Filmtagebuch: Wallnuss
Moderator: SFI
Der talentierte Alain Delon: Im Körper des Freundes
Nur die Sonne war Zeuge
„Er hat eine rege Phantasie“, sagt Millionärssöhnchen Philippe Greenleaf an einer Stelle des Films „Nur die Sonne war Zeuge“ über seinen Begleiter Tom Ripley. Ein kurzer Satz, nicht mehr als fünf Worte, und doch reicht das aus, um diesen Tom Ripley und sein Wesen zu beschreiben – und um anzukündigen, was Philippe zum Verhängnis wird. Ripley ist eigentlich eine Figur der Literaturgeschichte. 1955 tauchte er im ersten von insgesamt fünf Romanen auf, welche die Kriminalautorin Patricia Highsmith über ihn, den jungen, mörderischen Identitätsdieb aus den Staaten, schrieb. Genau dieses erste Buch, „Der talentierte Mr. Ripley“, diente für den französischen Regisseur René Clément als Vorlage, als er 1960 seine Adaption drehte und dabei einen der größten Stars des europäischen Kinos zum Ruhm verhalf: Alain Delon.
Delon spielt jenen Tom Ripley, der im Auftrag von Senior Greenleaf nach Italien geschickt wurde, um Sohnemann zu einer Rückkehr in die USA zu überreden. Doch Tom genießt das römische Lotterleben an der Seite des verwöhnten Playboys und dessen Geliebter, der sinnlichen Brünetten Marge. Doch eines Tages wird Tom erwischt, als er sich heimlich vor dem Spiegel mit Philippes Klamotten einkleidet. Bei einer gemeinsamen Bootsfahrt offenbart sich Philippes brutale Art gegenüber seinen Liebsten – und Tom zeigt seine wahren Absichten. Beim Kartenspiel theoretisieren die beiden Männer darüber, ob Tom mit einem Mord an Philippe durchkäme und ob er so dessen Vermögen vereinnahmen könne. Philippe lacht während der Unterhaltung viel, doch Tom ist es ernst. Todernst.
Schon bevor ein gesprochenes Wort im Film ertönt, erweist sich Clément als Filmemacher mit geistreicher visueller Sprache. Die Namen der Schauspieler erscheinen handschriftlich auf dem Bildschirm. Handschriften erzeugen ein falsches Gefühl von Identität, wie sich später zeigt als Ripley in einer beängstigenden Szene mit berechnender Präzision die Signatur von Greenleaf bis zum letzten Grad Perfektionismus studiert und einübt. Ehe der Film beginnt, werden die restlichen Namen vor römischen Postkarten eingeblendet. Postkarten, im Jahr 1960 noch mehr als im 21. Jahrhundert ein Beleg für luxuriöse Fernreisen, symbolisieren den Neid und die Besessenheit, die Ripley zu seinen entsetzlichen Gewalttaten verleiten. Anders als im Roman versteht der Film die Geschehnisse unter gleißendem Sonnenlicht als Metapher für den Versuch eines jeden, sich in bestehenden Gesellschaftshierarchien über Besitzgüter einzuordnen.
Dieses gleißende Sonnenlicht an den Postkarten-Landschaften lässt „Nur die Sonne war Zeuge“ wie einen Urlaubsfilm aussehen. Der Originaltitel heißt ganz schlicht bloß „Plein soleil“, „Volle Sonne“ also, gedreht wurde neben Rom auch in Neapel und auf Ischia. Die Farbregie ist regelrecht sensationell: Leuchtende, bunte Farben und ein exzellentes Gespür für sommerliche Atmosphäre lassen das italienische Lokalkolorit besser aufkommen als in vielen Reisebroschüren. Der Filmpublizist Georg Seeßlen schrieb dazu: „Cléments Film ist sicher der erste Thriller, der die Gestaltung der Farbkamera bewusst als Mittel der Suspense-Erzeugung benutzt hat“ – und in der Tat ist es die unnormal idyllische, friedliche Zurschaustellung der Dolce Vita, welche den Schrecken der Geschichte überbetont. Dazu kommt die leichtfüßige, träumerische Musik des legendären Komponisten Nino Rota, die am Prädikat „Sommerfilm“ oberflächlich keinen Zweifel lässt. Auch sie kontrastiert mustergültig die düstere, psychologisch morbide Spannung der Geschichte, und Clément findet gemeinsam mit seinem Kameramann Henri Decaë die richtige visuelle Sprache für dieses ungewöhnliche Mischverhältnis: Landschaftspanoramen wechseln sich beständig und konsequent mit Nahaufnahmen der Darsteller ab, sorgen so für ein Höchstmaß an Konzentration.
Jene Darsteller sind es, die aus „Nur die Sonne war Zeuge“ ein unvergessliches cineastisches Erlebnis machen, allen voran Alain Delon. In den auslaufenden 1950ern hatte er im französischen Genre-Kino erste Erfolge verbuchen können, doch seine überragende Performance als Tom Ripley ließ ihn zu einem der bedeutendsten Schauspieler in der Geschichte seiner Nation werden. Sogar Patricia Highsmith selbst bezeichnete ihn als die Idealbesetzung für ihre Romanfigur. Der eiskalte Engel unter den europäischen Schauspielern fügt sich mit seinen hellblauen Augen und seinem attraktiven Äußeren perfekt in die Mise en Scène des Films ein: Sein hübsches Gesicht gepaart mit seiner höflichen, freundlichen Ausstrahlung lassen seine Taten umso grausamer wirken und jeder Moment, in dem Delon seinen Blicken eine unheimliche Aura mitgibt, lässt die Leinwand in Flammen stehen. Als er erstmals die Fassade fallen lässt, wird er zur ambivalenten Gestalt, zu einem kriminellen Bollwerk an der sonst hier so friedlichen Küste Italiens.
Seine Co-Stars spielen ebenso stark: Maurice Ronet ist als Philippe Greenleaf zu jeder Zeit als eingebildeter, verwöhnter Macho überzeugend, und die Chanson-Sängerin Marie Laforêt verleiht ihrer Marge eben die sorgende Unschuld, die einen Verrat durch Ripley so glaubhaft werden lässt. Dennoch gehört der Film vollkommen Delon, dessen ausgereiftes, einvernehmendes Charisma jenen Balanceakt gelingen lässt, der im Hinblick auf die literarische Vorlage so essentiell ist: Trotz seiner schrecklichen Taten und trotz seiner geheimnisvollen, verdorbenen und unnahbaren Charakterisierung ist Tom Ripley die zentrale Identifikationsperson für das Publikum, er ist als Sympathieträger konzeptioniert. Zwei Drittel der Geschichte handeln von seinem doppelbödigen, höchst riskanten Spiel als Betrüger, Mörder und Identitätsdieb. „Nur die Sonne war Zeuge“ ist kein Kriminalfilm über die Suche nach einem Täter, sondern macht die Zuschauenden zu Komplizen. Jedes weitere Hindernis, jeder mögliche Fehler wird zur streng getakteten Suspense-Sequenz ausgeweitet – ohne jede Effekthascherei. Die Kamera bleibt ruhig, dicht und hat es nicht nötig, die Tragweiten der verschiedenen Szenen überbetonen zu müssen.
Der meisterhafte Klassiker ist deshalb so schaurig, weil er den Weg der moralischen Uneindeutigkeit verfolgt. Der Ermordete ist ein Unsympath, aber mit verständlichen Motiven. Der Mordende ist ein Sympath, doch seine Beweggründe bleiben im Dunkeln. Zu diesem Zweck entfernte Clément auch eine psychologische Komponente der Romanvorlage, in der Ripleys Homosexualität und sein Interesse an Greenleaf verdeutlicht werden. Im Film bleibt es rätselhaft: Ist Tom nur ein habgieriger Mittelständler, der seine große Chance nutzt? Will er Rache an Philippe üben, für all dessen ignorante Auftritte ihm gegenüber? Oder ist es bloß eine allzu menschliche Neigung, dass wir während der Fütterungszeit lieber die Schlange anstelle der Maus sind?
Bis heute ist „Nur die Sonne war Zeuge“ ein Referenzwerk des Thriller-Genres, und ein Film, der seine Klasse und Qualität nicht mehr zu beweisen braucht. Während Clément in Italien drehte, schufen in seiner französischen Heimat Filmemacher wie François Truffaut oder Jean-Luc Godard die Epoche der „Nouvelle Vague“, in deren Verlauf Filmemacher alter Tage heftig in die Kritik gerietem, so auch Clément. Dabei war er mit seiner Highsmith-Verfilmung auf der Höhe der Zeit und einem anderen Filmschaffenden außerhalb Frankreichs viel nähergekommen: Ebenfalls 1960 veröffentlichte schließlich der britische Alfred Hitchcock seinen „Psycho“. Auch dieser Film schuf Sympathien für einen Mörder, erklärte in der letzten Szene aber zumindest dessen Motive. Auch dieser Film sollte zum Klassiker und Meisterwerk des Genres werden.
Die von Clément gewählte Schlussszene für „Nur die Sonne war Zeuge“ stieß bei Patricia Highsmith höchstpersönlich auf Kritik. Während ihr Tom Ripley am Ende des Romans mit all seinen Taten ungeschoren davon kommt, hat sein Leinwand-Pedant in Form von Alain Delon nicht so viel Glück. Dem Film allerdings hier einen moralisierenden Ausgang vorzuwerfen, wie Highsmith es tat, greift zu kurz: Die zufälligen Umstände, die Ripleys Taten offenlegen, lassen seinen bestechend poetisch fotografierten Abgang umso tragischer wirken – und erhöhen ein letztes perfides Mal die Sympathien für den Mörder, bei dessen Taten nur wir Zuschauer die Zeugen waren. Und die Sonne natürlich.
„Er hat eine rege Phantasie“, sagt Millionärssöhnchen Philippe Greenleaf an einer Stelle des Films „Nur die Sonne war Zeuge“ über seinen Begleiter Tom Ripley. Ein kurzer Satz, nicht mehr als fünf Worte, und doch reicht das aus, um diesen Tom Ripley und sein Wesen zu beschreiben – und um anzukündigen, was Philippe zum Verhängnis wird. Ripley ist eigentlich eine Figur der Literaturgeschichte. 1955 tauchte er im ersten von insgesamt fünf Romanen auf, welche die Kriminalautorin Patricia Highsmith über ihn, den jungen, mörderischen Identitätsdieb aus den Staaten, schrieb. Genau dieses erste Buch, „Der talentierte Mr. Ripley“, diente für den französischen Regisseur René Clément als Vorlage, als er 1960 seine Adaption drehte und dabei einen der größten Stars des europäischen Kinos zum Ruhm verhalf: Alain Delon.
Delon spielt jenen Tom Ripley, der im Auftrag von Senior Greenleaf nach Italien geschickt wurde, um Sohnemann zu einer Rückkehr in die USA zu überreden. Doch Tom genießt das römische Lotterleben an der Seite des verwöhnten Playboys und dessen Geliebter, der sinnlichen Brünetten Marge. Doch eines Tages wird Tom erwischt, als er sich heimlich vor dem Spiegel mit Philippes Klamotten einkleidet. Bei einer gemeinsamen Bootsfahrt offenbart sich Philippes brutale Art gegenüber seinen Liebsten – und Tom zeigt seine wahren Absichten. Beim Kartenspiel theoretisieren die beiden Männer darüber, ob Tom mit einem Mord an Philippe durchkäme und ob er so dessen Vermögen vereinnahmen könne. Philippe lacht während der Unterhaltung viel, doch Tom ist es ernst. Todernst.
Schon bevor ein gesprochenes Wort im Film ertönt, erweist sich Clément als Filmemacher mit geistreicher visueller Sprache. Die Namen der Schauspieler erscheinen handschriftlich auf dem Bildschirm. Handschriften erzeugen ein falsches Gefühl von Identität, wie sich später zeigt als Ripley in einer beängstigenden Szene mit berechnender Präzision die Signatur von Greenleaf bis zum letzten Grad Perfektionismus studiert und einübt. Ehe der Film beginnt, werden die restlichen Namen vor römischen Postkarten eingeblendet. Postkarten, im Jahr 1960 noch mehr als im 21. Jahrhundert ein Beleg für luxuriöse Fernreisen, symbolisieren den Neid und die Besessenheit, die Ripley zu seinen entsetzlichen Gewalttaten verleiten. Anders als im Roman versteht der Film die Geschehnisse unter gleißendem Sonnenlicht als Metapher für den Versuch eines jeden, sich in bestehenden Gesellschaftshierarchien über Besitzgüter einzuordnen.
Dieses gleißende Sonnenlicht an den Postkarten-Landschaften lässt „Nur die Sonne war Zeuge“ wie einen Urlaubsfilm aussehen. Der Originaltitel heißt ganz schlicht bloß „Plein soleil“, „Volle Sonne“ also, gedreht wurde neben Rom auch in Neapel und auf Ischia. Die Farbregie ist regelrecht sensationell: Leuchtende, bunte Farben und ein exzellentes Gespür für sommerliche Atmosphäre lassen das italienische Lokalkolorit besser aufkommen als in vielen Reisebroschüren. Der Filmpublizist Georg Seeßlen schrieb dazu: „Cléments Film ist sicher der erste Thriller, der die Gestaltung der Farbkamera bewusst als Mittel der Suspense-Erzeugung benutzt hat“ – und in der Tat ist es die unnormal idyllische, friedliche Zurschaustellung der Dolce Vita, welche den Schrecken der Geschichte überbetont. Dazu kommt die leichtfüßige, träumerische Musik des legendären Komponisten Nino Rota, die am Prädikat „Sommerfilm“ oberflächlich keinen Zweifel lässt. Auch sie kontrastiert mustergültig die düstere, psychologisch morbide Spannung der Geschichte, und Clément findet gemeinsam mit seinem Kameramann Henri Decaë die richtige visuelle Sprache für dieses ungewöhnliche Mischverhältnis: Landschaftspanoramen wechseln sich beständig und konsequent mit Nahaufnahmen der Darsteller ab, sorgen so für ein Höchstmaß an Konzentration.
Jene Darsteller sind es, die aus „Nur die Sonne war Zeuge“ ein unvergessliches cineastisches Erlebnis machen, allen voran Alain Delon. In den auslaufenden 1950ern hatte er im französischen Genre-Kino erste Erfolge verbuchen können, doch seine überragende Performance als Tom Ripley ließ ihn zu einem der bedeutendsten Schauspieler in der Geschichte seiner Nation werden. Sogar Patricia Highsmith selbst bezeichnete ihn als die Idealbesetzung für ihre Romanfigur. Der eiskalte Engel unter den europäischen Schauspielern fügt sich mit seinen hellblauen Augen und seinem attraktiven Äußeren perfekt in die Mise en Scène des Films ein: Sein hübsches Gesicht gepaart mit seiner höflichen, freundlichen Ausstrahlung lassen seine Taten umso grausamer wirken und jeder Moment, in dem Delon seinen Blicken eine unheimliche Aura mitgibt, lässt die Leinwand in Flammen stehen. Als er erstmals die Fassade fallen lässt, wird er zur ambivalenten Gestalt, zu einem kriminellen Bollwerk an der sonst hier so friedlichen Küste Italiens.
Seine Co-Stars spielen ebenso stark: Maurice Ronet ist als Philippe Greenleaf zu jeder Zeit als eingebildeter, verwöhnter Macho überzeugend, und die Chanson-Sängerin Marie Laforêt verleiht ihrer Marge eben die sorgende Unschuld, die einen Verrat durch Ripley so glaubhaft werden lässt. Dennoch gehört der Film vollkommen Delon, dessen ausgereiftes, einvernehmendes Charisma jenen Balanceakt gelingen lässt, der im Hinblick auf die literarische Vorlage so essentiell ist: Trotz seiner schrecklichen Taten und trotz seiner geheimnisvollen, verdorbenen und unnahbaren Charakterisierung ist Tom Ripley die zentrale Identifikationsperson für das Publikum, er ist als Sympathieträger konzeptioniert. Zwei Drittel der Geschichte handeln von seinem doppelbödigen, höchst riskanten Spiel als Betrüger, Mörder und Identitätsdieb. „Nur die Sonne war Zeuge“ ist kein Kriminalfilm über die Suche nach einem Täter, sondern macht die Zuschauenden zu Komplizen. Jedes weitere Hindernis, jeder mögliche Fehler wird zur streng getakteten Suspense-Sequenz ausgeweitet – ohne jede Effekthascherei. Die Kamera bleibt ruhig, dicht und hat es nicht nötig, die Tragweiten der verschiedenen Szenen überbetonen zu müssen.
Der meisterhafte Klassiker ist deshalb so schaurig, weil er den Weg der moralischen Uneindeutigkeit verfolgt. Der Ermordete ist ein Unsympath, aber mit verständlichen Motiven. Der Mordende ist ein Sympath, doch seine Beweggründe bleiben im Dunkeln. Zu diesem Zweck entfernte Clément auch eine psychologische Komponente der Romanvorlage, in der Ripleys Homosexualität und sein Interesse an Greenleaf verdeutlicht werden. Im Film bleibt es rätselhaft: Ist Tom nur ein habgieriger Mittelständler, der seine große Chance nutzt? Will er Rache an Philippe üben, für all dessen ignorante Auftritte ihm gegenüber? Oder ist es bloß eine allzu menschliche Neigung, dass wir während der Fütterungszeit lieber die Schlange anstelle der Maus sind?
Bis heute ist „Nur die Sonne war Zeuge“ ein Referenzwerk des Thriller-Genres, und ein Film, der seine Klasse und Qualität nicht mehr zu beweisen braucht. Während Clément in Italien drehte, schufen in seiner französischen Heimat Filmemacher wie François Truffaut oder Jean-Luc Godard die Epoche der „Nouvelle Vague“, in deren Verlauf Filmemacher alter Tage heftig in die Kritik gerietem, so auch Clément. Dabei war er mit seiner Highsmith-Verfilmung auf der Höhe der Zeit und einem anderen Filmschaffenden außerhalb Frankreichs viel nähergekommen: Ebenfalls 1960 veröffentlichte schließlich der britische Alfred Hitchcock seinen „Psycho“. Auch dieser Film schuf Sympathien für einen Mörder, erklärte in der letzten Szene aber zumindest dessen Motive. Auch dieser Film sollte zum Klassiker und Meisterwerk des Genres werden.
Die von Clément gewählte Schlussszene für „Nur die Sonne war Zeuge“ stieß bei Patricia Highsmith höchstpersönlich auf Kritik. Während ihr Tom Ripley am Ende des Romans mit all seinen Taten ungeschoren davon kommt, hat sein Leinwand-Pedant in Form von Alain Delon nicht so viel Glück. Dem Film allerdings hier einen moralisierenden Ausgang vorzuwerfen, wie Highsmith es tat, greift zu kurz: Die zufälligen Umstände, die Ripleys Taten offenlegen, lassen seinen bestechend poetisch fotografierten Abgang umso tragischer wirken – und erhöhen ein letztes perfides Mal die Sympathien für den Mörder, bei dessen Taten nur wir Zuschauer die Zeugen waren. Und die Sonne natürlich.
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Huch, dann habe ich dir wohl unrecht getan diesmal ;) Sind auf jeden Fall stark geschriebene Reviews. Ich hab davon allerdings nicht mal nen Bruchteil von gesehen. Glückwunsch übrigens zum Moderatorenposten im Bond-Forum, hätte ich nicht gedacht. Cool
Unser neuestes Projekt: https://open.spotify.com/show/35s3iDdkQ12ikEFT9hOoTP - Talk rund um Filme und Serien
Lesestunde aus der Disney-Bibliothek
Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte
In der Filmwelt steht ein Wort alleine für märchenhafte Welten, für träumerische Geschichten und für Millionen von glänzenden Kinderaugen: Disney. Benannt nach ihrem Schöpfer, dem Trickfilm-Pionier Walt Disney, ist die Filmschmiede hinter Micky Maus eine feste Institution in Hollywood, aber auch in Kinderzimmern auf der ganzen Welt. Doch während der 1940er schien es fast, als sei das zu diesem Zeitpunkt erst knapp zwanzig Jahre junge Studio bereits am Ende. Im Zweiten Weltkrieg arbeiteten bis zu 700 Mitarbeiter der US-Flugabwehr in den Disney-Studios. Im staatlichen Interesse mussten die Filmemacher Propaganda-Cartoons entwickeln. Mit Trickfilmen à la „Bambi“ oder „Dumbo“ war im Kino kein Geld zu verdienen. Aufgrund des fehlenden Budgets griff man zu einer Notlösung: Mehrere gezeichnete Kurzfilme wurden zu abendfüllenden Spielfilmen zusammengeschnitten.
Diese sogenannten Anthologien sind im Disney-Kanon längst in Vergessenheit geraten. So sehr sie damals erfolgreich die Kosten des Unternehmens senkten, so schwach war oft auch ihre Qualität. Einen übergreifenden Handlungsbogen hatten die Cartoon-Collagen nicht, sodass sie eher als Kuriosität der Disney-Historie gelten. Doch auch in dieser unrühmlichen Epoche des Studios versteckt sich eine Perle: „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“. Erschienen ist der 65-minütige Trickfilm im Jahr 1949, war damit der sechste und letzte der Anthologie-Filme. Erzählt werden in zwei Segmenten zwei Klassiker der Literaturgeschichte: „Das Erlebnis von Taddäus Kröte“ basiert auf dem britischen Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame, während „Das Abenteuer von Ichabod und dem kopflosen Reiter“ den vielleicht ältesten Mythos der Vereinigten Staaten von Amerika verfilmt: „Die Sage von der schläfrigen Schlucht“, eher bekannt als „Sleepy Hollow“, eine Kurzgeschichte des Schriftstellers Washington Irving.
Eine inhaltliche Klammer, ein übergeordnetes Thema, welches die zwei je halbstündigen Filme miteinander verbindet, gibt es streng genommen nicht. Wie bei den Anthologie-Vorgängern scheint auch hier die Zusammenstellung bloße Willkür zu sein. Ganz so einfach ist es jedoch kaum: Beide Hauptfiguren, sowohl Taddäus Kröte als auch Ichabod Crane, sind in letzter Konsequenz Besessene, und werden für ihre Ignoranz und Selbstgenügsamkeit bestraft. Außerdem sind beide Geschichten eine ungewöhnliche Wahl für einen Film der Marke Disney, welche heute vor allem für geschliffenes Entertainment für die ganze Familie bekannt ist. Denn beide Segmente erzählen im Kern erwachsene, durchaus auch düstere Geschichten, die trotz ihrer kindgerechten Aufmachung ihr Wesen nicht verleugnen.
Eröffnet wird der Film, bei dem die Zeichentrick-Künstler James Algar, Clyde Geronimi und Jack Kinney als Regisseure angegeben sind, von Realaufnahmen einer edlen Bibliothek. Aus dem Off ertönt im Originalton die Stimme des legendären Sherlock-Holmes-Darstellers Basil Rathbone. Er stellt die These auf, dass es sich bei einer Kröte um die wohl bemerkenswerteste Figur der britischen Literaturgeschichte handelt. Von hieran beginnt der erste Kurzfilm, der die Geschichte aus „Der Wind in den Weiden“ gekürzt, aber weitgehend originalgetreu adaptiert. Taddäus Kröte ist ein Adrenalin-Junkie, der sich mit den tollsten Reichtümern umgibt und jeder wilden Idee nachjagt – sehr zum Ärger seiner Freunde Meister Dachs, Ratte und Maulwurf Mauli. Als er zum ersten Mal ein Automobil erspäht, will er es unbedingt besitzen – und fällt auf eine fiese Betrüger-Bande herein, landet schlussendlich im Gefängnis.
Schon ein Jahrzehnt zuvor wollten die Macher „Der Wind in den Weiden“ verfilmen, und der Kurzfilm begeistert von Beginn an mit fantastischen Zeichnungen, deren detailreich gepinselte Figuren, Bewegungen und Hintergrunde eine beeindruckende Leistung ihrer Zeit sind. Die aufwendige Einführung der Taddäus-Figur präsentiert sich in einer Musical-Nummer, die zum Besten gehört, was das Medium Zeichentrick bis dato hervorbrachte. Zudem begeistert die Darstellung der Besessenheit ungemein: Als Taddäus die erste Begegnung mit einem Auto hinter sich hat, werden seine Augen zu farbigen Spiralen, er selbst macht wilde Motorengeräusche, hüpft auf der Straße auf und ab. Die Gesetze und Verhältnisse eines Cartoons sind das ideale Mittel, um die Romanvorlage in ihrer satirischen Deutlichkeit widerzugeben. Wie Grahame arbeitet auch der Film die Kritik am Konsumismus heraus, dem Taddäus Kröte manisch verfallen ist. Ohne Konsumgüter findet er in seinem Leben keine Erfüllung.
In der Charakterzeichnung ist „Das Erlebnis von Taddäus Kröte“ exzellent, und Liebhaber des Genres werden vor allem den spektakulären Schluss genießen. Da holt sich Taddäus, nun ein wenig geläutert, mit der Hilfe seiner Freunde sämtliche Besitztümer von einer frechen Wiesel-Bande zurück. Die lange Sequenz ist ein Musterbeispiel für gelungene Slapstick-Unterhaltung. Insbesondere die spielerische, gekonnt akzentuierte Orchestermusik von Oliver Wallace holt das größtmögliche Maß an Komik aus den Szenen heraus. Viele Passagen waren so einflussreich, dass sie in späteren Filmen erneut zum Einsatz kamen. Die Bewegungsabläufe aus dem Slapstick-Finale tauchten in Disneys „Robin Hood“ 1973 wieder auf, die Wiesel-Schurken waren Vorbilder für die Gegenspieler in „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“, mit dem Robert Zemeckis 1988 eine Hommage an die glorreichen Cartoon-Zeiten veröffentlichte. Auch Taddäus Kröte selbst hatte in dem Film einen Cameo-Auftritt.
Es ist jedoch das zweite Segment, welches „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“ zum elementaren Geheimtipp der Disney-Anthologie-Filme werden lässt. Das Aufeinandertreffen von Ichabod Crane und dem kopflosen Reiter aus Sleepy Hollow gilt, veröffentlicht im Jahre 1820, als eine der ersten Kurzgeschichten der US-Literatur. Darin buhlt der abergläubische Landschulmeister Ichabod um die Hand der schönen Katrina van Tassel, auch, um so in ihre reiche Familie Einzug zu erhalten. Bei einer herbstlichen Feier erzählt sein Nebenbuhler Brom Bones die Geschichte eines Reiters ohne Kopf, der in den Wäldern von Sleepy Hollow sein Umwesen treiben soll. Und – wie könnte es anders sein – auf dem Heimweg wird Ichabod tatsächlich von der schaurigen Gestalt gejagt, danach ward er nie wieder gesehen.
Jene Jagd hat bis heute das Potenzial, Kinder zu verängstigen. In expressionistischen Bildern wird der Auftritt des kopflosen Reiters selbst im Kinderfilm-Look zum gezeichneten Albtraum, mit einem Kürbis unter dem Arm jagt er den Lehrer durch einen finsteren Wald. Die irrwitzige Verfolgungsjagd inspirierte den Filmemacher Tim Burton ganze fünfzig Jahre später, seine eigene Verfilmung „Sleepy Hollow“ in die Kinos zu bringen. Doch schon der Teil davor, jetzt nicht mehr von Basil Rathbone, sondern von Bing Crosby aus dem Off erzählt, ist formidabel: Drei Musical-Einlagen erzählen, wie Ichabod Crane in die kleine Stadt einzieht, sich in Katrina verguckt (und in Wahrheit nur – ähnlich manisch wie Taddäus Kröte seine Besitzgüter – das Vermögen ihrer reichen Familie auf besessene Weise begehrt) und vom schicksalsträchtigen Abend, an dem Brom Bones die Schauergeschichte vom kopflosen Reiter erzählt. Der dort von Crosby gesungene Song „Headless Horseman“ wäre vor Veröffentlichung beinahe herausgeschnitten worden, galt als zu düster für einen Kinderfilm. Es dauerte bis 1996, ehe ein Disney-Lied wieder so finster klang: Damals sang der schurkische Frollo aus „Der Glöckner von Notre Dame“ sein „Hellfire“ – zu einer Melodie, die stark an „Headless Horseman“ angelehnt war.
Beim storchenbeinigen Ichabod Crane verzichtet der artistisch bemerkenswerte elfte Spielfilm der Walt Disney Company gänzlich darauf, ihn sympathisch zu zeichnen. Aus seinen unehrenhaften Motiven gegenüber Katrina macht der Film keinen Hehl. Eine so wenig liebenswerte Hauptfigur sollte es in der Zukunft von Disney, die 1950 mit "Cinderella" vom Anthologie-Weg abkamen und damit einen langersehnten Hit landeten, nie wieder geben. Und dementsprechend bekommt Ichabod auch kein Happy End, welches er ohnehin nicht verdient hätte. Ein solches erlebt nur der Zuschauer, der mitansehen durfte, wie „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“ handwerklich herausragende Trickfilm-Unterhaltung für alle Altersstufen bietet und dabei auch noch zwei Literaturklassikern gerecht wird.
In der Filmwelt steht ein Wort alleine für märchenhafte Welten, für träumerische Geschichten und für Millionen von glänzenden Kinderaugen: Disney. Benannt nach ihrem Schöpfer, dem Trickfilm-Pionier Walt Disney, ist die Filmschmiede hinter Micky Maus eine feste Institution in Hollywood, aber auch in Kinderzimmern auf der ganzen Welt. Doch während der 1940er schien es fast, als sei das zu diesem Zeitpunkt erst knapp zwanzig Jahre junge Studio bereits am Ende. Im Zweiten Weltkrieg arbeiteten bis zu 700 Mitarbeiter der US-Flugabwehr in den Disney-Studios. Im staatlichen Interesse mussten die Filmemacher Propaganda-Cartoons entwickeln. Mit Trickfilmen à la „Bambi“ oder „Dumbo“ war im Kino kein Geld zu verdienen. Aufgrund des fehlenden Budgets griff man zu einer Notlösung: Mehrere gezeichnete Kurzfilme wurden zu abendfüllenden Spielfilmen zusammengeschnitten.
Diese sogenannten Anthologien sind im Disney-Kanon längst in Vergessenheit geraten. So sehr sie damals erfolgreich die Kosten des Unternehmens senkten, so schwach war oft auch ihre Qualität. Einen übergreifenden Handlungsbogen hatten die Cartoon-Collagen nicht, sodass sie eher als Kuriosität der Disney-Historie gelten. Doch auch in dieser unrühmlichen Epoche des Studios versteckt sich eine Perle: „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“. Erschienen ist der 65-minütige Trickfilm im Jahr 1949, war damit der sechste und letzte der Anthologie-Filme. Erzählt werden in zwei Segmenten zwei Klassiker der Literaturgeschichte: „Das Erlebnis von Taddäus Kröte“ basiert auf dem britischen Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame, während „Das Abenteuer von Ichabod und dem kopflosen Reiter“ den vielleicht ältesten Mythos der Vereinigten Staaten von Amerika verfilmt: „Die Sage von der schläfrigen Schlucht“, eher bekannt als „Sleepy Hollow“, eine Kurzgeschichte des Schriftstellers Washington Irving.
Eine inhaltliche Klammer, ein übergeordnetes Thema, welches die zwei je halbstündigen Filme miteinander verbindet, gibt es streng genommen nicht. Wie bei den Anthologie-Vorgängern scheint auch hier die Zusammenstellung bloße Willkür zu sein. Ganz so einfach ist es jedoch kaum: Beide Hauptfiguren, sowohl Taddäus Kröte als auch Ichabod Crane, sind in letzter Konsequenz Besessene, und werden für ihre Ignoranz und Selbstgenügsamkeit bestraft. Außerdem sind beide Geschichten eine ungewöhnliche Wahl für einen Film der Marke Disney, welche heute vor allem für geschliffenes Entertainment für die ganze Familie bekannt ist. Denn beide Segmente erzählen im Kern erwachsene, durchaus auch düstere Geschichten, die trotz ihrer kindgerechten Aufmachung ihr Wesen nicht verleugnen.
Eröffnet wird der Film, bei dem die Zeichentrick-Künstler James Algar, Clyde Geronimi und Jack Kinney als Regisseure angegeben sind, von Realaufnahmen einer edlen Bibliothek. Aus dem Off ertönt im Originalton die Stimme des legendären Sherlock-Holmes-Darstellers Basil Rathbone. Er stellt die These auf, dass es sich bei einer Kröte um die wohl bemerkenswerteste Figur der britischen Literaturgeschichte handelt. Von hieran beginnt der erste Kurzfilm, der die Geschichte aus „Der Wind in den Weiden“ gekürzt, aber weitgehend originalgetreu adaptiert. Taddäus Kröte ist ein Adrenalin-Junkie, der sich mit den tollsten Reichtümern umgibt und jeder wilden Idee nachjagt – sehr zum Ärger seiner Freunde Meister Dachs, Ratte und Maulwurf Mauli. Als er zum ersten Mal ein Automobil erspäht, will er es unbedingt besitzen – und fällt auf eine fiese Betrüger-Bande herein, landet schlussendlich im Gefängnis.
Schon ein Jahrzehnt zuvor wollten die Macher „Der Wind in den Weiden“ verfilmen, und der Kurzfilm begeistert von Beginn an mit fantastischen Zeichnungen, deren detailreich gepinselte Figuren, Bewegungen und Hintergrunde eine beeindruckende Leistung ihrer Zeit sind. Die aufwendige Einführung der Taddäus-Figur präsentiert sich in einer Musical-Nummer, die zum Besten gehört, was das Medium Zeichentrick bis dato hervorbrachte. Zudem begeistert die Darstellung der Besessenheit ungemein: Als Taddäus die erste Begegnung mit einem Auto hinter sich hat, werden seine Augen zu farbigen Spiralen, er selbst macht wilde Motorengeräusche, hüpft auf der Straße auf und ab. Die Gesetze und Verhältnisse eines Cartoons sind das ideale Mittel, um die Romanvorlage in ihrer satirischen Deutlichkeit widerzugeben. Wie Grahame arbeitet auch der Film die Kritik am Konsumismus heraus, dem Taddäus Kröte manisch verfallen ist. Ohne Konsumgüter findet er in seinem Leben keine Erfüllung.
In der Charakterzeichnung ist „Das Erlebnis von Taddäus Kröte“ exzellent, und Liebhaber des Genres werden vor allem den spektakulären Schluss genießen. Da holt sich Taddäus, nun ein wenig geläutert, mit der Hilfe seiner Freunde sämtliche Besitztümer von einer frechen Wiesel-Bande zurück. Die lange Sequenz ist ein Musterbeispiel für gelungene Slapstick-Unterhaltung. Insbesondere die spielerische, gekonnt akzentuierte Orchestermusik von Oliver Wallace holt das größtmögliche Maß an Komik aus den Szenen heraus. Viele Passagen waren so einflussreich, dass sie in späteren Filmen erneut zum Einsatz kamen. Die Bewegungsabläufe aus dem Slapstick-Finale tauchten in Disneys „Robin Hood“ 1973 wieder auf, die Wiesel-Schurken waren Vorbilder für die Gegenspieler in „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“, mit dem Robert Zemeckis 1988 eine Hommage an die glorreichen Cartoon-Zeiten veröffentlichte. Auch Taddäus Kröte selbst hatte in dem Film einen Cameo-Auftritt.
Es ist jedoch das zweite Segment, welches „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“ zum elementaren Geheimtipp der Disney-Anthologie-Filme werden lässt. Das Aufeinandertreffen von Ichabod Crane und dem kopflosen Reiter aus Sleepy Hollow gilt, veröffentlicht im Jahre 1820, als eine der ersten Kurzgeschichten der US-Literatur. Darin buhlt der abergläubische Landschulmeister Ichabod um die Hand der schönen Katrina van Tassel, auch, um so in ihre reiche Familie Einzug zu erhalten. Bei einer herbstlichen Feier erzählt sein Nebenbuhler Brom Bones die Geschichte eines Reiters ohne Kopf, der in den Wäldern von Sleepy Hollow sein Umwesen treiben soll. Und – wie könnte es anders sein – auf dem Heimweg wird Ichabod tatsächlich von der schaurigen Gestalt gejagt, danach ward er nie wieder gesehen.
