen wird?
So ergeht es einem der bekanntesten Protagonisten der jüngeren US-Filmgeschichte. 2002 wurde er in seinem ersten Film von Fischern aus dem Wasser gezogen, mit mehreren Einschusslöchern im Rücken, und obwohl er noch einige Sprachen beherrscht, erinnert er sich nicht an sein früheres Leben, nicht an seine Vergangenheit, nicht einmal an seinen Namen. Symbolträchtig wie die gleichnamige Romanvorlage aus dem Jahr 1980 von Robert Ludlum eröffnet „Die Bourne Identität“ mit dem Protagonisten, leblos im Wasser treibend. Wie aus dem Fruchtwasser heraus genommen wird er an Bord des Fischerbootes gebracht, dort neugeboren. Passend dazu auch sein Name, den er kurz darauf erfährt: Jason Bourne, ausgesprochen „born“, das englische Wort für „geboren“.
Natürlich wurde der Name nicht nur in dieser Hinsicht von Ludlum kaum zufällig gewählt: Jason Bourne teilt sich seine Initialen mit einem der berühmtesten Helden der Literatur- und der Filmgeschichte: James Bond. Und Bourne findet schnell heraus, dass er mit dem britischen Spion noch mehr gemeinsam hat: Als ihn plötzlich Killer verfolgen und er bei sich selbst reflexartige Martial-Arts-Kenntnisse entdeckt, findet er nach und nach die Wahrheit über sein früheres Leben heraus. Auch er war ein Geheimagent, eine staatlich ausgebildete und perfektionierte Mordwaffe auf zwei Beinen. Doch ist das wirklich alles, was ihn ausmacht? Hat er durch seine Amnesie die Chance auf ein neues Leben? Oder kann ein Berufsmörder nicht aus seiner Haut? Ludlum legte seinen Bourne als Gegenentwurf zu dem James Bond an, der in den 1950ern in den Büchern von Ian Fleming erfunden wurde. War Bond eine überlebensgroße Figur, in die Fleming und später die Zuschauer der Verfilmungen ihre Kalter-Kriegs-Fantasien projizierten, sind die Bourne-Romane realistisch gehalten, erinnern eher an die nüchterne Spannung eines John le Carré.
So verwundert es dann auch nicht, dass „Die Bourne Identität“ ein äußerst ungewöhnlicher Agententhriller geworden ist, der sich gewaltig vom US-Blockbusterkino abhebt. Schon die Wahl des Regisseurs überrascht. Mit Doug Liman wählten die Produzenten einen Künstler, der seine Wurzeln im Independent-Film hat – und er bringt genau die feinsinnige Arthouse-Sensibilität in sein Hollywood-Debüt mit. Seinen Helden besetzt er nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit Actionstars wie Brad Pitt oder Sylvester Stallone. Er wählt den physisch eher unscheinbaren Matt Damon. Als Partnerin für Bourne verzichtet er auf eine US-Diva mit Glamourfaktor, sondern wählt die deutsche Franka Potente als Roma-Studentin. Bei der Schauplatz-Wahl entschied man sich gegen luxuriöse Locations rund um den Globus. Stattdessen spielt der Plot größtenteils in Paris und Zürich, letzterer Ort wurde dabei von Prag gedoubelt.
Liman selbst ist die Aussage entnommen, er wollte einen Kunstfilm drehen, den er mit gerade so vielen Szenen für die Trailer füllen konnte, um ein Mainstream-Publikum anzulocken. Besonders dieser konsequent durchexerzierte Mix ist es, der aus „Die Bourne Identität“ einen der wegweisenden Genrefilme der 2000er machen sollte. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jason Bourne und seinen korrupten Ex-Auftraggebern vom amerikanischen Geheimdienst ist kein Actionfeuerwerk, sondern ein ruhiges und emotional feinsinniges Drama. Mit der Handkameraführung von Oliver Wood bleibt die Inszenierung stets dicht bei den Akteuren, zeichnet Bourne trotz seiner überwältigenden Fähigkeiten im Nahkampf als verängstigtes Individuum. Durch seinen Gedächtnisverlust hat er nicht nur vergessen, wer er einmal war, sondern weiß auch nicht, wer er gerade ist. Das Drehbuch der Autoren Tony Gilroy und William Blake Herron übernimmt aus dem Roman nur die Prämisse, nutzt diese aber für komplizierte Fragestellungen: Was zeichnet einen Menschen wirklich aus? Können wir uns ändern? Schlagen zwei Seelen in einer jeden Brust?
Einfache Antworten darf man von Liman nicht erwarten. Sein Film ist komplexer als andere Agenten-Geschichten. Bewusst und im Geiste Robert Ludlum nachempfunden, konzipiert er „Die Bourne Identität“ als Anti-Bond. Coole Sprüche klopft Jason nicht – die hat er genauso vergessen wie auch alles andere. Aufwendige Schusswechsel gibt es keine, fast alle Actionszenen beschränken sich auf harte und brutale Nahkampfszenen, die vom israelischen Filmeditor Saar Klein phänomenal rasant und dynamisch getaktet werden. Eine obligatorische Autoverfolgungsjagd durch die Straßen von Paris gibt es zwar, doch statt im mit allerlei Spezialeffekten vollgepackten Aston Martin rast Matt Damon in einem Mini der französischen Polizei davon, in einer Szene, die inszenatorisch ihrem großen Vorbild aus „Bullitt“ alle Ehre macht.
Getragen wird das hervorragende Script von Matt Damon, dessen kleinbürgerliches Charisma ideal für den „Agent ohne Namen“ ist, wie eine 80er Jahre TV-Verfilmung des Ludlum-Romans heißt. Damals verkörperte noch Richard Chamberlain den Bourne. Sensationell ist aber vor allem Franka Potente, die von der anfänglichen Jungfrau in Nöten zur einzigen Bezugsperson im Leben von Jason Bourne wird. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden wird großartig entwickelt: So wie Bourne sich selbst kennenlernen muss, ist Maria, die Rolle der Potente, gezwungen, sich schnell den gefährlichen Verhältnissen der geheimeinsamen Odyssee anzupassen – in einer der metaphorischsten Szenen muss sie ihr wildes, buntes Haar in konventionelles Schwarz färben, wählt selbstbestimmt die optische Domestizierung. Die Beziehung der zwei Akteure lässt sich als spätpubertierende Liebe interpretieren. Progressiv zeigt Liman die erste körperliche Annäherung: Nach einem kurzen Moment des Begehrens ist es Maria, die Bourne mit einem Kuss überfällt, ihn verführt. Ein Bruch mit Männlichkeitsbildern, mit dem Typus des unwiderstehlichen Gentleman-Agenten.
Visionär auch die Darstellung der Gegenseite: Die CIA-Offiziere rund um Charakterdarsteller wie Chris Cooper und Brian Cox sind biedere Bürohengste, die über Menschenleben und Kollateralschäden wie über einen Buchungsfehler beraten. Bourne, einen ihrer eigenen Leute, wollen sie über die Klinge springen lassen, weil er einen Auftrag vermasselt und zu viel wisse. Von der tragischen Realität, dass er in Wahrheit gar nichts mehr weiß, erfahren sie nie. Ursprünglich sollte „Die Bourne Identität“ im September 2001 starten. Die Anschläge auf u.a. das World Trade Center vom 11. September kamen dazwischen. Später wirkte der Film bei der Veröffentlichung im Juni 2002 ungewollt äußerst gewagt. In einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten zum Zusammenhalt der Bevölkerung gegen das terroristische Böse aus dem Nahen Osten aufrief, zeigte Liman einen amerikanischen Agenten, der seine Pflicht für das Vaterland vergessen hat und von seinen eigenen Landsleuten gejagt wird. Eine bittere Abrechnung mit der Paranoia und dem Patriotismus der als Weltpolizei agierenden USA, die weniger als ein Jahr nach den Anschlägen umso signifikanter erschien.