Jene Jagd hat bis heute das Potenzial, Kinder zu verängstigen. In expressionistischen Bildern wird der Auftritt des kopflosen Reiters selbst im Kinderfilm-Look zum gezeichneten Albtraum, mit einem Kürbis unter dem Arm jagt er den Lehrer durch einen finsteren Wald. Die irrwitzige Verfolgungsjagd inspirierte den Filmemacher Tim Burton ganze fünfzig Jahre später, seine eigene Verfilmung „Sleepy Hollow“ in die Kinos zu bringen. Doch schon der Teil davor, jetzt nicht mehr von Basil Rathbone, sondern von Bing Crosby aus dem Off erzählt, ist formidabel: Drei Musical-Einlagen erzählen, wie Ichabod Crane in die kleine Stadt einzieht, sich in Katrina verguckt (und in Wahrheit nur – ähnlich manisch wie Taddäus Kröte seine Besitzgüter – das Vermögen ihrer reichen Familie auf besessene Weise begehrt) und vom schicksalsträchtigen Abend, an dem Brom Bones die Schauergeschichte vom kopflosen Reiter erzählt. Der dort von Crosby gesungene Song „Headless Horseman“ wäre vor Veröffentlichung beinahe herausgeschnitten worden, galt als zu düster für einen Kinderfilm. Es dauerte bis 1996, ehe ein Disney-Lied wieder so finster klang: Damals sang der schurkische Frollo aus „Der Glöckner von Notre Dame“ sein „Hellfire“ – zu einer Melodie, die stark an „Headless Horseman“ angelehnt war.
Beim storchenbeinigen Ichabod Crane verzichtet der artistisch bemerkenswerte elfte Spielfilm der Walt Disney Company gänzlich darauf, ihn sympathisch zu zeichnen. Aus seinen unehrenhaften Motiven gegenüber Katrina macht der Film keinen Hehl. Eine so wenig liebenswerte Hauptfigur sollte es in der Zukunft von Disney, die 1950 mit "Cinderella" vom Anthologie-Weg abkamen und damit einen langersehnten Hit landeten, nie wieder geben. Und dementsprechend bekommt Ichabod auch kein Happy End, welches er ohnehin nicht verdient hätte. Ein solches erlebt nur der Zuschauer, der mitansehen durfte, wie „Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“ handwerklich herausragende Trickfilm-Unterhaltung für alle Altersstufen bietet und dabei auch noch zwei Literaturklassikern gerecht wird.
Für eine Handvoll Gnade
Erbarmungslos
Manchmal ist der Originaltitel eines Films zutreffender als sein deutsches Pendant. „Erbarmungslos“, so heißt der Western, mit dem Clint Eastwood sich 1992 vom Genre verabschiedete, durch welches er zur Ikone wurde. „Erbarmungslos“, das ist ein Charakterzug, der auf viele Charaktere von Clint Eastwood zutrifft, auf seinen Poncho-tragenden Italowestern-Helden aus der „Dollar-Trilogie“ von Sergio Leone oder auf „Dirty Harry“, den abgebrühten Cop aus San Francisco, den er 1971 erstmals unter der Regie von Don Siegel verkörpert. Am Schluss von „Erbarmungslos“ ist ein Grabstein zu sehen, darunter wird eine Widmung eingeblendet: „Für Sergio und Don.“ In Ehren an seine Lehrmeister endet Eastwood, sein Film steht aber als Beweis dafür, was ihn als Filmemacher von seinen Vorbildern unterscheidet. „Erbarmungslos“ waren die Eastwood-Helden von Leone und Siegel, seinen eigenen Protagonisten umschreibt der englische Originaltitel besser: „Unforgiven“, also „Unverziehen“.
William Munny ist der Charakter, den Clint Eastwood für seinen letzten Western-Auftritt wählt. Er ist ein Pistolero vergangener Tage. Einst ein Postkutschendieb und Mörder haben ihn die Liebe weich und die Zeit alt werden lassen. Verwitwet lebt er als Schweinefarmer mit seinen Kindern in einer Zeit, als der Westen langsam die Gestalt einer Zivilisation annahm. Ein junger Reiter klopft an seine Tür, er kennt Munny nur aus Legenden. Er will sich einen Namen machen, und hat ihn bereits eigenmächtig ausgesucht: Scofield Kid. Munny soll ihn in die Kleinstadt Big Whiskey begleiten, um dort 1000 Dollar zu verdienen. Prostituierte haben ein Kopfgeld auf zwei Cowboys ausgesetzt, die einer von ihnen das Gesicht zerschnitten haben. Da seine Schweinezucht finanziell vor dem Ende steht, willigt Munny ein.
Doch Munny trifft bei Schießübungen selbst einfachste Ziele nicht. Auf sein Pferd kann der armselige, greise Mann nur mit viel Mühe steigen. Einen ehemaligen Partner, Ned Logan, bittet er darum, hin und wieder nach seinen Kindern zu sehen. Der hat so viel Mitleid mit ihm, dass er sich dem Recken anschließt. Gemeinsam reiten sie, Clint Eastwood und Morgan Freeman, der den Ned Logan spielt, Seite an Seite im Licht des Sonnenuntergangs, übernachten am Lagerfeuer, erschließen in fantastischen Landschaftsaufnahmen das unbefleckte Amerika. Doch die Westernklischees haben ihren Glanz verloren: Über das Töten spricht Ned wie ein traumatisierter Heimkehrer aus einem bitteren Krieg, Munny kann sich an seine Ruhmestage kaum erinnern. Er war die meiste Zeit betrunken, in seinen Träumen verfolgen ihn seine vielen sinnlosen Opfer. Als Mann ist er nicht länger aktiv, aus Treue zu seiner verstorbenen Frau masturbiert er nicht einmal mehr.
Schnell wird klar, was Munny sich wirklich von seinem Trip erhofft: Vergebung, Absolution von seinen Gräueltaten. Seine Frau liebte ihn, obwohl er ein kaltherziger, ruchloser Mörder gewesen ist. Sie sah etwas in ihm, dass sie lieben konnte. Munny versucht, diesen Mann zu finden, der er in den Augen seiner Frau war. Er hat sich, um mit dem Begriff des Originaltitels zu sprechen, seine Historie des Tötens nie verziehen. Das Töten, bzw. die Nachwehen des Tötens stehen im Zentrum dieses brillanten Films, der zum allerbesten gehört, was in den 1990ern in den Lichtspielhäusern zu sehen war. Eastwood gelingt in „Erbarmungslos“ die vollständige Dekonstruktion seines Leinwandimages als cooler Held mit dem lockeren Colt, aber ihm gelingt auch die Demontage eines Genres. Das Drehbuch des „Blade Runner“-Autoren David Webb Peoples ist eine in ihrer Essenz zutiefst verstörende Tragödie: Es ist die Geschichte eines Mörders, der seinem Wesen entkommen will, aber sich damit nur selbst verleugnet. Er ist dazu verdammt, ein Mörder zu sein, verdient es vielleicht nicht besser.
„Erbarmungslos“ ist einer der finstersten Filme, die das Westerngenre hervorgebracht hat. Kameramann Jack N. Green taucht nahezu alle Bilder fast vollständig in Schwarz, die Musik von Lennie Niehaus erklingt nur in wenigen Szenen. Ein einziges Mal gibt es etwas Licht, wird es kurz humorvoll. Da sitzt ein Brite, formidabel gespielt von Richard Harris, in einem Zug, nebst seinem Biographen, und fabuliert über die Vorzüge der Monarchie. Vor einem König habe man zu viel Ehrfurcht, um ihn zu töten. Einen Präsidenten lässt es sich hingegen leicht ermorden. Der Gentleman ist English Bob, ein Held des Wilden Westens, der selbst am Kopfgeld der Huren interessiert ist. Sein Biograph schreibt über dessen Abenteuer Pulp-Literatur, zum Beispiel über English Bobs Aufeinandertreffen mit Two Gun Corcoran, den er im Duell erlegte. Wie der Autor später erfährt, ist das jedoch alles gelogen: Bob war damals in Wahrheit sturzbesoffen, konnte seinen Gegner nur dank dessen Ladehemmung töten. Die Moral: Die alten Mythen des Westens sind verlogene Träume. Die Helden hat es nie gegeben.
Der Western ist der Heimatfilm der Vereinigten Staaten. Die besten Filme des Genres behandeln die amerikanische Identität, den Kampf alttestamentarischer Gebärden gegen das aufkeimende Korsett der Zivilisation und des Kapitalismus. Schonungslos zeigt dieser Spätwestern den hässlichen Kern des Frontiermythos. Verkörpert wird das im Antagonisten des Films: Little Bill, dem Sheriff von Big Whiskey. Er will verhindern, dass Kopfgeldjäger in seiner Start Jagd auf die Nutten-Schlitzer machen – und verbietet Schusswaffen in der Stadt. Nur er als Repräsentant des Gesetzes darf noch einen Revolver tragen. In diesem Plot liegt weitaus mehr verborgen als die Skepsis des bekennenden Republikaners Clint Eastwood über Waffenverbote und Gewaltmonopole. 1992 erschien „Erbarmungslos“ kurz nach dem Golfkrieg von George Bush – und das Gebaren der selbsternannten Weltpolizei USA entpuppt sich urplötzlich als Erbe des Wilden Westen.
Little Bill ist eine der faszinierendsten Figuren, die das postmoderne Kino hervorgebracht hat. Auch er ist ein ehemaliger Kopfgeldjäger wie William Munny, doch auf der Seite des Gesetzes kann er durch Gesetze geschützt weitermorden. Zwei Männer prügelt er fast tot, um den Frieden der Stadt zu wahren. Wie Munny träumt er von einem Leben ohne Gewalt: In der Natur zimmert er sich eine erbärmliche, schief geratene Hütte, über die ganz Big Whiskey lacht. Gene Hackman gewann für seine Darstellung von Little Bill den Oscar und trumpft einmalig gut auf: Fast eingeschnappt wirkt er, als jemand seine Fähigkeiten als Tischler kritisiert, überzeugt gibt er den „Herrscher“ über die Stadt. In einer erschütternden Szene wird er gar zur dämonischen Verkörperung des korrumpierten Rechts: Mit einer Peitsche misshandelt er den Charakter von Morgan Freeman, und wie diese unerträgliche Szene durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle gefilmt wird, weckt Assoziationen an die Ära des Ku-Klux-Klans. Vor dem Hintergrund der Unruhen in Los Angeles 1992, als weiße Polizisten mit der Misshandlung des Afroamerikaners Rodney King ungeschoren davonkamen, gelingt Eastwood ein unter die Haut gehendes Exempel für filmischen Revisionismus.
Sein Meisterwerk ist ein Film voll brutaler Ruhe, in der das Akt des Tötens existenziell wirkt. Als das zentrale Trio einen der zwei Cowboys tödlich verwundet, sitzen sie alle in ihrer Deckung und hören dem schreienden Opfer beim Aushauchen seines Lebens zu. Als Scofield Kid schließlich zum ersten Mal selbst tötet, wird er damit nicht fertig – und greift zum Alkohol. Big Whiskey, der Name des Kaffs, in dem ein Großteil des Plots spielt, ist nicht zufällig gewählt. In „Erbarmungslos“ trinken die Männer, um morden zu können – und trinken, um ihre Taten zu verarbeiten. Den ganzen Film über entsagt Munny dem Alkohol, doch als er Kid schließlich die Flasche ab- und einen großen Schluck nimmt, weiß der Zuschauer auch dank der perfektionierten spartanischen Mimik des ikonischen Darstellers Clint Eastwood: Der Rausch des Tötens hat wieder von ihm Besitz ergriffen. Er hat sein inneres Monster akzeptiert.
Ironischerweise hat der Ausnahme-Künstler Eastwood mit diesem entmythologisierenden Western seinen eigenen Mythos genährt: Als Schauspieler, Regisseur und Produzent schuf er ein famoses, reflektiertes und melancholisches Epos, entkam mit einem Film über Männer, die ihrer Vergangenheit nicht entkommen, seiner Vergangenheit als coolster Gunslinger des Kinos. Das obligatorische finale Duell von „Erbarmungslos“ hat nichts Erbauendes. William Munny rettet nicht bei tiefhängender Sonne die Schwachen vor den Starken, auch seine Rache für den getöteten Ned ist nur faule Ausrede: Er richtet im strömenden Regen ein Massaker an Little Bill und dessen Deputys an. Dann kehrte er ganz wie Clint Eastwood dem Western den Rücken zu, und zieht mit seinen Kindern nach San Francisco. Doch sein Film entlarvt auch diese Flucht als scheinheilig. Erst als Munny zum Schluss wieder der Massenmörder vergangener Tage geworden ist, lässt Eastwood zynisch im Hintergrund die US-Flagge wehen. Denn – so die Kernaussage seines Films – wie sehr sich die USA auch anstrengen, ihre Historie zu verdrängen, bleibt sie dennoch unverziehen, bzw.: Unforgiven.
Manchmal ist der Originaltitel eines Films zutreffender als sein deutsches Pendant. „Erbarmungslos“, so heißt der Western, mit dem Clint Eastwood sich 1992 vom Genre verabschiedete, durch welches er zur Ikone wurde. „Erbarmungslos“, das ist ein Charakterzug, der auf viele Charaktere von Clint Eastwood zutrifft, auf seinen Poncho-tragenden Italowestern-Helden aus der „Dollar-Trilogie“ von Sergio Leone oder auf „Dirty Harry“, den abgebrühten Cop aus San Francisco, den er 1971 erstmals unter der Regie von Don Siegel verkörpert. Am Schluss von „Erbarmungslos“ ist ein Grabstein zu sehen, darunter wird eine Widmung eingeblendet: „Für Sergio und Don.“ In Ehren an seine Lehrmeister endet Eastwood, sein Film steht aber als Beweis dafür, was ihn als Filmemacher von seinen Vorbildern unterscheidet. „Erbarmungslos“ waren die Eastwood-Helden von Leone und Siegel, seinen eigenen Protagonisten umschreibt der englische Originaltitel besser: „Unforgiven“, also „Unverziehen“.
William Munny ist der Charakter, den Clint Eastwood für seinen letzten Western-Auftritt wählt. Er ist ein Pistolero vergangener Tage. Einst ein Postkutschendieb und Mörder haben ihn die Liebe weich und die Zeit alt werden lassen. Verwitwet lebt er als Schweinefarmer mit seinen Kindern in einer Zeit, als der Westen langsam die Gestalt einer Zivilisation annahm. Ein junger Reiter klopft an seine Tür, er kennt Munny nur aus Legenden. Er will sich einen Namen machen, und hat ihn bereits eigenmächtig ausgesucht: Scofield Kid. Munny soll ihn in die Kleinstadt Big Whiskey begleiten, um dort 1000 Dollar zu verdienen. Prostituierte haben ein Kopfgeld auf zwei Cowboys ausgesetzt, die einer von ihnen das Gesicht zerschnitten haben. Da seine Schweinezucht finanziell vor dem Ende steht, willigt Munny ein.
Doch Munny trifft bei Schießübungen selbst einfachste Ziele nicht. Auf sein Pferd kann der armselige, greise Mann nur mit viel Mühe steigen. Einen ehemaligen Partner, Ned Logan, bittet er darum, hin und wieder nach seinen Kindern zu sehen. Der hat so viel Mitleid mit ihm, dass er sich dem Recken anschließt. Gemeinsam reiten sie, Clint Eastwood und Morgan Freeman, der den Ned Logan spielt, Seite an Seite im Licht des Sonnenuntergangs, übernachten am Lagerfeuer, erschließen in fantastischen Landschaftsaufnahmen das unbefleckte Amerika. Doch die Westernklischees haben ihren Glanz verloren: Über das Töten spricht Ned wie ein traumatisierter Heimkehrer aus einem bitteren Krieg, Munny kann sich an seine Ruhmestage kaum erinnern. Er war die meiste Zeit betrunken, in seinen Träumen verfolgen ihn seine vielen sinnlosen Opfer. Als Mann ist er nicht länger aktiv, aus Treue zu seiner verstorbenen Frau masturbiert er nicht einmal mehr.
Schnell wird klar, was Munny sich wirklich von seinem Trip erhofft: Vergebung, Absolution von seinen Gräueltaten. Seine Frau liebte ihn, obwohl er ein kaltherziger, ruchloser Mörder gewesen ist. Sie sah etwas in ihm, dass sie lieben konnte. Munny versucht, diesen Mann zu finden, der er in den Augen seiner Frau war. Er hat sich, um mit dem Begriff des Originaltitels zu sprechen, seine Historie des Tötens nie verziehen. Das Töten, bzw. die Nachwehen des Tötens stehen im Zentrum dieses brillanten Films, der zum allerbesten gehört, was in den 1990ern in den Lichtspielhäusern zu sehen war. Eastwood gelingt in „Erbarmungslos“ die vollständige Dekonstruktion seines Leinwandimages als cooler Held mit dem lockeren Colt, aber ihm gelingt auch die Demontage eines Genres. Das Drehbuch des „Blade Runner“-Autoren David Webb Peoples ist eine in ihrer Essenz zutiefst verstörende Tragödie: Es ist die Geschichte eines Mörders, der seinem Wesen entkommen will, aber sich damit nur selbst verleugnet. Er ist dazu verdammt, ein Mörder zu sein, verdient es vielleicht nicht besser.
„Erbarmungslos“ ist einer der finstersten Filme, die das Westerngenre hervorgebracht hat. Kameramann Jack N. Green taucht nahezu alle Bilder fast vollständig in Schwarz, die Musik von Lennie Niehaus erklingt nur in wenigen Szenen. Ein einziges Mal gibt es etwas Licht, wird es kurz humorvoll. Da sitzt ein Brite, formidabel gespielt von Richard Harris, in einem Zug, nebst seinem Biographen, und fabuliert über die Vorzüge der Monarchie. Vor einem König habe man zu viel Ehrfurcht, um ihn zu töten. Einen Präsidenten lässt es sich hingegen leicht ermorden. Der Gentleman ist English Bob, ein Held des Wilden Westens, der selbst am Kopfgeld der Huren interessiert ist. Sein Biograph schreibt über dessen Abenteuer Pulp-Literatur, zum Beispiel über English Bobs Aufeinandertreffen mit Two Gun Corcoran, den er im Duell erlegte. Wie der Autor später erfährt, ist das jedoch alles gelogen: Bob war damals in Wahrheit sturzbesoffen, konnte seinen Gegner nur dank dessen Ladehemmung töten. Die Moral: Die alten Mythen des Westens sind verlogene Träume. Die Helden hat es nie gegeben.
Der Western ist der Heimatfilm der Vereinigten Staaten. Die besten Filme des Genres behandeln die amerikanische Identität, den Kampf alttestamentarischer Gebärden gegen das aufkeimende Korsett der Zivilisation und des Kapitalismus. Schonungslos zeigt dieser Spätwestern den hässlichen Kern des Frontiermythos. Verkörpert wird das im Antagonisten des Films: Little Bill, dem Sheriff von Big Whiskey. Er will verhindern, dass Kopfgeldjäger in seiner Start Jagd auf die Nutten-Schlitzer machen – und verbietet Schusswaffen in der Stadt. Nur er als Repräsentant des Gesetzes darf noch einen Revolver tragen. In diesem Plot liegt weitaus mehr verborgen als die Skepsis des bekennenden Republikaners Clint Eastwood über Waffenverbote und Gewaltmonopole. 1992 erschien „Erbarmungslos“ kurz nach dem Golfkrieg von George Bush – und das Gebaren der selbsternannten Weltpolizei USA entpuppt sich urplötzlich als Erbe des Wilden Westen.
Little Bill ist eine der faszinierendsten Figuren, die das postmoderne Kino hervorgebracht hat. Auch er ist ein ehemaliger Kopfgeldjäger wie William Munny, doch auf der Seite des Gesetzes kann er durch Gesetze geschützt weitermorden. Zwei Männer prügelt er fast tot, um den Frieden der Stadt zu wahren. Wie Munny träumt er von einem Leben ohne Gewalt: In der Natur zimmert er sich eine erbärmliche, schief geratene Hütte, über die ganz Big Whiskey lacht. Gene Hackman gewann für seine Darstellung von Little Bill den Oscar und trumpft einmalig gut auf: Fast eingeschnappt wirkt er, als jemand seine Fähigkeiten als Tischler kritisiert, überzeugt gibt er den „Herrscher“ über die Stadt. In einer erschütternden Szene wird er gar zur dämonischen Verkörperung des korrumpierten Rechts: Mit einer Peitsche misshandelt er den Charakter von Morgan Freeman, und wie diese unerträgliche Szene durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle gefilmt wird, weckt Assoziationen an die Ära des Ku-Klux-Klans. Vor dem Hintergrund der Unruhen in Los Angeles 1992, als weiße Polizisten mit der Misshandlung des Afroamerikaners Rodney King ungeschoren davonkamen, gelingt Eastwood ein unter die Haut gehendes Exempel für filmischen Revisionismus.
Sein Meisterwerk ist ein Film voll brutaler Ruhe, in der das Akt des Tötens existenziell wirkt. Als das zentrale Trio einen der zwei Cowboys tödlich verwundet, sitzen sie alle in ihrer Deckung und hören dem schreienden Opfer beim Aushauchen seines Lebens zu. Als Scofield Kid schließlich zum ersten Mal selbst tötet, wird er damit nicht fertig – und greift zum Alkohol. Big Whiskey, der Name des Kaffs, in dem ein Großteil des Plots spielt, ist nicht zufällig gewählt. In „Erbarmungslos“ trinken die Männer, um morden zu können – und trinken, um ihre Taten zu verarbeiten. Den ganzen Film über entsagt Munny dem Alkohol, doch als er Kid schließlich die Flasche ab- und einen großen Schluck nimmt, weiß der Zuschauer auch dank der perfektionierten spartanischen Mimik des ikonischen Darstellers Clint Eastwood: Der Rausch des Tötens hat wieder von ihm Besitz ergriffen. Er hat sein inneres Monster akzeptiert.
Ironischerweise hat der Ausnahme-Künstler Eastwood mit diesem entmythologisierenden Western seinen eigenen Mythos genährt: Als Schauspieler, Regisseur und Produzent schuf er ein famoses, reflektiertes und melancholisches Epos, entkam mit einem Film über Männer, die ihrer Vergangenheit nicht entkommen, seiner Vergangenheit als coolster Gunslinger des Kinos. Das obligatorische finale Duell von „Erbarmungslos“ hat nichts Erbauendes. William Munny rettet nicht bei tiefhängender Sonne die Schwachen vor den Starken, auch seine Rache für den getöteten Ned ist nur faule Ausrede: Er richtet im strömenden Regen ein Massaker an Little Bill und dessen Deputys an. Dann kehrte er ganz wie Clint Eastwood dem Western den Rücken zu, und zieht mit seinen Kindern nach San Francisco. Doch sein Film entlarvt auch diese Flucht als scheinheilig. Erst als Munny zum Schluss wieder der Massenmörder vergangener Tage geworden ist, lässt Eastwood zynisch im Hintergrund die US-Flagge wehen. Denn – so die Kernaussage seines Films – wie sehr sich die USA auch anstrengen, ihre Historie zu verdrängen, bleibt sie dennoch unverziehen, bzw.: Unforgiven.
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Hast du die Bewertung evtl. vergessen?
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Ich bin kein großer Freund von den Punkten, um ehrlich zu sein. Es fällt mir immer schwieriger, die noch zu vergeben, daher lasse ich sie zumeist weg – zumal sie hinsichtlich einer Art Vergleichbarkeit nur wenig taugen. Aus meinen Texten liest sich aber (hoffentlich) heraus, ob ich einen Film mies, schwach, ok, gut oder toll fand. :)
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
ok, muss jeder selbst wissen..ich finde sie ganz sinnvoll für einen Schnell-Überblick, weil man ja nicht immer gleich nen halbes Buch lesen möchte ;) Deshalb finde ich es hilfreich, selbst wenn die Vergleichbarkeit in der Tat ein Problem ist manchmal ;) Und die Punktebewertung vor allem auch oft tagesformabhängig ist, zumindest ist das bei mir so, dass ich z. B. an einem bescheidenen Film einen Film natürlich besonders zu schätzen weiß, der mich einfach in irgendeiner Form glücklich gemacht oder positiv berührt, etc. hat
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Mich treibt eigentlich eine andere Frage um: Schreibst du diese "Monster" eigentlich nur für das Forums'Tagebuch, oder werden die auch anderweitig veröffentlicht???
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Ich bin in mehreren Internet-Foren unterwegs und je nachdem, welcher Film es ist und wie zufrieden ich mit dem Text bin, poste ich sie auch dort. Anderweitig bzw. außerhalb kleiner Internet-Foren veröffentliche ich die allerdings nicht. Ich mag aber diese Filmtagebuch-Idee hier, weil man so auch mal Texte zu Filmen anbieten kann, für die sich sonst kein Schwein interessiert, siehe weiter oben: "Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte".Nachtwaechter hat geschrieben: ↑02.02.2021, 20:01Schreibst du diese "Monster" eigentlich nur für das Forums'Tagebuch, oder werden die auch anderweitig veröffentlicht?
Das ist sicherlich richtig. Ich stehle mich aber wie gesagt gerne davon, weil ich mir stark abgewöhnt habe, in Punkten zu denken - und dir gar nicht sagen könnte, was für mich ein 7 oder 8 oder 9 Punkte Film genau wäre. Das ist imo viel beliebiger als ein erklärender, argumentativer Text, auch wenn man sicher nicht immer Zeit und Muße hat, sich durch diese durchzuquälen.
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Dann solte eine Plattform wie letterboxd genau dein Ding sein!Wallnuss hat geschrieben: ↑02.02.2021, 21:52Ich bin in mehreren Internet-Foren unterwegs und je nachdem, welcher Film es ist und wie zufrieden ich mit dem Text bin, poste ich sie auch dort. Anderweitig bzw. außerhalb kleiner Internet-Foren veröffentliche ich die allerdings nicht. Ich mag aber diese Filmtagebuch-Idee hier, weil man so auch mal Texte zu Filmen anbieten kann, für die sich sonst kein Schwein interessiert, siehe weiter oben: "Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte".Nachtwaechter hat geschrieben: ↑02.02.2021, 20:01Schreibst du diese "Monster" eigentlich nur für das Forums'Tagebuch, oder werden die auch anderweitig veröffentlicht?
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Süßwaren-Märchen ohne Karies-Gefahr
Charlie und die Schokoladenfabrik
Den meisten Kinderbüchern wohnt ein pädagogischer Holzhammer inne. Schon die Märchengeschichten von vor mehreren Jahrhunderten dienten letztlich der Erziehung des eigenen Nachwuchses. Zum Glück spielen da nicht alle Schriftsteller mit: Der Waliser Roald Dahl schrieb Kinderbücher auf Augenhöhe mit seiner Zielgruppe, schlug sich stets auf die Seite der unglücklichen Kleinen. Seinen Helden Charlie Bucket führt er in „Charlie und die Schokoladenfabrik“ so ein: „Charlie war der glücklichste Junge auf der Welt. Er wusste es nur noch nicht.“ In der Tat: Zu Beginn sieht es für den Knaben nicht gut aus: Mit Mama, Papa und seinen vier Großeltern lebt er in einem kleinen Haus am Existenzminimum, hat kaum Essen auf dem Teller. Zum Geburtstag gibt es kein Spielzeug, keine großen Geschenke, sondern nur eine Tafel Schokolade.
Im Jahr 1971, sieben Jahre nach Veröffentlichung des Buches, wurde Dahls vielleicht bekanntestes Buch ein erstes Mal verfilmt – und in den USA zum Kult. Doch er schimpfte über das Musical mit Gene Wilder als Schokoladenfabrikanten Willy Wonka. Die süßliche Inszenierung des Regisseurs Mel Stuart war ihm zu soft. Es fehlten die traurigen und sardonischen Elemente. Er zog seine Konsequenzen, verkaufte nie die Adaptionsrechte für die Fortsetzung „Charlie und der gläserne Fahrstuhl“. Hätte er bis 2005 gelebt, hätte er diese Meinung vielleicht überdacht. Denn für die Neuverfilmung von „Charlie und die Schokoladenfabrik“ nahm ein Filmemacher auf dem Regiestuhl Platz, der nicht nur zu den visionärsten Künstlern der US-Filmgeschichte gehört, sondern Dahls Vorliebe für Außenseiter, für verschrobene Welten und für die Macht der kindlichen Phantasie teilt. Auftritt: Tim Burton.
Der eröffnet seine Version des Klassikers nicht mit bunten Farben oder idyllischen Bildern, sondern so, wie es Dahl gefallen hätte: Mit grauen Schornsteinen einer winterlich verschneiten Fabrik. Die Kamera fährt zur gespenstischen Musik seines Stammkomponisten Danny Elfman in eins der Rohre. Im Innern werden hunderttausende Tafeln Schokolade verarbeitet und von Fließbändern durch die Gegend befördert. Eine Hand in einem lilafarbenen Handschuh durchbricht die visuelle Tristesse – und verteilt je eine goldene Eintrittskarte willkürlich auf fünf verschiedene Schokotafeln. Die Hand ist die von Willy Wonka und jede der Karten berechtigen ihren Finder, einen Tag lang die geheime Fabrik des Chocolatiers zu besichtigen. Normalerweise hat hier niemand Zutritt, um Industriespione fernzuhalten. Man erzählt sich die tollsten Geschichten über Wonka. Einmal soll er in Indien einem Sultan einen Palast ganz aus Schokolade gebaut haben.
Tim Burton ist es über mehrere Jahrzehnte gelungen, mit eigensinniger Note emotionale Popcorn-Unterhaltung und handwerklich brillante und tiefsinnige Filmkunst unter einen Hut zu kriegen. Damit ist er die perfekte Wahl für „Charlie und die Schokoladenfabrik“, vereint doch kaum ein anderer Filmemacher so mühelos das Komische mit dem Bizarren. Allein das löcherige, schiefgebaute Haus, in dem Charlie und seine Familie leben, ist eine kreative Kulisse, die andere Fantasy-Filme erblassen lässt. In einer halbstündigen Prolog-Sequenz zeigt er das traurige und graue Leben von Charlie Bucket im blitzschnellen Wechsel mit der Einführung der Kinder, welche an die goldenen Tickets von Willy Wonka gelangen. Einer von ihnen ist ein verfressener deutscher Junge, der in der bayerischen Version von Düsseldorf lebt. Ein weiterer ist Videospiel-süchtig, während die zwei weiblichen Gewinnerkinder so verwöhnt wie arrogant auftreten. Sie alle werden von der Presse begeistert geknipst, stolz stehen die Eltern hinter ihnen.
Als Charlie endlich die entscheidende Tafel Schokolade hat, gibt es für ihn erstmals Grund zu Freude. Er hat – natürlich – das letzte goldene Ticket, und es ist Jungschauspieler Freddie Highmore zu verdanken, dass in dieser Sekunde dem Zuschauer ganz warm ums Herz werden kann. Doch die große Explosion kommt erst: In der Fabrik treffen die Kinder auf Willy Wonka, den Burton mit seinem Lieblingsschauspieler Johnny Depp besetzt hat. Es ist ihre vierte Zusammenarbeit. Depp, mit hysterischer Piepsstimme und bleich-geschminkter Haut, spielt seinen psychopathischen, latent-sadistischen Schokoladen-Fabrikanten auf großartige Weise als Gothic-Zwitter aus Michael Jackson und Howard Hughes. Als er die Tür zur Fabrik öffnet, zitiert Burton den legendären Film „Der Zauberer von Oz“. Bei dem waren einst alle Szenen in der Realität nicht grau, sondern gleich ohne Farbe gefilmt, erst im zauberhaften Land wurde es quietschbunt. So auch hier: Grüne, essbare Wiesen, braune Flüsse voll Schokolade, pinke Wikingerboote aus Lakritze und ein Raum voll domestizierter, nach Zeitplan arbeitender Eichhörnchen sprengen die Grenzen des Erwarteten.
Von nun an ist Burton nicht zu bremsen: Der prächtig inszenierte und entwaffnend schlichte Film bietet eine kuriose Idee nach der nächsten, und wird vollends zur verschwenderischen Johnny-Depp-Freakshow: Auf die Frage eines Kindes, ob wirklich alles in der Fabrik essbar sei, antwortet er gruselig: „Natürlich. Sogar ich bin essbar. Aber das nennt man Kannibalismus und wird in den meisten Gesellschaften nicht gerne gesehen.“ Seine Fabrikarbeiter entpuppen sich als Oompa Loompas: Tausende importierte liliputanische Arbeitskräfte, die Wonka aus einem südlichen Land zu sich holte, und mit Kakaobohnen bezahlt. Schon in der Vorlage sind diese Wesen nicht unproblematisch, warf man Dahl doch Rassismus und Verharmlosung der Kolonialgeschichte Afrikas vor. Burton bleibt aller Kritik zum Trotz dicht am Original: Ein einziger Schauspieler, der Kenianer Deep Roy, spielt sämtliche Oompa Loompas.
Wer das Buch kennt, weiß wie es weitergeht: Nach und nach fallen die vier missratenen Bälger ihren Schwächen zum Opfer. Sie zeigen sich vorlaut und frech, und werden dafür bestraft, zu riesigen Blaubeeren aufgeblasen oder in den Müllschlucker geworfen. Die famose Darstellung dieser schonungslosen Verläufe vor exzentrischer Kulisse toppt Burton zusätzlich durch Musical-Einlagen, in denen die Oompa Loompas mit Häme über die Kinder ablästern und dabei munter die Genres wechseln, vom Broadway-Gesang bis zur Beatles-Parodie. Die Verszeilen sind direkt Dahls Buch entnommen. Selbstzweck ist das nicht: Burton behält die Moral der Vorlage im Auge. „Die Eltern sind die Schuldigen“, singen die zwerghaften Billigarbeiter (mit der Stimme von Elfman, nicht von Roy), und verdeutlichen, dass die Kinder nur zu diesen unsozialen, bestialischen Charakteren wurden, weil ihre Eltern ihnen jede Liebe verweigerten – und sie so ihre Phantasie verloren haben.
Dasselbe kann man über Tim Burton ganz und gar nicht sagen. Er setzt von Computereffekten bis hin zu wahnsinnigen Videoclip-Montagen jedes Mittel ein, um „Charlie und die Schokoladenfabrik“ zum cineastischen Fest zu machen. In der verrücktesten Szene, in welcher der Ego-Shooter-Nerd Mike Teavee auf Wonkas modernste TV-Erfindungen trifft, mit denen sich der Zuschauer in die Mattscheibe hineinbeamen kann, probiert der Junge das sofort aus – und landet in „2001: Odyssee im Weltraum“, dem Sci-Fi-Filmmeisterwerk von Stanley Kubrick. Der Monolith, ein rechteckiger Stein, der dort die Fortschritte der Menschheit und die Inspiration ganzer Zivilisationen symbolisiert, wird bei Burton ebenso symbolträchtig durch eine Tafel Schokolade ersetzt. Ganz entkommt er dem Konservativismus der Vorlage aber nicht: So liebevoll er hier seine Leidenschaft fürs Kino zelebriert, so unpassend wirkt die Moral der Szene, wenn durch die singenden Oompa Loompas das Fernsehen zur Verblödungsmaschine für Kinder erklärt wird.
Am Ende ist es auch der Vorlage geschuldet, dass ausgerechnet Charlie ab dem Eintritt in die Schokoladenfabrik nur noch als Staffage im Hintergrund herumsteht. Er ist ein passiver Held, der durch seine Bescheidenheit und für sein Nichtstun belohnt wird. Burton findet jedoch einen intelligenten Weg, den „glücklichsten Jungen der Welt“ im letzten Akt wieder ins Zentrum zu rücken. Regelmäßig zeigt er Rückblenden, die im freudschen Sinne Wonkas Kindheit aufarbeiten. In ihnen bekommt sogar Horror-Legende Christopher Lee als dämonischer Zahnarzt-Vater einen Gastauftritt. Anders als im Roman hat Charlie so nach seinem Gewinn die Aufgabe, Wonka mit seinem Vater zu versöhnen und ihn aus seiner Einsamkeit zu befreien.
Wenn sich dann alles im zartbitteren, feinfühligen Epilog ausgeht, scheint die Filmgeschichte mit Roald Dahl versöhnt. Sein radikales Märchen hat endlich originalgetreu den Weg aufs Zelluloid gefunden, sein Plädoyer ist nach über 40 Jahren auch dort noch gültig: Kinder brauchen Liebe und Fürsorge, um sie an andere weitergeben zu können. Und dabei müssen sie auch mal ihre Fantasie nutzen und kindisch sein dürfen. Wie sagt Charlie selbst im Film? „Süßigkeiten müssen keinen Sinn ergeben. Deshalb sind es ja Süßigkeiten.“
Den meisten Kinderbüchern wohnt ein pädagogischer Holzhammer inne. Schon die Märchengeschichten von vor mehreren Jahrhunderten dienten letztlich der Erziehung des eigenen Nachwuchses. Zum Glück spielen da nicht alle Schriftsteller mit: Der Waliser Roald Dahl schrieb Kinderbücher auf Augenhöhe mit seiner Zielgruppe, schlug sich stets auf die Seite der unglücklichen Kleinen. Seinen Helden Charlie Bucket führt er in „Charlie und die Schokoladenfabrik“ so ein: „Charlie war der glücklichste Junge auf der Welt. Er wusste es nur noch nicht.“ In der Tat: Zu Beginn sieht es für den Knaben nicht gut aus: Mit Mama, Papa und seinen vier Großeltern lebt er in einem kleinen Haus am Existenzminimum, hat kaum Essen auf dem Teller. Zum Geburtstag gibt es kein Spielzeug, keine großen Geschenke, sondern nur eine Tafel Schokolade.
Im Jahr 1971, sieben Jahre nach Veröffentlichung des Buches, wurde Dahls vielleicht bekanntestes Buch ein erstes Mal verfilmt – und in den USA zum Kult. Doch er schimpfte über das Musical mit Gene Wilder als Schokoladenfabrikanten Willy Wonka. Die süßliche Inszenierung des Regisseurs Mel Stuart war ihm zu soft. Es fehlten die traurigen und sardonischen Elemente. Er zog seine Konsequenzen, verkaufte nie die Adaptionsrechte für die Fortsetzung „Charlie und der gläserne Fahrstuhl“. Hätte er bis 2005 gelebt, hätte er diese Meinung vielleicht überdacht. Denn für die Neuverfilmung von „Charlie und die Schokoladenfabrik“ nahm ein Filmemacher auf dem Regiestuhl Platz, der nicht nur zu den visionärsten Künstlern der US-Filmgeschichte gehört, sondern Dahls Vorliebe für Außenseiter, für verschrobene Welten und für die Macht der kindlichen Phantasie teilt. Auftritt: Tim Burton.
Der eröffnet seine Version des Klassikers nicht mit bunten Farben oder idyllischen Bildern, sondern so, wie es Dahl gefallen hätte: Mit grauen Schornsteinen einer winterlich verschneiten Fabrik. Die Kamera fährt zur gespenstischen Musik seines Stammkomponisten Danny Elfman in eins der Rohre. Im Innern werden hunderttausende Tafeln Schokolade verarbeitet und von Fließbändern durch die Gegend befördert. Eine Hand in einem lilafarbenen Handschuh durchbricht die visuelle Tristesse – und verteilt je eine goldene Eintrittskarte willkürlich auf fünf verschiedene Schokotafeln. Die Hand ist die von Willy Wonka und jede der Karten berechtigen ihren Finder, einen Tag lang die geheime Fabrik des Chocolatiers zu besichtigen. Normalerweise hat hier niemand Zutritt, um Industriespione fernzuhalten. Man erzählt sich die tollsten Geschichten über Wonka. Einmal soll er in Indien einem Sultan einen Palast ganz aus Schokolade gebaut haben.
Tim Burton ist es über mehrere Jahrzehnte gelungen, mit eigensinniger Note emotionale Popcorn-Unterhaltung und handwerklich brillante und tiefsinnige Filmkunst unter einen Hut zu kriegen. Damit ist er die perfekte Wahl für „Charlie und die Schokoladenfabrik“, vereint doch kaum ein anderer Filmemacher so mühelos das Komische mit dem Bizarren. Allein das löcherige, schiefgebaute Haus, in dem Charlie und seine Familie leben, ist eine kreative Kulisse, die andere Fantasy-Filme erblassen lässt. In einer halbstündigen Prolog-Sequenz zeigt er das traurige und graue Leben von Charlie Bucket im blitzschnellen Wechsel mit der Einführung der Kinder, welche an die goldenen Tickets von Willy Wonka gelangen. Einer von ihnen ist ein verfressener deutscher Junge, der in der bayerischen Version von Düsseldorf lebt. Ein weiterer ist Videospiel-süchtig, während die zwei weiblichen Gewinnerkinder so verwöhnt wie arrogant auftreten. Sie alle werden von der Presse begeistert geknipst, stolz stehen die Eltern hinter ihnen.
Als Charlie endlich die entscheidende Tafel Schokolade hat, gibt es für ihn erstmals Grund zu Freude. Er hat – natürlich – das letzte goldene Ticket, und es ist Jungschauspieler Freddie Highmore zu verdanken, dass in dieser Sekunde dem Zuschauer ganz warm ums Herz werden kann. Doch die große Explosion kommt erst: In der Fabrik treffen die Kinder auf Willy Wonka, den Burton mit seinem Lieblingsschauspieler Johnny Depp besetzt hat. Es ist ihre vierte Zusammenarbeit. Depp, mit hysterischer Piepsstimme und bleich-geschminkter Haut, spielt seinen psychopathischen, latent-sadistischen Schokoladen-Fabrikanten auf großartige Weise als Gothic-Zwitter aus Michael Jackson und Howard Hughes. Als er die Tür zur Fabrik öffnet, zitiert Burton den legendären Film „Der Zauberer von Oz“. Bei dem waren einst alle Szenen in der Realität nicht grau, sondern gleich ohne Farbe gefilmt, erst im zauberhaften Land wurde es quietschbunt. So auch hier: Grüne, essbare Wiesen, braune Flüsse voll Schokolade, pinke Wikingerboote aus Lakritze und ein Raum voll domestizierter, nach Zeitplan arbeitender Eichhörnchen sprengen die Grenzen des Erwarteten.
Von nun an ist Burton nicht zu bremsen: Der prächtig inszenierte und entwaffnend schlichte Film bietet eine kuriose Idee nach der nächsten, und wird vollends zur verschwenderischen Johnny-Depp-Freakshow: Auf die Frage eines Kindes, ob wirklich alles in der Fabrik essbar sei, antwortet er gruselig: „Natürlich. Sogar ich bin essbar. Aber das nennt man Kannibalismus und wird in den meisten Gesellschaften nicht gerne gesehen.“ Seine Fabrikarbeiter entpuppen sich als Oompa Loompas: Tausende importierte liliputanische Arbeitskräfte, die Wonka aus einem südlichen Land zu sich holte, und mit Kakaobohnen bezahlt. Schon in der Vorlage sind diese Wesen nicht unproblematisch, warf man Dahl doch Rassismus und Verharmlosung der Kolonialgeschichte Afrikas vor. Burton bleibt aller Kritik zum Trotz dicht am Original: Ein einziger Schauspieler, der Kenianer Deep Roy, spielt sämtliche Oompa Loompas.
Wer das Buch kennt, weiß wie es weitergeht: Nach und nach fallen die vier missratenen Bälger ihren Schwächen zum Opfer. Sie zeigen sich vorlaut und frech, und werden dafür bestraft, zu riesigen Blaubeeren aufgeblasen oder in den Müllschlucker geworfen. Die famose Darstellung dieser schonungslosen Verläufe vor exzentrischer Kulisse toppt Burton zusätzlich durch Musical-Einlagen, in denen die Oompa Loompas mit Häme über die Kinder ablästern und dabei munter die Genres wechseln, vom Broadway-Gesang bis zur Beatles-Parodie. Die Verszeilen sind direkt Dahls Buch entnommen. Selbstzweck ist das nicht: Burton behält die Moral der Vorlage im Auge. „Die Eltern sind die Schuldigen“, singen die zwerghaften Billigarbeiter (mit der Stimme von Elfman, nicht von Roy), und verdeutlichen, dass die Kinder nur zu diesen unsozialen, bestialischen Charakteren wurden, weil ihre Eltern ihnen jede Liebe verweigerten – und sie so ihre Phantasie verloren haben.
Dasselbe kann man über Tim Burton ganz und gar nicht sagen. Er setzt von Computereffekten bis hin zu wahnsinnigen Videoclip-Montagen jedes Mittel ein, um „Charlie und die Schokoladenfabrik“ zum cineastischen Fest zu machen. In der verrücktesten Szene, in welcher der Ego-Shooter-Nerd Mike Teavee auf Wonkas modernste TV-Erfindungen trifft, mit denen sich der Zuschauer in die Mattscheibe hineinbeamen kann, probiert der Junge das sofort aus – und landet in „2001: Odyssee im Weltraum“, dem Sci-Fi-Filmmeisterwerk von Stanley Kubrick. Der Monolith, ein rechteckiger Stein, der dort die Fortschritte der Menschheit und die Inspiration ganzer Zivilisationen symbolisiert, wird bei Burton ebenso symbolträchtig durch eine Tafel Schokolade ersetzt. Ganz entkommt er dem Konservativismus der Vorlage aber nicht: So liebevoll er hier seine Leidenschaft fürs Kino zelebriert, so unpassend wirkt die Moral der Szene, wenn durch die singenden Oompa Loompas das Fernsehen zur Verblödungsmaschine für Kinder erklärt wird.
Am Ende ist es auch der Vorlage geschuldet, dass ausgerechnet Charlie ab dem Eintritt in die Schokoladenfabrik nur noch als Staffage im Hintergrund herumsteht. Er ist ein passiver Held, der durch seine Bescheidenheit und für sein Nichtstun belohnt wird. Burton findet jedoch einen intelligenten Weg, den „glücklichsten Jungen der Welt“ im letzten Akt wieder ins Zentrum zu rücken. Regelmäßig zeigt er Rückblenden, die im freudschen Sinne Wonkas Kindheit aufarbeiten. In ihnen bekommt sogar Horror-Legende Christopher Lee als dämonischer Zahnarzt-Vater einen Gastauftritt. Anders als im Roman hat Charlie so nach seinem Gewinn die Aufgabe, Wonka mit seinem Vater zu versöhnen und ihn aus seiner Einsamkeit zu befreien.
Wenn sich dann alles im zartbitteren, feinfühligen Epilog ausgeht, scheint die Filmgeschichte mit Roald Dahl versöhnt. Sein radikales Märchen hat endlich originalgetreu den Weg aufs Zelluloid gefunden, sein Plädoyer ist nach über 40 Jahren auch dort noch gültig: Kinder brauchen Liebe und Fürsorge, um sie an andere weitergeben zu können. Und dabei müssen sie auch mal ihre Fantasie nutzen und kindisch sein dürfen. Wie sagt Charlie selbst im Film? „Süßigkeiten müssen keinen Sinn ergeben. Deshalb sind es ja Süßigkeiten.“
Bourne to be Wild: Wer bin ich, und wenn ja, seit wann?
Die Bourne Identität
Werden Menschen als gut oder böse geboren oder kommt jedes Lebewesen unschuldig zur Welt? Die Philosophie diskutiert diesen Umstand seit jeher. Platon ließ in seinem Dialog „Symposion“ noch Sokrates sagen: „Ein Mensch gilt von Kindesbeinen an bis in sein Alter als der gleiche. Aber obgleich er denselben Namen führt, bleibt er doch niemals in sich selbst gleich.“ Tatsächlich stammt der Begriff Identität aus der lateinischen Sprache, kommt vom Wort īdem – was übersetzt „der- oder dasselbe“ bedeutet. Die Psychologie ist sich sicher: Die Identität, der Kern unseres Wesens, ist ein soziales Konstrukt. Wer man selbst ist, darüber entscheidet die Eigen- und Fremdwahrnehmung. Jeder Charakter ist ein Konglomerat seiner lebensgeschichtlichen Vergangenheit – und damit stets im Wandel. Was aber, wenn die eigene Vergangenheit vollkommen ausgelöscht, jede Erinnerung einem genommen wird?
So ergeht es einem der bekanntesten Protagonisten der jüngeren US-Filmgeschichte. 2002 wurde er in seinem ersten Film von Fischern aus dem Wasser gezogen, mit mehreren Einschusslöchern im Rücken, und obwohl er noch einige Sprachen beherrscht, erinnert er sich nicht an sein früheres Leben, nicht an seine Vergangenheit, nicht einmal an seinen Namen. Symbolträchtig wie die gleichnamige Romanvorlage aus dem Jahr 1980 von Robert Ludlum eröffnet „Die Bourne Identität“ mit dem Protagonisten, leblos im Wasser treibend. Wie aus dem Fruchtwasser heraus genommen wird er an Bord des Fischerbootes gebracht, dort neugeboren. Passend dazu auch sein Name, den er kurz darauf erfährt: Jason Bourne, ausgesprochen „born“, das englische Wort für „geboren“.
Natürlich wurde der Name nicht nur in dieser Hinsicht von Ludlum kaum zufällig gewählt: Jason Bourne teilt sich seine Initialen mit einem der berühmtesten Helden der Literatur- und der Filmgeschichte: James Bond. Und Bourne findet schnell heraus, dass er mit dem britischen Spion noch mehr gemeinsam hat: Als ihn plötzlich Killer verfolgen und er bei sich selbst reflexartige Martial-Arts-Kenntnisse entdeckt, findet er nach und nach die Wahrheit über sein früheres Leben heraus. Auch er war ein Geheimagent, eine staatlich ausgebildete und perfektionierte Mordwaffe auf zwei Beinen. Doch ist das wirklich alles, was ihn ausmacht? Hat er durch seine Amnesie die Chance auf ein neues Leben? Oder kann ein Berufsmörder nicht aus seiner Haut? Ludlum legte seinen Bourne als Gegenentwurf zu dem James Bond an, der in den 1950ern in den Büchern von Ian Fleming erfunden wurde. War Bond eine überlebensgroße Figur, in die Fleming und später die Zuschauer der Verfilmungen ihre Kalter-Kriegs-Fantasien projizierten, sind die Bourne-Romane realistisch gehalten, erinnern eher an die nüchterne Spannung eines John le Carré.
So verwundert es dann auch nicht, dass „Die Bourne Identität“ ein äußerst ungewöhnlicher Agententhriller geworden ist, der sich gewaltig vom US-Blockbusterkino abhebt. Schon die Wahl des Regisseurs überrascht. Mit Doug Liman wählten die Produzenten einen Künstler, der seine Wurzeln im Independent-Film hat – und er bringt genau die feinsinnige Arthouse-Sensibilität in sein Hollywood-Debüt mit. Seinen Helden besetzt er nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit Actionstars wie Brad Pitt oder Sylvester Stallone. Er wählt den physisch eher unscheinbaren Matt Damon. Als Partnerin für Bourne verzichtet er auf eine US-Diva mit Glamourfaktor, sondern wählt die deutsche Franka Potente als Roma-Studentin. Bei der Schauplatz-Wahl entschied man sich gegen luxuriöse Locations rund um den Globus. Stattdessen spielt der Plot größtenteils in Paris und Zürich, letzterer Ort wurde dabei von Prag gedoubelt.
Liman selbst ist die Aussage entnommen, er wollte einen Kunstfilm drehen, den er mit gerade so vielen Szenen für die Trailer füllen konnte, um ein Mainstream-Publikum anzulocken. Besonders dieser konsequent durchexerzierte Mix ist es, der aus „Die Bourne Identität“ einen der wegweisenden Genrefilme der 2000er machen sollte. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jason Bourne und seinen korrupten Ex-Auftraggebern vom amerikanischen Geheimdienst ist kein Actionfeuerwerk, sondern ein ruhiges und emotional feinsinniges Drama. Mit der Handkameraführung von Oliver Wood bleibt die Inszenierung stets dicht bei den Akteuren, zeichnet Bourne trotz seiner überwältigenden Fähigkeiten im Nahkampf als verängstigtes Individuum. Durch seinen Gedächtnisverlust hat er nicht nur vergessen, wer er einmal war, sondern weiß auch nicht, wer er gerade ist. Das Drehbuch der Autoren Tony Gilroy und William Blake Herron übernimmt aus dem Roman nur die Prämisse, nutzt diese aber für komplizierte Fragestellungen: Was zeichnet einen Menschen wirklich aus? Können wir uns ändern? Schlagen zwei Seelen in einer jeden Brust?
Einfache Antworten darf man von Liman nicht erwarten. Sein Film ist komplexer als andere Agenten-Geschichten. Bewusst und im Geiste Robert Ludlum nachempfunden, konzipiert er „Die Bourne Identität“ als Anti-Bond. Coole Sprüche klopft Jason nicht – die hat er genauso vergessen wie auch alles andere. Aufwendige Schusswechsel gibt es keine, fast alle Actionszenen beschränken sich auf harte und brutale Nahkampfszenen, die vom israelischen Filmeditor Saar Klein phänomenal rasant und dynamisch getaktet werden. Eine obligatorische Autoverfolgungsjagd durch die Straßen von Paris gibt es zwar, doch statt im mit allerlei Spezialeffekten vollgepackten Aston Martin rast Matt Damon in einem Mini der französischen Polizei davon, in einer Szene, die inszenatorisch ihrem großen Vorbild aus „Bullitt“ alle Ehre macht.
Getragen wird das hervorragende Script von Matt Damon, dessen kleinbürgerliches Charisma ideal für den „Agent ohne Namen“ ist, wie eine 80er Jahre TV-Verfilmung des Ludlum-Romans heißt. Damals verkörperte noch Richard Chamberlain den Bourne. Sensationell ist aber vor allem Franka Potente, die von der anfänglichen Jungfrau in Nöten zur einzigen Bezugsperson im Leben von Jason Bourne wird. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden wird großartig entwickelt: So wie Bourne sich selbst kennenlernen muss, ist Maria, die Rolle der Potente, gezwungen, sich schnell den gefährlichen Verhältnissen der geheimeinsamen Odyssee anzupassen – in einer der metaphorischsten Szenen muss sie ihr wildes, buntes Haar in konventionelles Schwarz färben, wählt selbstbestimmt die optische Domestizierung. Die Beziehung der zwei Akteure lässt sich als spätpubertierende Liebe interpretieren. Progressiv zeigt Liman die erste körperliche Annäherung: Nach einem kurzen Moment des Begehrens ist es Maria, die Bourne mit einem Kuss überfällt, ihn verführt. Ein Bruch mit Männlichkeitsbildern, mit dem Typus des unwiderstehlichen Gentleman-Agenten.
Visionär auch die Darstellung der Gegenseite: Die CIA-Offiziere rund um Charakterdarsteller wie Chris Cooper und Brian Cox sind biedere Bürohengste, die über Menschenleben und Kollateralschäden wie über einen Buchungsfehler beraten. Bourne, einen ihrer eigenen Leute, wollen sie über die Klinge springen lassen, weil er einen Auftrag vermasselt und zu viel wisse. Von der tragischen Realität, dass er in Wahrheit gar nichts mehr weiß, erfahren sie nie. Ursprünglich sollte „Die Bourne Identität“ im September 2001 starten. Die Anschläge auf u.a. das World Trade Center vom 11. September kamen dazwischen. Später wirkte der Film bei der Veröffentlichung im Juni 2002 ungewollt äußerst gewagt. In einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten zum Zusammenhalt der Bevölkerung gegen das terroristische Böse aus dem Nahen Osten aufrief, zeigte Liman einen amerikanischen Agenten, der seine Pflicht für das Vaterland vergessen hat und von seinen eigenen Landsleuten gejagt wird. Eine bittere Abrechnung mit der Paranoia und dem Patriotismus der als Weltpolizei agierenden USA, die weniger als ein Jahr nach den Anschlägen umso signifikanter erschien.
Eine Gänsehaut-Szene genügt, um herauszustellen, warum „Die Bourne Identität“ zurecht als Meisterwerk des Actionkinos gilt. In dieser wird Bourne in seinem Versteck auf einer Farm mit einem Killer der CIA konfrontiert, gespielt vom damals kaum bekannten Clive Owen. Gleich zum Szenenbeginn ereignet sich die einzige Explosion des Films: Bourne jagt einen Tank in die Luft, um Owens Scharfschützenfigur abzulenken und sich an ihn heranzuschleichen. In einem Kornfeld kommt es zum Showdown, in dem Bourne durch eine List seinen Gegenspieler tödlich mit dem Gewehr trifft. Er sieht ihm beim Sterben zu. Der Attentäter zeigt auf seine fatalen Wunden, sagt über seine Auftraggeber vom Geheimdienst: „Sehen Sie sich an, was sie von einem verlangen.“ Dann haucht er sein Leben aus. Der ansonsten treibende Synthesizer-Soundtrack von John Powell schweigt an dieser Stelle.
Es sind existenzielle, trostlose Momente wie dieser, die aus „Die Bourne Identität“ ein nachdenkliches, sogar poetisches Filmerlebnis machen. Liman formulierte eine neue Stimme im Action-Sektor. Und so wie einst Jason Bourne in der Literatur eine Reaktion auf James Bond war, reagierte 007 auf Bourne. Vier Jahre später verlangte das repetitive Muster des Kult-Franchise nach einem radikalen Neustart, wählte dafür Daniel Craig in der Hauptrolle. Die Zutaten hinter seinem Bond-Einstieg in „Casino Royale“: Eine moderne, bodenständige, realistische Adaption der Geheimdienstwelt nach 9/11. Die Bond-Reihe wurde neugeboren, fand eine neue Identität. Eine Bourne Identität.
Werden Menschen als gut oder böse geboren oder kommt jedes Lebewesen unschuldig zur Welt? Die Philosophie diskutiert diesen Umstand seit jeher. Platon ließ in seinem Dialog „Symposion“ noch Sokrates sagen: „Ein Mensch gilt von Kindesbeinen an bis in sein Alter als der gleiche. Aber obgleich er denselben Namen führt, bleibt er doch niemals in sich selbst gleich.“ Tatsächlich stammt der Begriff Identität aus der lateinischen Sprache, kommt vom Wort īdem – was übersetzt „der- oder dasselbe“ bedeutet. Die Psychologie ist sich sicher: Die Identität, der Kern unseres Wesens, ist ein soziales Konstrukt. Wer man selbst ist, darüber entscheidet die Eigen- und Fremdwahrnehmung. Jeder Charakter ist ein Konglomerat seiner lebensgeschichtlichen Vergangenheit – und damit stets im Wandel. Was aber, wenn die eigene Vergangenheit vollkommen ausgelöscht, jede Erinnerung einem genommen wird?
So ergeht es einem der bekanntesten Protagonisten der jüngeren US-Filmgeschichte. 2002 wurde er in seinem ersten Film von Fischern aus dem Wasser gezogen, mit mehreren Einschusslöchern im Rücken, und obwohl er noch einige Sprachen beherrscht, erinnert er sich nicht an sein früheres Leben, nicht an seine Vergangenheit, nicht einmal an seinen Namen. Symbolträchtig wie die gleichnamige Romanvorlage aus dem Jahr 1980 von Robert Ludlum eröffnet „Die Bourne Identität“ mit dem Protagonisten, leblos im Wasser treibend. Wie aus dem Fruchtwasser heraus genommen wird er an Bord des Fischerbootes gebracht, dort neugeboren. Passend dazu auch sein Name, den er kurz darauf erfährt: Jason Bourne, ausgesprochen „born“, das englische Wort für „geboren“.
Natürlich wurde der Name nicht nur in dieser Hinsicht von Ludlum kaum zufällig gewählt: Jason Bourne teilt sich seine Initialen mit einem der berühmtesten Helden der Literatur- und der Filmgeschichte: James Bond. Und Bourne findet schnell heraus, dass er mit dem britischen Spion noch mehr gemeinsam hat: Als ihn plötzlich Killer verfolgen und er bei sich selbst reflexartige Martial-Arts-Kenntnisse entdeckt, findet er nach und nach die Wahrheit über sein früheres Leben heraus. Auch er war ein Geheimagent, eine staatlich ausgebildete und perfektionierte Mordwaffe auf zwei Beinen. Doch ist das wirklich alles, was ihn ausmacht? Hat er durch seine Amnesie die Chance auf ein neues Leben? Oder kann ein Berufsmörder nicht aus seiner Haut? Ludlum legte seinen Bourne als Gegenentwurf zu dem James Bond an, der in den 1950ern in den Büchern von Ian Fleming erfunden wurde. War Bond eine überlebensgroße Figur, in die Fleming und später die Zuschauer der Verfilmungen ihre Kalter-Kriegs-Fantasien projizierten, sind die Bourne-Romane realistisch gehalten, erinnern eher an die nüchterne Spannung eines John le Carré.
So verwundert es dann auch nicht, dass „Die Bourne Identität“ ein äußerst ungewöhnlicher Agententhriller geworden ist, der sich gewaltig vom US-Blockbusterkino abhebt. Schon die Wahl des Regisseurs überrascht. Mit Doug Liman wählten die Produzenten einen Künstler, der seine Wurzeln im Independent-Film hat – und er bringt genau die feinsinnige Arthouse-Sensibilität in sein Hollywood-Debüt mit. Seinen Helden besetzt er nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit Actionstars wie Brad Pitt oder Sylvester Stallone. Er wählt den physisch eher unscheinbaren Matt Damon. Als Partnerin für Bourne verzichtet er auf eine US-Diva mit Glamourfaktor, sondern wählt die deutsche Franka Potente als Roma-Studentin. Bei der Schauplatz-Wahl entschied man sich gegen luxuriöse Locations rund um den Globus. Stattdessen spielt der Plot größtenteils in Paris und Zürich, letzterer Ort wurde dabei von Prag gedoubelt.
Liman selbst ist die Aussage entnommen, er wollte einen Kunstfilm drehen, den er mit gerade so vielen Szenen für die Trailer füllen konnte, um ein Mainstream-Publikum anzulocken. Besonders dieser konsequent durchexerzierte Mix ist es, der aus „Die Bourne Identität“ einen der wegweisenden Genrefilme der 2000er machen sollte. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jason Bourne und seinen korrupten Ex-Auftraggebern vom amerikanischen Geheimdienst ist kein Actionfeuerwerk, sondern ein ruhiges und emotional feinsinniges Drama. Mit der Handkameraführung von Oliver Wood bleibt die Inszenierung stets dicht bei den Akteuren, zeichnet Bourne trotz seiner überwältigenden Fähigkeiten im Nahkampf als verängstigtes Individuum. Durch seinen Gedächtnisverlust hat er nicht nur vergessen, wer er einmal war, sondern weiß auch nicht, wer er gerade ist. Das Drehbuch der Autoren Tony Gilroy und William Blake Herron übernimmt aus dem Roman nur die Prämisse, nutzt diese aber für komplizierte Fragestellungen: Was zeichnet einen Menschen wirklich aus? Können wir uns ändern? Schlagen zwei Seelen in einer jeden Brust?
Einfache Antworten darf man von Liman nicht erwarten. Sein Film ist komplexer als andere Agenten-Geschichten. Bewusst und im Geiste Robert Ludlum nachempfunden, konzipiert er „Die Bourne Identität“ als Anti-Bond. Coole Sprüche klopft Jason nicht – die hat er genauso vergessen wie auch alles andere. Aufwendige Schusswechsel gibt es keine, fast alle Actionszenen beschränken sich auf harte und brutale Nahkampfszenen, die vom israelischen Filmeditor Saar Klein phänomenal rasant und dynamisch getaktet werden. Eine obligatorische Autoverfolgungsjagd durch die Straßen von Paris gibt es zwar, doch statt im mit allerlei Spezialeffekten vollgepackten Aston Martin rast Matt Damon in einem Mini der französischen Polizei davon, in einer Szene, die inszenatorisch ihrem großen Vorbild aus „Bullitt“ alle Ehre macht.
Getragen wird das hervorragende Script von Matt Damon, dessen kleinbürgerliches Charisma ideal für den „Agent ohne Namen“ ist, wie eine 80er Jahre TV-Verfilmung des Ludlum-Romans heißt. Damals verkörperte noch Richard Chamberlain den Bourne. Sensationell ist aber vor allem Franka Potente, die von der anfänglichen Jungfrau in Nöten zur einzigen Bezugsperson im Leben von Jason Bourne wird. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden wird großartig entwickelt: So wie Bourne sich selbst kennenlernen muss, ist Maria, die Rolle der Potente, gezwungen, sich schnell den gefährlichen Verhältnissen der geheimeinsamen Odyssee anzupassen – in einer der metaphorischsten Szenen muss sie ihr wildes, buntes Haar in konventionelles Schwarz färben, wählt selbstbestimmt die optische Domestizierung. Die Beziehung der zwei Akteure lässt sich als spätpubertierende Liebe interpretieren. Progressiv zeigt Liman die erste körperliche Annäherung: Nach einem kurzen Moment des Begehrens ist es Maria, die Bourne mit einem Kuss überfällt, ihn verführt. Ein Bruch mit Männlichkeitsbildern, mit dem Typus des unwiderstehlichen Gentleman-Agenten.
Visionär auch die Darstellung der Gegenseite: Die CIA-Offiziere rund um Charakterdarsteller wie Chris Cooper und Brian Cox sind biedere Bürohengste, die über Menschenleben und Kollateralschäden wie über einen Buchungsfehler beraten. Bourne, einen ihrer eigenen Leute, wollen sie über die Klinge springen lassen, weil er einen Auftrag vermasselt und zu viel wisse. Von der tragischen Realität, dass er in Wahrheit gar nichts mehr weiß, erfahren sie nie. Ursprünglich sollte „Die Bourne Identität“ im September 2001 starten. Die Anschläge auf u.a. das World Trade Center vom 11. September kamen dazwischen. Später wirkte der Film bei der Veröffentlichung im Juni 2002 ungewollt äußerst gewagt. In einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten zum Zusammenhalt der Bevölkerung gegen das terroristische Böse aus dem Nahen Osten aufrief, zeigte Liman einen amerikanischen Agenten, der seine Pflicht für das Vaterland vergessen hat und von seinen eigenen Landsleuten gejagt wird. Eine bittere Abrechnung mit der Paranoia und dem Patriotismus der als Weltpolizei agierenden USA, die weniger als ein Jahr nach den Anschlägen umso signifikanter erschien.
Eine Gänsehaut-Szene genügt, um herauszustellen, warum „Die Bourne Identität“ zurecht als Meisterwerk des Actionkinos gilt. In dieser wird Bourne in seinem Versteck auf einer Farm mit einem Killer der CIA konfrontiert, gespielt vom damals kaum bekannten Clive Owen. Gleich zum Szenenbeginn ereignet sich die einzige Explosion des Films: Bourne jagt einen Tank in die Luft, um Owens Scharfschützenfigur abzulenken und sich an ihn heranzuschleichen. In einem Kornfeld kommt es zum Showdown, in dem Bourne durch eine List seinen Gegenspieler tödlich mit dem Gewehr trifft. Er sieht ihm beim Sterben zu. Der Attentäter zeigt auf seine fatalen Wunden, sagt über seine Auftraggeber vom Geheimdienst: „Sehen Sie sich an, was sie von einem verlangen.“ Dann haucht er sein Leben aus. Der ansonsten treibende Synthesizer-Soundtrack von John Powell schweigt an dieser Stelle.
Es sind existenzielle, trostlose Momente wie dieser, die aus „Die Bourne Identität“ ein nachdenkliches, sogar poetisches Filmerlebnis machen. Liman formulierte eine neue Stimme im Action-Sektor. Und so wie einst Jason Bourne in der Literatur eine Reaktion auf James Bond war, reagierte 007 auf Bourne. Vier Jahre später verlangte das repetitive Muster des Kult-Franchise nach einem radikalen Neustart, wählte dafür Daniel Craig in der Hauptrolle. Die Zutaten hinter seinem Bond-Einstieg in „Casino Royale“: Eine moderne, bodenständige, realistische Adaption der Geheimdienstwelt nach 9/11. Die Bond-Reihe wurde neugeboren, fand eine neue Identität. Eine Bourne Identität.
Gott, hab Erbarmen mit solchen wie ihnen
Verdammt in alle Ewigkeit
Im Mafiafilm-Meilenstein „Der Pate“ gibt es eine Szene, in der Johnny Fontane, der Patensohn des Verbrecherkönigs Don Vito, diesen um einen Gefallen bittet: Um eine Rolle in einem neuen Hollywood-Hit zu bekommen und so seine Gesangskarriere anzukurbeln, soll sein Pate den Filmproduzenten Woltz einschüchtern. Das Resultat dieser Bitte: Eines Morgens erwacht Woltz in seinem Bett, vollgeschmiert mit Blut – und findet vor sich liegend einen abgetrennten Pferdekopf. Mit dieser Szene schrieb „Der Pate“ einst Filmgeschichte. Die Idee dazu stammt selbst aus der Filmwelt: 1953 gelang Musiklegende Frank Sinatra nach mehreren Fehlschlägen ein berufliches Comeback, als er die Nebenrolle im Militärdrama „Verdammt in alle Ewigkeit“ erhielt. Bis heute halten sich hartnäckig die Gerüchte, er habe den Part, der bereits an Eli Wallach vergeben war, nur durch Kontakte zur Mafia bekommen.
Filmgeschichte schrieb „Verdammt in alle Ewigkeit“ selbst mit einer anderen Szene: Da liegen Burt Lancaster und Deborah Kerr, beide ihrerseits Schauspiel-Ikonen, am Strand und küssen sich leidenschaftlich, während die Wellen über sie preschen. Gerade so ging diese damals unerhörte Aufnahme durch die Zensur, den sogenannten Hays Code. Mit diesem geriet Regisseur Fred Zinnemann mehrfach in Konflikt, als er „Verdammt in alle Ewigkeit“, eine Verfilmung des 1951 erschienenen Bestsellers des Autoren James Jones, für die Leinwand adaptierte. Eine der Hauptfiguren des Buches ist die Prostituierte Lorene, welche im Film zur Gesellschaftsdame eines Nachtclubs abgeschwächt wird. Die andere weibliche Protagonistin ist Karen, die Ehebrecherin, die da in den Armen ihrer von Lancaster gespielten Affäre liegt. Bei Jones bekam sie durch ihre regelmäßige Untreue eine Geschlechtskrankheit, verlor so ihre Gebärmutter. Im Film ist ihr Hintergrund ein anderer: Sie erlitt eine Fehlgeburt, da ihr betrunkener, fremdgehender Mann nicht in der Lage war, ihr zu helfen.
Jones hatte in seinem literarischen Debüt eigene Erfahrungen verarbeitet. Er war 1941 während der japanischen Angriffe auf Pearl Harbor in den Schofield Barracks auf Hawaii stationiert. Genau hier und genau dann spielt auch der Film. Der Alltag der Soldaten in der Kaserne wird aus der Sicht verschiedener Figuren gezeigt: Sergeant Warden erledigt die Drecksarbeit für seinen Vorgesetzten, lässt sich zum Ausgleich aber auf das erwähnte Techtelmechtel mit dessen unglücklicher, promiskuitiven Gattin ein. Gefreiter Prewitt war einst ein Spitzenboxer, will aber nach einem traumatischen Vorfall nie wieder in den Ring – doch genau dafür will ihn der Captain auf Hawaii. Da er sich weigert, machen ihm die Soldaten der Boxstaffel das Leben zur Hölle. Trost findet er nur im Landurlaub bei der resoluten Lorene und seinem einzigen Kasernen-Freund, dem italoamerikanischen Maggio.
Nahezu alle großen Themen des amerikanischen Kinos stecken in der meisterhaften Charakterstudie: Pflicht, Gehorsam, Militärromantik, Vaterlandstreue und das Streben nach Freiheit. All diese Eigenschaften vereint der Gefreite Robert E. Lee Prewitt, benannt nach dem erfolgreichsten konföderierten General im amerikanischen Bürgerkrieg. Er erlebt eine Ungerechtigkeit nach der anderen, muss jede Schikane seiner Kompanie erdulden. Einmal gräbt er ein metertiefes Loch, nur um es danach wieder zuschütten zu müssen. Beim Marschieren muss er Sonderrunden einlegen, trotz seiner exzellenten Kenntnisse als Soldat und als Trompetenspieler wird er zum Putzdienst eingeteilt. Es ist dem meisterhaften Schauspiel des Ausnahme-Darstellers Montgomery Clift in dieser Rolle zu verdanken, dass im Angesicht dieser psychischen Misshandlung der Kampfgeist Prewitts immer in seinen Augen erkennbar wird: Er brennt für das Militär, er kann nicht gebrochen werden.