Eine Gänsehaut-Szene genügt, um herauszustellen, warum „Die Bourne Identität“ zurecht als Meisterwerk des Actionkinos gilt. In dieser wird Bourne in seinem Versteck auf einer Farm mit einem Killer der CIA konfrontiert, gespielt vom damals kaum bekannten Clive Owen. Gleich zum Szenenbeginn ereignet sich die einzige Explosion des Films: Bourne jagt einen Tank in die Luft, um Owens Scharfschützenfigur abzulenken und sich an ihn heranzuschleichen. In einem Kornfeld kommt es zum Showdown, in dem Bourne durch eine List seinen Gegenspieler tödlich mit dem Gewehr trifft. Er sieht ihm beim Sterben zu. Der Attentäter zeigt auf seine fatalen Wunden, sagt über seine Auftraggeber vom Geheimdienst: „Sehen Sie sich an, was sie von einem verlangen.“ Dann haucht er sein Leben aus. Der ansonsten treibende Synthesizer-Soundtrack von John Powell schweigt an dieser Stelle.
Es sind existenzielle, trostlose Momente wie dieser, die aus „Die Bourne Identität“ ein nachdenkliches, sogar poetisches Filmerlebnis machen. Liman formulierte eine neue Stimme im Action-Sektor. Und so wie einst Jason Bourne in der Literatur eine Reaktion auf James Bond war, reagierte 007 auf Bourne. Vier Jahre später verlangte das repetitive Muster des Kult-Franchise nach einem radikalen Neustart, wählte dafür Daniel Craig in der Hauptrolle. Die Zutaten hinter seinem Bond-Einstieg in „Casino Royale“: Eine moderne, bodenständige, realistische Adaption der Geheimdienstwelt nach 9/11. Die Bond-Reihe wurde neugeboren, fand eine neue Identität. Eine Bourne Identität.
Werden Menschen als gut oder böse geboren oder kommt jedes Lebewesen unschuldig zur Welt? Die Philosophie diskutiert diesen Umstand seit jeher. Platon ließ in seinem Dialog „Symposion“ noch Sokrates sagen: „Ein Mensch gilt von Kindesbeinen an bis in sein Alter als der gleiche. Aber obgleich er denselben Namen führt, bleibt er doch niemals in sich selbst gleich.“ Tatsächlich stammt der Begriff Identität aus der lateinischen Sprache, kommt vom Wort īdem – was übersetzt „der- oder dasselbe“ bedeutet. Die Psychologie ist sich sicher: Die Identität, der Kern unseres Wesens, ist ein soziales Konstrukt. Wer man selbst ist, darüber entscheidet die Eigen- und Fremdwahrnehmung. Jeder Charakter ist ein Konglomerat seiner lebensgeschichtlichen Vergangenheit – und damit stets im Wandel. Was aber, wenn die eigene Vergangenheit vollkommen ausgelöscht, jede Erinnerung einem genommen wird?
So ergeht es einem der bekanntesten Protagonisten der jüngeren US-Filmgeschichte. 2002 wurde er in seinem ersten Film von Fischern aus dem Wasser gezogen, mit mehreren Einschusslöchern im Rücken, und obwohl er noch einige Sprachen beherrscht, erinnert er sich nicht an sein früheres Leben, nicht an seine Vergangenheit, nicht einmal an seinen Namen. Symbolträchtig wie die gleichnamige Romanvorlage aus dem Jahr 1980 von Robert Ludlum eröffnet „Die Bourne Identität“ mit dem Protagonisten, leblos im Wasser treibend. Wie aus dem Fruchtwasser heraus genommen wird er an Bord des Fischerbootes gebracht, dort neugeboren. Passend dazu auch sein Name, den er kurz darauf erfährt: Jason Bourne, ausgesprochen „born“, das englische Wort für „geboren“.
Natürlich wurde der Name nicht nur in dieser Hinsicht von Ludlum kaum zufällig gewählt: Jason Bourne teilt sich seine Initialen mit einem der berühmtesten Helden der Literatur- und der Filmgeschichte: James Bond. Und Bourne findet schnell heraus, dass er mit dem britischen Spion noch mehr gemeinsam hat: Als ihn plötzlich Killer verfolgen und er bei sich selbst reflexartige Martial-Arts-Kenntnisse entdeckt, findet er nach und nach die Wahrheit über sein früheres Leben heraus. Auch er war ein Geheimagent, eine staatlich ausgebildete und perfektionierte Mordwaffe auf zwei Beinen. Doch ist das wirklich alles, was ihn ausmacht? Hat er durch seine Amnesie die Chance auf ein neues Leben? Oder kann ein Berufsmörder nicht aus seiner Haut? Ludlum legte seinen Bourne als Gegenentwurf zu dem James Bond an, der in den 1950ern in den Büchern von Ian Fleming erfunden wurde. War Bond eine überlebensgroße Figur, in die Fleming und später die Zuschauer der Verfilmungen ihre Kalter-Kriegs-Fantasien projizierten, sind die Bourne-Romane realistisch gehalten, erinnern eher an die nüchterne Spannung eines John le Carré.
So verwundert es dann auch nicht, dass „Die Bourne Identität“ ein äußerst ungewöhnlicher Agententhriller geworden ist, der sich gewaltig vom US-Blockbusterkino abhebt. Schon die Wahl des Regisseurs überrascht. Mit Doug Liman wählten die Produzenten einen Künstler, der seine Wurzeln im Independent-Film hat – und er bringt genau die feinsinnige Arthouse-Sensibilität in sein Hollywood-Debüt mit. Seinen Helden besetzt er nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit Actionstars wie Brad Pitt oder Sylvester Stallone. Er wählt den physisch eher unscheinbaren Matt Damon. Als Partnerin für Bourne verzichtet er auf eine US-Diva mit Glamourfaktor, sondern wählt die deutsche Franka Potente als Roma-Studentin. Bei der Schauplatz-Wahl entschied man sich gegen luxuriöse Locations rund um den Globus. Stattdessen spielt der Plot größtenteils in Paris und Zürich, letzterer Ort wurde dabei von Prag gedoubelt.
Liman selbst ist die Aussage entnommen, er wollte einen Kunstfilm drehen, den er mit gerade so vielen Szenen für die Trailer füllen konnte, um ein Mainstream-Publikum anzulocken. Besonders dieser konsequent durchexerzierte Mix ist es, der aus „Die Bourne Identität“ einen der wegweisenden Genrefilme der 2000er machen sollte. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jason Bourne und seinen korrupten Ex-Auftraggebern vom amerikanischen Geheimdienst ist kein Actionfeuerwerk, sondern ein ruhiges und emotional feinsinniges Drama. Mit der Handkameraführung von Oliver Wood bleibt die Inszenierung stets dicht bei den Akteuren, zeichnet Bourne trotz seiner überwältigenden Fähigkeiten im Nahkampf als verängstigtes Individuum. Durch seinen Gedächtnisverlust hat er nicht nur vergessen, wer er einmal war, sondern weiß auch nicht, wer er gerade ist. Das Drehbuch der Autoren Tony Gilroy und William Blake Herron übernimmt aus dem Roman nur die Prämisse, nutzt diese aber für komplizierte Fragestellungen: Was zeichnet einen Menschen wirklich aus? Können wir uns ändern? Schlagen zwei Seelen in einer jeden Brust?
Einfache Antworten darf man von Liman nicht erwarten. Sein Film ist komplexer als andere Agenten-Geschichten. Bewusst und im Geiste Robert Ludlum nachempfunden, konzipiert er „Die Bourne Identität“ als Anti-Bond. Coole Sprüche klopft Jason nicht – die hat er genauso vergessen wie auch alles andere. Aufwendige Schusswechsel gibt es keine, fast alle Actionszenen beschränken sich auf harte und brutale Nahkampfszenen, die vom israelischen Filmeditor Saar Klein phänomenal rasant und dynamisch getaktet werden. Eine obligatorische Autoverfolgungsjagd durch die Straßen von Paris gibt es zwar, doch statt im mit allerlei Spezialeffekten vollgepackten Aston Martin rast Matt Damon in einem Mini der französischen Polizei davon, in einer Szene, die inszenatorisch ihrem großen Vorbild aus „Bullitt“ alle Ehre macht.