Zinnemann bewies das richtige Händchen für die Besetzung aller Rollen: Clift war in seiner eindrucksvollen Karriere nie besser, ihm Burt Lancaster als Kompanieleiter entgegen zu setzen ein genialer Schachzug. Er ist grandios in dem Part, gefangen zwischen der verbotenen Liebe für die Frau seines Vorgesetzten und seiner Verantwortung als Mann, als militärischer Vater für seine Truppe. Die Frauen im Leben dieser Kerle wurden gar ganz gegen ihr Image besetzt. Die Schottin Deborah Kerr wäre wohl niemandem sonst als notorisches Flittchen eingefallen, und der unschuldigen Schönheit Donna Reed war die desillusionierte Lorene kaum zuzutrauen. Der Clou ging auf: Beide verleihen ihren Figuren innere Stärke und Würde. Wie oft bei Zinnemann, der ein Jahr zuvor den Westernklassiker "Zwölf Uhr mittags" verantwortete, sind es die Frauenrollen, welche die wichtigsten Entscheidungen in ihrem Leben zu treffen haben: Wollen sie aktiv ihr Leben gestalten oder sich in die Verantwortung eines Mannes begeben?
Die Sensation in dem fantastischen Ensemble ist aber ‚The Voice‘, Frank Sinatra, der sich als vorlauter, meist alkoholisierter Maggio für ernste Charakterrollen empfahl. Obwohl Maggio nach außen ein Lebemann, ein Hedonist in Uniform zu sein scheint, ist er die tragischste Figur der Geschichte. Sein Plappermaul, sein Ungehorsam, seine sofortige Sympathie für den Pechvogel Prewitt, sie sind Ausdruck einer verborgenen, selbstzerstörerischen Natur, die ihm letztlich zum Verhängnis wird. Sein Abgang gehört zu den traurigsten Momenten, die das Kino hervorbrachte: Wie ein erschrockenes Kind stirbt er in den Armen von Clift. Dieser spielt daraufhin vor den Weiten des nächtlichen Kasernenhofs auf einer Trompete dessen letztes Geleit – mit dicken Tränen auf den Wangen. Er ist nun wieder allein, einsam. Ein vertrautes Gefühl. An einer Stelle sagt er zu Lorene: „Wenn jemand sagt, er wäre einsam, lügt er nie.“ Mehr muss er gar nicht sagen, um erahnen zu lassen, was er in der Vergangenheit durchgemacht hat.
„Verdammt in alle Ewigkeit“ ist ein Dialogfilm, erzählt sein menschliches Drama über lange Gespräche. Doch erreichte das ausgezeichnete Drehbuch des Autoren Daniel Taradash seine Langzeitwirkung erst durch die subtile Regie, die es vermied, dem damaligen Technicolor-Trend zu folgen. Statt stark gesättigten Farben gibt es so kühle Bilder in Schwarz-Weiß zu sehen, die eine konzentrierte Spannung für das Figurenkonglomerat erlauben. Die Kasernen-Atmosphäre ist schlicht einmalig, kam aber zu einem hohen Preis. Für die originalgetreue Szenerie bezog Harry Cohn, der Chef von Columbia Pictures, das US-Militär mit ein. Die verlangten dafür mehrere Änderungen am Script: Captain Holmes wird anders als im als ‚armeefeindlich‘ wahrgenommenen Roman nun für sein Fehlverhalten gegenüber Prewitt bestraft. Statt eines moralisch faulen Militärapparats verlagerte sich der Fokus auf die verdorbenen Äpfel, die missratenen Einzeltäter. Der zynischen Kraft der Buchvorlage wird das kaum gerecht.
Den Sprung zum Meisterwerk vollzieht der Film dennoch, nämlich im letzten Drittel, als der japanische Angriff auf Pearl Harbor beginnt. Historisch akkurat stehen die Uhren dabei auf 7:51 Uhr – just um die Zeit hatten die Flugzeuge die Schofield Barracks erreicht. Von nun an kann Zinnemann niemand stoppen: Das Bombardement inszeniert er als wahrgewordenen Albtraum, als apokalyptische Szenerie im Garten Eden von Hawaii. Insbesondere das Sound-Design ist verblüffend immersiv. Die Maschinengewehre und fallenden Bomben bilden eine beklemmende Tonkulisse, die nach Gehorsam schreienden Offiziere klingen verängstigt, hilflos. Orchestrale Töne der Komponisten Morris Stoloff und George Duning sind kaum zu vernehmen, im Vordergrund steht hörbares Entsetzen. Aufnahmen aus der Pearl-Harbor-Doku „Der 7. Dezember“ von John Ford kamen zum Einsatz, um das üppige Budget von 2 Millionen Dollar nicht zu überziehen.
Banal die Feststellung, dass der Aufwand sich bezahlt machte. „Verdammt in alle Ewigkeit“ dominierte die Kinosaison 1953, wurde vom Feuilleton mit Lobpreisungen überhäuft. Das epische, langsame Melodram hat bis heute nichts von seiner Wirkung verloren und bewies die Faszination und den Eros des alten Hollywood-Kinos – selbst für beharrliche Ablehner des Militärs. Zinnemann drehte keinen Kriegsfilm, sondern eine intime Geschichte über Loyalität und Integrität. Dabei ist beachtlich, wie bitter sein Werk trotz aller Einmischungen endet: All der Heldenmut und die Opferbereitschaft von Prewitt sind vergebens. Er kann seinem traurigen, sinnlosen Schicksal nicht entkommen. Der Originaltitel „From Here to Eternity“, übersetzt etwa „Von hier bis zur Ewigkeit“, entstammt einem Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Rudyard Kipling, lässt aber ein Wort weg. Für das deutsche Publikum wurde die Zeile wieder vervollständigt, der Titel fasst so Prewitts Ausgang phänomenal zusammen: „Damned from here to eternity“, also „Verdammt in alle Ewigkeit“.
Bei insgesamt dreizehn Nominierungen gewann der Film acht Oscars, darunter in den Kategorien „Bester Film“ und „Beste Regie“. Er zog so mit „Vom Winde verweht“ gleich, wurde zum Überhit des 50er Jahre Kinos. James Jones verarbeitete eine weitere hautnah erlebte Kriegserfahrung, die Schlacht um Guadalcanal, in seinem Roman „Insel der Verdammten“, die später ebenfalls unter dem Titel „Der schmale Grat“ den Weg auf die Leinwand fand. Und Frank Sinatra hatte sich nicht nur aus seinem Karrieretief erholt, sondern wurde – genau wie Donna Reed – ebenfalls bei der Oscarverleihung auf die Bühne gebeten. Er erhielt eine Trophäe als „Bester Nebendarsteller“ und zementierte seinen Status als einer der beliebtesten Entertainer aller Zeiten.
Im Mafiafilm-Meilenstein „Der Pate“ gibt es eine Szene, in der Johnny Fontane, der Patensohn des Verbrecherkönigs Don Vito, diesen um einen Gefallen bittet: Um eine Rolle in einem neuen Hollywood-Hit zu bekommen und so seine Gesangskarriere anzukurbeln, soll sein Pate den Filmproduzenten Woltz einschüchtern. Das Resultat dieser Bitte: Eines Morgens erwacht Woltz in seinem Bett, vollgeschmiert mit Blut – und findet vor sich liegend einen abgetrennten Pferdekopf. Mit dieser Szene schrieb „Der Pate“ einst Filmgeschichte. Die Idee dazu stammt selbst aus der Filmwelt: 1953 gelang Musiklegende Frank Sinatra nach mehreren Fehlschlägen ein berufliches Comeback, als er die Nebenrolle im Militärdrama „Verdammt in alle Ewigkeit“ erhielt. Bis heute halten sich hartnäckig die Gerüchte, er habe den Part, der bereits an Eli Wallach vergeben war, nur durch Kontakte zur Mafia bekommen.
Filmgeschichte schrieb „Verdammt in alle Ewigkeit“ selbst mit einer anderen Szene: Da liegen Burt Lancaster und Deborah Kerr, beide ihrerseits Schauspiel-Ikonen, am Strand und küssen sich leidenschaftlich, während die Wellen über sie preschen. Gerade so ging diese damals unerhörte Aufnahme durch die Zensur, den sogenannten Hays Code. Mit diesem geriet Regisseur Fred Zinnemann mehrfach in Konflikt, als er „Verdammt in alle Ewigkeit“, eine Verfilmung des 1951 erschienenen Bestsellers des Autoren James Jones, für die Leinwand adaptierte. Eine der Hauptfiguren des Buches ist die Prostituierte Lorene, welche im Film zur Gesellschaftsdame eines Nachtclubs abgeschwächt wird. Die andere weibliche Protagonistin ist Karen, die Ehebrecherin, die da in den Armen ihrer von Lancaster gespielten Affäre liegt. Bei Jones bekam sie durch ihre regelmäßige Untreue eine Geschlechtskrankheit, verlor so ihre Gebärmutter. Im Film ist ihr Hintergrund ein anderer: Sie erlitt eine Fehlgeburt, da ihr betrunkener, fremdgehender Mann nicht in der Lage war, ihr zu helfen.
Jones hatte in seinem literarischen Debüt eigene Erfahrungen verarbeitet. Er war 1941 während der japanischen Angriffe auf Pearl Harbor in den Schofield Barracks auf Hawaii stationiert. Genau hier und genau dann spielt auch der Film. Der Alltag der Soldaten in der Kaserne wird aus der Sicht verschiedener Figuren gezeigt: Sergeant Warden erledigt die Drecksarbeit für seinen Vorgesetzten, lässt sich zum Ausgleich aber auf das erwähnte Techtelmechtel mit dessen unglücklicher, promiskuitiven Gattin ein. Gefreiter Prewitt war einst ein Spitzenboxer, will aber nach einem traumatischen Vorfall nie wieder in den Ring – doch genau dafür will ihn der Captain auf Hawaii. Da er sich weigert, machen ihm die Soldaten der Boxstaffel das Leben zur Hölle. Trost findet er nur im Landurlaub bei der resoluten Lorene und seinem einzigen Kasernen-Freund, dem italoamerikanischen Maggio.
Nahezu alle großen Themen des amerikanischen Kinos stecken in der meisterhaften Charakterstudie: Pflicht, Gehorsam, Militärromantik, Vaterlandstreue und das Streben nach Freiheit. All diese Eigenschaften vereint der Gefreite Robert E. Lee Prewitt, benannt nach dem erfolgreichsten konföderierten General im amerikanischen Bürgerkrieg. Er erlebt eine Ungerechtigkeit nach der anderen, muss jede Schikane seiner Kompanie erdulden. Einmal gräbt er ein metertiefes Loch, nur um es danach wieder zuschütten zu müssen. Beim Marschieren muss er Sonderrunden einlegen, trotz seiner exzellenten Kenntnisse als Soldat und als Trompetenspieler wird er zum Putzdienst eingeteilt. Es ist dem meisterhaften Schauspiel des Ausnahme-Darstellers Montgomery Clift in dieser Rolle zu verdanken, dass im Angesicht dieser psychischen Misshandlung der Kampfgeist Prewitts immer in seinen Augen erkennbar wird: Er brennt für das Militär, er kann nicht gebrochen werden.
Zinnemann bewies das richtige Händchen für die Besetzung aller Rollen: Clift war in seiner eindrucksvollen Karriere nie besser, ihm Burt Lancaster als Kompanieleiter entgegen zu setzen ein genialer Schachzug. Er ist grandios in dem Part, gefangen zwischen der verbotenen Liebe für die Frau seines Vorgesetzten und seiner Verantwortung als Mann, als militärischer Vater für seine Truppe. Die Frauen im Leben dieser Kerle wurden gar ganz gegen ihr Image besetzt. Die Schottin Deborah Kerr wäre wohl niemandem sonst als notorisches Flittchen eingefallen, und der unschuldigen Schönheit Donna Reed war die desillusionierte Lorene kaum zuzutrauen. Der Clou ging auf: Beide verleihen ihren Figuren innere Stärke und Würde. Wie oft bei Zinnemann, der ein Jahr zuvor den Westernklassiker "Zwölf Uhr mittags" verantwortete, sind es die Frauenrollen, welche die wichtigsten Entscheidungen in ihrem Leben zu treffen haben: Wollen sie aktiv ihr Leben gestalten oder sich in die Verantwortung eines Mannes begeben?
Die Sensation in dem fantastischen Ensemble ist aber ‚The Voice‘, Frank Sinatra, der sich als vorlauter, meist alkoholisierter Maggio für ernste Charakterrollen empfahl. Obwohl Maggio nach außen ein Lebemann, ein Hedonist in Uniform zu sein scheint, ist er die tragischste Figur der Geschichte. Sein Plappermaul, sein Ungehorsam, seine sofortige Sympathie für den Pechvogel Prewitt, sie sind Ausdruck einer verborgenen, selbstzerstörerischen Natur, die ihm letztlich zum Verhängnis wird. Sein Abgang gehört zu den traurigsten Momenten, die das Kino hervorbrachte: Wie ein erschrockenes Kind stirbt er in den Armen von Clift. Dieser spielt daraufhin vor den Weiten des nächtlichen Kasernenhofs auf einer Trompete dessen letztes Geleit – mit dicken Tränen auf den Wangen. Er ist nun wieder allein, einsam. Ein vertrautes Gefühl. An einer Stelle sagt er zu Lorene: „Wenn jemand sagt, er wäre einsam, lügt er nie.“ Mehr muss er gar nicht sagen, um erahnen zu lassen, was er in der Vergangenheit durchgemacht hat.
„Verdammt in alle Ewigkeit“ ist ein Dialogfilm, erzählt sein menschliches Drama über lange Gespräche. Doch erreichte das ausgezeichnete Drehbuch des Autoren Daniel Taradash seine Langzeitwirkung erst durch die subtile Regie, die es vermied, dem damaligen Technicolor-Trend zu folgen. Statt stark gesättigten Farben gibt es so kühle Bilder in Schwarz-Weiß zu sehen, die eine konzentrierte Spannung für das Figurenkonglomerat erlauben. Die Kasernen-Atmosphäre ist schlicht einmalig, kam aber zu einem hohen Preis. Für die originalgetreue Szenerie bezog Harry Cohn, der Chef von Columbia Pictures, das US-Militär mit ein. Die verlangten dafür mehrere Änderungen am Script: Captain Holmes wird anders als im als ‚armeefeindlich‘ wahrgenommenen Roman nun für sein Fehlverhalten gegenüber Prewitt bestraft. Statt eines moralisch faulen Militärapparats verlagerte sich der Fokus auf die verdorbenen Äpfel, die missratenen Einzeltäter. Der zynischen Kraft der Buchvorlage wird das kaum gerecht.
Den Sprung zum Meisterwerk vollzieht der Film dennoch, nämlich im letzten Drittel, als der japanische Angriff auf Pearl Harbor beginnt. Historisch akkurat stehen die Uhren dabei auf 7:51 Uhr – just um die Zeit hatten die Flugzeuge die Schofield Barracks erreicht. Von nun an kann Zinnemann niemand stoppen: Das Bombardement inszeniert er als wahrgewordenen Albtraum, als apokalyptische Szenerie im Garten Eden von Hawaii. Insbesondere das Sound-Design ist verblüffend immersiv. Die Maschinengewehre und fallenden Bomben bilden eine beklemmende Tonkulisse, die nach Gehorsam schreienden Offiziere klingen verängstigt, hilflos. Orchestrale Töne der Komponisten Morris Stoloff und George Duning sind kaum zu vernehmen, im Vordergrund steht hörbares Entsetzen. Aufnahmen aus der Pearl-Harbor-Doku „Der 7. Dezember“ von John Ford kamen zum Einsatz, um das üppige Budget von 2 Millionen Dollar nicht zu überziehen.
Banal die Feststellung, dass der Aufwand sich bezahlt machte. „Verdammt in alle Ewigkeit“ dominierte die Kinosaison 1953, wurde vom Feuilleton mit Lobpreisungen überhäuft. Das epische, langsame Melodram hat bis heute nichts von seiner Wirkung verloren und bewies die Faszination und den Eros des alten Hollywood-Kinos – selbst für beharrliche Ablehner des Militärs. Zinnemann drehte keinen Kriegsfilm, sondern eine intime Geschichte über Loyalität und Integrität. Dabei ist beachtlich, wie bitter sein Werk trotz aller Einmischungen endet: All der Heldenmut und die Opferbereitschaft von Prewitt sind vergebens. Er kann seinem traurigen, sinnlosen Schicksal nicht entkommen. Der Originaltitel „From Here to Eternity“, übersetzt etwa „Von hier bis zur Ewigkeit“, entstammt einem Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Rudyard Kipling, lässt aber ein Wort weg. Für das deutsche Publikum wurde die Zeile wieder vervollständigt, der Titel fasst so Prewitts Ausgang phänomenal zusammen: „Damned from here to eternity“, also „Verdammt in alle Ewigkeit“.
Bei insgesamt dreizehn Nominierungen gewann der Film acht Oscars, darunter in den Kategorien „Bester Film“ und „Beste Regie“. Er zog so mit „Vom Winde verweht“ gleich, wurde zum Überhit des 50er Jahre Kinos. James Jones verarbeitete eine weitere hautnah erlebte Kriegserfahrung, die Schlacht um Guadalcanal, in seinem Roman „Insel der Verdammten“, die später ebenfalls unter dem Titel „Der schmale Grat“ den Weg auf die Leinwand fand. Und Frank Sinatra hatte sich nicht nur aus seinem Karrieretief erholt, sondern wurde – genau wie Donna Reed – ebenfalls bei der Oscarverleihung auf die Bühne gebeten. Er erhielt eine Trophäe als „Bester Nebendarsteller“ und zementierte seinen Status als einer der beliebtesten Entertainer aller Zeiten.
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Die Bourne Identität finde ich noch ganz sehenswert. Spätestens aber die Bourne Verschwörung hat einen solch schlechten Schnitt, dass man nur von einer absoluten Verschwendung von großartigen Autostunts sprechen kann. Der Schnitt hat mich auch so abgetörnt, dass ich dieses Machwerk nie mehr ganz geschaut habe
Unser neuestes Projekt: https://open.spotify.com/show/35s3iDdkQ12ikEFT9hOoTP - Talk rund um Filme und Serien
Für 80s Action ist man nie zu alt
Zwei stahlharte Profis
Im Jahr 1986 erfuhr der junge Filmstudent Shane Black von einem Trick unter Polizisten, der sogenannten „Psycho-Pension“. Hierbei simuliert ein Beamter psychische Probleme, um bezahlten Urlaub und eine Auszeit vom Dienst verordnet zu bekommen. Black hatte sofort einen Gedanken: ‚Was, wenn da ein Cop wäre, von dem alle denken, er wolle die „Psycho-Pension“ – der aber wirklich psychopathisch ist?‘ Er arbeitete die Idee aus und schrieb nicht nur sein erstes richtiges Drehbuch, sondern auch Filmgeschichte, als er dem verrückten Polizisten einen regeltreuen Partner an die Seite stellte. Das fertige Duo kennt heute jeder Filmfan – nicht unter dem deutschen Titel „Zwei stahlharte Profis“, sondern unter dem originalen: „Lethal Weapon“.
Mit dem Film revolutionierten Shane Black und Regisseur Richard Donner, der schon Klassiker wie „Superman“ oder „Die Goonies“ auf dem Kerbholz hatte, das Actiongenre. Dominierten bis dato muskelbepackte Alphamänner das Kino der Ära unter Präsident Ronald Reagan, unterschied „Lethal Weapon“ sich durch verletzbare Protagonisten. Beide werden – symbolträchtig – nackt eingeführt: Der Polizist Roger Murtaugh sitzt in der Badewanne, als seine Familie ihm dort zum 50. Geburtstag gratuliert. Während er seinem grauen Bart abtastet, wird er vom Töchterlein durch die Blume als altes Eisen bezeichnet. Den verrückten Cop Martin Riggs lernen die Zuschauer in seinem Wohnwagen am Strand kennen. Mit Zigarette im Mund, dem Gemächt in der Hand und dem Bier in greifbarer Nähe wird er beim Urinieren gezeigt. Er ist ein einsamer Wolf, der sichtbar mit dem Leben abgeschlossen hat.
Bereits hier unterscheidet sich „Lethal Weapon“ vom Genre-Standard seiner Zeit. Martin Riggs ist ein Revolverheld, jene Figur, die im Männerkino oft idealisiert und romantisiert wird – spätestens seit „Dirty Harry“, der 1971 in Gestalt von Clint Eastwood zur Legende wurde. Shane Black zählt den Film zu seinen Lieblingen. Sein Martin Riggs teilt viele Parallelen mit Harry Callahan: Beide sind Ex-Militärs von hohem Renommee, beide arbeiten außerhalb der Regeln, beide verloren ihre Frauen bei einem Autounfall. Doch Dirty Harry ist dank Eastwood die Coolness in Person. Seinen Schmerz versteckt er unter einer großen Sonnenbrille, seine zynischen Sprüche sind so pragmatisch wie sein Auftreten. Seine persönliche Tragödie erweitert nur sein Heldentum. Riggs ist das Gegenstück, ein emotionales Wrack. Was bei Callahan zur Bewunderung einlädt, ist bei ihm schmerzhafte Realität. In einer der großartigsten Szenen des Films steckt er sich eine Waffe in den Mund, versucht abzudrücken. Als er sich nicht überwinden kann, drückt er heulend das Bild seiner toten Frau an sich, schluchzt: „Wir sehen uns später.“
Kurz darauf befindet sich Riggs in einer identischen Situation wie einst Dirty Harry: Er soll einen Selbstmörder vom Springen abhalten. Eastwood fuhr als Harry per Feuerwehrkran zum Springer herauf, provozierte ihn und schlug ihn bewusstlos, brachte ihn so in Sicherheit. Riggs hingegen kettet sein Handgelenk einfach an das des Selbstmörders und springt mit ihm vom Dach – allerdings immerhin auf ein Sprungkissen der Polizei. In diesem Moment kapiert Murtaugh, sein neuer Partner: Dieser Mann ist nicht auf „Psycho-Pension“ aus, sondern ehrlich suizidgefährdet. Und mit dieser Erkenntnis ist das legendärste Buddy-Cop-Gespann des Kinos geboren, dank Murtaugh auch einer der berühmtesten Sprüche des Genres: „Ich bin zu alt für so eine Scheiße.“
„Lethal Weapon“ ist ein Klassiker, dem seine Frische und Inspiration über dreißig Jahre später noch anzusehen sind. Gründe dafür finden sich viele, einer der wichtigsten sind wohl die Hauptdarsteller: Roger Murtaugh und Martin Riggs wären nie so ikonisch geworden, hätte Richard Donner sie nicht mit Danny Glover und Mel Gibson besetzt. Glover war zwar erst 40 und ist doch als gealterter, engagierter Polizist und Familienmensch vollkommen überzeugend. Gibson ist derweil eine Naturgewalt. Er spielt die unter der Oberfläche lauernde Psychopathie von Riggs so roh, brutal und echt, dass es verwundert, wie er hierfür keine Oscarnominierung erhalten konnte. Ein Blick in seine Augen allein lässt den Schmerz, die Verzweiflung und das Leid seiner Figur erahnen.
Zwei so talentierten Schauspielern auf der Höhe ihrer Kunst dabei zuzusehen, wie sie sich die Bälle zuspielen, ist ein Segen. Ob bei der Verbrecherjagd oder beim Herumschrauben an einem Freizeitboot: Ihre Dialoge erweisen sich als zugleich komisch und erstaunlich tiefsinnig. Shane Black vermengte die Präzision seines Mentoren William Goldman, der „Zwei Banditen“ und „Die Unbestechlichen“ schrieb, mit der harten Prosa eines Walter Hill, dessen „Nur 48 Stunden“ fünf Jahre vor „Lethal Weapon“ den Buddy-Film neuerfand. Auch Hill bot ein unfreiwilliges Duo, als Nick Nolte sich mit Eddie Murphy zusammenraufen musste. Die Rassenthematik eines gemischten Duos mit je weißer und schwarzer Haut gehörte da zum Konzept. Bei „Lethal Weapon“ war sie Zufall: Als man Richard Donner für Murtaugh den schwarzen Danny Glover vorschlug, war dessen Hautfarbe erst ein Contra-Argument für ihn, ehe er bemerkte, dass Murtaughs Hautfarbe im Drehbuch gar keine Erwähnung fand.
Der Plot ist zweckdienlich, nur ein Vorwand für den zweistündigen Cocktail aus Tempo, Gags und Spannung. Ein vermeintlicher Selbstmord eines barbusigen Callgirls führt die Ermittler auf die Spur eines Drogenrings aus ehemaligen CIA-Söldnern, die kurzerhand Murtaughs Tochter in ihre Gewalt bringen. Sobald dieser Schritt erfolgt, zündet Donner ein perfekt getaktetes Actionfeuerwerk, das sich sehen lassen kann, erst recht bei dem spärlichen Budget von nur 15 Millionen Dollar. Gebäude explodieren, es wird mit Elektroschocks gefoltert, Autos krachen ineinander oder heizen über den Hollywood-Boulevard. Es herrscht buchstäblich Krieg in den Straßen von Los Angeles.
Dabei bleibt die Regie stilbewusst und ausgeklügelt. Dies bemerkte sogar Filmkritiker und Pulitzer-Preisträger Roger Ebert, der über den Actionhit schrieb: „Ich bin ein Typ, der von Schießereien und Verfolgungsjagden gelangweilt ist. Ich habe das alles schon gesehen. Aber dieser Film hat mich von Anfang bis Ende begeistert.“ Kein Wunder, inszeniert Donner „Lethal Weapon“ doch als stimmungsvollen Mix aus Großstadt-Western und Neo-Noirdrama und kann sich dabei auf das Können seines ausgezeichneten Kameramanns Stephen Goldblatt verlassen. Ein Showdown mitten in der Wüste wird in fantastischen Panorama-Aufnahmen bebildert, selbst eine einfache Tiefgarage erhält durch seitlich einfallendes Licht einen expressionistischen, surrealistischen Anstrich.
Der überragende Soundtrack von Michael Kamen und Eric Clapton geht auf den Genre-Mix ein, bietet hetzende Gitarren, pompöse Trompeten und ein klagendes Saxophon. Vor allem Kamen fand seine Kompositionen offenbar so stark, dass er sie ein Jahr später für einen weiteren Actionklassiker abwandelte: „Stirb langsam“. Beiden Filmen ist gemein, dass sie an Weihnachten spielen, doch während Filmemacher John McTiernan dies in „Stirb langsam“ als Hintergrund für seine bleigefüllte Kapitalismuskritik nutzte, ist Donner an den Gegensätzen des Fests interessiert, welche sich in seinen Protagonisten ausdrücken: Die Nächstenliebe und das Familiäre im Kontrast zu Einsamkeit und Feiertagsdepressionen.
Besonders bemerkenswert gerät noch das Finale: Hier tritt Mel Gibson zu einem kompromisslosen und physisch nachfühlbaren Faustkampf gegen den Widersacher der Stunde an: Gary Busey, der als folternder Mr. Joshua in jedem anderen Film der absolute Star gewesen wäre. Die restlichen Polizisten, selbst Murtaugh, greifen nicht ein, als diese zwei Kraftprotze ihr Duell der Fäuste austragen. Sowohl Riggs als auch Joshua stehen außerhalb des Systems, außerhalb ihrer Gruppierungen. Sie dürfen ihr letztes Gefecht unter sich entscheiden, nach archaischen Regeln, vor einer großen Zuschauerschaft – eine phänomenale Analogie an die Schlussduelle in alten Westernfilmen.
Es ist eine ausgelutschte Phrase, doch sie stimmt: Nicht zuletzt durch die Leidenschaft aller Beteiligten wurde „Lethal Weapon“ zum Meisterwerk des Actionkinos. Aus den genialen Wortgefechten spricht die Energie eines jungen Drehbuchautors und seine Hoffnung nach dem Durchbruch. Der kam auch: Shane Black wurde in den 90ern zu einem der bestbezahlten Autoren im Filmgeschäft. Mel Gibson und Danny Glover zementierten dank „Lethal Weapon“ ihren Status als Actionhelden und wurden Superstars. Und über das Engagement des filmhistorisch sträflich unterschätzten Richard Donner lässt sich viel erzählen. Er machte aus Blacks Ideen eine aufrichtige Geschichte über eine Männerfreundschaft, in der der „Dirty Harry“-Einzelkämpfer zum Teamplayer wird. Er drehte, um Kosten zu sparen, mehrere Actionszenen in seinem eigenen Haus.
Er versteckte sogar eine politische Botschaft im Film. Am Kühlschrank im Hause Murtaugh prangt ein Aufkleber: „Stoppt die Apartheid!“ Später im Film trägt ein kleiner Junge ein T-Shirt mit derselben Botschaft. Als Reaktion darauf erhielt Donner aggressive Post, bis hin zu Todesdrohungen. Es schüchterte ihn nicht ein – für die erste von drei „Lethal Weapon“-Fortsetzungen, die er allesamt selbst verwirklichte, machte er Apartheid zum zentralen Thema. So arbeiten sie eben, die stahlharten Profis.
Im Jahr 1986 erfuhr der junge Filmstudent Shane Black von einem Trick unter Polizisten, der sogenannten „Psycho-Pension“. Hierbei simuliert ein Beamter psychische Probleme, um bezahlten Urlaub und eine Auszeit vom Dienst verordnet zu bekommen. Black hatte sofort einen Gedanken: ‚Was, wenn da ein Cop wäre, von dem alle denken, er wolle die „Psycho-Pension“ – der aber wirklich psychopathisch ist?‘ Er arbeitete die Idee aus und schrieb nicht nur sein erstes richtiges Drehbuch, sondern auch Filmgeschichte, als er dem verrückten Polizisten einen regeltreuen Partner an die Seite stellte. Das fertige Duo kennt heute jeder Filmfan – nicht unter dem deutschen Titel „Zwei stahlharte Profis“, sondern unter dem originalen: „Lethal Weapon“.
Mit dem Film revolutionierten Shane Black und Regisseur Richard Donner, der schon Klassiker wie „Superman“ oder „Die Goonies“ auf dem Kerbholz hatte, das Actiongenre. Dominierten bis dato muskelbepackte Alphamänner das Kino der Ära unter Präsident Ronald Reagan, unterschied „Lethal Weapon“ sich durch verletzbare Protagonisten. Beide werden – symbolträchtig – nackt eingeführt: Der Polizist Roger Murtaugh sitzt in der Badewanne, als seine Familie ihm dort zum 50. Geburtstag gratuliert. Während er seinem grauen Bart abtastet, wird er vom Töchterlein durch die Blume als altes Eisen bezeichnet. Den verrückten Cop Martin Riggs lernen die Zuschauer in seinem Wohnwagen am Strand kennen. Mit Zigarette im Mund, dem Gemächt in der Hand und dem Bier in greifbarer Nähe wird er beim Urinieren gezeigt. Er ist ein einsamer Wolf, der sichtbar mit dem Leben abgeschlossen hat.
Bereits hier unterscheidet sich „Lethal Weapon“ vom Genre-Standard seiner Zeit. Martin Riggs ist ein Revolverheld, jene Figur, die im Männerkino oft idealisiert und romantisiert wird – spätestens seit „Dirty Harry“, der 1971 in Gestalt von Clint Eastwood zur Legende wurde. Shane Black zählt den Film zu seinen Lieblingen. Sein Martin Riggs teilt viele Parallelen mit Harry Callahan: Beide sind Ex-Militärs von hohem Renommee, beide arbeiten außerhalb der Regeln, beide verloren ihre Frauen bei einem Autounfall. Doch Dirty Harry ist dank Eastwood die Coolness in Person. Seinen Schmerz versteckt er unter einer großen Sonnenbrille, seine zynischen Sprüche sind so pragmatisch wie sein Auftreten. Seine persönliche Tragödie erweitert nur sein Heldentum. Riggs ist das Gegenstück, ein emotionales Wrack. Was bei Callahan zur Bewunderung einlädt, ist bei ihm schmerzhafte Realität. In einer der großartigsten Szenen des Films steckt er sich eine Waffe in den Mund, versucht abzudrücken. Als er sich nicht überwinden kann, drückt er heulend das Bild seiner toten Frau an sich, schluchzt: „Wir sehen uns später.“
Kurz darauf befindet sich Riggs in einer identischen Situation wie einst Dirty Harry: Er soll einen Selbstmörder vom Springen abhalten. Eastwood fuhr als Harry per Feuerwehrkran zum Springer herauf, provozierte ihn und schlug ihn bewusstlos, brachte ihn so in Sicherheit. Riggs hingegen kettet sein Handgelenk einfach an das des Selbstmörders und springt mit ihm vom Dach – allerdings immerhin auf ein Sprungkissen der Polizei. In diesem Moment kapiert Murtaugh, sein neuer Partner: Dieser Mann ist nicht auf „Psycho-Pension“ aus, sondern ehrlich suizidgefährdet. Und mit dieser Erkenntnis ist das legendärste Buddy-Cop-Gespann des Kinos geboren, dank Murtaugh auch einer der berühmtesten Sprüche des Genres: „Ich bin zu alt für so eine Scheiße.“
„Lethal Weapon“ ist ein Klassiker, dem seine Frische und Inspiration über dreißig Jahre später noch anzusehen sind. Gründe dafür finden sich viele, einer der wichtigsten sind wohl die Hauptdarsteller: Roger Murtaugh und Martin Riggs wären nie so ikonisch geworden, hätte Richard Donner sie nicht mit Danny Glover und Mel Gibson besetzt. Glover war zwar erst 40 und ist doch als gealterter, engagierter Polizist und Familienmensch vollkommen überzeugend. Gibson ist derweil eine Naturgewalt. Er spielt die unter der Oberfläche lauernde Psychopathie von Riggs so roh, brutal und echt, dass es verwundert, wie er hierfür keine Oscarnominierung erhalten konnte. Ein Blick in seine Augen allein lässt den Schmerz, die Verzweiflung und das Leid seiner Figur erahnen.
Zwei so talentierten Schauspielern auf der Höhe ihrer Kunst dabei zuzusehen, wie sie sich die Bälle zuspielen, ist ein Segen. Ob bei der Verbrecherjagd oder beim Herumschrauben an einem Freizeitboot: Ihre Dialoge erweisen sich als zugleich komisch und erstaunlich tiefsinnig. Shane Black vermengte die Präzision seines Mentoren William Goldman, der „Zwei Banditen“ und „Die Unbestechlichen“ schrieb, mit der harten Prosa eines Walter Hill, dessen „Nur 48 Stunden“ fünf Jahre vor „Lethal Weapon“ den Buddy-Film neuerfand. Auch Hill bot ein unfreiwilliges Duo, als Nick Nolte sich mit Eddie Murphy zusammenraufen musste. Die Rassenthematik eines gemischten Duos mit je weißer und schwarzer Haut gehörte da zum Konzept. Bei „Lethal Weapon“ war sie Zufall: Als man Richard Donner für Murtaugh den schwarzen Danny Glover vorschlug, war dessen Hautfarbe erst ein Contra-Argument für ihn, ehe er bemerkte, dass Murtaughs Hautfarbe im Drehbuch gar keine Erwähnung fand.
Der Plot ist zweckdienlich, nur ein Vorwand für den zweistündigen Cocktail aus Tempo, Gags und Spannung. Ein vermeintlicher Selbstmord eines barbusigen Callgirls führt die Ermittler auf die Spur eines Drogenrings aus ehemaligen CIA-Söldnern, die kurzerhand Murtaughs Tochter in ihre Gewalt bringen. Sobald dieser Schritt erfolgt, zündet Donner ein perfekt getaktetes Actionfeuerwerk, das sich sehen lassen kann, erst recht bei dem spärlichen Budget von nur 15 Millionen Dollar. Gebäude explodieren, es wird mit Elektroschocks gefoltert, Autos krachen ineinander oder heizen über den Hollywood-Boulevard. Es herrscht buchstäblich Krieg in den Straßen von Los Angeles.
Dabei bleibt die Regie stilbewusst und ausgeklügelt. Dies bemerkte sogar Filmkritiker und Pulitzer-Preisträger Roger Ebert, der über den Actionhit schrieb: „Ich bin ein Typ, der von Schießereien und Verfolgungsjagden gelangweilt ist. Ich habe das alles schon gesehen. Aber dieser Film hat mich von Anfang bis Ende begeistert.“ Kein Wunder, inszeniert Donner „Lethal Weapon“ doch als stimmungsvollen Mix aus Großstadt-Western und Neo-Noirdrama und kann sich dabei auf das Können seines ausgezeichneten Kameramanns Stephen Goldblatt verlassen. Ein Showdown mitten in der Wüste wird in fantastischen Panorama-Aufnahmen bebildert, selbst eine einfache Tiefgarage erhält durch seitlich einfallendes Licht einen expressionistischen, surrealistischen Anstrich.
Der überragende Soundtrack von Michael Kamen und Eric Clapton geht auf den Genre-Mix ein, bietet hetzende Gitarren, pompöse Trompeten und ein klagendes Saxophon. Vor allem Kamen fand seine Kompositionen offenbar so stark, dass er sie ein Jahr später für einen weiteren Actionklassiker abwandelte: „Stirb langsam“. Beiden Filmen ist gemein, dass sie an Weihnachten spielen, doch während Filmemacher John McTiernan dies in „Stirb langsam“ als Hintergrund für seine bleigefüllte Kapitalismuskritik nutzte, ist Donner an den Gegensätzen des Fests interessiert, welche sich in seinen Protagonisten ausdrücken: Die Nächstenliebe und das Familiäre im Kontrast zu Einsamkeit und Feiertagsdepressionen.
Besonders bemerkenswert gerät noch das Finale: Hier tritt Mel Gibson zu einem kompromisslosen und physisch nachfühlbaren Faustkampf gegen den Widersacher der Stunde an: Gary Busey, der als folternder Mr. Joshua in jedem anderen Film der absolute Star gewesen wäre. Die restlichen Polizisten, selbst Murtaugh, greifen nicht ein, als diese zwei Kraftprotze ihr Duell der Fäuste austragen. Sowohl Riggs als auch Joshua stehen außerhalb des Systems, außerhalb ihrer Gruppierungen. Sie dürfen ihr letztes Gefecht unter sich entscheiden, nach archaischen Regeln, vor einer großen Zuschauerschaft – eine phänomenale Analogie an die Schlussduelle in alten Westernfilmen.
Es ist eine ausgelutschte Phrase, doch sie stimmt: Nicht zuletzt durch die Leidenschaft aller Beteiligten wurde „Lethal Weapon“ zum Meisterwerk des Actionkinos. Aus den genialen Wortgefechten spricht die Energie eines jungen Drehbuchautors und seine Hoffnung nach dem Durchbruch. Der kam auch: Shane Black wurde in den 90ern zu einem der bestbezahlten Autoren im Filmgeschäft. Mel Gibson und Danny Glover zementierten dank „Lethal Weapon“ ihren Status als Actionhelden und wurden Superstars. Und über das Engagement des filmhistorisch sträflich unterschätzten Richard Donner lässt sich viel erzählen. Er machte aus Blacks Ideen eine aufrichtige Geschichte über eine Männerfreundschaft, in der der „Dirty Harry“-Einzelkämpfer zum Teamplayer wird. Er drehte, um Kosten zu sparen, mehrere Actionszenen in seinem eigenen Haus.
Er versteckte sogar eine politische Botschaft im Film. Am Kühlschrank im Hause Murtaugh prangt ein Aufkleber: „Stoppt die Apartheid!“ Später im Film trägt ein kleiner Junge ein T-Shirt mit derselben Botschaft. Als Reaktion darauf erhielt Donner aggressive Post, bis hin zu Todesdrohungen. Es schüchterte ihn nicht ein – für die erste von drei „Lethal Weapon“-Fortsetzungen, die er allesamt selbst verwirklichte, machte er Apartheid zum zentralen Thema. So arbeiten sie eben, die stahlharten Profis.
Life in plastic, it's fantastic
Toy Story
Das deutsche Wort „Spielzeug“ ist genau betrachtet ziemlich degradierend: Die Rede ist bloß von „Zeug“, von belanglosen Objekten. Auch von „Spielsachen“ spricht man. Dabei weiß jedes Kind, dass in seinem Zimmer mit kleinen Figuren aus Kunststoff, Holz oder Metall eigene Geschichten erfunden und gespielt hat, wie viel Seele ein Spielzeug haben kann. Sie sind für die Kleinsten unter uns echte Freunde, Gefährten, mit denen man die tollsten Abenteuer erlebt, welche sich die Fantasie nur vorstellen kann. Doch wie sieht es in so einem Spielzeug aus? Sobald sie gefertigt wurden und in die Hände eines Kindes kommen, dreht sich ihr ganzer Lebensinhalt darum, Freude zu spenden. Könnten sie fühlen, was wäre wohl ihre größte Angst? Vermutlich in Vergessenheit zu geraten, nicht mehr gebraucht zu werden. Jedes Kind wird schließlich eines Tages älter – und hört auf zu spielen. Dieser originelle Perspektivwechsel ist keine rein philosophische Überlegung, sondern die Prämisse eines besonderen Films, des ersten vollständig computeranimierten Spielfilms aller Zeiten. Wie passend: Was sind Filmkünstler, wenn nicht spielende Kinder? Was sind ihre Charaktere, wenn nicht Spielzeuge? Was ist ein Film, wenn nicht eine große „Toy Story“?
Nach dem oscargekrönten CGI-Kurzfilm „Tin Toy“, bei dem ebenfalls ein Spielzeug im Mittelpunkt steht, hatte die Animationsfilmschmiede Pixar (eine ehemalige Forschungsabteilung des „Star Wars“-Regisseurs George Lucas) große Ambitionen, ein erstes Langfilmprojekt in Angriff zu nehmen. Doch „Toy Story“ ging vor seiner Veröffentlichung 1995 durch die Produktionshölle. Um das aufwendige Unterfangen überhaupt finanzieren zu können, ließ man sich auf Disney als Geldgeber ein. Und die Micky-Maus-Brutstätte hatte kein Interesse daran, nur zu zahlen: Das Studio hatte durch Mega-Hits wie „Arielle, die Meerjungfrau“, „Die Schöne und das Biest“ und „Aladdin“ eine Renaissance erlebt. So mischte sich der Geldgeber in den Prozess ein, das Drehbuch wurde mehrfach komplett umgeschrieben. Bei einer Version geriet die Hauptfigur, eine Cowboy-Aufziehpuppe namens Woody, gar zu einem tyrannischen Kinderzimmer-Diktator. Ein unverfilmbares Desaster. Nur zwei Wochen blieben Regisseur John Lasseter und seinem Team von da an, um das Projekt zu retten.
Von all dem ist in „Toy Story“ nichts zu sehen, im Gegenteil: Der Film, an dem unter anderem Joss Whedon mitschrieb, ist eine Offenbarung. Er muss sogar als Wunder bezeichnet werden! Die Vermutung lag immerhin nahe, der erste vollständig computeranimierte Film würde sich hauptsächlich auf sein komplexes Gimmick fokussieren, eine Technikdemonstration werden. Weit gefehlt: „Toy Story“ begeistert und fasziniert durch ein ausgeklügeltes, intelligentes Drehbuch und bietet eine emotionale Achterbahnfahrt für Jung und Alt. Die Kreativität des Plots und der Welt, in die er spielt, lässt sich nur bewundern: Immer, wenn der kleine Andy nicht in seinem Kinderzimmer ist, erwachen alle seine Spielzeuge zum Leben. Sie leben in ihrer eigenen Hierarchie. Andys Lieblingsspielzeug Woody ist ein Anführer für seine Mitstreiter. Große Augen machen alle, als Andy zu seinem Geburtstag ein neues Spielzeug bekommt, den High-Tech-Astronauten Buzz Lightyear, der nach und nach Woody aus Andys Herz verdrängt.
Der Blick in den Mikrokosmos von Andys Zimmer alleine zeigt mühelos, dass die kreativen Köpfe von Pixar in ihrer eigenen Liga spielen: Die Figurenzeichnung ist in wenigen Minuten, teils Sekunden, auf den Punkt, entstammen die Charakterzüge doch den jeweiligen Eigenarten des Spielzeugs: Dinosaurier Rex zum Beispiel ist ein billiges Plastikspielzeug, sein Schwanz ist nur dürftig grün besprüht. Kein Wunder also, dass diese Figur, die eigentlich ein mächtiges Raubtier darstellt, starke Minderwertigkeitskomplexe hat. Eine andere Figur, Mr. Potato Head, ist ständig genervt – und wer wäre das nicht, würde ihm auch bei jeder Gelegenheit das Gesicht abfallen? Das Kernstück der Erzählung sind aber Woody und Buzz. Ihr Konflikt ist tatsächlich historisch belegt: In den 1950ern, als das Western-Genre einen Kassenknüller nach dem nächsten erzeugte, gab es einen Boom an Cowboy-Figuren. Durch die aufkommende Weltraumeroberung im Zuge des Sputnik-Programms wurden die Cowboys von den Astronauten verdrängt – so wie Woody von Buzz.
Aber es ist noch etwas komplizierter: Buzz weiß gar nicht, dass er ein Spielzeug ist, sondern glaubt sich als echter Space Ranger. Die Lampe in seinem Arm hält er für einen Laserstrahl. Seine kaputte Verpackung, sein „Raumschiff“, gibt er glatt in Reparatur. Woody versucht sich als Stimme der Vernunft, vergeblich: Buzz lebt in einer Illusion. Schon hier zeigt sich, wie komplex die Handlung aufgebaut ist. Beide Hauptfiguren müssen eine schwierige, tiefsinnige Wandlung durchmachen. Woody muss seinen Neid überwinden und akzeptieren, dass er die Liebe von Andy nicht für sich allein beanspruchen darf. Buzz hingegen steht irgendwann unweigerlich vor der Erkenntnis, in einer Traumwelt zu leben. Es ist eine großartige Szene, als er spät im Film auf einen Fernseher starrt, auf dem ein Werbespot für eine Buzz-Lightyear-Actionfigur sieht und in seinen Augen sichtbar etwas zerbricht. Ein Spielzeug verlässt Platons Höhle.
Vordererst war „Toy Story“ eine technische Revolution, ein Meilenstein der Filmgeschichte. Doch gerade solche können schnell veralten: An beeindruckenden Spezialeffekten nagt der Zahn der Zeit am stärksten. Die Figuren jedoch sehen heute immer noch überzeugend aus – und wurden u.a. auch deshalb gewählt, weil sie allesamt aus Plastik sind, somit leichter zu animieren waren. Allerdings katapultierte Pixar in späteren Filmen die Möglichkeiten des Mediums in neue Höhen, die ihren Erstling längst überschatten. Und doch hat „Toy Story“ seine Stellung als Meisterwerk des Kinos nie eingebüßt. Weil das, was da vor den damals noch minimalistisch-animierten Hintergründen umgesetzt wurde, ein Musterbeispiel für großartiges, einfallsreiches Filmemachen darstellt. In nur 81 Minuten erzählt Lasseter eine starke und abwechslungsreiche Geschichte, deren Ausgangspunkt für einen Kinderfilm gewagt ist: Aus Eifersucht schubst Woody den verhassten Buzz (wenn auch etwas unfreiwillig) aus dem Fenster und wird für diesen versuchten Mord von den anderen Spielzeugen hinterhergeworfen. Von nun an muss das ungleiche Duo mehrere Strapazen und Actionszenen überstehen, um den Weg nach Hause zu finden und sich zusammenzuraufen.
Die Kompromisslosigkeit, mit der „Toy Story“ ein ganzes Genre umkrempelte, ist bemerkenswert. Bei all den Risiken, die Pixar mit der kritisch beäugten Computeranimationstechnik einging, ist es umso erstaunlicher, wie mutig auch die Geschichte des Films ist. Nicht genug, dass die entscheidende Tat des Films Hauptfigur Woody potenziell zum Unsympathen werden lässt, ist „Toy Story“ auch ein radikaler Bruch mit der klassischen Disney-Formel: Der Film ist kein Märchen, hat nur ganz am Rande Ansätze einer Liebesgeschichte, ist nicht einmal ein Musical. Stattdessen erzählt Lasseter seinen Geniestreich als charakterzentriertes Buddy-Movie in der Tradition von „Lethal Weapon“, als postmodernen Actionfilm, dessen großes, perfekt inszeniertes Crescendo (eine wilde Verfolgungsjagd aus dem Lehrbuch) so nur durch die berauschenden virtuellen Kamerafahrten möglich wurde. Und statt Muscialeinlagen rotzt in mehreren funkigen Blues-Songs aus dem Off die Stimme von Soundtrack-Komponist Randy Newman durch die Szenerie – nicht mehr und nicht weniger als ein brillanter Einfall.
Es ist wenig überraschend, dass „Toy Story“ auf lange Sicht das Ende des Zeichentrickfilms einläutete. Woody und Buzz sind dermaßen fantastisch charakterisiert, wohlüberlegt geschrieben und wirken dank ihrer dreidimensionalen Optik umso authentischer, sodass sie allein Grund genug waren, in die bis dato noch in den Kinderschuhen steckende Technik zu investieren. Wenige Jahre später war der Hype bereits so weit, dass bei den Oscars eine eigene Kategorie für den Besten Animationsfilm eingeführt wurde. Dass Woody und Buzz auf der Leinwand mehr Emotionen wecken als mancher Hollywood-Star, mag daran liegen, weil sie von welchen gesprochen werden. Ursprünglich waren Paul Newman und Jim Carrey angedacht, am Ende entschied man sich für die Paarung aus Oscar-Preisträger Tom Hanks für Woody und Sitcom-Ikone Tim Allen für Buzz. Beide transportieren durch ihre Stimmen eine mannigfaltige Palette an Gefühlen und füllen die Figuren mit Leben. Sie sind definitiv kein „Spielzeug“, sondern echte Helden.
„Toy Story“ ist alles, was Kino sein soll: Aufregend, mutig, witzig, intelligent, unterhaltsam und tief bewegend. Die Geburtsstunde der Innovationsschmiede Pixar war ein Triumph in mehrfacher Hinsicht. Sie lancierte zwei neue Ikonen in Millionen von Kinderzimmern, eroberte vielfältige Möglichkeiten der visuellen Darstellungsform und bewies eindrucksvoll, wie gelebter Enthusiasmus große Kunst schaffen kann. Und an noch etwas erinnert der Film: Wie wertvoll es ist, auch als Erwachsener das Spielen nicht zu verlernen. In der Fantasie gibt es schließlich wie im Kino keine Grenzen. Oder – wie Buzz Lightyear zu sagen pflegt – dort geht es „bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter“.
Das deutsche Wort „Spielzeug“ ist genau betrachtet ziemlich degradierend: Die Rede ist bloß von „Zeug“, von belanglosen Objekten. Auch von „Spielsachen“ spricht man. Dabei weiß jedes Kind, dass in seinem Zimmer mit kleinen Figuren aus Kunststoff, Holz oder Metall eigene Geschichten erfunden und gespielt hat, wie viel Seele ein Spielzeug haben kann. Sie sind für die Kleinsten unter uns echte Freunde, Gefährten, mit denen man die tollsten Abenteuer erlebt, welche sich die Fantasie nur vorstellen kann. Doch wie sieht es in so einem Spielzeug aus? Sobald sie gefertigt wurden und in die Hände eines Kindes kommen, dreht sich ihr ganzer Lebensinhalt darum, Freude zu spenden. Könnten sie fühlen, was wäre wohl ihre größte Angst? Vermutlich in Vergessenheit zu geraten, nicht mehr gebraucht zu werden. Jedes Kind wird schließlich eines Tages älter – und hört auf zu spielen. Dieser originelle Perspektivwechsel ist keine rein philosophische Überlegung, sondern die Prämisse eines besonderen Films, des ersten vollständig computeranimierten Spielfilms aller Zeiten. Wie passend: Was sind Filmkünstler, wenn nicht spielende Kinder? Was sind ihre Charaktere, wenn nicht Spielzeuge? Was ist ein Film, wenn nicht eine große „Toy Story“?
Nach dem oscargekrönten CGI-Kurzfilm „Tin Toy“, bei dem ebenfalls ein Spielzeug im Mittelpunkt steht, hatte die Animationsfilmschmiede Pixar (eine ehemalige Forschungsabteilung des „Star Wars“-Regisseurs George Lucas) große Ambitionen, ein erstes Langfilmprojekt in Angriff zu nehmen. Doch „Toy Story“ ging vor seiner Veröffentlichung 1995 durch die Produktionshölle. Um das aufwendige Unterfangen überhaupt finanzieren zu können, ließ man sich auf Disney als Geldgeber ein. Und die Micky-Maus-Brutstätte hatte kein Interesse daran, nur zu zahlen: Das Studio hatte durch Mega-Hits wie „Arielle, die Meerjungfrau“, „Die Schöne und das Biest“ und „Aladdin“ eine Renaissance erlebt. So mischte sich der Geldgeber in den Prozess ein, das Drehbuch wurde mehrfach komplett umgeschrieben. Bei einer Version geriet die Hauptfigur, eine Cowboy-Aufziehpuppe namens Woody, gar zu einem tyrannischen Kinderzimmer-Diktator. Ein unverfilmbares Desaster. Nur zwei Wochen blieben Regisseur John Lasseter und seinem Team von da an, um das Projekt zu retten.
Von all dem ist in „Toy Story“ nichts zu sehen, im Gegenteil: Der Film, an dem unter anderem Joss Whedon mitschrieb, ist eine Offenbarung. Er muss sogar als Wunder bezeichnet werden! Die Vermutung lag immerhin nahe, der erste vollständig computeranimierte Film würde sich hauptsächlich auf sein komplexes Gimmick fokussieren, eine Technikdemonstration werden. Weit gefehlt: „Toy Story“ begeistert und fasziniert durch ein ausgeklügeltes, intelligentes Drehbuch und bietet eine emotionale Achterbahnfahrt für Jung und Alt. Die Kreativität des Plots und der Welt, in die er spielt, lässt sich nur bewundern: Immer, wenn der kleine Andy nicht in seinem Kinderzimmer ist, erwachen alle seine Spielzeuge zum Leben. Sie leben in ihrer eigenen Hierarchie. Andys Lieblingsspielzeug Woody ist ein Anführer für seine Mitstreiter. Große Augen machen alle, als Andy zu seinem Geburtstag ein neues Spielzeug bekommt, den High-Tech-Astronauten Buzz Lightyear, der nach und nach Woody aus Andys Herz verdrängt.
Der Blick in den Mikrokosmos von Andys Zimmer alleine zeigt mühelos, dass die kreativen Köpfe von Pixar in ihrer eigenen Liga spielen: Die Figurenzeichnung ist in wenigen Minuten, teils Sekunden, auf den Punkt, entstammen die Charakterzüge doch den jeweiligen Eigenarten des Spielzeugs: Dinosaurier Rex zum Beispiel ist ein billiges Plastikspielzeug, sein Schwanz ist nur dürftig grün besprüht. Kein Wunder also, dass diese Figur, die eigentlich ein mächtiges Raubtier darstellt, starke Minderwertigkeitskomplexe hat. Eine andere Figur, Mr. Potato Head, ist ständig genervt – und wer wäre das nicht, würde ihm auch bei jeder Gelegenheit das Gesicht abfallen? Das Kernstück der Erzählung sind aber Woody und Buzz. Ihr Konflikt ist tatsächlich historisch belegt: In den 1950ern, als das Western-Genre einen Kassenknüller nach dem nächsten erzeugte, gab es einen Boom an Cowboy-Figuren. Durch die aufkommende Weltraumeroberung im Zuge des Sputnik-Programms wurden die Cowboys von den Astronauten verdrängt – so wie Woody von Buzz.
Aber es ist noch etwas komplizierter: Buzz weiß gar nicht, dass er ein Spielzeug ist, sondern glaubt sich als echter Space Ranger. Die Lampe in seinem Arm hält er für einen Laserstrahl. Seine kaputte Verpackung, sein „Raumschiff“, gibt er glatt in Reparatur. Woody versucht sich als Stimme der Vernunft, vergeblich: Buzz lebt in einer Illusion. Schon hier zeigt sich, wie komplex die Handlung aufgebaut ist. Beide Hauptfiguren müssen eine schwierige, tiefsinnige Wandlung durchmachen. Woody muss seinen Neid überwinden und akzeptieren, dass er die Liebe von Andy nicht für sich allein beanspruchen darf. Buzz hingegen steht irgendwann unweigerlich vor der Erkenntnis, in einer Traumwelt zu leben. Es ist eine großartige Szene, als er spät im Film auf einen Fernseher starrt, auf dem ein Werbespot für eine Buzz-Lightyear-Actionfigur sieht und in seinen Augen sichtbar etwas zerbricht. Ein Spielzeug verlässt Platons Höhle.
Vordererst war „Toy Story“ eine technische Revolution, ein Meilenstein der Filmgeschichte. Doch gerade solche können schnell veralten: An beeindruckenden Spezialeffekten nagt der Zahn der Zeit am stärksten. Die Figuren jedoch sehen heute immer noch überzeugend aus – und wurden u.a. auch deshalb gewählt, weil sie allesamt aus Plastik sind, somit leichter zu animieren waren. Allerdings katapultierte Pixar in späteren Filmen die Möglichkeiten des Mediums in neue Höhen, die ihren Erstling längst überschatten. Und doch hat „Toy Story“ seine Stellung als Meisterwerk des Kinos nie eingebüßt. Weil das, was da vor den damals noch minimalistisch-animierten Hintergründen umgesetzt wurde, ein Musterbeispiel für großartiges, einfallsreiches Filmemachen darstellt. In nur 81 Minuten erzählt Lasseter eine starke und abwechslungsreiche Geschichte, deren Ausgangspunkt für einen Kinderfilm gewagt ist: Aus Eifersucht schubst Woody den verhassten Buzz (wenn auch etwas unfreiwillig) aus dem Fenster und wird für diesen versuchten Mord von den anderen Spielzeugen hinterhergeworfen. Von nun an muss das ungleiche Duo mehrere Strapazen und Actionszenen überstehen, um den Weg nach Hause zu finden und sich zusammenzuraufen.
Die Kompromisslosigkeit, mit der „Toy Story“ ein ganzes Genre umkrempelte, ist bemerkenswert. Bei all den Risiken, die Pixar mit der kritisch beäugten Computeranimationstechnik einging, ist es umso erstaunlicher, wie mutig auch die Geschichte des Films ist. Nicht genug, dass die entscheidende Tat des Films Hauptfigur Woody potenziell zum Unsympathen werden lässt, ist „Toy Story“ auch ein radikaler Bruch mit der klassischen Disney-Formel: Der Film ist kein Märchen, hat nur ganz am Rande Ansätze einer Liebesgeschichte, ist nicht einmal ein Musical. Stattdessen erzählt Lasseter seinen Geniestreich als charakterzentriertes Buddy-Movie in der Tradition von „Lethal Weapon“, als postmodernen Actionfilm, dessen großes, perfekt inszeniertes Crescendo (eine wilde Verfolgungsjagd aus dem Lehrbuch) so nur durch die berauschenden virtuellen Kamerafahrten möglich wurde. Und statt Muscialeinlagen rotzt in mehreren funkigen Blues-Songs aus dem Off die Stimme von Soundtrack-Komponist Randy Newman durch die Szenerie – nicht mehr und nicht weniger als ein brillanter Einfall.
Es ist wenig überraschend, dass „Toy Story“ auf lange Sicht das Ende des Zeichentrickfilms einläutete. Woody und Buzz sind dermaßen fantastisch charakterisiert, wohlüberlegt geschrieben und wirken dank ihrer dreidimensionalen Optik umso authentischer, sodass sie allein Grund genug waren, in die bis dato noch in den Kinderschuhen steckende Technik zu investieren. Wenige Jahre später war der Hype bereits so weit, dass bei den Oscars eine eigene Kategorie für den Besten Animationsfilm eingeführt wurde. Dass Woody und Buzz auf der Leinwand mehr Emotionen wecken als mancher Hollywood-Star, mag daran liegen, weil sie von welchen gesprochen werden. Ursprünglich waren Paul Newman und Jim Carrey angedacht, am Ende entschied man sich für die Paarung aus Oscar-Preisträger Tom Hanks für Woody und Sitcom-Ikone Tim Allen für Buzz. Beide transportieren durch ihre Stimmen eine mannigfaltige Palette an Gefühlen und füllen die Figuren mit Leben. Sie sind definitiv kein „Spielzeug“, sondern echte Helden.
„Toy Story“ ist alles, was Kino sein soll: Aufregend, mutig, witzig, intelligent, unterhaltsam und tief bewegend. Die Geburtsstunde der Innovationsschmiede Pixar war ein Triumph in mehrfacher Hinsicht. Sie lancierte zwei neue Ikonen in Millionen von Kinderzimmern, eroberte vielfältige Möglichkeiten der visuellen Darstellungsform und bewies eindrucksvoll, wie gelebter Enthusiasmus große Kunst schaffen kann. Und an noch etwas erinnert der Film: Wie wertvoll es ist, auch als Erwachsener das Spielen nicht zu verlernen. In der Fantasie gibt es schließlich wie im Kino keine Grenzen. Oder – wie Buzz Lightyear zu sagen pflegt – dort geht es „bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter“.
Ist das Leben nicht zum Kotzen schön?
Asphalt-Cowboy
„Jeder redet auf mich ein. Ich höre kein Wort von dem, was sie sagen. Nur die Echos meiner Gedanken.“ – Manches Musikstück kommt in einem Film so prägend, so unglaublich passend zum Einsatz, dass es von nun an für immer mit dem Werk verbunden ist. So geschehen 1969, als die Zuschauer im dunklen Kinosaal der Stimme von Harry Nilsson lauschten, wie er mit der Folk-Ballade „Everybody’s Talkin“ das Drama „Asphalt-Cowboy“ eröffnet. Das Lied handelt vom Wunsch des Sängers, sich aus der Härte der Stadt zurückzuziehen. Der Film dazu eröffnet entgegengesetzt: Da steigt ein junger Bilderbuch-Texaner, mit Cowboy-Hut, braunen Stiefeln und Fransen an jedem Kleidungsstück, in einen Bus, lässt sein Leben als Tellerwäscher hinter sich, fährt in die Metropole, nach New York City. Er träumt den Amerikanischen Traum, hat das große Geld im Sinn. Wie er, dieser „Asphalt-Cowboy“ namens Joe Buck, sein Ziel erreichen will, weiß er genau: Er plant, ein Gigolo zu werden. Die vornehmen Großstadt-Damen träumen schließlich geradezu von einem Kerl wie ihm – oder?
Natürlich sieht die Realität anders aus. Mit seinen vermeintlich flotten Sprüchen kommt Joe bei den resoluten Damen des Big Apples nicht weit. Als er das erste Mal mit einer älteren Dame im Bett landet, stellt sich diese im Nachhinein selbst als Edel-Prostituierte heraus – und statt zu kassieren, muss Joe für den gemeinsamen Bettsport blechen. Hoffnung schöpft er zum ersten Mal, als er in einer Bar den intelligenten, aber kranken Straßengauner Rizzo trifft. Wenig überraschend fällt der naive Südstaatler zuerst auf den Betrüger rein, lässt sich um 20 Dollar abzocken. Doch als er ihm ein zweites Mal begegnet, helfen sie sich gegenseitig. Rizzo sucht jemanden, mit dem er ein paar müde Mark verdienen und sich ein Busticket ins sonnige Florida leisten kann. Joe darf solange bei ihm unterkommen: In einer erbärmlichen, verfallenen Wohnung eines abrissfälligen Gebäudes.
Zwei Außenseiter also, zwei Loser, zwei Antihelden, die nichts haben, außer ihrer Zweckgemeinschaft, die sie selbst vielleicht für Freundschaft halten. Joe Buck und Enrico Salvatore Rizzo hängen beide ihrerseits am Amerikanischen Traum, leben aber seine hässliche Kehrseite. Aus dem Wasserhahn in ihrer Unterkunft ragt ein großer Eiszapfen, Rizzo hustet regelmäßig hörbar um sein Leben, hinkt mit einem Bein stark nach. Auch Joe kann keinen Stich landen: Mit dem Casanova-Dasein läuft es so miserabel, dass er sich vor lauter finanzieller Verzweiflung heimlich in dunklen Kinosälen trotz seiner Heterosexualität auf Fellatio von männlichen Freiern einlassen muss. Eine gewagte Szene: Als der britische Regisseur John Schlesinger die Romanvorlage von „Asphalt-Cowboy“ verfilmen wollte, waren Inhalte wie dieser der Grund, weshalb man ihm versicherte, kein US-Studio würde sein Projekt finanzieren.
Zum Glück hörte er nicht auf diese Prophezeiungen, sah sich durch sie eher angestachelt: Mit „Asphalt-Cowboy“ gelang ihm sein Meisterstück, sein filmisches Aushängeschild. Seine freie Adaption der Buchvorlage von James Leo Herlihy passte in den Zeitgeist des Jahres 1969, als die Vereinigten Staaten zwischen Depression und Hybris pendelten: Richard Nixon übernahm damals die Macht im Weißen Haus, die Hippies feierten in Woodstock, Kriegsverbrechen in Vietnam kamen ans Licht und der Wettlauf ins All fand seinen Höhepunkt. Während Neil Armstrong in der Schwerelosigkeit einen kleinen Schritt für einen Mensch, aber einen großen Sprung für die Menschheit auf den Mond setzte, humpelte sich Dustin Hoffman als Rizzo, abfällig „Ratso“ genannt, auf dem schwer gepflasterten Boden des New Yorker Großstadtdschungels zum Helden einer Generation von Kinogängern.
Wie er und der damalige Leinwand-Frischling Jon Voight als Joe Buck das Leben mit all seiner Härte nehmen und in ihrer Misere den Wert des jeweils anderen erkennen, ist von beiden Schauspielern so anrührend, offenherzig und facettenreich gespielt, dass sie in dieser Duo-Konstellationen zu Kino-Ikonen wurden. Voight ist mit seinen runden Augen, seinen verwegenen blonden Haaren und der optimistischen Ausstrahlung die Idealbesetzung für Buck, doch Hoffman muss als Naturgewalt bezeichnet werden: Seine Darbietung wird noch ein halbes Jahrhundert später regelmäßig genannt, geht es um die allergrößten Schauspiel-Leistungen – zurecht! Mit intensiver Authentizität reifte sein Rizzo zum Archetyp einer Kinoepoche: Die ausklingenden 1960er waren der Beginn des New Hollywood, eine Zeit, in der das traditionelle Studiosystem durch gesellschaftskritische, unkonventionelle Filme revolutioniert wurden. Schon zwei Jahre zuvor war Hoffman in „Die Reifeprüfung“, einem Vorreiter dieser Ära, der Star, in „Asphalt-Cowboy“ wurde er ihr Gesicht.
Der Mut, mit dem John Schlesinger diesen Film ins Kino brachte, beeindruckt. Bei der Veröffentlichung erhielt sein Werk das frisch eingeführte X-Rating: Die höchste Altersfreigabe, eigentlich ausschließlich für Pornofilme reserviert. Auf das Publikum wirkte der hässliche Blick auf die Lebenswirklichkeit in US-Großstädten unerhört. Die Sprache des Drehbuchautoren Waldo Salt war vulgär, voller Profanität. Sie entstammte dem, was er tagtäglich auf den Straßen von New York hörte. Wohl auch deshalb, weil der Film direkt der Realität entnommen war, sahen seine Macher ihn weniger kontrovers. Kameramann Adam Holender konnte, als die ersten Kritiken erschienen, nicht verstehen, weshalb diese menschliche Geschichte vom Feuilleton zum großen Tabubruch erklärt wurde. Michael Childers, der Lebensgefährte von Schlesinger, erkannte in den Reaktionen sogar Heuchelei – schließlich zeige der Film nichts, was 1969 nicht zum New Yorker Alltag auf der 42. Straße gehörte.
Zum Meisterwerk wird „Asphalt-Cowboy“ durch seine dichte Atmosphäre. Während der urbane Lebensstil als knallharter, schonungsloser Existenzkampf zugespitzt wird, ist in den ruhigen Szenen zwischen Voight und Hoffman ein sanfter Humanismus zu spüren. Mit großer Sensibilität erzählt Schlesinger von seinen tragischen Figuren, und so viel Sympathie er mit ihnen hat, so viele hässliche Seiten gesteht er ihnen auch zu. Genauso gestaltet sich sein Bildaufbau: Die Kamera zeigt beeindruckende Panoramen voller Dreck und Schmutz, blickt aber nicht abfällig auf die unschönen Seiten des Lebens. Stattdessen bekommt der Moloch einen nahezu märchenhaften Charakter. Sollten später Regisseure wie Woody Allen oder Martin Scorsese für ihre New-York-Filme gelobt werden, so ist wohl „Asphalt-Cowboy“ die größte filmische Liebeserklärung an die Stadt, die niemals schläft.
Einer konventionellen Dramaturgie verweigert sich „Asphalt-Cowboy“ mit letzter Konsequenz. Die Odyssee beider Hauptfiguren ist episodisch angelegt, und die Kamera verweilt gerne ein Minütchen länger im Augenblick. Viele Szenen wurden ohne angeheuerte Statisten direkt auf offener Straße gedreht, legendär landete so ein Moment im Film, in dem ein Taxifahrer beinahe Dustin Hoffman überfahren hätte. Mit diesem Willen zur Wiedergabe der Realität dokumentiert die Milieustudie die ganze Bandbreite der New Yorker Kultur: Coca-Cola-Trinker sind omnipräsent, ein kleines Mädchen liest einen Wonder-Woman-Comic, Pazifisten demonstrieren nahe des Time Squares, derweil geraten Joe und Rizzo auf eine Party im Stil des abstrakten Künstlers Andy Warhol, Drogentrip inklusive. An diesen Stellen wird die Montage wild, desorientierend, nervenkitzelnd. Sie ergibt sich dem Rausch, der hedonistischen Illusion.
Im selben Stil wird mehrfach die Vergangenheit von Joe angedeutet, in bunten, verwirrend-albträumerischen Rückblenden scheint er Opfer einer Massenvergewaltigung zu werden. Ansätze einer freudianischen psychoanalytischen Deutung finden sich viele, wer jedoch genau Bescheid wissen will, muss in den Roman schauen. Die Tagträumereien von Rizzo sind hingegen leicht zu verstehen: Er sieht sich gemeinsam mit Joe in einem Luxushotel in Florida, umringt von schönen Damen. Komponist John Barry lässt eine flehende Mundharmonika spielen, trägt damit immens zu der gefühlten Hoffnung bei, beiden Figuren sei ein Ausweg aus ihrem Elend vorherbestimmt. Letztlich endet „Asphalt-Cowboy“ wie er begann mit einer schicksalshaften Busfahrt. Joe und Rizzo machen sich auf den Weg nach Florida, auf den Weg ins Paradies – ein Ort, von dem aus es bekanntlich keine Wiederkehr gibt.
„Asphalt-Cowboy“ ist ein Kultklassiker, ein Kind seiner Zeit, und doch zeitlos. Meisterhaft versteht Schlesinger es, sich nie dem Zynismus hinzugeben, sondern eine zutiefst bittere, aber zugleich zärtliche Loserballade zu erzählen, in welcher der Amerikanische Traum zur Amerikanischen Tragödie wird. 1969 gab es hierfür drei Oscars – u.a. in der Hauptkategorie als "Bester Film". Die Auszeichnung bestätigte, dass die Ära des New Hollywood sich nicht mehr aufhalten ließ. Jon Voight und Dustin Hoffman, beide als "Bester Hauptdarsteller" nominiert, mussten sich jedoch Filmlegende John Wayne geschlagen geben, der für den altmodischen Western „Der Marshal“ seinen einzigen Goldjungen gewann. Erst Jahre später sollten beide in der Kategorie triumphieren. Ironischerweise wird John Wayne selbst in „Asphalt-Cowboy“ erwähnt: Joe nutzt ihn zur Verteidigung, als Rizzo den Cowboy-Kleidungsstil als „schwul“ bezeichnet. Dabei hatte Rizzo nur erkannt, was die Oscar-Jury noch nicht einsehen wollte: Die Zeit der Cowboys war vorbei, das Zeitalter der Asphalt-Cowboys eingeläutet.