Getragen wird das hervorragende Script von Matt Damon, dessen kleinbürgerliches Charisma ideal für den „Agent ohne Namen“ ist, wie eine 80er Jahre TV-Verfilmung des Ludlum-Romans heißt. Damals verkörperte noch Richard Chamberlain den Bourne. Sensationell ist aber vor allem Franka Potente, die von der anfänglichen Jungfrau in Nöten zur einzigen Bezugsperson im Leben von Jason Bourne wird. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden wird großartig entwickelt: So wie Bourne sich selbst kennenlernen muss, ist Maria, die Rolle der Potente, gezwungen, sich schnell den gefährlichen Verhältnissen der geheimeinsamen Odyssee anzupassen – in einer der metaphorischsten Szenen muss sie ihr wildes, buntes Haar in konventionelles Schwarz färben, wählt selbstbestimmt die optische Domestizierung. Die Beziehung der zwei Akteure lässt sich als spätpubertierende Liebe interpretieren. Progressiv zeigt Liman die erste körperliche Annäherung: Nach einem kurzen Moment des Begehrens ist es Maria, die Bourne mit einem Kuss überfällt, ihn verführt. Ein Bruch mit Männlichkeitsbildern, mit dem Typus des unwiderstehlichen Gentleman-Agenten.
Visionär auch die Darstellung der Gegenseite: Die CIA-Offiziere rund um Charakterdarsteller wie Chris Cooper und Brian Cox sind biedere Bürohengste, die über Menschenleben und Kollateralschäden wie über einen Buchungsfehler beraten. Bourne, einen ihrer eigenen Leute, wollen sie über die Klinge springen lassen, weil er einen Auftrag vermasselt und zu viel wisse. Von der tragischen Realität, dass er in Wahrheit gar nichts mehr weiß, erfahren sie nie. Ursprünglich sollte „Die Bourne Identität“ im September 2001 starten. Die Anschläge auf u.a. das World Trade Center vom 11. September kamen dazwischen. Später wirkte der Film bei der Veröffentlichung im Juni 2002 ungewollt äußerst gewagt. In einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten zum Zusammenhalt der Bevölkerung gegen das terroristische Böse aus dem Nahen Osten aufrief, zeigte Liman einen amerikanischen Agenten, der seine Pflicht für das Vaterland vergessen hat und von seinen eigenen Landsleuten gejagt wird. Eine bittere Abrechnung mit der Paranoia und dem Patriotismus der als Weltpolizei agierenden USA, die weniger als ein Jahr nach den Anschlägen umso signifikanter erschien.
Eine Gänsehaut-Szene genügt, um herauszustellen, warum „Die Bourne Identität“ zurecht als Meisterwerk des Actionkinos gilt. In dieser wird Bourne in seinem Versteck auf einer Farm mit einem Killer der CIA konfrontiert, gespielt vom damals kaum bekannten Clive Owen. Gleich zum Szenenbeginn ereignet sich die einzige Explosion des Films: Bourne jagt einen Tank in die Luft, um Owens Scharfschützenfigur abzulenken und sich an ihn heranzuschleichen. In einem Kornfeld kommt es zum Showdown, in dem Bourne durch eine List seinen Gegenspieler tödlich mit dem Gewehr trifft. Er sieht ihm beim Sterben zu. Der Attentäter zeigt auf seine fatalen Wunden, sagt über seine Auftraggeber vom Geheimdienst: „Sehen Sie sich an, was sie von einem verlangen.“ Dann haucht er sein Leben aus. Der ansonsten treibende Synthesizer-Soundtrack von John Powell schweigt an dieser Stelle.
Es sind existenzielle, trostlose Momente wie dieser, die aus „Die Bourne Identität“ ein nachdenkliches, sogar poetisches Filmerlebnis machen. Liman formulierte eine neue Stimme im Action-Sektor. Und so wie einst Jason Bourne in der Literatur eine Reaktion auf James Bond war, reagierte 007 auf Bourne. Vier Jahre später verlangte das repetitive Muster des Kult-Franchise nach einem radikalen Neustart, wählte dafür Daniel Craig in der Hauptrolle. Die Zutaten hinter seinem Bond-Einstieg in „Casino Royale“: Eine moderne, bodenständige, realistische Adaption der Geheimdienstwelt nach 9/11. Die Bond-Reihe wurde neugeboren, fand eine neue Identität. Eine Bourne Identität.
Gott, hab Erbarmen mit solchen wie ihnen
Verdammt in alle Ewigkeit
Im Mafiafilm-Meilenstein „Der Pate“ gibt es eine Szene, in der Johnny Fontane, der Patensohn des Verbrecherkönigs Don Vito, diesen um einen Gefallen bittet: Um eine Rolle in einem neuen Hollywood-Hit zu bekommen und so seine Gesangskarriere anzukurbeln, soll sein Pate den Filmproduzenten Woltz einschüchtern. Das Resultat dieser Bitte: Eines Morgens erwacht Woltz in seinem Bett, vollgeschmiert mit Blut – und findet vor sich liegend einen abgetrennten Pferdekopf. Mit dieser Szene schrieb „Der Pate“ einst Filmgeschichte. Die Idee dazu stammt selbst aus der Filmwelt: 1953 gelang Musiklegende Frank Sinatra nach mehreren Fehlschlägen ein berufliches Comeback, als er die Nebenrolle im Militärdrama „Verdammt in alle Ewigkeit“ erhielt. Bis heute halten sich hartnäckig die Gerüchte, er habe den Part, der bereits an Eli Wallach vergeben war, nur durch Kontakte zur Mafia bekommen.
Filmgeschichte schrieb „Verdammt in alle Ewigkeit“ selbst mit einer anderen Szene: Da liegen Burt Lancaster und Deborah Kerr, beide ihrerseits Schauspiel-Ikonen, am Strand und küssen sich leidenschaftlich, während die Wellen über sie preschen. Gerade so ging diese damals unerhörte Aufnahme durch die Zensur, den sogenannten Hays Code. Mit diesem geriet Regisseur Fred Zinnemann mehrfach in Konflikt, als er „Verdammt in alle Ewigkeit“, eine Verfilmung des 1951 erschienenen Bestsellers des Autoren James Jones, für die Leinwand adaptierte. Eine der Hauptfiguren des Buches ist die Prostituierte Lorene, welche im Film zur Gesellschaftsdame eines Nachtclubs abgeschwächt wird. Die andere weibliche Protagonistin ist Karen, die Ehebrecherin, die da in den Armen ihrer von Lancaster gespielten Affäre liegt. Bei Jones bekam sie durch ihre regelmäßige Untreue eine Geschlechtskrankheit, verlor so ihre Gebärmutter. Im Film ist ihr Hintergrund ein anderer: Sie erlitt eine Fehlgeburt, da ihr betrunkener, fremdgehender Mann nicht in der Lage war, ihr zu helfen.
Jones hatte in seinem literarischen Debüt eigene Erfahrungen verarbeitet. Er war 1941 während der japanischen Angriffe auf Pearl Harbor in den Schofield Barracks auf Hawaii stationiert. Genau hier und genau dann spielt auch der Film. Der Alltag der Soldaten in der Kaserne wird aus der Sicht verschiedener Figuren gezeigt: Sergeant Warden erledigt die Drecksarbeit für seinen Vorgesetzten, lässt sich zum Ausgleich aber auf das erwähnte Techtelmechtel mit dessen unglücklicher, promiskuitiven Gattin ein. Gefreiter Prewitt war einst ein Spitzenboxer, will aber nach einem traumatischen Vorfall nie wieder in den Ring – doch genau dafür will ihn der Captain auf Hawaii. Da er sich weigert, machen ihm die Soldaten der Boxstaffel das Leben zur Hölle. Trost findet er nur im Landurlaub bei der resoluten Lorene und seinem einzigen Kasernen-Freund, dem italoamerikanischen Maggio.
Nahezu alle großen Themen des amerikanischen Kinos stecken in der meisterhaften Charakterstudie: Pflicht, Gehorsam, Militärromantik, Vaterlandstreue und das Streben nach Freiheit. All diese Eigenschaften vereint der Gefreite Robert E. Lee Prewitt, benannt nach dem erfolgreichsten konföderierten General im amerikanischen Bürgerkrieg. Er erlebt eine Ungerechtigkeit nach der anderen, muss jede Schikane seiner Kompanie erdulden. Einmal gräbt er ein metertiefes Loch, nur um es danach wieder zuschütten zu müssen. Beim Marschieren muss er Sonderrunden einlegen, trotz seiner exzellenten Kenntnisse als Soldat und als Trompetenspieler wird er zum Putzdienst eingeteilt. Es ist dem meisterhaften Schauspiel des Ausnahme-Darstellers Montgomery Clift in dieser Rolle zu verdanken, dass im Angesicht dieser psychischen Misshandlung der Kampfgeist Prewitts immer in seinen Augen erkennbar wird: Er brennt für das Militär, er kann nicht gebrochen werden.