„Jeder redet auf mich ein. Ich höre kein Wort von dem, was sie sagen. Nur die Echos meiner Gedanken.“ – Manches Musikstück kommt in einem Film so prägend, so unglaublich passend zum Einsatz, dass es von nun an für immer mit dem Werk verbunden ist. So geschehen 1969, als die Zuschauer im dunklen Kinosaal der Stimme von Harry Nilsson lauschten, wie er mit der Folk-Ballade „Everybody’s Talkin“ das Drama „Asphalt-Cowboy“ eröffnet. Das Lied handelt vom Wunsch des Sängers, sich aus der Härte der Stadt zurückzuziehen. Der Film dazu eröffnet entgegengesetzt: Da steigt ein junger Bilderbuch-Texaner, mit Cowboy-Hut, braunen Stiefeln und Fransen an jedem Kleidungsstück, in einen Bus, lässt sein Leben als Tellerwäscher hinter sich, fährt in die Metropole, nach New York City. Er träumt den Amerikanischen Traum, hat das große Geld im Sinn. Wie er, dieser „Asphalt-Cowboy“ namens Joe Buck, sein Ziel erreichen will, weiß er genau: Er plant, ein Gigolo zu werden. Die vornehmen Großstadt-Damen träumen schließlich geradezu von einem Kerl wie ihm – oder?
Natürlich sieht die Realität anders aus. Mit seinen vermeintlich flotten Sprüchen kommt Joe bei den resoluten Damen des Big Apples nicht weit. Als er das erste Mal mit einer älteren Dame im Bett landet, stellt sich diese im Nachhinein selbst als Edel-Prostituierte heraus – und statt zu kassieren, muss Joe für den gemeinsamen Bettsport blechen. Hoffnung schöpft er zum ersten Mal, als er in einer Bar den intelligenten, aber kranken Straßengauner Rizzo trifft. Wenig überraschend fällt der naive Südstaatler zuerst auf den Betrüger rein, lässt sich um 20 Dollar abzocken. Doch als er ihm ein zweites Mal begegnet, helfen sie sich gegenseitig. Rizzo sucht jemanden, mit dem er ein paar müde Mark verdienen und sich ein Busticket ins sonnige Florida leisten kann. Joe darf solange bei ihm unterkommen: In einer erbärmlichen, verfallenen Wohnung eines abrissfälligen Gebäudes.
Zwei Außenseiter also, zwei Loser, zwei Antihelden, die nichts haben, außer ihrer Zweckgemeinschaft, die sie selbst vielleicht für Freundschaft halten. Joe Buck und Enrico Salvatore Rizzo hängen beide ihrerseits am Amerikanischen Traum, leben aber seine hässliche Kehrseite. Aus dem Wasserhahn in ihrer Unterkunft ragt ein großer Eiszapfen, Rizzo hustet regelmäßig hörbar um sein Leben, hinkt mit einem Bein stark nach. Auch Joe kann keinen Stich landen: Mit dem Casanova-Dasein läuft es so miserabel, dass er sich vor lauter finanzieller Verzweiflung heimlich in dunklen Kinosälen trotz seiner Heterosexualität auf Fellatio von männlichen Freiern einlassen muss. Eine gewagte Szene: Als der britische Regisseur John Schlesinger die Romanvorlage von „Asphalt-Cowboy“ verfilmen wollte, waren Inhalte wie dieser der Grund, weshalb man ihm versicherte, kein US-Studio würde sein Projekt finanzieren.
Zum Glück hörte er nicht auf diese Prophezeiungen, sah sich durch sie eher angestachelt: Mit „Asphalt-Cowboy“ gelang ihm sein Meisterstück, sein filmisches Aushängeschild. Seine freie Adaption der Buchvorlage von James Leo Herlihy passte in den Zeitgeist des Jahres 1969, als die Vereinigten Staaten zwischen Depression und Hybris pendelten: Richard Nixon übernahm damals die Macht im Weißen Haus, die Hippies feierten in Woodstock, Kriegsverbrechen in Vietnam kamen ans Licht und der Wettlauf ins All fand seinen Höhepunkt. Während Neil Armstrong in der Schwerelosigkeit einen kleinen Schritt für einen Mensch, aber einen großen Sprung für die Menschheit auf den Mond setzte, humpelte sich Dustin Hoffman als Rizzo, abfällig „Ratso“ genannt, auf dem schwer gepflasterten Boden des New Yorker Großstadtdschungels zum Helden einer Generation von Kinogängern.
Wie er und der damalige Leinwand-Frischling Jon Voight als Joe Buck das Leben mit all seiner Härte nehmen und in ihrer Misere den Wert des jeweils anderen erkennen, ist von beiden Schauspielern so anrührend, offenherzig und facettenreich gespielt, dass sie in dieser Duo-Konstellationen zu Kino-Ikonen wurden. Voight ist mit seinen runden Augen, seinen verwegenen blonden Haaren und der optimistischen Ausstrahlung die Idealbesetzung für Buck, doch Hoffman muss als Naturgewalt bezeichnet werden: Seine Darbietung wird noch ein halbes Jahrhundert später regelmäßig genannt, geht es um die allergrößten Schauspiel-Leistungen – zurecht! Mit intensiver Authentizität reifte sein Rizzo zum Archetyp einer Kinoepoche: Die ausklingenden 1960er waren der Beginn des New Hollywood, eine Zeit, in der das traditionelle Studiosystem durch gesellschaftskritische, unkonventionelle Filme revolutioniert wurden. Schon zwei Jahre zuvor war Hoffman in „Die Reifeprüfung“, einem Vorreiter dieser Ära, der Star, in „Asphalt-Cowboy“ wurde er ihr Gesicht.
Der Mut, mit dem John Schlesinger diesen Film ins Kino brachte, beeindruckt. Bei der Veröffentlichung erhielt sein Werk das frisch eingeführte X-Rating: Die höchste Altersfreigabe, eigentlich ausschließlich für Pornofilme reserviert. Auf das Publikum wirkte der hässliche Blick auf die Lebenswirklichkeit in US-Großstädten unerhört. Die Sprache des Drehbuchautoren Waldo Salt war vulgär, voller Profanität. Sie entstammte dem, was er tagtäglich auf den Straßen von New York hörte. Wohl auch deshalb, weil der Film direkt der Realität entnommen war, sahen seine Macher ihn weniger kontrovers. Kameramann Adam Holender konnte, als die ersten Kritiken erschienen, nicht verstehen, weshalb diese menschliche Geschichte vom Feuilleton zum großen Tabubruch erklärt wurde. Michael Childers, der Lebensgefährte von Schlesinger, erkannte in den Reaktionen sogar Heuchelei – schließlich zeige der Film nichts, was 1969 nicht zum New Yorker Alltag auf der 42. Straße gehörte.
Zum Meisterwerk wird „Asphalt-Cowboy“ durch seine dichte Atmosphäre. Während der urbane Lebensstil als knallharter, schonungsloser Existenzkampf zugespitzt wird, ist in den ruhigen Szenen zwischen Voight und Hoffman ein sanfter Humanismus zu spüren. Mit großer Sensibilität erzählt Schlesinger von seinen tragischen Figuren, und so viel Sympathie er mit ihnen hat, so viele hässliche Seiten gesteht er ihnen auch zu. Genauso gestaltet sich sein Bildaufbau: Die Kamera zeigt beeindruckende Panoramen voller Dreck und Schmutz, blickt aber nicht abfällig auf die unschönen Seiten des Lebens. Stattdessen bekommt der Moloch einen nahezu märchenhaften Charakter. Sollten später Regisseure wie Woody Allen oder Martin Scorsese für ihre New-York-Filme gelobt werden, so ist wohl „Asphalt-Cowboy“ die größte filmische Liebeserklärung an die Stadt, die niemals schläft.
Einer konventionellen Dramaturgie verweigert sich „Asphalt-Cowboy“ mit letzter Konsequenz. Die Odyssee beider Hauptfiguren ist episodisch angelegt, und die Kamera verweilt gerne ein Minütchen länger im Augenblick. Viele Szenen wurden ohne angeheuerte Statisten direkt auf offener Straße gedreht, legendär landete so ein Moment im Film, in dem ein Taxifahrer beinahe Dustin Hoffman überfahren hätte. Mit diesem Willen zur Wiedergabe der Realität dokumentiert die Milieustudie die ganze Bandbreite der New Yorker Kultur: Coca-Cola-Trinker sind omnipräsent, ein kleines Mädchen liest einen Wonder-Woman-Comic, Pazifisten demonstrieren nahe des Time Squares, derweil geraten Joe und Rizzo auf eine Party im Stil des abstrakten Künstlers Andy Warhol, Drogentrip inklusive. An diesen Stellen wird die Montage wild, desorientierend, nervenkitzelnd. Sie ergibt sich dem Rausch, der hedonistischen Illusion.
Im selben Stil wird mehrfach die Vergangenheit von Joe angedeutet, in bunten, verwirrend-albträumerischen Rückblenden scheint er Opfer einer Massenvergewaltigung zu werden. Ansätze einer freudianischen psychoanalytischen Deutung finden sich viele, wer jedoch genau Bescheid wissen will, muss in den Roman schauen. Die Tagträumereien von Rizzo sind hingegen leicht zu verstehen: Er sieht sich gemeinsam mit Joe in einem Luxushotel in Florida, umringt von schönen Damen. Komponist John Barry lässt eine flehende Mundharmonika spielen, trägt damit immens zu der gefühlten Hoffnung bei, beiden Figuren sei ein Ausweg aus ihrem Elend vorherbestimmt. Letztlich endet „Asphalt-Cowboy“ wie er begann mit einer schicksalshaften Busfahrt. Joe und Rizzo machen sich auf den Weg nach Florida, auf den Weg ins Paradies – ein Ort, von dem aus es bekanntlich keine Wiederkehr gibt.
„Asphalt-Cowboy“ ist ein Kultklassiker, ein Kind seiner Zeit, und doch zeitlos. Meisterhaft versteht Schlesinger es, sich nie dem Zynismus hinzugeben, sondern eine zutiefst bittere, aber zugleich zärtliche Loserballade zu erzählen, in welcher der Amerikanische Traum zur Amerikanischen Tragödie wird. 1969 gab es hierfür drei Oscars – u.a. in der Hauptkategorie als "Bester Film". Die Auszeichnung bestätigte, dass die Ära des New Hollywood sich nicht mehr aufhalten ließ. Jon Voight und Dustin Hoffman, beide als "Bester Hauptdarsteller" nominiert, mussten sich jedoch Filmlegende John Wayne geschlagen geben, der für den altmodischen Western „Der Marshal“ seinen einzigen Goldjungen gewann. Erst Jahre später sollten beide in der Kategorie triumphieren. Ironischerweise wird John Wayne selbst in „Asphalt-Cowboy“ erwähnt: Joe nutzt ihn zur Verteidigung, als Rizzo den Cowboy-Kleidungsstil als „schwul“ bezeichnet. Dabei hatte Rizzo nur erkannt, was die Oscar-Jury noch nicht einsehen wollte: Die Zeit der Cowboys war vorbei, das Zeitalter der Asphalt-Cowboys eingeläutet.
Und der Haifisch, der hat Szene …
Der weiße Hai
Liebhaber des Trash-Kinos, also Fans von Filmen, die eigentlich keine Fans verdienen und durch ihre mehr oder weniger bewusst stümperhafte Umsetzung für Unterhaltung und Fremdscham sorgen, kommen an einem Ungetüm der Meere nicht vorbei: dem Hai. Mal kommt er als Wirbelsturm angerauscht, wie in „Sharknado“, mal als mutiertes Mischwesen à la „Sharktopus“ und auch „Sandsharks“, „Sky Sharks“, ein „Supershark“ oder ein urzeitlicher „Dinoshark“ trieben bereits ihr Unwesen. Von schon im Titel urkomischen Ideen wie „Hai-Alarm am Müggelsee“ oder „Bait – Haie im Supermarkt“ ganz zu schweigen. Ist ein Hai dabei, so scheint es, können Trashfilmproduzenten ihrem Publikum alles andrehen. Je hanebüchener, desto besser. Die Ursprünge der Hai-Manie liegen im Hollywood-Kino der 1970er – bei einem Film, der sich qualitativ so gar nicht in diese unrühmliche Reihe einfügt, von einem Regisseur, der wie kaum ein anderer Filmemacher Jahrzehnte lang das Populär-Kino mitgestaltete: „Der weiße Hai“, das erste große Meisterwerk von Steven Spielberg.
Der wollte den Film nach einer Romanvorlage von Peter Benchley eigentlich nicht übernehmen. Er befürchtete, die Produzenten Richard Zanuck und David Brown würden ihm einen B-Film andrehen, ein Werk zweiter Klasse. Spielberg aber fühlte sich der Kunst verpflichtet, schielte auf die anspruchsvollen und komplexen Filme seiner Kollegen Martin Scorsese und William Friedkin. In der Geschichte um einen Hai, der vor der Küste eines kleinen Urlaubsortes mehrere Menschen frisst, erkannte er kein großes Potenzial. Letztlich willigte er dennoch ein, nicht aber ohne konkrete Vorgaben: Er wollte die Hauptdarsteller aussuchen, setzte Roy Scheider für die Hauptrolle des Polizeichefs Martin Brody gegen Produktionsstätte Universal durch, die den Kassenmagneten Charles Bronson favorisierte. Er verlangte, den Film auf offener See drehen zu dürfen, damals eine Pionierleistung. Und das Drehbuch ließ er stark überarbeiten – teils noch während des Drehs, zum Unmut des gesamten Filmteams.
Der Erfolg gibt ihm recht: Die ikonographische Wucht der meisterhaften Symbiose aus Tierhorror und Abenteuerfilm ist auch fast ein halbes Jahrhundert später noch greifbar, schon bei der brillanten Eröffnungsszene. Eine junge Frau wagt sich bei Morgengrauen ins Wasser. Plötzlich zerrt etwas an ihr, sie schreit panisch auf, ihr Oberkörper tänzelt ruckartig den Horizont entlang, selbst das Festklammern an einer Boje hilft nicht. Als sie untergeht, ist nur noch das leise Rauschen des Meeres zu vernehmen. Eine unverschämt effektive Einführung für das Monster, von dem deutsche Zuschauer schon wissen, dass es „Der weiße Hai“ ist, während im Originaltitel nur „Jaws“, das „Maul“ erwähnt wird. Effektiv ist sie vor allem deshalb, weil sie es nicht zeigt: das Maul, das Monster, den weißen Hai.
Die Maßnahme, diesen Hai die gesamten zwei Stunden nur selten zu zeigen, seine Präsenz nur anzudeuten, war aus der Not geboren. Der mechatronische Hai, vom Filmteam liebevoll „Bruce“ genannt, sah leider viel zu künstlich aus. Also blieb nur die Kompensation: Auf famose Art und Weise verschleierten die Filmemacher die visuelle Abwesenheit des Monsters. Spielberg filmte Badegäste mit Unterwasserkameras aus der Subjektiven des Hais, machte den Zuschauer zum Mitverschwörer der unaufhaltsamen Fressmaschine. Gelbe Fässer, mit denen der Hai bei der Jagd markiert wird, flitzen über die Wasseroberfläche. Ein abgebrochener Pier dreht sich wie von Geisterhand auf dem Wasser um, jagt einem Schwimmer hinterher. So wurde der Hai ein grausiges Mysterium, seine genaue Größe kann lange bloß erraten werden. Erst im spektakulären Finale hat „Bruce“ doch noch seinen großen Auftritt.
Beispiellos für die verängstigende Spannung war insbesondere die Filmmusik von John Williams. Wann immer das prägnante musikalische Leitthema aus nur zwei Noten ertönt, gibt es Auskunft darüber, dass der Hai anwesend ist – und in der Regel bald jemand als Fischfutter enden wird. Angelehnt war diese Methodik an das Zeichentrickfilm-Meisterwerk „Bambi“. Aus der Sicht eines Hirsches erzählt, werden auch hier die feindlichen Menschen nie gezeigt, sondern nur über eine bedrohliche Melodie von Frank Churchill vertreten – eine Melodie, die wohl nicht ganz zufällig stark der ähnelt, die Williams für den weißen Hai ersann, und für die er einen Oscar erhielt.
Er ist der perfekte Komponist für den Film, weil er seine beiden Genres kongenial bedienen kann: Nervenzerfetzendes Spiel mit Urängsten und großes, unterhaltsames Abenteuerkino. Spielberg meistert diesen gewagten Mix durch eine räumliche Zweiteilung. Die erste Hälfte konzentriert sich auf die Angriffe des Haies auf Badegäste der Küstenstadt Amity, übt zudem starke Kapitalismuskritik: Weil das lukrative Wochenende rund um den Unabhängigkeitstag am 4. Juli ansteht, weigert der Bürgermeister von Amity sich, die Strände zu schließen. Es müssen erst weitere Menschen ihr Leben verlieren, darunter ein Kind, ein – gerade in seiner expliziten Brutalität – seltener Tabubruch im Massenkino. Virtuos spielt Spielberg auf der Klaviatur der Paranoia, als er und sein Kameramann Bill Butler zeigen, wie Brody am Strand auf das Meer hinausstarrt, nach einem Anzeichen seines tierischen Feindes lauert.
Als sogar sein Sohn beinahe in den Schlund der Kreatur gerät, wechselt sich das Verhältnis: Der Gejagte wird zum Jäger. Den Film verschlägt es nun auf die ‚Orca‘, das kleine Schiff des kauzigen Seebären Quint, der Brody und den jungen Ozeanographen Hooper aufs Meer hinausfährt. Williams Musik wird leichtfüßig, aufregend, eskapistisch. Spielberg erlaubt seinen Figuren eine unbeschwerte Lockerheit. Beim gemeinsamen Trinken prahlen Quint und Hooper mit ihren Narben, beide durch Haie verursacht. Brody fasst sich kurz an eine nie näher erklärte Schussverletzung, behält sie jedoch für sich. Er lässt sich auf die Machospiele nicht ein, als könne er das Unheil ahnen, das ihnen bevorsteht.
Aus dem faszinierenden Drei-Mann-Mikrokosmos schöpft „Der weiße Hai“ sein volles Potenzial, nicht zuletzt dank der phänomenalen Besetzung: Als mürrischer Kriegsheld Quint repräsentiert Robert Shaw eine archaische Vorstellung von harter Männlichkeit. Dem gegenüber steht ein vorzüglich aufspielender Richard Dreyfuss, dessen junger, wissenschaftlich begabter Hooper zum Vertreter der damals neuen Linken wird. Roy Scheider wiederum steht zwischen den Polen, sein Chief Brody ist wasserscheu, aber pflichtbewusst, engagiert, aber zurückhaltend. Sie alle drei sind Autoritätspersonen, Alphamännchen. Der Hai darf durchaus als Manifestation ihrer maskulinen Hybris gelesen werden. Einmal will Hooper etwa den Hai unter Wasser erledigen, klettert zu diesem Zweck in einen Haikäfig – den die Bestie aber ohne große Mühen auseinandernimmt.
Bei Quint hingegen werden latent wahnsinnige Züge erkennbar. Parallelen zu „Moby Dick“ und dem rachsüchtigen Kapitän Ahab sind beabsichtigt, als der ungewaschene Seefahrer offenbart, dass er im Zweiten Weltkrieg auf der USS Indianapolis war, jenem Militärschiff, das die Atombombe nach Japan transportierte. Als es kurz darauf sank, trieben er und seine Mannschaft mehrere Tage im Wasser, ein Großteil von ihnen wurde von Haien zerfetzt. Wie Charaktervisage Robert Shaw diese Geschichte in einem intensiven, verstörenden Monolog präsentiert, ist großes Schauspielkino, wie es selten auf der Leinwand zu sehen ist. Angeblich stand die gesamte Passage so nicht im Drehbuch: Der Regisseur John Milius improvisierte sie für den befreundeten Spielberg am Telefon.
Am Ende werden sowohl der Arbeiterklassen-Patriot Quint als auch Bildungsbürger Hooper in den finalen Minuten aus dem Spiel genommen. Der ehrbare Durchschnittsmann Brody muss sich als Actionheld der Mittelschicht dem Hai alleine stellen. Für manche erklärt das den Erfolg des Films, immerhin wurden so beide damaligen Lager der US-amerikanischen Filmkritik vereint. Intellektuelle Bewunderer des liberalen New-Hollywood-Kinos der 70er konnten ebenso bis zum Ende mitfiebern wie die konservative Generation, die noch dem Männlichkeitsbild der vergangenen Ära der John-Wayne-Western nachtrauerte.
Kein B-Film, und auch kein Trash: „Der weiße Hai“ ging als gewaltiges Zeitgeistphänomen in die Popkultur ein, ist nach wie vor ein cineastischer Genuss. Steven Spielberg schuf einen Meilenstein des Unterhaltungskinos, der so viel Geld einbrachte, dass er den Begriff ‚Blockbuster‘ neudefinierte. Neben den Produktionskosten von neun Millionen US-Dollar gab Universal zwei weitere Millionen für eine Marketingkampagne aus, die – damals ganz modern – das Fernsehen miteinbezog und so neue Maßstäbe setzte. Werbevideos wurden erstellt, Talkshow-Tourneen veranstaltet, zudem verkauften sich T-Shirts, Spielzeuge, Tassen und dutzende weitere Werbeartikel. Die Vermarktung der Nebenprodukte artete so arg aus, dass Universal in Zeitungsannoncen verlautete: „Der weiße Hai – Es ist auch ein Film.“
Schier unglaubliche 470 Millionen US-Dollar spielte der Mega-Hit anno 1975 ein. Nur einer litt unter diesem Erfolg: der Hai. In Folge der Dämonisierung des Tieres durch die insgesamt drei Fortsetzungen und zahlreichen Nachahmer geriet die für den Menschen weitgehend ungefährliche Tiergattung in Verruf, ist mittlerweile vom Aussterben bedroht. Peter Benchley bereute es deshalb ein Leben lang, die Romanvorlage geschrieben zu haben. Bis zu seinem Tod im Jahr 2006 engagierte er sich leidenschaftlich für den Artenschutz.
Liebhaber des Trash-Kinos, also Fans von Filmen, die eigentlich keine Fans verdienen und durch ihre mehr oder weniger bewusst stümperhafte Umsetzung für Unterhaltung und Fremdscham sorgen, kommen an einem Ungetüm der Meere nicht vorbei: dem Hai. Mal kommt er als Wirbelsturm angerauscht, wie in „Sharknado“, mal als mutiertes Mischwesen à la „Sharktopus“ und auch „Sandsharks“, „Sky Sharks“, ein „Supershark“ oder ein urzeitlicher „Dinoshark“ trieben bereits ihr Unwesen. Von schon im Titel urkomischen Ideen wie „Hai-Alarm am Müggelsee“ oder „Bait – Haie im Supermarkt“ ganz zu schweigen. Ist ein Hai dabei, so scheint es, können Trashfilmproduzenten ihrem Publikum alles andrehen. Je hanebüchener, desto besser. Die Ursprünge der Hai-Manie liegen im Hollywood-Kino der 1970er – bei einem Film, der sich qualitativ so gar nicht in diese unrühmliche Reihe einfügt, von einem Regisseur, der wie kaum ein anderer Filmemacher Jahrzehnte lang das Populär-Kino mitgestaltete: „Der weiße Hai“, das erste große Meisterwerk von Steven Spielberg.
Der wollte den Film nach einer Romanvorlage von Peter Benchley eigentlich nicht übernehmen. Er befürchtete, die Produzenten Richard Zanuck und David Brown würden ihm einen B-Film andrehen, ein Werk zweiter Klasse. Spielberg aber fühlte sich der Kunst verpflichtet, schielte auf die anspruchsvollen und komplexen Filme seiner Kollegen Martin Scorsese und William Friedkin. In der Geschichte um einen Hai, der vor der Küste eines kleinen Urlaubsortes mehrere Menschen frisst, erkannte er kein großes Potenzial. Letztlich willigte er dennoch ein, nicht aber ohne konkrete Vorgaben: Er wollte die Hauptdarsteller aussuchen, setzte Roy Scheider für die Hauptrolle des Polizeichefs Martin Brody gegen Produktionsstätte Universal durch, die den Kassenmagneten Charles Bronson favorisierte. Er verlangte, den Film auf offener See drehen zu dürfen, damals eine Pionierleistung. Und das Drehbuch ließ er stark überarbeiten – teils noch während des Drehs, zum Unmut des gesamten Filmteams.
Der Erfolg gibt ihm recht: Die ikonographische Wucht der meisterhaften Symbiose aus Tierhorror und Abenteuerfilm ist auch fast ein halbes Jahrhundert später noch greifbar, schon bei der brillanten Eröffnungsszene. Eine junge Frau wagt sich bei Morgengrauen ins Wasser. Plötzlich zerrt etwas an ihr, sie schreit panisch auf, ihr Oberkörper tänzelt ruckartig den Horizont entlang, selbst das Festklammern an einer Boje hilft nicht. Als sie untergeht, ist nur noch das leise Rauschen des Meeres zu vernehmen. Eine unverschämt effektive Einführung für das Monster, von dem deutsche Zuschauer schon wissen, dass es „Der weiße Hai“ ist, während im Originaltitel nur „Jaws“, das „Maul“ erwähnt wird. Effektiv ist sie vor allem deshalb, weil sie es nicht zeigt: das Maul, das Monster, den weißen Hai.
Die Maßnahme, diesen Hai die gesamten zwei Stunden nur selten zu zeigen, seine Präsenz nur anzudeuten, war aus der Not geboren. Der mechatronische Hai, vom Filmteam liebevoll „Bruce“ genannt, sah leider viel zu künstlich aus. Also blieb nur die Kompensation: Auf famose Art und Weise verschleierten die Filmemacher die visuelle Abwesenheit des Monsters. Spielberg filmte Badegäste mit Unterwasserkameras aus der Subjektiven des Hais, machte den Zuschauer zum Mitverschwörer der unaufhaltsamen Fressmaschine. Gelbe Fässer, mit denen der Hai bei der Jagd markiert wird, flitzen über die Wasseroberfläche. Ein abgebrochener Pier dreht sich wie von Geisterhand auf dem Wasser um, jagt einem Schwimmer hinterher. So wurde der Hai ein grausiges Mysterium, seine genaue Größe kann lange bloß erraten werden. Erst im spektakulären Finale hat „Bruce“ doch noch seinen großen Auftritt.
Beispiellos für die verängstigende Spannung war insbesondere die Filmmusik von John Williams. Wann immer das prägnante musikalische Leitthema aus nur zwei Noten ertönt, gibt es Auskunft darüber, dass der Hai anwesend ist – und in der Regel bald jemand als Fischfutter enden wird. Angelehnt war diese Methodik an das Zeichentrickfilm-Meisterwerk „Bambi“. Aus der Sicht eines Hirsches erzählt, werden auch hier die feindlichen Menschen nie gezeigt, sondern nur über eine bedrohliche Melodie von Frank Churchill vertreten – eine Melodie, die wohl nicht ganz zufällig stark der ähnelt, die Williams für den weißen Hai ersann, und für die er einen Oscar erhielt.
Er ist der perfekte Komponist für den Film, weil er seine beiden Genres kongenial bedienen kann: Nervenzerfetzendes Spiel mit Urängsten und großes, unterhaltsames Abenteuerkino. Spielberg meistert diesen gewagten Mix durch eine räumliche Zweiteilung. Die erste Hälfte konzentriert sich auf die Angriffe des Haies auf Badegäste der Küstenstadt Amity, übt zudem starke Kapitalismuskritik: Weil das lukrative Wochenende rund um den Unabhängigkeitstag am 4. Juli ansteht, weigert der Bürgermeister von Amity sich, die Strände zu schließen. Es müssen erst weitere Menschen ihr Leben verlieren, darunter ein Kind, ein – gerade in seiner expliziten Brutalität – seltener Tabubruch im Massenkino. Virtuos spielt Spielberg auf der Klaviatur der Paranoia, als er und sein Kameramann Bill Butler zeigen, wie Brody am Strand auf das Meer hinausstarrt, nach einem Anzeichen seines tierischen Feindes lauert.
Als sogar sein Sohn beinahe in den Schlund der Kreatur gerät, wechselt sich das Verhältnis: Der Gejagte wird zum Jäger. Den Film verschlägt es nun auf die ‚Orca‘, das kleine Schiff des kauzigen Seebären Quint, der Brody und den jungen Ozeanographen Hooper aufs Meer hinausfährt. Williams Musik wird leichtfüßig, aufregend, eskapistisch. Spielberg erlaubt seinen Figuren eine unbeschwerte Lockerheit. Beim gemeinsamen Trinken prahlen Quint und Hooper mit ihren Narben, beide durch Haie verursacht. Brody fasst sich kurz an eine nie näher erklärte Schussverletzung, behält sie jedoch für sich. Er lässt sich auf die Machospiele nicht ein, als könne er das Unheil ahnen, das ihnen bevorsteht.
Aus dem faszinierenden Drei-Mann-Mikrokosmos schöpft „Der weiße Hai“ sein volles Potenzial, nicht zuletzt dank der phänomenalen Besetzung: Als mürrischer Kriegsheld Quint repräsentiert Robert Shaw eine archaische Vorstellung von harter Männlichkeit. Dem gegenüber steht ein vorzüglich aufspielender Richard Dreyfuss, dessen junger, wissenschaftlich begabter Hooper zum Vertreter der damals neuen Linken wird. Roy Scheider wiederum steht zwischen den Polen, sein Chief Brody ist wasserscheu, aber pflichtbewusst, engagiert, aber zurückhaltend. Sie alle drei sind Autoritätspersonen, Alphamännchen. Der Hai darf durchaus als Manifestation ihrer maskulinen Hybris gelesen werden. Einmal will Hooper etwa den Hai unter Wasser erledigen, klettert zu diesem Zweck in einen Haikäfig – den die Bestie aber ohne große Mühen auseinandernimmt.
Bei Quint hingegen werden latent wahnsinnige Züge erkennbar. Parallelen zu „Moby Dick“ und dem rachsüchtigen Kapitän Ahab sind beabsichtigt, als der ungewaschene Seefahrer offenbart, dass er im Zweiten Weltkrieg auf der USS Indianapolis war, jenem Militärschiff, das die Atombombe nach Japan transportierte. Als es kurz darauf sank, trieben er und seine Mannschaft mehrere Tage im Wasser, ein Großteil von ihnen wurde von Haien zerfetzt. Wie Charaktervisage Robert Shaw diese Geschichte in einem intensiven, verstörenden Monolog präsentiert, ist großes Schauspielkino, wie es selten auf der Leinwand zu sehen ist. Angeblich stand die gesamte Passage so nicht im Drehbuch: Der Regisseur John Milius improvisierte sie für den befreundeten Spielberg am Telefon.
Am Ende werden sowohl der Arbeiterklassen-Patriot Quint als auch Bildungsbürger Hooper in den finalen Minuten aus dem Spiel genommen. Der ehrbare Durchschnittsmann Brody muss sich als Actionheld der Mittelschicht dem Hai alleine stellen. Für manche erklärt das den Erfolg des Films, immerhin wurden so beide damaligen Lager der US-amerikanischen Filmkritik vereint. Intellektuelle Bewunderer des liberalen New-Hollywood-Kinos der 70er konnten ebenso bis zum Ende mitfiebern wie die konservative Generation, die noch dem Männlichkeitsbild der vergangenen Ära der John-Wayne-Western nachtrauerte.
Kein B-Film, und auch kein Trash: „Der weiße Hai“ ging als gewaltiges Zeitgeistphänomen in die Popkultur ein, ist nach wie vor ein cineastischer Genuss. Steven Spielberg schuf einen Meilenstein des Unterhaltungskinos, der so viel Geld einbrachte, dass er den Begriff ‚Blockbuster‘ neudefinierte. Neben den Produktionskosten von neun Millionen US-Dollar gab Universal zwei weitere Millionen für eine Marketingkampagne aus, die – damals ganz modern – das Fernsehen miteinbezog und so neue Maßstäbe setzte. Werbevideos wurden erstellt, Talkshow-Tourneen veranstaltet, zudem verkauften sich T-Shirts, Spielzeuge, Tassen und dutzende weitere Werbeartikel. Die Vermarktung der Nebenprodukte artete so arg aus, dass Universal in Zeitungsannoncen verlautete: „Der weiße Hai – Es ist auch ein Film.“
Schier unglaubliche 470 Millionen US-Dollar spielte der Mega-Hit anno 1975 ein. Nur einer litt unter diesem Erfolg: der Hai. In Folge der Dämonisierung des Tieres durch die insgesamt drei Fortsetzungen und zahlreichen Nachahmer geriet die für den Menschen weitgehend ungefährliche Tiergattung in Verruf, ist mittlerweile vom Aussterben bedroht. Peter Benchley bereute es deshalb ein Leben lang, die Romanvorlage geschrieben zu haben. Bis zu seinem Tod im Jahr 2006 engagierte er sich leidenschaftlich für den Artenschutz.
Retter des verlorenen Spielzeugs
Toy Story 2
Es ist genau eine Szene in „Toy Story 2“, in der es der Kreativschmiede Pixar bravourös in nur drei Minuten gelingt, mehr zu erzählen als andere Filme in 90 Minuten. Da sitzt eine Cowgirl-Puppe namens Jesse auf einem Fensterrahmen und blickt, wie sie glaubt, ein letztes Mal zur Sonne, ehe sie wieder in die dunkle Kiste eines Spielzeugsammlers gesperrt wird. Sie erzählt Woody, dem Spielzeug-Helden des Vorgängerfilms, von ihrer ehemaligen Besitzerin, dem kleinen Mädchen Emily. Wie sie einst jeden Tag zusammenspielten, allerbeste Freundinnen waren. Doch Emily wurde älter: Aus ihren Pferdefiguren wurden Lippenstift und Nagellack, die Cowgirl-Poster wichen denen von Boybands. Jesse wurde vergessen – und endete in einer Kiste, als Spende für wohltätige Zwecke. Dazu fällt kein gesprochenes Wort, aus dem Off singt eine Frauenstimme: „Als mich jemand liebte, war die Welt so wunderschön.“ Jesse schließt die Rückblende, hörbar schluchzend, mit dem Satz: „Kinder wie Emily vergisst du nie. Aber sie vergessen dich.“
Mit nur dieser Szene katapultieren Regisseur John Lasseter und sein Team die Fortsetzung zu „Toy Story“, dem ersten vollständig computeranimierten Spielfilm, in neue erzählerische Sphären. Der Vorgänger sicherte sich durch seine revolutionäre Technik einen Platz in der Filmgeschichte und verdiente ihn sich dank einer ausgeklügelten Geschichte um lebendige Spielzeuge, die sich über die Liebe zu ihrem Besitzer definieren – und dabei auch in Konkurrenz zueinander treten. „Toy Story 2“ fackelt nicht lang, greift alle Motive wieder auf, aber denkt sie mehrere Ebenen weiter. Im Vorgänger noch geriet Andys Lieblingsspielzeug Woody mit der neuen Astronautenfigur Buzz Lightyear in Konflikt, da er Angst hatte, ersetzt zu werden. Die Fortsetzung verdeutlicht, dass seine Befürchtung durch eine Versöhnung mit Buzz nicht aus der Welt geräumt ist: Andy wird eines Tages erwachsen sein. Welche Zukunft bleibt da noch für seine Spielzeuge?