Zinnemann bewies das richtige Händchen für die Besetzung aller Rollen: Clift war in seiner eindrucksvollen Karriere nie besser, ihm Burt Lancaster als Kompanieleiter entgegen zu setzen ein genialer Schachzug. Er ist grandios in dem Part, gefangen zwischen der verbotenen Liebe für die Frau seines Vorgesetzten und seiner Verantwortung als Mann, als militärischer Vater für seine Truppe. Die Frauen im Leben dieser Kerle wurden gar ganz gegen ihr Image besetzt. Die Schottin Deborah Kerr wäre wohl niemandem sonst als notorisches Flittchen eingefallen, und der unschuldigen Schönheit Donna Reed war die desillusionierte Lorene kaum zuzutrauen. Der Clou ging auf: Beide verleihen ihren Figuren innere Stärke und Würde. Wie oft bei Zinnemann, der ein Jahr zuvor den Westernklassiker "Zwölf Uhr mittags" verantwortete, sind es die Frauenrollen, welche die wichtigsten Entscheidungen in ihrem Leben zu treffen haben: Wollen sie aktiv ihr Leben gestalten oder sich in die Verantwortung eines Mannes begeben?
Die Sensation in dem fantastischen Ensemble ist aber ‚The Voice‘, Frank Sinatra, der sich als vorlauter, meist alkoholisierter Maggio für ernste Charakterrollen empfahl. Obwohl Maggio nach außen ein Lebemann, ein Hedonist in Uniform zu sein scheint, ist er die tragischste Figur der Geschichte. Sein Plappermaul, sein Ungehorsam, seine sofortige Sympathie für den Pechvogel Prewitt, sie sind Ausdruck einer verborgenen, selbstzerstörerischen Natur, die ihm letztlich zum Verhängnis wird. Sein Abgang gehört zu den traurigsten Momenten, die das Kino hervorbrachte: Wie ein erschrockenes Kind stirbt er in den Armen von Clift. Dieser spielt daraufhin vor den Weiten des nächtlichen Kasernenhofs auf einer Trompete dessen letztes Geleit – mit dicken Tränen auf den Wangen. Er ist nun wieder allein, einsam. Ein vertrautes Gefühl. An einer Stelle sagt er zu Lorene: „Wenn jemand sagt, er wäre einsam, lügt er nie.“ Mehr muss er gar nicht sagen, um erahnen zu lassen, was er in der Vergangenheit durchgemacht hat.
„Verdammt in alle Ewigkeit“ ist ein Dialogfilm, erzählt sein menschliches Drama über lange Gespräche. Doch erreichte das ausgezeichnete Drehbuch des Autoren Daniel Taradash seine Langzeitwirkung erst durch die subtile Regie, die es vermied, dem damaligen Technicolor-Trend zu folgen. Statt stark gesättigten Farben gibt es so kühle Bilder in Schwarz-Weiß zu sehen, die eine konzentrierte Spannung für das Figurenkonglomerat erlauben. Die Kasernen-Atmosphäre ist schlicht einmalig, kam aber zu einem hohen Preis. Für die originalgetreue Szenerie bezog Harry Cohn, der Chef von Columbia Pictures, das US-Militär mit ein. Die verlangten dafür mehrere Änderungen am Script: Captain Holmes wird anders als im als ‚armeefeindlich‘ wahrgenommenen Roman nun für sein Fehlverhalten gegenüber Prewitt bestraft. Statt eines moralisch faulen Militärapparats verlagerte sich der Fokus auf die verdorbenen Äpfel, die missratenen Einzeltäter. Der zynischen Kraft der Buchvorlage wird das kaum gerecht.
Den Sprung zum Meisterwerk vollzieht der Film dennoch, nämlich im letzten Drittel, als der japanische Angriff auf Pearl Harbor beginnt. Historisch akkurat stehen die Uhren dabei auf 7:51 Uhr – just um die Zeit hatten die Flugzeuge die Schofield Barracks erreicht. Von nun an kann Zinnemann niemand stoppen: Das Bombardement inszeniert er als wahrgewordenen Albtraum, als apokalyptische Szenerie im Garten Eden von Hawaii. Insbesondere das Sound-Design ist verblüffend immersiv. Die Maschinengewehre und fallenden Bomben bilden eine beklemmende Tonkulisse, die nach Gehorsam schreienden Offiziere klingen verängstigt, hilflos. Orchestrale Töne der Komponisten Morris Stoloff und George Duning sind kaum zu vernehmen, im Vordergrund steht hörbares Entsetzen. Aufnahmen aus der Pearl-Harbor-Doku „Der 7. Dezember“ von John Ford kamen zum Einsatz, um das üppige Budget von 2 Millionen Dollar nicht zu überziehen.
Banal die Feststellung, dass der Aufwand sich bezahlt machte. „Verdammt in alle Ewigkeit“ dominierte die Kinosaison 1953, wurde vom Feuilleton mit Lobpreisungen überhäuft. Das epische, langsame Melodram hat bis heute nichts von seiner Wirkung verloren und bewies die Faszination und den Eros des alten Hollywood-Kinos – selbst für beharrliche Ablehner des Militärs. Zinnemann drehte keinen Kriegsfilm, sondern eine intime Geschichte über Loyalität und Integrität. Dabei ist beachtlich, wie bitter sein Werk trotz aller Einmischungen endet: All der Heldenmut und die Opferbereitschaft von Prewitt sind vergebens. Er kann seinem traurigen, sinnlosen Schicksal nicht entkommen. Der Originaltitel „From Here to Eternity“, übersetzt etwa „Von hier bis zur Ewigkeit“, entstammt einem Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Rudyard Kipling, lässt aber ein Wort weg. Für das deutsche Publikum wurde die Zeile wieder vervollständigt, der Titel fasst so Prewitts Ausgang phänomenal zusammen: „Damned from here to eternity“, also „Verdammt in alle Ewigkeit“.
Bei insgesamt dreizehn Nominierungen gewann der Film acht Oscars, darunter in den Kategorien „Bester Film“ und „Beste Regie“. Er zog so mit „Vom Winde verweht“ gleich, wurde zum Überhit des 50er Jahre Kinos. James Jones verarbeitete eine weitere hautnah erlebte Kriegserfahrung, die Schlacht um Guadalcanal, in seinem Roman „Insel der Verdammten“, die später ebenfalls unter dem Titel „Der schmale Grat“ den Weg auf die Leinwand fand. Und Frank Sinatra hatte sich nicht nur aus seinem Karrieretief erholt, sondern wurde – genau wie Donna Reed – ebenfalls bei der Oscarverleihung auf die Bühne gebeten. Er erhielt eine Trophäe als „Bester Nebendarsteller“ und zementierte seinen Status als einer der beliebtesten Entertainer aller Zeiten.
Im Mafiafilm-Meilenstein „Der Pate“ gibt es eine Szene, in der Johnny Fontane, der Patensohn des Verbrecherkönigs Don Vito, diesen um einen Gefallen bittet: Um eine Rolle in einem neuen Hollywood-Hit zu bekommen und so seine Gesangskarriere anzukurbeln, soll sein Pate den Filmproduzenten Woltz einschüchtern. Das Resultat dieser Bitte: Eines Morgens erwacht Woltz in seinem Bett, vollgeschmiert mit Blut – und findet vor sich liegend einen abgetrennten Pferdekopf. Mit dieser Szene schrieb „Der Pate“ einst Filmgeschichte. Die Idee dazu stammt selbst aus der Filmwelt: 1953 gelang Musiklegende Frank Sinatra nach mehreren Fehlschlägen ein berufliches Comeback, als er die Nebenrolle im Militärdrama „Verdammt in alle Ewigkeit“ erhielt. Bis heute halten sich hartnäckig die Gerüchte, er habe den Part, der bereits an Eli Wallach vergeben war, nur durch Kontakte zur Mafia bekommen.
Filmgeschichte schrieb „Verdammt in alle Ewigkeit“ selbst mit einer anderen Szene: Da liegen Burt Lancaster und Deborah Kerr, beide ihrerseits Schauspiel-Ikonen, am Strand und küssen sich leidenschaftlich, während die Wellen über sie preschen. Gerade so ging diese damals unerhörte Aufnahme durch die Zensur, den sogenannten Hays Code. Mit diesem geriet Regisseur Fred Zinnemann mehrfach in Konflikt, als er „Verdammt in alle Ewigkeit“, eine Verfilmung des 1951 erschienenen Bestsellers des Autoren James Jones, für die Leinwand adaptierte. Eine der Hauptfiguren des Buches ist die Prostituierte Lorene, welche im Film zur Gesellschaftsdame eines Nachtclubs abgeschwächt wird. Die andere weibliche Protagonistin ist Karen, die Ehebrecherin, die da in den Armen ihrer von Lancaster gespielten Affäre liegt. Bei Jones bekam sie durch ihre regelmäßige Untreue eine Geschlechtskrankheit, verlor so ihre Gebärmutter. Im Film ist ihr Hintergrund ein anderer: Sie erlitt eine Fehlgeburt, da ihr betrunkener, fremdgehender Mann nicht in der Lage war, ihr zu helfen.
Jones hatte in seinem literarischen Debüt eigene Erfahrungen verarbeitet. Er war 1941 während der japanischen Angriffe auf Pearl Harbor in den Schofield Barracks auf Hawaii stationiert. Genau hier und genau dann spielt auch der Film. Der Alltag der Soldaten in der Kaserne wird aus der Sicht verschiedener Figuren gezeigt: Sergeant Warden erledigt die Drecksarbeit für seinen Vorgesetzten, lässt sich zum Ausgleich aber auf das erwähnte Techtelmechtel mit dessen unglücklicher, promiskuitiven Gattin ein. Gefreiter Prewitt war einst ein Spitzenboxer, will aber nach einem traumatischen Vorfall nie wieder in den Ring – doch genau dafür will ihn der Captain auf Hawaii. Da er sich weigert, machen ihm die Soldaten der Boxstaffel das Leben zur Hölle. Trost findet er nur im Landurlaub bei der resoluten Lorene und seinem einzigen Kasernen-Freund, dem italoamerikanischen Maggio.
Nahezu alle großen Themen des amerikanischen Kinos stecken in der meisterhaften Charakterstudie: Pflicht, Gehorsam, Militärromantik, Vaterlandstreue und das Streben nach Freiheit. All diese Eigenschaften vereint der Gefreite Robert E. Lee Prewitt, benannt nach dem erfolgreichsten konföderierten General im amerikanischen Bürgerkrieg. Er erlebt eine Ungerechtigkeit nach der anderen, muss jede Schikane seiner Kompanie erdulden. Einmal gräbt er ein metertiefes Loch, nur um es danach wieder zuschütten zu müssen. Beim Marschieren muss er Sonderrunden einlegen, trotz seiner exzellenten Kenntnisse als Soldat und als Trompetenspieler wird er zum Putzdienst eingeteilt. Es ist dem meisterhaften Schauspiel des Ausnahme-Darstellers Montgomery Clift in dieser Rolle zu verdanken, dass im Angesicht dieser psychischen Misshandlung der Kampfgeist Prewitts immer in seinen Augen erkennbar wird: Er brennt für das Militär, er kann nicht gebrochen werden.
Zinnemann bewies das richtige Händchen für die Besetzung aller Rollen: Clift war in seiner eindrucksvollen Karriere nie besser, ihm Burt Lancaster als Kompanieleiter entgegen zu setzen ein genialer Schachzug. Er ist grandios in dem Part, gefangen zwischen der verbotenen Liebe für die Frau seines Vorgesetzten und seiner Verantwortung als Mann, als militärischer Vater für seine Truppe. Die Frauen im Leben dieser Kerle wurden gar ganz gegen ihr Image besetzt. Die Schottin Deborah Kerr wäre wohl niemandem sonst als notorisches Flittchen eingefallen, und der unschuldigen Schönheit Donna Reed war die desillusionierte Lorene kaum zuzutrauen. Der Clou ging auf: Beide verleihen ihren Figuren innere Stärke und Würde. Wie oft bei Zinnemann, der ein Jahr zuvor den Westernklassiker "Zwölf Uhr mittags" verantwortete, sind es die Frauenrollen, welche die wichtigsten Entscheidungen in ihrem Leben zu treffen haben: Wollen sie aktiv ihr Leben gestalten oder sich in die Verantwortung eines Mannes begeben?
Die Sensation in dem fantastischen Ensemble ist aber ‚The Voice‘, Frank Sinatra, der sich als vorlauter, meist alkoholisierter Maggio für ernste Charakterrollen empfahl. Obwohl Maggio nach außen ein Lebemann, ein Hedonist in Uniform zu sein scheint, ist er die tragischste Figur der Geschichte. Sein Plappermaul, sein Ungehorsam, seine sofortige Sympathie für den Pechvogel Prewitt, sie sind Ausdruck einer verborgenen, selbstzerstörerischen Natur, die ihm letztlich zum Verhängnis wird. Sein Abgang gehört zu den traurigsten Momenten, die das Kino hervorbrachte: Wie ein erschrockenes Kind stirbt er in den Armen von Clift. Dieser spielt daraufhin vor den Weiten des nächtlichen Kasernenhofs auf einer Trompete dessen letztes Geleit – mit dicken Tränen auf den Wangen. Er ist nun wieder allein, einsam. Ein vertrautes Gefühl. An einer Stelle sagt er zu Lorene: „Wenn jemand sagt, er wäre einsam, lügt er nie.“ Mehr muss er gar nicht sagen, um erahnen zu lassen, was er in der Vergangenheit durchgemacht hat.
„Verdammt in alle Ewigkeit“ ist ein Dialogfilm, erzählt sein menschliches Drama über lange Gespräche. Doch erreichte das ausgezeichnete Drehbuch des Autoren Daniel Taradash seine Langzeitwirkung erst durch die subtile Regie, die es vermied, dem damaligen Technicolor-Trend zu folgen. Statt stark gesättigten Farben gibt es so kühle Bilder in Schwarz-Weiß zu sehen, die eine konzentrierte Spannung für das Figurenkonglomerat erlauben. Die Kasernen-Atmosphäre ist schlicht einmalig, kam aber zu einem hohen Preis. Für die originalgetreue Szenerie bezog Harry Cohn, der Chef von Columbia Pictures, das US-Militär mit ein. Die verlangten dafür mehrere Änderungen am Script: Captain Holmes wird anders als im als ‚armeefeindlich‘ wahrgenommenen Roman nun für sein Fehlverhalten gegenüber Prewitt bestraft. Statt eines moralisch faulen Militärapparats verlagerte sich der Fokus auf die verdorbenen Äpfel, die missratenen Einzeltäter. Der zynischen Kraft der Buchvorlage wird das kaum gerecht.
Den Sprung zum Meisterwerk vollzieht der Film dennoch, nämlich im letzten Drittel, als der japanische Angriff auf Pearl Harbor beginnt. Historisch akkurat stehen die Uhren dabei auf 7:51 Uhr – just um die Zeit hatten die Flugzeuge die Schofield Barracks erreicht. Von nun an kann Zinnemann niemand stoppen: Das Bombardement inszeniert er als wahrgewordenen Albtraum, als apokalyptische Szenerie im Garten Eden von Hawaii. Insbesondere das Sound-Design ist verblüffend immersiv. Die Maschinengewehre und fallenden Bomben bilden eine beklemmende Tonkulisse, die nach Gehorsam schreienden Offiziere klingen verängstigt, hilflos. Orchestrale Töne der Komponisten Morris Stoloff und George Duning sind kaum zu vernehmen, im Vordergrund steht hörbares Entsetzen. Aufnahmen aus der Pearl-Harbor-Doku „Der 7. Dezember“ von John Ford kamen zum Einsatz, um das üppige Budget von 2 Millionen Dollar nicht zu überziehen.