Woody erfährt das gleich zu Beginn des Films, als beim Spielen eine Naht an seinem Arm reißt. „Spielzeuge halten nicht ewig“, sagt Andys Mutter und setzt ihn weit oben auf ein staubiges Regal. Von nun an plagen ihn Albträume, in denen Andy ihn in bodenlose Mülltonnen fallen lässt, direkt in den (Spielzeug-)Tod. Pixar hält sich bei der Darstellung dieser existenziellen Furcht nicht zurück, riskiert, kleine Zuschauer sogar zu verstören. Mit diesem Mut ist ihnen erneut ein Meisterwerk gelungen! „Toy Story 2“ steht dem berühmten Erstling in nichts nach, übertrifft ihn gar an allen Ecken und Enden. Nirgends ist das so offensichtlich wie bei der Animationskunst: Zwischen beiden Filmen liegen nur vier Jahre, aber einige Softwaregenerationen, die es Lasseter 1999 ermöglichten, Woody, Buzz und die anderen Spielzeuge in nahezu fotorealistische Aufzugschächte, Großstadt-Appartements oder Spielwarengeschäfte zu setzen. Ein detailreich animierter Hund sorgt im Vergleich zu den Tieren aus dem ersten „Toy Story“ für offene Münder und erstmals hat auch eine menschliche Figur viel Leinwandzeit: Der Spielzeugsammler Al, welcher Woody durch eine Kette von Ereignissen in seine Finger bekommt.
Ab hier erzählt Lasseter zwei Geschichten parallel. Eine handelt von Woody in der Wohnung des Sammlers, in der er auf weitere Western-Spielzeuge trifft und erfährt: Er basiert auf einer Marionette aus einer 50er Jahre TV-Show, ist ein seltenes Sammlerstück. Die Sammlung komplettieren Cowgirl Jesse, Stoffpferd Bully und Goldgräber Stinky Pete, der nie aus seiner Schachtel geholt wurde. Warum? Kinder spielten nicht gerne mit ihm, da er in der Sendung die dümmliche Randfigur war. Jene Sendung verdeutlicht erneut Woodys Sterblichkeit: Sie wurde abgesetzt, als der Sputnik-Schock für das Aufkommen von Weltraumspielzeug sorgte. Woody und seiner „Roundup-Gang“ winkt nun nicht mehr oder weniger als die Unsterblichkeit, denn Sammler Al will sie an ein Museum in Japan verkaufen. Im Inneren eines Glaskastens können einen keine Kinderhände beschädigen. Es wird aber auch nie wieder mit einem gespielt werden…
In den tiefschürfenden Dialogen der Autoren Rita Hsiao, Andrew Stanton, Doug Chamberlain und Chris Webb gerät „Toy Story 2“ so zur Metapher fürs Elternsein. Eines Tages brauchen die eigenen Kinder einen nicht mehr, ziehen alleine in die Welt hinaus. Woody steht vor der Frage: Will er Andy auf diesem Weg begleiten und wählt das Selbstopfer für die begrenzte Zeit zu „seinem Kind“? Oder erliegt er seinem Narzissmus, seinem Wunsch nach der großen Ewigkeit, und wählt ein Leben ohne Liebe? Vielleicht braucht er gar nicht zu entscheiden, denn Lasseter hat noch die zweite Handlung in Petto: Natürlich lassen Buzz, Rex, Mr. Potato Head und die anderen Spielzeuge ihren Freund nicht im Stich und starten eine Rettungsaktion. So gelingt es „Toy Story 2“ mühelos, die reife Erzählung rund um Woodys Hadern mit einer actionreichen Abenteuergeschichte zu kreuzen, die selbst auch nicht Halt vor großartigen Konstellationen macht. In einem Spielzeugladen fällt Buzz in eine Identitätskrise, als er auf hunderte Ebenbilder seiner selbst trifft – und gegen eines sogar zum Kampf antreten muss.
Noch aufregender als die Geschichte im Film ist nur noch die Geschichte des Films: Eigentlich sollte „Toy Story 2“ bloß eine billige DVD-Fortsetzung für das schnelle Geld werden, wie es beim Disney-Konzern gängige Praxis ist. Doch die „Toy Story“-Fortsetzung wurde rasch zu teuer – und erwies sich bei einer ersten Vorführung vor dem Konzern-Vorstand als zu gut, um nicht ins Kino gebracht zu werden. Dabei war das Originalteam des Vorgängers hier gar nicht beteiligt, die arbeiteten zu der Zeit am Animationsspaß „Das große Krabbeln“. Als sie zum Projekt hinzustießen, empfanden sie es wiederum als zu schlecht, schmissen alles über den Haufen. In etwas über sieben Monaten wurde so ein komplett neuer 91-minütiger Film erstellt.
Wie mühelos das Pixar-Team brillante Werke scheinbar in Rekordzeit abwickelt, darüber muss gestaunt werden. Und wie es ihnen gelingt, bei aller thematischen Vielfalt auch eine Fülle an kreativen Gags in die Szenen einzubinden, ist großes Tennis. Für Erwachsene gibt es eine Vielzahl an Anspielungen auf andere Werke der Filmgeschichte: Dramatische Höhepunkte erweisen sich als Referenzen auf „Jurassic Park“, „Jäger des verlorenen Schatzes“ oder – besonders witzig – auf „Das Imperium schlägt zurück“. Aber selbst ein musikalischer Wink auf „2001: Odyssee im Weltraum“ findet seinen kongenialen Einsatz, sowie im fulminanten Schlussakt bei der Bekämpfung des überraschenden Schurken auf einem Flughafen-Förderband plötzlich der blendende Einsatz von Blitzlichtern die Rettung bringt – wie einst bei Alfred Hitchcock in „Das Fenster zum Hof“. All diese Querverweise sind keinesfalls vermessen, da Pixar längst bewiesen hat, mindestens in derselben Liga wie diese Vorbilder zu spielen. Nicht von ungefähr erinnert die sentimentale Schlussmoral an die kindliche Naivität des Meisterwerks „Ist das Leben nicht schön?“ von Frank Capra.
Bleiben Kinder selbst bei all diesen Insider-Witzen für ein Kino-erfahrenes Publikum nicht auf der Strecke? Sollte ein Film für kleine Zuschauer vor allem von den Sorgen des Elterndaseins und der Angst vor dem Tod handeln? Wer diese Fragen stellt, hat das Phänomen „Toy Story“ noch nicht ganz verstanden. Die Filme sind keine eskapistischen Trick-Abenteuer, sondern Charakterdramen für alle Altersklassen. Schon die hochkarätige Besetzung verdeutlicht den Anspruch. Woody und Buzz werden erneut von Tom Hanks und Tim Allen gesprochen, einen ähnlich fabelhaften Einsatz machen die Neuzugänge: Kelsey Grammer spricht den griesgrämigen Stinky Pete, Wayne Knight übernimmt den piepsstimmigen Al und als Jesse ist Charakterdarstellerin Joan Cusack zu hören. Die hervorragenden, rein stimmlichen Darstellerleistungen lassen keinen Zweifel daran, dass die Spielzeuge bei „Toy Story“ die besseren Menschen sind.
Bemerkenswert ist deshalb auch, dass beide Filme nie die Lebenswirklichkeit der Spielzeuge hinterfragen. Ihr Auftreten, ihre Gefühle, ihr sozialer Zusammenhalt sind hyperrealistisch. Dabei hätte aus „Toy Story 2“ leicht eine Metapher für die kindliche Fantasie werden können, eine Geschichte, die mit dem Sein der Spielzeuge ironisch kokettiert. Stattdessen nimmt Lasseter all diese Figuren aus Plastik ernst, egal ob es seine eigenen Kreationen sind oder eine Barbie-Puppe, die hier einen Cameo hat. Es geht um Spielzeuge, ihre Beziehungen zu den Menschen. Um all die Gefühle, die ein Kind für seine Spielzeuge empfindet. „Toy Story“ und seine Fortsetzung erzählen, wovon Kinder bereits wissen, dass es wahr ist: Diese Spielzeuge sind echt, so echt wie die Gefühle, die man für sie hat. Dank dieser Botschaft wird der ein oder anderen Puppe das Schicksal der unglücklichen Jesse vielleicht erspart. Bleibt nur die Vorstellung, dass „Toy Story 2“-Komponist Randy Newman mit der „Als mich jemand liebte“-Sequenz womöglich einen Haufen von Spielzeug-Messies erschaffen hat.
Es ist genau eine Szene in „Toy Story 2“, in der es der Kreativschmiede Pixar bravourös in nur drei Minuten gelingt, mehr zu erzählen als andere Filme in 90 Minuten. Da sitzt eine Cowgirl-Puppe namens Jesse auf einem Fensterrahmen und blickt, wie sie glaubt, ein letztes Mal zur Sonne, ehe sie wieder in die dunkle Kiste eines Spielzeugsammlers gesperrt wird. Sie erzählt Woody, dem Spielzeug-Helden des Vorgängerfilms, von ihrer ehemaligen Besitzerin, dem kleinen Mädchen Emily. Wie sie einst jeden Tag zusammenspielten, allerbeste Freundinnen waren. Doch Emily wurde älter: Aus ihren Pferdefiguren wurden Lippenstift und Nagellack, die Cowgirl-Poster wichen denen von Boybands. Jesse wurde vergessen – und endete in einer Kiste, als Spende für wohltätige Zwecke. Dazu fällt kein gesprochenes Wort, aus dem Off singt eine Frauenstimme: „Als mich jemand liebte, war die Welt so wunderschön.“ Jesse schließt die Rückblende, hörbar schluchzend, mit dem Satz: „Kinder wie Emily vergisst du nie. Aber sie vergessen dich.“
Mit nur dieser Szene katapultieren Regisseur John Lasseter und sein Team die Fortsetzung zu „Toy Story“, dem ersten vollständig computeranimierten Spielfilm, in neue erzählerische Sphären. Der Vorgänger sicherte sich durch seine revolutionäre Technik einen Platz in der Filmgeschichte und verdiente ihn sich dank einer ausgeklügelten Geschichte um lebendige Spielzeuge, die sich über die Liebe zu ihrem Besitzer definieren – und dabei auch in Konkurrenz zueinander treten. „Toy Story 2“ fackelt nicht lang, greift alle Motive wieder auf, aber denkt sie mehrere Ebenen weiter. Im Vorgänger noch geriet Andys Lieblingsspielzeug Woody mit der neuen Astronautenfigur Buzz Lightyear in Konflikt, da er Angst hatte, ersetzt zu werden. Die Fortsetzung verdeutlicht, dass seine Befürchtung durch eine Versöhnung mit Buzz nicht aus der Welt geräumt ist: Andy wird eines Tages erwachsen sein. Welche Zukunft bleibt da noch für seine Spielzeuge?
Woody erfährt das gleich zu Beginn des Films, als beim Spielen eine Naht an seinem Arm reißt. „Spielzeuge halten nicht ewig“, sagt Andys Mutter und setzt ihn weit oben auf ein staubiges Regal. Von nun an plagen ihn Albträume, in denen Andy ihn in bodenlose Mülltonnen fallen lässt, direkt in den (Spielzeug-)Tod. Pixar hält sich bei der Darstellung dieser existenziellen Furcht nicht zurück, riskiert, kleine Zuschauer sogar zu verstören. Mit diesem Mut ist ihnen erneut ein Meisterwerk gelungen! „Toy Story 2“ steht dem berühmten Erstling in nichts nach, übertrifft ihn gar an allen Ecken und Enden. Nirgends ist das so offensichtlich wie bei der Animationskunst: Zwischen beiden Filmen liegen nur vier Jahre, aber einige Softwaregenerationen, die es Lasseter 1999 ermöglichten, Woody, Buzz und die anderen Spielzeuge in nahezu fotorealistische Aufzugschächte, Großstadt-Appartements oder Spielwarengeschäfte zu setzen. Ein detailreich animierter Hund sorgt im Vergleich zu den Tieren aus dem ersten „Toy Story“ für offene Münder und erstmals hat auch eine menschliche Figur viel Leinwandzeit: Der Spielzeugsammler Al, welcher Woody durch eine Kette von Ereignissen in seine Finger bekommt.
Ab hier erzählt Lasseter zwei Geschichten parallel. Eine handelt von Woody in der Wohnung des Sammlers, in der er auf weitere Western-Spielzeuge trifft und erfährt: Er basiert auf einer Marionette aus einer 50er Jahre TV-Show, ist ein seltenes Sammlerstück. Die Sammlung komplettieren Cowgirl Jesse, Stoffpferd Bully und Goldgräber Stinky Pete, der nie aus seiner Schachtel geholt wurde. Warum? Kinder spielten nicht gerne mit ihm, da er in der Sendung die dümmliche Randfigur war. Jene Sendung verdeutlicht erneut Woodys Sterblichkeit: Sie wurde abgesetzt, als der Sputnik-Schock für das Aufkommen von Weltraumspielzeug sorgte. Woody und seiner „Roundup-Gang“ winkt nun nicht mehr oder weniger als die Unsterblichkeit, denn Sammler Al will sie an ein Museum in Japan verkaufen. Im Inneren eines Glaskastens können einen keine Kinderhände beschädigen. Es wird aber auch nie wieder mit einem gespielt werden…
In den tiefschürfenden Dialogen der Autoren Rita Hsiao, Andrew Stanton, Doug Chamberlain und Chris Webb gerät „Toy Story 2“ so zur Metapher fürs Elternsein. Eines Tages brauchen die eigenen Kinder einen nicht mehr, ziehen alleine in die Welt hinaus. Woody steht vor der Frage: Will er Andy auf diesem Weg begleiten und wählt das Selbstopfer für die begrenzte Zeit zu „seinem Kind“? Oder erliegt er seinem Narzissmus, seinem Wunsch nach der großen Ewigkeit, und wählt ein Leben ohne Liebe? Vielleicht braucht er gar nicht zu entscheiden, denn Lasseter hat noch die zweite Handlung in Petto: Natürlich lassen Buzz, Rex, Mr. Potato Head und die anderen Spielzeuge ihren Freund nicht im Stich und starten eine Rettungsaktion. So gelingt es „Toy Story 2“ mühelos, die reife Erzählung rund um Woodys Hadern mit einer actionreichen Abenteuergeschichte zu kreuzen, die selbst auch nicht Halt vor großartigen Konstellationen macht. In einem Spielzeugladen fällt Buzz in eine Identitätskrise, als er auf hunderte Ebenbilder seiner selbst trifft – und gegen eines sogar zum Kampf antreten muss.
Noch aufregender als die Geschichte im Film ist nur noch die Geschichte des Films: Eigentlich sollte „Toy Story 2“ bloß eine billige DVD-Fortsetzung für das schnelle Geld werden, wie es beim Disney-Konzern gängige Praxis ist. Doch die „Toy Story“-Fortsetzung wurde rasch zu teuer – und erwies sich bei einer ersten Vorführung vor dem Konzern-Vorstand als zu gut, um nicht ins Kino gebracht zu werden. Dabei war das Originalteam des Vorgängers hier gar nicht beteiligt, die arbeiteten zu der Zeit am Animationsspaß „Das große Krabbeln“. Als sie zum Projekt hinzustießen, empfanden sie es wiederum als zu schlecht, schmissen alles über den Haufen. In etwas über sieben Monaten wurde so ein komplett neuer 91-minütiger Film erstellt.
Wie mühelos das Pixar-Team brillante Werke scheinbar in Rekordzeit abwickelt, darüber muss gestaunt werden. Und wie es ihnen gelingt, bei aller thematischen Vielfalt auch eine Fülle an kreativen Gags in die Szenen einzubinden, ist großes Tennis. Für Erwachsene gibt es eine Vielzahl an Anspielungen auf andere Werke der Filmgeschichte: Dramatische Höhepunkte erweisen sich als Referenzen auf „Jurassic Park“, „Jäger des verlorenen Schatzes“ oder – besonders witzig – auf „Das Imperium schlägt zurück“. Aber selbst ein musikalischer Wink auf „2001: Odyssee im Weltraum“ findet seinen kongenialen Einsatz, sowie im fulminanten Schlussakt bei der Bekämpfung des überraschenden Schurken auf einem Flughafen-Förderband plötzlich der blendende Einsatz von Blitzlichtern die Rettung bringt – wie einst bei Alfred Hitchcock in „Das Fenster zum Hof“. All diese Querverweise sind keinesfalls vermessen, da Pixar längst bewiesen hat, mindestens in derselben Liga wie diese Vorbilder zu spielen. Nicht von ungefähr erinnert die sentimentale Schlussmoral an die kindliche Naivität des Meisterwerks „Ist das Leben nicht schön?“ von Frank Capra.
Bleiben Kinder selbst bei all diesen Insider-Witzen für ein Kino-erfahrenes Publikum nicht auf der Strecke? Sollte ein Film für kleine Zuschauer vor allem von den Sorgen des Elterndaseins und der Angst vor dem Tod handeln? Wer diese Fragen stellt, hat das Phänomen „Toy Story“ noch nicht ganz verstanden. Die Filme sind keine eskapistischen Trick-Abenteuer, sondern Charakterdramen für alle Altersklassen. Schon die hochkarätige Besetzung verdeutlicht den Anspruch. Woody und Buzz werden erneut von Tom Hanks und Tim Allen gesprochen, einen ähnlich fabelhaften Einsatz machen die Neuzugänge: Kelsey Grammer spricht den griesgrämigen Stinky Pete, Wayne Knight übernimmt den piepsstimmigen Al und als Jesse ist Charakterdarstellerin Joan Cusack zu hören. Die hervorragenden, rein stimmlichen Darstellerleistungen lassen keinen Zweifel daran, dass die Spielzeuge bei „Toy Story“ die besseren Menschen sind.
Bemerkenswert ist deshalb auch, dass beide Filme nie die Lebenswirklichkeit der Spielzeuge hinterfragen. Ihr Auftreten, ihre Gefühle, ihr sozialer Zusammenhalt sind hyperrealistisch. Dabei hätte aus „Toy Story 2“ leicht eine Metapher für die kindliche Fantasie werden können, eine Geschichte, die mit dem Sein der Spielzeuge ironisch kokettiert. Stattdessen nimmt Lasseter all diese Figuren aus Plastik ernst, egal ob es seine eigenen Kreationen sind oder eine Barbie-Puppe, die hier einen Cameo hat. Es geht um Spielzeuge, ihre Beziehungen zu den Menschen. Um all die Gefühle, die ein Kind für seine Spielzeuge empfindet. „Toy Story“ und seine Fortsetzung erzählen, wovon Kinder bereits wissen, dass es wahr ist: Diese Spielzeuge sind echt, so echt wie die Gefühle, die man für sie hat. Dank dieser Botschaft wird der ein oder anderen Puppe das Schicksal der unglücklichen Jesse vielleicht erspart. Bleibt nur die Vorstellung, dass „Toy Story 2“-Komponist Randy Newman mit der „Als mich jemand liebte“-Sequenz womöglich einen Haufen von Spielzeug-Messies erschaffen hat.
Ein Hai kommt selten allein
Der weiße Hai 2
Ironie der Filmgeschichte: Im meisterhaften Tierhorrorfilm „Der weiße Hai“ von Steven Spielberg lauert das titelgebende Ungetüm vor den Küsten der kleinen Inselstadt Amity und frisst badende Insulaner. Obwohl der ortsansässige Polizeichef Martin Brody vor dem Hai warnt, stößt er beim Bürgermeister Larry Vaughn auf taube Ohren. Das Wochenende um den Unabhängigkeitstag am 4. Juli steht an. Tausende Urlauber werden auf der Insel erwartet. Der Bürgermeister fürchtet bei einer Panik um einen Ausfall der Badesaison und erhebliche finanzielle Einbußen. Ökonomische Bedenken, die sich, hier liegt die Ironie, in der Realität bewahrheiteten: Spielbergs brillanter Blockbuster beeindruckte seine Zuschauer so nachhaltig, dass sich 1975 überall in den USA ein drastischer Rückgang der Strandurlauber verzeichnen ließ. Viele Touristen gaben an, sich beim Gang ins Meer unwohl zu fühlen.
Der Erfolg von „Der weiße Hai“ war so immens, dass Universal Studios gar nicht anders konnte, als eine Fortsetzung zu planen – obwohl der Hai im Grande Finale des ersten Films überdramatisch explodierte. Der französische Filmemacher Jeannot Szwarc übernahm die unrühmliche Aufgabe, einen neuen weißen Hai auf Amity und das Kinopublikum loszulassen – in der Hoffnung, dieselbe ängstigende Wirkung wie einst Spielberg auszulösen. So spielte schon das Plakat zum Film mit der Antizipation eines neuen Schockeffekts, dort stand der später legendär gewordene Werbespruch: „Gerade als Sie dachten, es sei sicher, wieder ins Wasser zu gehen …“
Einen großen Teil seiner filmischen Qualität und seiner suggestiven Kraft verdankte „Der weiße Hai“ dem begnadeten Steven Spielberg. Der aber sagte schon im Oktober 1975 auf dem ‚San Fransisco Film Festival‘: „Fortsetzungen sind nichts weiter als billige Schaustellertricks.“ An einem zweiten Teil hatte er folglich nur wenig Interesse. Gefallen fand er bloß an der Idee, die Vorgeschichte des Seebären Quint auf der USS Indianapolis im Zweiten Weltkrieg zu adaptieren, von der dieser in einem berüchtigten Monolog im Originalfilm erzählte. Doch als Spielberg sich vertraglich an sein Sci-Fi-Projekt „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ band, wollten die Produzenten nicht länger auf ihn warten. Nachdem der vom Studio gewünschte Regisseur John D. Hancock kurz nach Beginn der Dreharbeiten wegen kreativer Differenzen entlassen und das Skript heftig umgeschrieben wurde, kam schließlich Szwarc zum Zug.
Sein „Der weiße Hai 2“ ist weniger eine Fortschreibung der originalen Geschichte als mehr ihre Wiederholung: Erneut greift ein weißer Hai die Badegäste an den Stränden von Amity an, erneut ist Chief Brody der Einzige, der die Gefahr erkennt. Und erneut will Bürgermeister Vaughn mit Blick auf die Wirtschaft davon nichts hören. Doch das Sequel bietet reizvolle Variationen, macht sich die Vorgeschichte der Brody-Figur zu Nutze: Rasch wird deutlich, wie sehr die Ereignisse auf dem untergangenen Fischerboot ‚Orca‘, das zu Beginn der Fortsetzung einen Gastauftritt hat, ihn geprägt und traumatisiert haben. Allein der Gedanke, ein neuer Hai könnte sein Unwesen treiben, verstört ihn. Eine Meeresbiologin fragt er, ob Haie miteinander kommunizieren – so als glaube er, der neue Hai sei von seinem Vorgänger gerufen worden, um Rache für den Tod des Artgenossen zu nehmen.
Roy Scheider kehrte als Brody gegen seinen Willen zurück. Als er kurz vor Drehbeginn bei einem anderen Universal-Film, dem Vietnamkriegsdrama „Die durch die Hölle gehen“ absprang, hatte er vertraglich keine andere Wahl, als die Fortsetzung zu absolvieren. Vielleicht tröstete es ihn, dass auch „Der weiße Hai 2“ den Vietnamkrieg reflektiert: Brody ist nicht mehr und nicht weniger als ein paranoider Veteran, der von seinen Kriegserinnerungen eingeholt wird, der weiter gegen den unsichtbaren Feind kämpft. Neurotisch präpariert er seine Revolverkugeln mit Zyanid. Als er am Strand einen Schwarm Blaufische für den Schatten eines Hais hält, ballert er wüst in den Ozean. Scheider liefert großartiges Schauspiel ab, soll mit Regisseur Szwarc aber erhebliche Probleme gehabt haben. Ihm missfiel dessen Arbeit so sehr, dass er in seinem Hotelzimmer randalierte, in der Hoffnung, aus der Produktion geschmissen zu werden.
Im Originalfilm war die Jagd nach dem Hai für Brody eine Initiation. Als wasserscheuer Städter entschied er sich zum Duell auf hoher See, bewies sich damit als fähiger Inselbewohner. Drei Jahre später ist sein Antrieb ein anderer: Seine beiden Söhne segeln mittlerweile selbst aufs Meer hinaus. Gemeinsam mit einer Schar anderer Jugendlicher werden sie vom Hai attackiert. Hier nimmt „Der weiße Hai 2“ die Grundzüge des Splatter-Kinos vorweg, das in den 1980ern durch Filmreihen wie „Freitag der 13.“ oder „Nightmare on Elm Street“ dominiert wurde. Stereotypen wie die Jungfrau in Nöten, den Sonderling oder den Sportler finden sich vor, und Jungdarstellerin Donna Wilkes versucht sich als Schrei-Königin.
Echte charakterliche Tiefe weiß das Drehbuch von Carl Gottlieb und Howard Sackler den Heranwachsenden nicht zu verleihen, sie dienen nur dazu, entweder gefressen oder errettet zu werden. Blass bleiben daher auch die jungen Schauspieler, die allenfalls durch ihren körperlichen Einsatz überzeugen, da sie nahezu sämtliche Segelszenen selbst ausführen, unter abenteuerlichen Bedingungen. Auf hoher See war es dermaßen kalt, dass alle Akteure vor jeder neuen Aufnahme Eiswürfel lutschen mussten, um den kondensierenden Atem zu vermeiden.
Bei den Dreharbeiten kamen noch weitere Probleme auf: Murray Hamilton, abermalig als Bürgermeister Vaughn zu sehen, verließ den Dreh frühzeitig, als seine Frau an Krebs erkrankte. Die Jungdarsteller wiederum wurden einmal bei den Aufnahmen für die Segelszenen von einem echten Hammerhai umkreist, hyperventilierten vor Angst. Die Produktionsmitglieder bemerkten das Tier nicht, sie hielten die Schreie für gutes Schauspiel, drehten in Seelenruhe weiter. Einige der Aufnahmen landeten sogar im Film. Cable Junction, die felsige Insel, auf der sich eine elektrische Relaisstation befindet, und die extra für das Finale aus Plastik und Glasfasermaterial gebaut wurde, löste sich eines Tages aus ihrer Verankerung und schwamm davon – das Produktionsteam konnte Szwarc nur noch darüber informieren, dass seine Kulisse „auf dem Weg nach Kuba“ sei. Zum Glück fing man sie rechtzeitig wieder ein.
Mit den Hai-Effekten lief es dafür problemlos: Sorgte ‚Bruce‘, die mechatronische Hai-Attrappe des Spielberg-Films, durch sein unechtes Äußeres für einige Hürden, ist die neue Apparatur, vom Team ‚Bruce II‘ getauft, seinem Vorgängermodell technisch deutlich überlegen. All seine Auftritte bestechen durch überwältigende Schauwerte. Die Jagd auf eine Wasserskifahrerin und ihr Boot, welches in Folge einer Kettenreaktion in einem großen Feuerball explodiert, ist ein Höhepunkt des Blockbusters, ebenso sein blitzartiger Angriff auf einen unbedarften Taucher. Mehrfach kündigt ‚Bruce II‘ sich durch seine Haifischflosse an, die aus dem Meer hinausragt – ein ikonographisches Bild, das ins kollektive Gedächtnis einging.
Mit der Glaubwürdigkeit hapert es in den knapp zwei Stunden dafür gelegentlich: Als der Hai einmal in seiner Zerstörungswut einen Hubschrauber angreift und unter Wasser zieht, ist das zwar tricktechnisch beachtlich, aber deutlich zu brachial. Hanebüchen gerät vor allem die Unbeholfenheit der halbwüchsigen Segler, die erst ihre Katamarane versehentlich ineinander rammen und zusätzlich bei jeder erdenklichen Gelegenheit über Bord fallen, um von ihren Leidensgenossen wieder in Sicherheit gezogen oder vom Raubtier gefressen zu werden. Sie hätten wohl ein größeres Boot gebraucht.
Dennoch gelingen Szwarc effektive Szenen des Unwohlseins: Wenn etwa beim Parasailing ein Pilot im Wasser verharrt, während der Hai sich ihm von unten nähert, ist das minutiös ausgetüftelt. Auch das große Finale, in dem Brody in einem Schlauchboot allein gegen das Biest antritt, ist mit beträchtlichem Aufwand durchaus eindrucksvoll inszeniert. Als Meister der Anspannung meldete sich zusätzlich Komponist John Williams zurück. Seine Filmmusik ist sensationell und von enormer Bandbreite, vielleicht noch großartiger als beim Vorwerk: Das berüchtigte Leitmotiv aus nur zwei Tönen arrangiert er als orchestralen Walkürenritt, zum Kontrast laufen mitreißende, mysteriöse oder gar beschwingt-sommerliche Melodien.
Dank aufmerksamkeitsheischenden Werbekampagnen mit Coca-Cola oder dem Süßwarenhersteller Topps avancierte „Der weiße Hai 2“ im Jahr 1978 zur bis dato erfolgreichsten Fortsetzung der Geschichte – trotz Produktionskosten von 30 Millionen US-Dollar. Über die Jahre erlangte er jedoch einen zweifelhaften Ruf: Die zwei weiteren Fortsetzungen in den 1980ern gingen dermaßen bei Kritik und Publikum baden, dass auch das erste Sequel schnell mit ihnen in einen Topf geworfen wurde, nur noch als Fußnote im Zusammenhang mit dem ersten Teil Erwähnung findet. Fair ist diese Sichtweise nicht: Szwarc bietet kompetentes Unterhaltungskino, das sich problemlos selbst über Wasser halten kann. Den großen Horror, die Angst und den Schrecken des ersten Films, erzielte er aber kein zweites Mal. Die Tourismus-Branche wird es gefreut haben: Die Badegäste ließen sich in diesem Jahr ihren Urlaub nicht verderben.
Ironie der Filmgeschichte: Im meisterhaften Tierhorrorfilm „Der weiße Hai“ von Steven Spielberg lauert das titelgebende Ungetüm vor den Küsten der kleinen Inselstadt Amity und frisst badende Insulaner. Obwohl der ortsansässige Polizeichef Martin Brody vor dem Hai warnt, stößt er beim Bürgermeister Larry Vaughn auf taube Ohren. Das Wochenende um den Unabhängigkeitstag am 4. Juli steht an. Tausende Urlauber werden auf der Insel erwartet. Der Bürgermeister fürchtet bei einer Panik um einen Ausfall der Badesaison und erhebliche finanzielle Einbußen. Ökonomische Bedenken, die sich, hier liegt die Ironie, in der Realität bewahrheiteten: Spielbergs brillanter Blockbuster beeindruckte seine Zuschauer so nachhaltig, dass sich 1975 überall in den USA ein drastischer Rückgang der Strandurlauber verzeichnen ließ. Viele Touristen gaben an, sich beim Gang ins Meer unwohl zu fühlen.
Der Erfolg von „Der weiße Hai“ war so immens, dass Universal Studios gar nicht anders konnte, als eine Fortsetzung zu planen – obwohl der Hai im Grande Finale des ersten Films überdramatisch explodierte. Der französische Filmemacher Jeannot Szwarc übernahm die unrühmliche Aufgabe, einen neuen weißen Hai auf Amity und das Kinopublikum loszulassen – in der Hoffnung, dieselbe ängstigende Wirkung wie einst Spielberg auszulösen. So spielte schon das Plakat zum Film mit der Antizipation eines neuen Schockeffekts, dort stand der später legendär gewordene Werbespruch: „Gerade als Sie dachten, es sei sicher, wieder ins Wasser zu gehen …“
Einen großen Teil seiner filmischen Qualität und seiner suggestiven Kraft verdankte „Der weiße Hai“ dem begnadeten Steven Spielberg. Der aber sagte schon im Oktober 1975 auf dem ‚San Fransisco Film Festival‘: „Fortsetzungen sind nichts weiter als billige Schaustellertricks.“ An einem zweiten Teil hatte er folglich nur wenig Interesse. Gefallen fand er bloß an der Idee, die Vorgeschichte des Seebären Quint auf der USS Indianapolis im Zweiten Weltkrieg zu adaptieren, von der dieser in einem berüchtigten Monolog im Originalfilm erzählte. Doch als Spielberg sich vertraglich an sein Sci-Fi-Projekt „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ band, wollten die Produzenten nicht länger auf ihn warten. Nachdem der vom Studio gewünschte Regisseur John D. Hancock kurz nach Beginn der Dreharbeiten wegen kreativer Differenzen entlassen und das Skript heftig umgeschrieben wurde, kam schließlich Szwarc zum Zug.
Sein „Der weiße Hai 2“ ist weniger eine Fortschreibung der originalen Geschichte als mehr ihre Wiederholung: Erneut greift ein weißer Hai die Badegäste an den Stränden von Amity an, erneut ist Chief Brody der Einzige, der die Gefahr erkennt. Und erneut will Bürgermeister Vaughn mit Blick auf die Wirtschaft davon nichts hören. Doch das Sequel bietet reizvolle Variationen, macht sich die Vorgeschichte der Brody-Figur zu Nutze: Rasch wird deutlich, wie sehr die Ereignisse auf dem untergangenen Fischerboot ‚Orca‘, das zu Beginn der Fortsetzung einen Gastauftritt hat, ihn geprägt und traumatisiert haben. Allein der Gedanke, ein neuer Hai könnte sein Unwesen treiben, verstört ihn. Eine Meeresbiologin fragt er, ob Haie miteinander kommunizieren – so als glaube er, der neue Hai sei von seinem Vorgänger gerufen worden, um Rache für den Tod des Artgenossen zu nehmen.
Roy Scheider kehrte als Brody gegen seinen Willen zurück. Als er kurz vor Drehbeginn bei einem anderen Universal-Film, dem Vietnamkriegsdrama „Die durch die Hölle gehen“ absprang, hatte er vertraglich keine andere Wahl, als die Fortsetzung zu absolvieren. Vielleicht tröstete es ihn, dass auch „Der weiße Hai 2“ den Vietnamkrieg reflektiert: Brody ist nicht mehr und nicht weniger als ein paranoider Veteran, der von seinen Kriegserinnerungen eingeholt wird, der weiter gegen den unsichtbaren Feind kämpft. Neurotisch präpariert er seine Revolverkugeln mit Zyanid. Als er am Strand einen Schwarm Blaufische für den Schatten eines Hais hält, ballert er wüst in den Ozean. Scheider liefert großartiges Schauspiel ab, soll mit Regisseur Szwarc aber erhebliche Probleme gehabt haben. Ihm missfiel dessen Arbeit so sehr, dass er in seinem Hotelzimmer randalierte, in der Hoffnung, aus der Produktion geschmissen zu werden.
Im Originalfilm war die Jagd nach dem Hai für Brody eine Initiation. Als wasserscheuer Städter entschied er sich zum Duell auf hoher See, bewies sich damit als fähiger Inselbewohner. Drei Jahre später ist sein Antrieb ein anderer: Seine beiden Söhne segeln mittlerweile selbst aufs Meer hinaus. Gemeinsam mit einer Schar anderer Jugendlicher werden sie vom Hai attackiert. Hier nimmt „Der weiße Hai 2“ die Grundzüge des Splatter-Kinos vorweg, das in den 1980ern durch Filmreihen wie „Freitag der 13.“ oder „Nightmare on Elm Street“ dominiert wurde. Stereotypen wie die Jungfrau in Nöten, den Sonderling oder den Sportler finden sich vor, und Jungdarstellerin Donna Wilkes versucht sich als Schrei-Königin.
Echte charakterliche Tiefe weiß das Drehbuch von Carl Gottlieb und Howard Sackler den Heranwachsenden nicht zu verleihen, sie dienen nur dazu, entweder gefressen oder errettet zu werden. Blass bleiben daher auch die jungen Schauspieler, die allenfalls durch ihren körperlichen Einsatz überzeugen, da sie nahezu sämtliche Segelszenen selbst ausführen, unter abenteuerlichen Bedingungen. Auf hoher See war es dermaßen kalt, dass alle Akteure vor jeder neuen Aufnahme Eiswürfel lutschen mussten, um den kondensierenden Atem zu vermeiden.
Bei den Dreharbeiten kamen noch weitere Probleme auf: Murray Hamilton, abermalig als Bürgermeister Vaughn zu sehen, verließ den Dreh frühzeitig, als seine Frau an Krebs erkrankte. Die Jungdarsteller wiederum wurden einmal bei den Aufnahmen für die Segelszenen von einem echten Hammerhai umkreist, hyperventilierten vor Angst. Die Produktionsmitglieder bemerkten das Tier nicht, sie hielten die Schreie für gutes Schauspiel, drehten in Seelenruhe weiter. Einige der Aufnahmen landeten sogar im Film. Cable Junction, die felsige Insel, auf der sich eine elektrische Relaisstation befindet, und die extra für das Finale aus Plastik und Glasfasermaterial gebaut wurde, löste sich eines Tages aus ihrer Verankerung und schwamm davon – das Produktionsteam konnte Szwarc nur noch darüber informieren, dass seine Kulisse „auf dem Weg nach Kuba“ sei. Zum Glück fing man sie rechtzeitig wieder ein.