Banal die Feststellung, dass der Aufwand sich bezahlt machte. „Verdammt in alle Ewigkeit“ dominierte die Kinosaison 1953, wurde vom Feuilleton mit Lobpreisungen überhäuft. Das epische, langsame Melodram hat bis heute nichts von seiner Wirkung verloren und bewies die Faszination und den Eros des alten Hollywood-Kinos – selbst für beharrliche Ablehner des Militärs. Zinnemann drehte keinen Kriegsfilm, sondern eine intime Geschichte über Loyalität und Integrität. Dabei ist beachtlich, wie bitter sein Werk trotz aller Einmischungen endet: All der Heldenmut und die Opferbereitschaft von Prewitt sind vergebens. Er kann seinem traurigen, sinnlosen Schicksal nicht entkommen. Der Originaltitel „From Here to Eternity“, übersetzt etwa „Von hier bis zur Ewigkeit“, entstammt einem Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Rudyard Kipling, lässt aber ein Wort weg. Für das deutsche Publikum wurde die Zeile wieder vervollständigt, der Titel fasst so Prewitts Ausgang phänomenal zusammen: „Damned from here to eternity“, also „Verdammt in alle Ewigkeit“.
Bei insgesamt dreizehn Nominierungen gewann der Film acht Oscars, darunter in den Kategorien „Bester Film“ und „Beste Regie“. Er zog so mit „Vom Winde verweht“ gleich, wurde zum Überhit des 50er Jahre Kinos. James Jones verarbeitete eine weitere hautnah erlebte Kriegserfahrung, die Schlacht um Guadalcanal, in seinem Roman „Insel der Verdammten“, die später ebenfalls unter dem Titel „Der schmale Grat“ den Weg auf die Leinwand fand. Und Frank Sinatra hatte sich nicht nur aus seinem Karrieretief erholt, sondern wurde – genau wie Donna Reed – ebenfalls bei der Oscarverleihung auf die Bühne gebeten. Er erhielt eine Trophäe als „Bester Nebendarsteller“ und zementierte seinen Status als einer der beliebtesten Entertainer aller Zeiten.
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Die Bourne Identität finde ich noch ganz sehenswert. Spätestens aber die Bourne Verschwörung hat einen solch schlechten Schnitt, dass man nur von einer absoluten Verschwendung von großartigen Autostunts sprechen kann. Der Schnitt hat mich auch so abgetörnt, dass ich dieses Machwerk nie mehr ganz geschaut habe
Unser neuestes Projekt: https://open.spotify.com/show/35s3iDdkQ12ikEFT9hOoTP - Talk rund um Filme und Serien
Für 80s Action ist man nie zu alt
Zwei stahlharte Profis
Im Jahr 1986 erfuhr der junge Filmstudent Shane Black von einem Trick unter Polizisten, der sogenannten „Psycho-Pension“. Hierbei simuliert ein Beamter psychische Probleme, um bezahlten Urlaub und eine Auszeit vom Dienst verordnet zu bekommen. Black hatte sofort einen Gedanken: ‚Was, wenn da ein Cop wäre, von dem alle denken, er wolle die „Psycho-Pension“ – der aber wirklich psychopathisch ist?‘ Er arbeitete die Idee aus und schrieb nicht nur sein erstes richtiges Drehbuch, sondern auch Filmgeschichte, als er dem verrückten Polizisten einen regeltreuen Partner an die Seite stellte. Das fertige Duo kennt heute jeder Filmfan – nicht unter dem deutschen Titel „Zwei stahlharte Profis“, sondern unter dem originalen: „Lethal Weapon“.
Mit dem Film revolutionierten Shane Black und Regisseur Richard Donner, der schon Klassiker wie „Superman“ oder „Die Goonies“ auf dem Kerbholz hatte, das Actiongenre. Dominierten bis dato muskelbepackte Alphamänner das Kino der Ära unter Präsident Ronald Reagan, unterschied „Lethal Weapon“ sich durch verletzbare Protagonisten. Beide werden – symbolträchtig – nackt eingeführt: Der Polizist Roger Murtaugh sitzt in der Badewanne, als seine Familie ihm dort zum 50. Geburtstag gratuliert. Während er seinem grauen Bart abtastet, wird er vom Töchterlein durch die Blume als altes Eisen bezeichnet. Den verrückten Cop Martin Riggs lernen die Zuschauer in seinem Wohnwagen am Strand kennen. Mit Zigarette im Mund, dem Gemächt in der Hand und dem Bier in greifbarer Nähe wird er beim Urinieren gezeigt. Er ist ein einsamer Wolf, der sichtbar mit dem Leben abgeschlossen hat.
Bereits hier unterscheidet sich „Lethal Weapon“ vom Genre-Standard seiner Zeit. Martin Riggs ist ein Revolverheld, jene Figur, die im Männerkino oft idealisiert und romantisiert wird – spätestens seit „Dirty Harry“, der 1971 in Gestalt von Clint Eastwood zur Legende wurde. Shane Black zählt den Film zu seinen Lieblingen. Sein Martin Riggs teilt viele Parallelen mit Harry Callahan: Beide sind Ex-Militärs von hohem Renommee, beide arbeiten außerhalb der Regeln, beide verloren ihre Frauen bei einem Autounfall. Doch Dirty Harry ist dank Eastwood die Coolness in Person. Seinen Schmerz versteckt er unter einer großen Sonnenbrille, seine zynischen Sprüche sind so pragmatisch wie sein Auftreten. Seine persönliche Tragödie erweitert nur sein Heldentum. Riggs ist das Gegenstück, ein emotionales Wrack. Was bei Callahan zur Bewunderung einlädt, ist bei ihm schmerzhafte Realität. In einer der großartigsten Szenen des Films steckt er sich eine Waffe in den Mund, versucht abzudrücken. Als er sich nicht überwinden kann, drückt er heulend das Bild seiner toten Frau an sich, schluchzt: „Wir sehen uns später.“
Kurz darauf befindet sich Riggs in einer identischen Situation wie einst Dirty Harry: Er soll einen Selbstmörder vom Springen abhalten. Eastwood fuhr als Harry per Feuerwehrkran zum Springer herauf, provozierte ihn und schlug ihn bewusstlos, brachte ihn so in Sicherheit. Riggs hingegen kettet sein Handgelenk einfach an das des Selbstmörders und springt mit ihm vom Dach – allerdings immerhin auf ein Sprungkissen der Polizei. In diesem Moment kapiert Murtaugh, sein neuer Partner: Dieser Mann ist nicht auf „Psycho-Pension“ aus, sondern ehrlich suizidgefährdet. Und mit dieser Erkenntnis ist das legendärste Buddy-Cop-Gespann des Kinos geboren, dank Murtaugh auch einer der berühmtesten Sprüche des Genres: „Ich bin zu alt für so eine Scheiße.“
„Lethal Weapon“ ist ein Klassiker, dem seine Frische und Inspiration über dreißig Jahre später noch anzusehen sind. Gründe dafür finden sich viele, einer der wichtigsten sind wohl die Hauptdarsteller: Roger Murtaugh und Martin Riggs wären nie so ikonisch geworden, hätte Richard Donner sie nicht mit Danny Glover und Mel Gibson besetzt. Glover war zwar erst 40 und ist doch als gealterter, engagierter Polizist und Familienmensch vollkommen überzeugend. Gibson ist derweil eine Naturgewalt. Er spielt die unter der Oberfläche lauernde Psychopathie von Riggs so roh, brutal und echt, dass es verwundert, wie er hierfür keine Oscarnominierung erhalten konnte. Ein Blick in seine Augen allein lässt den Schmerz, die Verzweiflung und das Leid seiner Figur erahnen.
Zwei so talentierten Schauspielern auf der Höhe ihrer Kunst dabei zuzusehen, wie sie sich die Bälle zuspielen, ist ein Segen. Ob bei der Verbrecherjagd oder beim Herumschrauben an einem Freizeitboot: Ihre Dialoge erweisen sich als zugleich komisch und erstaunlich tiefsinnig. Shane Black vermengte die Präzision seines Mentoren William Goldman, der „Zwei Banditen“ und „Die Unbestechlichen“ schrieb, mit der harten Prosa eines Walter Hill, dessen „Nur 48 Stunden“ fünf Jahre vor „Lethal Weapon“ den Buddy-Film neuerfand. Auch Hill bot ein unfreiwilliges Duo, als Nick Nolte sich mit Eddie Murphy zusammenraufen musste. Die Rassenthematik eines gemischten Duos mit je weißer und schwarzer Haut gehörte da zum Konzept. Bei „Lethal Weapon“ war sie Zufall: Als man Richard Donner für Murtaugh den schwarzen Danny Glover vorschlug, war dessen Hautfarbe erst ein Contra-Argument für ihn, ehe er bemerkte, dass Murtaughs Hautfarbe im Drehbuch gar keine Erwähnung fand.
Der Plot ist zweckdienlich, nur ein Vorwand für den zweistündigen Cocktail aus Tempo, Gags und Spannung. Ein vermeintlicher Selbstmord eines barbusigen Callgirls führt die Ermittler auf die Spur eines Drogenrings aus ehemaligen CIA-Söldnern, die kurzerhand Murtaughs Tochter in ihre Gewalt bringen. Sobald dieser Schritt erfolgt, zündet Donner ein perfekt getaktetes Actionfeuerwerk, das sich sehen lassen kann, erst recht bei dem spärlichen Budget von nur 15 Millionen Dollar. Gebäude explodieren, es wird mit Elektroschocks gefoltert, Autos krachen ineinander oder heizen über den Hollywood-Boulevard. Es herrscht buchstäblich Krieg in den Straßen von Los Angeles.
Dabei bleibt die Regie stilbewusst und ausgeklügelt. Dies bemerkte sogar Filmkritiker und Pulitzer-Preisträger Roger Ebert, der über den Actionhit schrieb: „Ich bin ein Typ, der von Schießereien und Verfolgungsjagden gelangweilt ist. Ich habe das alles schon gesehen. Aber dieser Film hat mich von Anfang bis Ende begeistert.“ Kein Wunder, inszeniert Donner „Lethal Weapon“ doch als stimmungsvollen Mix aus Großstadt-Western und Neo-Noirdrama und kann sich dabei auf das Können seines ausgezeichneten Kameramanns Stephen Goldblatt verlassen. Ein Showdown mitten in der Wüste wird in fantastischen Panorama-Aufnahmen bebildert, selbst eine einfache Tiefgarage erhält durch seitlich einfallendes Licht einen expressionistischen, surrealistischen Anstrich.
Der überragende Soundtrack von Michael Kamen und Eric Clapton geht auf den Genre-Mix ein, bietet hetzende Gitarren, pompöse Trompeten und ein klagendes Saxophon. Vor allem Kamen fand seine Kompositionen offenbar so stark, dass er sie ein Jahr später für einen weiteren Actionklassiker abwandelte: „Stirb langsam“. Beiden Filmen ist gemein, dass sie an Weihnachten spielen, doch während Filmemacher John McTiernan dies in „Stirb langsam“ als Hintergrund für seine bleigefüllte Kapitalismuskritik nutzte, ist Donner an den Gegensätzen des Fests interessiert, welche sich in seinen Protagonisten ausdrücken: Die Nächstenliebe und das Familiäre im Kontrast zu Einsamkeit und Feiertagsdepressionen.
Besonders bemerkenswert gerät noch das Finale: Hier tritt Mel Gibson zu einem kompromisslosen und physisch nachfühlbaren Faustkampf gegen den Widersacher der Stunde an: Gary Busey, der als folternder Mr. Joshua in jedem anderen Film der absolute Star gewesen wäre. Die restlichen Polizisten, selbst Murtaugh, greifen nicht ein, als diese zwei Kraftprotze ihr Duell der Fäuste austragen. Sowohl Riggs als auch Joshua stehen außerhalb des Systems, außerhalb ihrer Gruppierungen. Sie dürfen ihr letztes Gefecht unter sich entscheiden, nach archaischen Regeln, vor einer großen Zuschauerschaft – eine phänomenale Analogie an die Schlussduelle in alten Westernfilmen.
Es ist eine ausgelutschte Phrase, doch sie stimmt: Nicht zuletzt durch die Leidenschaft aller Beteiligten wurde „Lethal Weapon“ zum Meisterwerk des Actionkinos. Aus den genialen Wortgefechten spricht die Energie eines jungen Drehbuchautors und seine Hoffnung nach dem Durchbruch. Der kam auch: Shane Black wurde in den 90ern zu einem der bestbezahlten Autoren im Filmgeschäft. Mel Gibson und Danny Glover zementierten dank „Lethal Weapon“ ihren Status als Actionhelden und wurden Superstars. Und über das Engagement des filmhistorisch sträflich unterschätzten Richard Donner lässt sich viel erzählen. Er machte aus Blacks Ideen eine aufrichtige Geschichte über eine Männerfreundschaft, in der der „Dirty Harry“-Einzelkämpfer zum Teamplayer wird. Er drehte, um Kosten zu sparen, mehrere Actionszenen in seinem eigenen Haus.
Er versteckte sogar eine politische Botschaft im Film. Am Kühlschrank im Hause Murtaugh prangt ein Aufkleber: „Stoppt die Apartheid!“ Später im Film trägt ein kleiner Junge ein T-Shirt mit derselben Botschaft. Als Reaktion darauf erhielt Donner aggressive Post, bis hin zu Todesdrohungen. Es schüchterte ihn nicht ein – für die erste von drei „Lethal Weapon“-Fortsetzungen, die er allesamt selbst verwirklichte, machte er Apartheid zum zentralen Thema. So arbeiten sie eben, die stahlharten Profis.
Im Jahr 1986 erfuhr der junge Filmstudent Shane Black von einem Trick unter Polizisten, der sogenannten „Psycho-Pension“. Hierbei simuliert ein Beamter psychische Probleme, um bezahlten Urlaub und eine Auszeit vom Dienst verordnet zu bekommen. Black hatte sofort einen Gedanken: ‚Was, wenn da ein Cop wäre, von dem alle denken, er wolle die „Psycho-Pension“ – der aber wirklich psychopathisch ist?‘ Er arbeitete die Idee aus und schrieb nicht nur sein erstes richtiges Drehbuch, sondern auch Filmgeschichte, als er dem verrückten Polizisten einen regeltreuen Partner an die Seite stellte. Das fertige Duo kennt heute jeder Filmfan – nicht unter dem deutschen Titel „Zwei stahlharte Profis“, sondern unter dem originalen: „Lethal Weapon“.
Mit dem Film revolutionierten Shane Black und Regisseur Richard Donner, der schon Klassiker wie „Superman“ oder „Die Goonies“ auf dem Kerbholz hatte, das Actiongenre. Dominierten bis dato muskelbepackte Alphamänner das Kino der Ära unter Präsident Ronald Reagan, unterschied „Lethal Weapon“ sich durch verletzbare Protagonisten. Beide werden – symbolträchtig – nackt eingeführt: Der Polizist Roger Murtaugh sitzt in der Badewanne, als seine Familie ihm dort zum 50. Geburtstag gratuliert. Während er seinem grauen Bart abtastet, wird er vom Töchterlein durch die Blume als altes Eisen bezeichnet. Den verrückten Cop Martin Riggs lernen die Zuschauer in seinem Wohnwagen am Strand kennen. Mit Zigarette im Mund, dem Gemächt in der Hand und dem Bier in greifbarer Nähe wird er beim Urinieren gezeigt. Er ist ein einsamer Wolf, der sichtbar mit dem Leben abgeschlossen hat.
Bereits hier unterscheidet sich „Lethal Weapon“ vom Genre-Standard seiner Zeit. Martin Riggs ist ein Revolverheld, jene Figur, die im Männerkino oft idealisiert und romantisiert wird – spätestens seit „Dirty Harry“, der 1971 in Gestalt von Clint Eastwood zur Legende wurde. Shane Black zählt den Film zu seinen Lieblingen. Sein Martin Riggs teilt viele Parallelen mit Harry Callahan: Beide sind Ex-Militärs von hohem Renommee, beide arbeiten außerhalb der Regeln, beide verloren ihre Frauen bei einem Autounfall. Doch Dirty Harry ist dank Eastwood die Coolness in Person. Seinen Schmerz versteckt er unter einer großen Sonnenbrille, seine zynischen Sprüche sind so pragmatisch wie sein Auftreten. Seine persönliche Tragödie erweitert nur sein Heldentum. Riggs ist das Gegenstück, ein emotionales Wrack. Was bei Callahan zur Bewunderung einlädt, ist bei ihm schmerzhafte Realität. In einer der großartigsten Szenen des Films steckt er sich eine Waffe in den Mund, versucht abzudrücken. Als er sich nicht überwinden kann, drückt er heulend das Bild seiner toten Frau an sich, schluchzt: „Wir sehen uns später.“
Kurz darauf befindet sich Riggs in einer identischen Situation wie einst Dirty Harry: Er soll einen Selbstmörder vom Springen abhalten. Eastwood fuhr als Harry per Feuerwehrkran zum Springer herauf, provozierte ihn und schlug ihn bewusstlos, brachte ihn so in Sicherheit. Riggs hingegen kettet sein Handgelenk einfach an das des Selbstmörders und springt mit ihm vom Dach – allerdings immerhin auf ein Sprungkissen der Polizei. In diesem Moment kapiert Murtaugh, sein neuer Partner: Dieser Mann ist nicht auf „Psycho-Pension“ aus, sondern ehrlich suizidgefährdet. Und mit dieser Erkenntnis ist das legendärste Buddy-Cop-Gespann des Kinos geboren, dank Murtaugh auch einer der berühmtesten Sprüche des Genres: „Ich bin zu alt für so eine Scheiße.“
„Lethal Weapon“ ist ein Klassiker, dem seine Frische und Inspiration über dreißig Jahre später noch anzusehen sind. Gründe dafür finden sich viele, einer der wichtigsten sind wohl die Hauptdarsteller: Roger Murtaugh und Martin Riggs wären nie so ikonisch geworden, hätte Richard Donner sie nicht mit Danny Glover und Mel Gibson besetzt. Glover war zwar erst 40 und ist doch als gealterter, engagierter Polizist und Familienmensch vollkommen überzeugend. Gibson ist derweil eine Naturgewalt. Er spielt die unter der Oberfläche lauernde Psychopathie von Riggs so roh, brutal und echt, dass es verwundert, wie er hierfür keine Oscarnominierung erhalten konnte. Ein Blick in seine Augen allein lässt den Schmerz, die Verzweiflung und das Leid seiner Figur erahnen.
Zwei so talentierten Schauspielern auf der Höhe ihrer Kunst dabei zuzusehen, wie sie sich die Bälle zuspielen, ist ein Segen. Ob bei der Verbrecherjagd oder beim Herumschrauben an einem Freizeitboot: Ihre Dialoge erweisen sich als zugleich komisch und erstaunlich tiefsinnig. Shane Black vermengte die Präzision seines Mentoren William Goldman, der „Zwei Banditen“ und „Die Unbestechlichen“ schrieb, mit der harten Prosa eines Walter Hill, dessen „Nur 48 Stunden“ fünf Jahre vor „Lethal Weapon“ den Buddy-Film neuerfand. Auch Hill bot ein unfreiwilliges Duo, als Nick Nolte sich mit Eddie Murphy zusammenraufen musste. Die Rassenthematik eines gemischten Duos mit je weißer und schwarzer Haut gehörte da zum Konzept. Bei „Lethal Weapon“ war sie Zufall: Als man Richard Donner für Murtaugh den schwarzen Danny Glover vorschlug, war dessen Hautfarbe erst ein Contra-Argument für ihn, ehe er bemerkte, dass Murtaughs Hautfarbe im Drehbuch gar keine Erwähnung fand.
Der Plot ist zweckdienlich, nur ein Vorwand für den zweistündigen Cocktail aus Tempo, Gags und Spannung. Ein vermeintlicher Selbstmord eines barbusigen Callgirls führt die Ermittler auf die Spur eines Drogenrings aus ehemaligen CIA-Söldnern, die kurzerhand Murtaughs Tochter in ihre Gewalt bringen. Sobald dieser Schritt erfolgt, zündet Donner ein perfekt getaktetes Actionfeuerwerk, das sich sehen lassen kann, erst recht bei dem spärlichen Budget von nur 15 Millionen Dollar. Gebäude explodieren, es wird mit Elektroschocks gefoltert, Autos krachen ineinander oder heizen über den Hollywood-Boulevard. Es herrscht buchstäblich Krieg in den Straßen von Los Angeles.
Dabei bleibt die Regie stilbewusst und ausgeklügelt. Dies bemerkte sogar Filmkritiker und Pulitzer-Preisträger Roger Ebert, der über den Actionhit schrieb: „Ich bin ein Typ, der von Schießereien und Verfolgungsjagden gelangweilt ist. Ich habe das alles schon gesehen. Aber dieser Film hat mich von Anfang bis Ende begeistert.“ Kein Wunder, inszeniert Donner „Lethal Weapon“ doch als stimmungsvollen Mix aus Großstadt-Western und Neo-Noirdrama und kann sich dabei auf das Können seines ausgezeichneten Kameramanns Stephen Goldblatt verlassen. Ein Showdown mitten in der Wüste wird in fantastischen Panorama-Aufnahmen bebildert, selbst eine einfache Tiefgarage erhält durch seitlich einfallendes Licht einen expressionistischen, surrealistischen Anstrich.
Der überragende Soundtrack von Michael Kamen und Eric Clapton geht auf den Genre-Mix ein, bietet hetzende Gitarren, pompöse Trompeten und ein klagendes Saxophon. Vor allem Kamen fand seine Kompositionen offenbar so stark, dass er sie ein Jahr später für einen weiteren Actionklassiker abwandelte: „Stirb langsam“. Beiden Filmen ist gemein, dass sie an Weihnachten spielen, doch während Filmemacher John McTiernan dies in „Stirb langsam“ als Hintergrund für seine bleigefüllte Kapitalismuskritik nutzte, ist Donner an den Gegensätzen des Fests interessiert, welche sich in seinen Protagonisten ausdrücken: Die Nächstenliebe und das Familiäre im Kontrast zu Einsamkeit und Feiertagsdepressionen.
Besonders bemerkenswert gerät noch das Finale: Hier tritt Mel Gibson zu einem kompromisslosen und physisch nachfühlbaren Faustkampf gegen den Widersacher der Stunde an: Gary Busey, der als folternder Mr. Joshua in jedem anderen Film der absolute Star gewesen wäre. Die restlichen Polizisten, selbst Murtaugh, greifen nicht ein, als diese zwei Kraftprotze ihr Duell der Fäuste austragen. Sowohl Riggs als auch Joshua stehen außerhalb des Systems, außerhalb ihrer Gruppierungen. Sie dürfen ihr letztes Gefecht unter sich entscheiden, nach archaischen Regeln, vor einer großen Zuschauerschaft – eine phänomenale Analogie an die Schlussduelle in alten Westernfilmen.
Es ist eine ausgelutschte Phrase, doch sie stimmt: Nicht zuletzt durch die Leidenschaft aller Beteiligten wurde „Lethal Weapon“ zum Meisterwerk des Actionkinos. Aus den genialen Wortgefechten spricht die Energie eines jungen Drehbuchautors und seine Hoffnung nach dem Durchbruch. Der kam auch: Shane Black wurde in den 90ern zu einem der bestbezahlten Autoren im Filmgeschäft. Mel Gibson und Danny Glover zementierten dank „Lethal Weapon“ ihren Status als Actionhelden und wurden Superstars. Und über das Engagement des filmhistorisch sträflich unterschätzten Richard Donner lässt sich viel erzählen. Er machte aus Blacks Ideen eine aufrichtige Geschichte über eine Männerfreundschaft, in der der „Dirty Harry“-Einzelkämpfer zum Teamplayer wird. Er drehte, um Kosten zu sparen, mehrere Actionszenen in seinem eigenen Haus.
Er versteckte sogar eine politische Botschaft im Film. Am Kühlschrank im Hause Murtaugh prangt ein Aufkleber: „Stoppt die Apartheid!“ Später im Film trägt ein kleiner Junge ein T-Shirt mit derselben Botschaft. Als Reaktion darauf erhielt Donner aggressive Post, bis hin zu Todesdrohungen. Es schüchterte ihn nicht ein – für die erste von drei „Lethal Weapon“-Fortsetzungen, die er allesamt selbst verwirklichte, machte er Apartheid zum zentralen Thema. So arbeiten sie eben, die stahlharten Profis.
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