Mit den Hai-Effekten lief es dafür problemlos: Sorgte ‚Bruce‘, die mechatronische Hai-Attrappe des Spielberg-Films, durch sein unechtes Äußeres für einige Hürden, ist die neue Apparatur, vom Team ‚Bruce II‘ getauft, seinem Vorgängermodell technisch deutlich überlegen. All seine Auftritte bestechen durch überwältigende Schauwerte. Die Jagd auf eine Wasserskifahrerin und ihr Boot, welches in Folge einer Kettenreaktion in einem großen Feuerball explodiert, ist ein Höhepunkt des Blockbusters, ebenso sein blitzartiger Angriff auf einen unbedarften Taucher. Mehrfach kündigt ‚Bruce II‘ sich durch seine Haifischflosse an, die aus dem Meer hinausragt – ein ikonographisches Bild, das ins kollektive Gedächtnis einging.
Mit der Glaubwürdigkeit hapert es in den knapp zwei Stunden dafür gelegentlich: Als der Hai einmal in seiner Zerstörungswut einen Hubschrauber angreift und unter Wasser zieht, ist das zwar tricktechnisch beachtlich, aber deutlich zu brachial. Hanebüchen gerät vor allem die Unbeholfenheit der halbwüchsigen Segler, die erst ihre Katamarane versehentlich ineinander rammen und zusätzlich bei jeder erdenklichen Gelegenheit über Bord fallen, um von ihren Leidensgenossen wieder in Sicherheit gezogen oder vom Raubtier gefressen zu werden. Sie hätten wohl ein größeres Boot gebraucht.
Dennoch gelingen Szwarc effektive Szenen des Unwohlseins: Wenn etwa beim Parasailing ein Pilot im Wasser verharrt, während der Hai sich ihm von unten nähert, ist das minutiös ausgetüftelt. Auch das große Finale, in dem Brody in einem Schlauchboot allein gegen das Biest antritt, ist mit beträchtlichem Aufwand durchaus eindrucksvoll inszeniert. Als Meister der Anspannung meldete sich zusätzlich Komponist John Williams zurück. Seine Filmmusik ist sensationell und von enormer Bandbreite, vielleicht noch großartiger als beim Vorwerk: Das berüchtigte Leitmotiv aus nur zwei Tönen arrangiert er als orchestralen Walkürenritt, zum Kontrast laufen mitreißende, mysteriöse oder gar beschwingt-sommerliche Melodien.
Dank aufmerksamkeitsheischenden Werbekampagnen mit Coca-Cola oder dem Süßwarenhersteller Topps avancierte „Der weiße Hai 2“ im Jahr 1978 zur bis dato erfolgreichsten Fortsetzung der Geschichte – trotz Produktionskosten von 30 Millionen US-Dollar. Über die Jahre erlangte er jedoch einen zweifelhaften Ruf: Die zwei weiteren Fortsetzungen in den 1980ern gingen dermaßen bei Kritik und Publikum baden, dass auch das erste Sequel schnell mit ihnen in einen Topf geworfen wurde, nur noch als Fußnote im Zusammenhang mit dem ersten Teil Erwähnung findet. Fair ist diese Sichtweise nicht: Szwarc bietet kompetentes Unterhaltungskino, das sich problemlos selbst über Wasser halten kann. Den großen Horror, die Angst und den Schrecken des ersten Films, erzielte er aber kein zweites Mal. Die Tourismus-Branche wird es gefreut haben: Die Badegäste ließen sich in diesem Jahr ihren Urlaub nicht verderben.
Der letzte F*ck in Hollywood
Basic Instinct
Wenige Filmkritiker werden so verehrt wie Roger Ebert. Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalist schrieb mehr als 300 Rezensionen im Jahr, hatte über 30 Jahre mit seinem Kollegen Gene Siskel eine eigene Fernsehsendung, bekam einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. Als er 2013 verstarb, äußerte sich der damalige US-Präsident Barack Obama mit den Worten: „Das Kino wird ohne ihn nicht das Gleiche sein.“ Legendär ist Ebert aber auch für die Filme, die er nicht mochte: Er schimpfte auf den heute als Meisterwerk anerkannten „Fight Club“, hatte wenig übrig für den Action-Klassiker „Stirb langsam“ und mochte „Uhrwerk Orange“ kaum, eines der Meisterwerke des einflussreichen Regisseurs Stanley Kubrick. 1992 ging Ebert mit einem Film hart ins Gericht, der bereits Monate vor seiner Veröffentlichung zum Skandalfilm wurde: „Basic Instinct“, jenem sexuell aufgeladenen Neo-Noir-Thriller von Paul Verhoeven, Hollywoods Enfant terrible.
Homosexuelle Aktivisten hetzten bereits während der Dreharbeiten gegen das Drehbuch von Joe Eszterhas, als sie erfuhren, eine bisexuelle Frau werde hier als Mörderin dargestellt. Um dem Film zu schaden, ließen sie in Zeitungen das Ende verraten. Auf den Titelseiten prangte: „Catherine Tramell hat es getan.“ In seiner Filmkritik erklärte Ebert, warum das eigentlich kein Problem sei. Zwar enthüllt erst die allerletzte Kameraeinstellung, was durch die Aktivisten bereits bekannt war, doch bereits vorher hatte der Kriminalfall des Films eine alternative Lösung angeboten. Ebert schrieb: „Wenn die letzte Aufnahme die gegenteilige Antwort gegeben hätte, wäre sie immer noch mit allem, was im Film passiert ist, konsistent gewesen. Jedes einzelne Beweisfitzelchen im gesamten Film unterstützt zwei verschiedene Schlussfolgerungen.“ Gefallen tat das dem Filmliebhaber gar nicht: „Als Ergebnis verließ ich den Film mit dem Gefühl, manipuliert worden zu sein - denn egal, wie sehr ich versuchte der Handlung zu folgen und die Dinge herauszufinden, der ganze Film spielte nur mit mir.“
Damit erfasste er Paul Verhoeven besser als die meisten seiner Zunft: Verhoeven, der holländische Exportschlager im US-Kino, war in erster Linie kein Geschichtenerzähler, sondern ein Trickster, ein Meister der Subversion. Wirklich nach Hollywood passte er nie. Seine Filme verweigerten ein moralisches Regelwerk, waren ungewöhnlich explizit. Mit seinen ersten US-Erfolgen „Robocop“ und „Die totale Erinnerung – Total Recall“ hatte er sich einen Namen als Provokateur gemacht, auch mit seinem Folgewerk „Basic Instinct“ blieb er diesem Bild treu: Bereits im Vorfeld skandierte er, er wolle das erigierte Glied von Hauptdarsteller Michael Douglas in voller Pracht auf der Leinwand zeigen. Dazu kam es zwar nicht, doch schon die Eröffnungsszene hält sich in der grafischen Darstellung kaum zurück.
Einem Mann werden bei der Kopulation die Hände mit einem Seidenschal ans Bett gefesselt. Seine blonde Partnerin reitet wild auf seinem Schoß. Plötzlich nimmt sie einen Eispickel, sticht auf ihn ein, durchtrennt die Halsschlagader, durchsticht seine Nase. Verhoeven führt Sex und Gewalt kongenial zusammen, wie es in der Prüderie des Hollywood-Kinos der frühen 90er, geprägt durch die Aids-Pandemie, nur er konnte: Als tödliche Ejakulation, bei der die Blutspritzer das ganze Bettlaken und den nackten Körper der Mörderin rot einfärben. Formal wirkt „Basic Instinct“ ab der ersten Szene anrüchig, verwegen, unmoralisch. Der Plot von Eszterhas ist klassischer Film-Noir: Ein Mordfall führt den Ermittler Nick Curran zur Geliebten des Toten, der vermögenden Autorin Catherine Tramell. Die hat vor einiger Zeit einen Roman verfasst, in der jemand auf genau dieselbe Weise ermordet wird, wie es nun ihrem Freund passiert ist. Will da wer Tramell den Mord anhängen oder hat Tramell das Buch geschrieben, um sich für den geplanten Mord ein Alibi zu verschaffen? Während Curran ermittelt, fühlt er sich mehr und mehr von Tramell angezogen …
Der Film Noir atmete in seiner Blütezeit von 1941 bis 1958 stets die Amoral, die Abgründigkeit, so auch hier in seiner Renaissance. Michael Douglas spielt Curran eindringlich als einen intelligenten, aber auch seinen Trieben erliegenden, labil geschwächten Polizisten, der beim Stelldichein mit der Polizeipsychologin Dr. Beth Garner mit dem Analverkehr auch dann nicht aufhört, als sie sich verbal dagegen wehrt. Die Hauptattraktion des Films ist jedoch die umwerfende Sharon Stone als bisexuelle Vielleicht-Mörderin Tramell. Nach dem überwältigenden Erfolg des Films wurde sie für kurze Zeit zum heißesten weiblichen Star im Filmgeschäft. Einer ganzen Generation brannte sich die Szene ein, in der sie bei einem Polizeiverhör die Beine übereinanderschlägt, es so kurz den Anschein macht, man könne ihre Vagina sehen.
Man mag diesen pornographischen Voyeurismus als billig empfinden, doch hier liegt die Kunst von „Basic Instinct“: Virtuos verknüpft Verhoeven in 128 Minuten anspruchsvolles Auteur-Kino mit den schmuddeligen Groschenromanen, die einst den Film Noir prägten. Die größte Inspiration lieferte aber Alfred Hitchcock: Jahre später schwärmte Verhoeven noch davon, „Basic Instinct“ in San Francisco, der Stadt von „Vertigo“ gedreht zu haben, Hitchcocks Meilenstein, der regelmäßig in Ranglisten als der beste Film aller Zeiten genannt wird. Selbst Sharon Stone kann optisch als Besetzung einer „kühlen Hitchcock-Blondine“ betrachtet werden.
Die überaus delikate Kameraarbeit von Jan de Bont sorgt für eine psychologisch ungreifbare Atmosphäre. Sensationell gerät beispielsweise eine kurze Szene, in der Douglas und Stone nachts bei Regen im Auto sitzen und sich in ihren Gesichtern der Regenfall spiegelt. Die eruptive Gewalt der Mordszenen wiederum ist dem italienischen „Giallo“-Kino der 1970er entliehen, einem Genre, das aufgrund seiner misogynen und gewaltverherrlichenden Tendenz gerne der moralistischen Kritik zum Opfer fällt, eine Situation, die Verhoeven nur zu gut kennt. Jerry Goldsmith wurde von Verhoeven für die Filmmusik erwählt. Sie ist ohne Zweifel phänomenal, und selbst eine Hommage: 1974 komponierte Goldsmith bereits die Musik für „Chinatown“ von Roman Polański, dem vermutlich einflussreichsten Neo-Noir der Geschichte. Eine Reminiszenz ist auch das Mordwerkzeug, der Eispickel, der schon 1949 im Detektivroman „Die kleine Schwester“ von Raymond Chandler auf dieselbe Weise Verwendung fand. Ein Roman, der übrigens gnadenlos als Satire auf die Traumwelten von Hollywood zu verstehen ist.
Genauso funktioniert „Basic Instinct“ als spannende Vivisektion des Hollywood-Films, als Affirmation an eine vergangene Kino-Epoche, die Verhoeven um nicht mehr als seine eigene Freizügigkeit erweitert. Sei das im visuellen Sinne zu verstehen oder in der Sprache: Curran, der schließlich mit Tramell ins Bett steigt, bezeichnet ihr Tête-à-Tête später als den „F*ck des Jahrhunderts“. Sein entsetzter Kollege Gus wirft ihm dafür vor: „Sie hat dir mit ihrer Magna-Cum-Laude-Pussy das Gehirn frittiert.“ Und Tramell stellt beim Verhör im Angesicht der schweißgebadeten Polizisten klar, dass sie mit dem Ermordeten keine Beziehung pflegte: „Ich war nicht mit ihm zusammen. Ich habe mit ihm gef*ckt.“
Was ist nun aber dran an der Kritik von Roger Ebert? Verhoeven und Eszterhas erzählen die verdorbene Geschichte von „Basic Instinct“ in eindeutiger Uneindeutigkeit. Dieses Paradoxon sieht wie folgt aus: Regelmäßig stößt der aufmerksame Zuschauer auf Momente der Filmhandlung, die zu überspitzt, zu unwahrscheinlich verlaufen, als dass sie sich am Maßstab der Realität messen lassen. Das ist dramaturgische Absicht. Tramell selbst kündigt im Film an, einen Roman basierend auf ihrer Beziehung zu Curran schreiben zu wollen. Als Curran ihr ankündigt, der Roman werde nicht mit seinem Tod, sondern mit einem gefassten Mörder enden, antwortet Tramell kühl: „Das will keiner lesen. Irgendjemand muss sterben. Weil es immer so ist.“
„Basic Instinct“ ist also ein cineastischer Kunstraum, eine Plattform für Verhoevens Fabulierkunst. Der Plot ist in zwei Richtungen auslegbar, das Ende präsentiert zwei mögliche Täterinnen. Indizien werden so platziert, dass beide Möglichkeiten denkbar wären, doch in jeder Version bleibt ein Restzweifel. In dieser Unterwanderung der konventionellen Krimi-Auflösung liegt ein feministischer Kern verborgen, den die Aktivisten damals nicht erkannten: In „Basic Instinct“ werden die Männer von Frauen bis zuletzt zum Narren gehalten, verführt, ausgenutzt. Das Feminine ist die Bedrohung, fordert männliche Machtpositionen heraus, ist diesen niedersten Instinkten aber auch weit überlegen. Die Bisexualität von Tramell ist da nur der finale Schritt, der gleichgeschlechtliche Liebesakt wird zur letzten Bastion der weiblichen Sexualität, zu welcher der lüsterne Mann nie Zutritt erhalten wird.
Und doch ist es legitim von Ebert, eine Auflösung zu fordern, wo keine sein will, sich betrogen zu fühlen, enttäuscht zu sein. Ihn interessieren die tieferen Implikationen des meisterhaften, erotischen Spiels auf der Rasierklinge nicht, er nimmt sich die Freiheit, nur von sich auszugehen, bei der professionellen Filmkritik ganz persönlich zu werden. Deshalb wurde er so geschätzt: Weil er unverblümt, elegant, aber ohne Rücksicht auf Erwartungen nur sich selbst gerecht werden wollte, selbst wenn er dabei provozierte. Weil er einer war wie Paul Verhoeven.
Wenige Filmkritiker werden so verehrt wie Roger Ebert. Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalist schrieb mehr als 300 Rezensionen im Jahr, hatte über 30 Jahre mit seinem Kollegen Gene Siskel eine eigene Fernsehsendung, bekam einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. Als er 2013 verstarb, äußerte sich der damalige US-Präsident Barack Obama mit den Worten: „Das Kino wird ohne ihn nicht das Gleiche sein.“ Legendär ist Ebert aber auch für die Filme, die er nicht mochte: Er schimpfte auf den heute als Meisterwerk anerkannten „Fight Club“, hatte wenig übrig für den Action-Klassiker „Stirb langsam“ und mochte „Uhrwerk Orange“ kaum, eines der Meisterwerke des einflussreichen Regisseurs Stanley Kubrick. 1992 ging Ebert mit einem Film hart ins Gericht, der bereits Monate vor seiner Veröffentlichung zum Skandalfilm wurde: „Basic Instinct“, jenem sexuell aufgeladenen Neo-Noir-Thriller von Paul Verhoeven, Hollywoods Enfant terrible.
Homosexuelle Aktivisten hetzten bereits während der Dreharbeiten gegen das Drehbuch von Joe Eszterhas, als sie erfuhren, eine bisexuelle Frau werde hier als Mörderin dargestellt. Um dem Film zu schaden, ließen sie in Zeitungen das Ende verraten. Auf den Titelseiten prangte: „Catherine Tramell hat es getan.“ In seiner Filmkritik erklärte Ebert, warum das eigentlich kein Problem sei. Zwar enthüllt erst die allerletzte Kameraeinstellung, was durch die Aktivisten bereits bekannt war, doch bereits vorher hatte der Kriminalfall des Films eine alternative Lösung angeboten. Ebert schrieb: „Wenn die letzte Aufnahme die gegenteilige Antwort gegeben hätte, wäre sie immer noch mit allem, was im Film passiert ist, konsistent gewesen. Jedes einzelne Beweisfitzelchen im gesamten Film unterstützt zwei verschiedene Schlussfolgerungen.“ Gefallen tat das dem Filmliebhaber gar nicht: „Als Ergebnis verließ ich den Film mit dem Gefühl, manipuliert worden zu sein - denn egal, wie sehr ich versuchte der Handlung zu folgen und die Dinge herauszufinden, der ganze Film spielte nur mit mir.“
Damit erfasste er Paul Verhoeven besser als die meisten seiner Zunft: Verhoeven, der holländische Exportschlager im US-Kino, war in erster Linie kein Geschichtenerzähler, sondern ein Trickster, ein Meister der Subversion. Wirklich nach Hollywood passte er nie. Seine Filme verweigerten ein moralisches Regelwerk, waren ungewöhnlich explizit. Mit seinen ersten US-Erfolgen „Robocop“ und „Die totale Erinnerung – Total Recall“ hatte er sich einen Namen als Provokateur gemacht, auch mit seinem Folgewerk „Basic Instinct“ blieb er diesem Bild treu: Bereits im Vorfeld skandierte er, er wolle das erigierte Glied von Hauptdarsteller Michael Douglas in voller Pracht auf der Leinwand zeigen. Dazu kam es zwar nicht, doch schon die Eröffnungsszene hält sich in der grafischen Darstellung kaum zurück.
Einem Mann werden bei der Kopulation die Hände mit einem Seidenschal ans Bett gefesselt. Seine blonde Partnerin reitet wild auf seinem Schoß. Plötzlich nimmt sie einen Eispickel, sticht auf ihn ein, durchtrennt die Halsschlagader, durchsticht seine Nase. Verhoeven führt Sex und Gewalt kongenial zusammen, wie es in der Prüderie des Hollywood-Kinos der frühen 90er, geprägt durch die Aids-Pandemie, nur er konnte: Als tödliche Ejakulation, bei der die Blutspritzer das ganze Bettlaken und den nackten Körper der Mörderin rot einfärben. Formal wirkt „Basic Instinct“ ab der ersten Szene anrüchig, verwegen, unmoralisch. Der Plot von Eszterhas ist klassischer Film-Noir: Ein Mordfall führt den Ermittler Nick Curran zur Geliebten des Toten, der vermögenden Autorin Catherine Tramell. Die hat vor einiger Zeit einen Roman verfasst, in der jemand auf genau dieselbe Weise ermordet wird, wie es nun ihrem Freund passiert ist. Will da wer Tramell den Mord anhängen oder hat Tramell das Buch geschrieben, um sich für den geplanten Mord ein Alibi zu verschaffen? Während Curran ermittelt, fühlt er sich mehr und mehr von Tramell angezogen …
Der Film Noir atmete in seiner Blütezeit von 1941 bis 1958 stets die Amoral, die Abgründigkeit, so auch hier in seiner Renaissance. Michael Douglas spielt Curran eindringlich als einen intelligenten, aber auch seinen Trieben erliegenden, labil geschwächten Polizisten, der beim Stelldichein mit der Polizeipsychologin Dr. Beth Garner mit dem Analverkehr auch dann nicht aufhört, als sie sich verbal dagegen wehrt. Die Hauptattraktion des Films ist jedoch die umwerfende Sharon Stone als bisexuelle Vielleicht-Mörderin Tramell. Nach dem überwältigenden Erfolg des Films wurde sie für kurze Zeit zum heißesten weiblichen Star im Filmgeschäft. Einer ganzen Generation brannte sich die Szene ein, in der sie bei einem Polizeiverhör die Beine übereinanderschlägt, es so kurz den Anschein macht, man könne ihre Vagina sehen.
Man mag diesen pornographischen Voyeurismus als billig empfinden, doch hier liegt die Kunst von „Basic Instinct“: Virtuos verknüpft Verhoeven in 128 Minuten anspruchsvolles Auteur-Kino mit den schmuddeligen Groschenromanen, die einst den Film Noir prägten. Die größte Inspiration lieferte aber Alfred Hitchcock: Jahre später schwärmte Verhoeven noch davon, „Basic Instinct“ in San Francisco, der Stadt von „Vertigo“ gedreht zu haben, Hitchcocks Meilenstein, der regelmäßig in Ranglisten als der beste Film aller Zeiten genannt wird. Selbst Sharon Stone kann optisch als Besetzung einer „kühlen Hitchcock-Blondine“ betrachtet werden.
Die überaus delikate Kameraarbeit von Jan de Bont sorgt für eine psychologisch ungreifbare Atmosphäre. Sensationell gerät beispielsweise eine kurze Szene, in der Douglas und Stone nachts bei Regen im Auto sitzen und sich in ihren Gesichtern der Regenfall spiegelt. Die eruptive Gewalt der Mordszenen wiederum ist dem italienischen „Giallo“-Kino der 1970er entliehen, einem Genre, das aufgrund seiner misogynen und gewaltverherrlichenden Tendenz gerne der moralistischen Kritik zum Opfer fällt, eine Situation, die Verhoeven nur zu gut kennt. Jerry Goldsmith wurde von Verhoeven für die Filmmusik erwählt. Sie ist ohne Zweifel phänomenal, und selbst eine Hommage: 1974 komponierte Goldsmith bereits die Musik für „Chinatown“ von Roman Polański, dem vermutlich einflussreichsten Neo-Noir der Geschichte. Eine Reminiszenz ist auch das Mordwerkzeug, der Eispickel, der schon 1949 im Detektivroman „Die kleine Schwester“ von Raymond Chandler auf dieselbe Weise Verwendung fand. Ein Roman, der übrigens gnadenlos als Satire auf die Traumwelten von Hollywood zu verstehen ist.
Genauso funktioniert „Basic Instinct“ als spannende Vivisektion des Hollywood-Films, als Affirmation an eine vergangene Kino-Epoche, die Verhoeven um nicht mehr als seine eigene Freizügigkeit erweitert. Sei das im visuellen Sinne zu verstehen oder in der Sprache: Curran, der schließlich mit Tramell ins Bett steigt, bezeichnet ihr Tête-à-Tête später als den „F*ck des Jahrhunderts“. Sein entsetzter Kollege Gus wirft ihm dafür vor: „Sie hat dir mit ihrer Magna-Cum-Laude-Pussy das Gehirn frittiert.“ Und Tramell stellt beim Verhör im Angesicht der schweißgebadeten Polizisten klar, dass sie mit dem Ermordeten keine Beziehung pflegte: „Ich war nicht mit ihm zusammen. Ich habe mit ihm gef*ckt.“
Was ist nun aber dran an der Kritik von Roger Ebert? Verhoeven und Eszterhas erzählen die verdorbene Geschichte von „Basic Instinct“ in eindeutiger Uneindeutigkeit. Dieses Paradoxon sieht wie folgt aus: Regelmäßig stößt der aufmerksame Zuschauer auf Momente der Filmhandlung, die zu überspitzt, zu unwahrscheinlich verlaufen, als dass sie sich am Maßstab der Realität messen lassen. Das ist dramaturgische Absicht. Tramell selbst kündigt im Film an, einen Roman basierend auf ihrer Beziehung zu Curran schreiben zu wollen. Als Curran ihr ankündigt, der Roman werde nicht mit seinem Tod, sondern mit einem gefassten Mörder enden, antwortet Tramell kühl: „Das will keiner lesen. Irgendjemand muss sterben. Weil es immer so ist.“
„Basic Instinct“ ist also ein cineastischer Kunstraum, eine Plattform für Verhoevens Fabulierkunst. Der Plot ist in zwei Richtungen auslegbar, das Ende präsentiert zwei mögliche Täterinnen. Indizien werden so platziert, dass beide Möglichkeiten denkbar wären, doch in jeder Version bleibt ein Restzweifel. In dieser Unterwanderung der konventionellen Krimi-Auflösung liegt ein feministischer Kern verborgen, den die Aktivisten damals nicht erkannten: In „Basic Instinct“ werden die Männer von Frauen bis zuletzt zum Narren gehalten, verführt, ausgenutzt. Das Feminine ist die Bedrohung, fordert männliche Machtpositionen heraus, ist diesen niedersten Instinkten aber auch weit überlegen. Die Bisexualität von Tramell ist da nur der finale Schritt, der gleichgeschlechtliche Liebesakt wird zur letzten Bastion der weiblichen Sexualität, zu welcher der lüsterne Mann nie Zutritt erhalten wird.
Und doch ist es legitim von Ebert, eine Auflösung zu fordern, wo keine sein will, sich betrogen zu fühlen, enttäuscht zu sein. Ihn interessieren die tieferen Implikationen des meisterhaften, erotischen Spiels auf der Rasierklinge nicht, er nimmt sich die Freiheit, nur von sich auszugehen, bei der professionellen Filmkritik ganz persönlich zu werden. Deshalb wurde er so geschätzt: Weil er unverblümt, elegant, aber ohne Rücksicht auf Erwartungen nur sich selbst gerecht werden wollte, selbst wenn er dabei provozierte. Weil er einer war wie Paul Verhoeven.
Schach, Jazz und Split-Screen
Thomas Crown ist nicht zu fassen
Beide setzen einen Läufer in die Mitte des Spielbretts. Jeder lässt abwechselnd einen Springer folgen. Sie sehen sich an, erlauben sich ein Schmunzeln. Dann aber: Herausfordernde Blicke. Er beginnt zu schwitzen, blick auf, sieht, wie sie mit ihren langen, lackierten Fingernägeln ihr Abendkleid ein wenig lockert. Wieder sucht er die Konzentration, vergeblich. Ratlos setzt er den König ein Feld nach rechts. Die Kamera zeigt die Gesichter in einer Großaufnahme. Dann nur die Augen. Dann ihre Lippen. Sie fasst an den Läufer, umspielt ihn mit den Fingern. Auf und ab. Während er sich auf seinen nächsten Zug konzentriert, schiebt sie unter dem Tisch ihr Bein vor, schmiegt ihr Knie an seinem Schoß. Schließlich sagt sie laut: „Schach.“ Er ist geschlagen, steht auf, scheint über das Spiel zu grübeln. Dann geht er zu ihr, hebt sie aus ihrem Stuhl, spricht: „Wir spielen etwas anderes.“ Ihre Lippen berühren sich, es folgen Küsse im Gegenlicht. Fünfundfünfzig Sekunden lang küssen sie sich, weiß der Filmexperte. Denn dieser Kuss war 1968 der bis dato längste Kuss in der Geschichte des Kinos – die Darsteller Steve McQueen und Faye Dunaway brauchten dafür acht Stunden, über drei Drehtage verteilt.
Famos ist, wie Regisseur Norman Jewison die Szene auflöst: Während sich die zwei Akteure ganz ineinander verlieren, ihre Küsse immer schneller, ihre Bewegungen wilder werden, verschwimmt die Szenerie in bunten Farben, bis auch McQueen und Dunaway in den Farben verschwinden, in einem psychedelischen Ornament, wie es damals parallel auf der Leinwand auch in „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick zu sehen war. Bei Kubrick symbolisierte der Rausch aus Licht und Kolorierung die Reise eines Astronauten über die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft hinaus, bei Jewison sind die verschmelzenden Farbtöne leichter zu begreifen: Sie simulieren den Orgasmus beim Liebesspiel. „In Filmen ist Stil der Inhalt“, definierte Jewison sein Credo, und mit der Kriminalkomödie „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte er dieses Prinzip zur obersten Maxime. Sein Klassiker, der unlängst als Prototyp eines ganzen Genres angesehen wird, ist aus moderner Sicht ganz als Zeitgeist-Wiedergabe zu verstehen. Er entführt in die Swinging Sixties, filmisch und modisch.
Für Letzteres reicht es, die Garderobe zu begutachten, mit der Faye Dunaway für den Film eingekleidet wurde. Erst ein Jahr zuvor war sie durch ihre Hauptrolle im Gangsterdrama „Bonnie und Clyde“ berühmt geworden, doch „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte sie zur Stilikone. Schick und vor allem sexy verkörpert sie eine Versicherungsdetektivin, die nach einem perfekt orchestrierten Banküberfall den Drahtzieher ermitteln soll. Ihr Verdacht führt sie zu Thomas Crown, einem angesehenen Millionär mit Gentleman-Attitüde. Und weil schon ihr erster Auftritt im Film an einem Flughafen, an dem sie den Kommissar der örtlichen Polizei von der ersten Sekunde an felsenfest im Griff hat, zeigt, wie selbstsicher und furchtlos diese brillante Ermittlerin sich durchzuschlagen weiß, konfrontiert sie Crown bei der ersten Gelegenheit mit ihrer Vermutung. Wie er darauf reagiert? Abstreiten tut er es nicht.
Norman Jewison hatte noch ein Jahr zuvor mit dem Rassismusdrama „In der Hitze der Nacht“ fünf Oscars gewonnen, u.a. in der Hauptkategorie als ‚Bester Film‘. Für sein nächstes Projekt engagierte er Alan Trustman, einen Quereinsteiger in der Filmwelt, um ein Drehbuch für ein Heist-Movie, einen Film mit einem Raubüberfall im Zentrum, zu schreiben, wie sie zu dieser Zeit besonders beliebt waren. Doch Trustmans Script unterscheidet sich stark von anderen Genre-Vertretern: Der große Banküberfall, der minutiös geplante und reibungslos durchgeführte Coup, ist an den Anfang gestellt. Fünf verschiedene Gauner werden von einem geheimnisvoll-unbekannten Auftraggeber instruiert, und begehen das perfekte Verbrechen, ohne sich vorher je begegnet zu sein.
Um das ideale Zusammenspiel der Kriminellen zu veranschaulichen, setzte Jewison auf die sogenannte Split-Screen-Technik. Soll heißen: Der Bildschirm teilt sich in verschiedene kastenförmige Segmente, in denen unterschiedliche Handlungen gezeigt werden. Die Virtuosität, mit der so eine der spannendsten Montage-Sequenzen des 60er-Jahre-Kinos erzeugt wurde, ist nahezu berauschend. Die Auftrennung der verschiedenen Aktionen auf Teileinheiten des Gesamtbildes entwickelt einen fulminanten Rhythmus, war ihrer Zeit voraus. Erst 2001 erlebte diese filmische Rhetorik ihre Renaissance, als sie durch die actionreiche TV-Serie „24“ zu neuer Berühmtheit kam.
Darauffolgend widmet sich „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ dem Beziehungsspiel seiner Protagonisten. Für den oft als ‚King of Cool‘ bezeichneten Steve McQueen wurde die Titelrolle zu einer seiner populärsten Darbietungen, und zurecht, denn mit seiner wunderbar sensiblen Performance spielt er kräftig gegen sein Image: Die eiskalte Coolness ist ihm natürlich ins Gesicht geschrieben, doch selten sieht man McQueen so oft sowohl grübelnd und nachdenklich als auch ausgelassen lachend wie in diesem Film. Ursprünglich hatte Trustman beim Schreiben noch Sean Connery für den Part vor Augen, schrieb manche Szenen später um, machte sie für McQueen passend. Besonders prägnant für die Zeichnung der Figur ist eine Szene nach dem geglückten Raubüberfall, als er sich breit grinsend im Spiegel selbst zuprostet. Der deutsche Verleih lag deshalb ganz richtig damit, den eher banalen Originaltitel „The Thomas Crown Affair“, also: „Die Thomas Crown Affäre“, durch den schwungvolleren „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ zu ersetzen.
So ganz greifen lässt sich die Crown-Figur nämlich nicht. Einem echten Motiv für den Banküberfall bleibt er schuldig. Purer Nervenkitzel treibt ihn an, er ist ein Mann, der von seinem Leben in Extravaganz und Wohlstand gelangweilt ist. Er fährt einen schmucken Rolls-Royce, trägt die teuersten Sonnenbrillen, raucht die luxuriösesten Zigaretten, doch es fehlt ihm Befriedigung. Einmal kreist er mit seinem Segelflugzeug ziellos durch die Lüfte. Ursprünglich sollte diese Szene mit „Strawberry Fields Forever“ von den Beatles unterlegt werden, erst spät entschied man sich für den eigens komponierten Song „Windmills of your Mind“, gesungen von Noel Harrison, der schon in der anfänglichen Titelsequenz zu hören war und einen Oscar für das ‚Beste Filmlied‘ erhielt. Der melancholische Text gibt die Leere in Thomas Crown hervorragend wieder: „Rund wie eine Uhr, deren Zeiger über die Minuten ihres Ziffernblatts fegen. Und die Welt ist wie ein Apfel, der lautlos im Raum wirbelt, wie die Kreise, die du in den Windmühlen deines Geistes findest!“
Wenn er und Faye Dunaway, deren gemeinsame Chemie vor sexueller Spannung geradezu prickelt, gemeinsam in einem Buggy über den Strand jagen, ergötzt und verliebt sich die formal exzellent geführte Kamera von Haskell Wexler in den zur Schau gestellten Luxus, so wie auch Dunaways Charakter sich von Crown mehr und mehr verführen lässt. Genial also die Besetzung der Frau, die durch „Bonnie und Clyde“ zu einer Identifikationsfigur der damals rebellierenden Jugend wurde: In „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ergibt sie sich nun dem Prunk des Establishments. Die soziale Realität wird ausgeblendet, der schnöde Alltag ist vergessen, und der Eskapismus formvollendet. Der Stil wird ganz zum Inhalt, wie Jewison es anstrebte.
Die zeitgenössische Kritik warf dem 102-minütigen Film wohl auch deshalb seine Oberflächlichkeit vor, seinen Hochglanz, aber aus einem Missverständnis heraus. Jewison drehte keinen Hochspannungsthriller, kein so gern herauf beschworenes fintenreiches Katz-und-Mausspiel. In Wahrheit gibt die lässige, Piano-lastige Filmmusik von Michel Legrand den Takt vor: „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ist kinematografischer Jazz. So mag es ungestüm, selbstzweckhaft erscheinen, wenn die Split-Screen-Technik in einer Szene bei einem Polospiel einzelne Aufnahmen verzigfacht, dasselbe Bild sechzigmal zugleich gezeigt wird, es ist jedoch Ursprung der filmisch gewünschten Attitüde: Dynamik wird wo immer möglich forciert, rasante, beinahe improvisiert-wirkende Tempiwechsel erzeugen Aufmerksamkeit, die Dialoge sind frivol, verwegen. Das Drehbuch sucht nicht immer nach der inneren Logik, dem tieferen Sinn. Dieser Film will erlebt und gefühlt werden. Ein intellektueller Zugang ist fehl am Platz, schließlich wird symbolträchtig selbst Schach, das edle Spiel der Könige, das Kräftemessen großer Denker und Strategen, zum erotischen Duell umfunktioniert.
Und wie so oft beim Jazz endet auch Jewisons Film auf einer bitteren letzten Note. Beim Versuch, dem von ihr mittlerweile verehrten Millionär eine Falle zu stellen, ist Dunaways Figur in seine getappt. Sie endet weinend, betrogen, ausgetrickst. Anders als in der ironischer angelegten Neuverfilmung von 1999, in den zentralen Rollen mit Pierce Brosnan und Rene Russo besetzt, wartet man dementsprechend vergeblich auf die glückliche Auflösung für das Filmpaar. „Die Thomas Crown Affäre“, eine Liaison mit dem Gentleman-Ganoven, davon durfte geträumt werden, der deutsche Filmtitel aber triumphiert, wie auch die Protagonistin einsehen muss: Dieser Mann ist wirklich nicht zu fassen.
Beide setzen einen Läufer in die Mitte des Spielbretts. Jeder lässt abwechselnd einen Springer folgen. Sie sehen sich an, erlauben sich ein Schmunzeln. Dann aber: Herausfordernde Blicke. Er beginnt zu schwitzen, blick auf, sieht, wie sie mit ihren langen, lackierten Fingernägeln ihr Abendkleid ein wenig lockert. Wieder sucht er die Konzentration, vergeblich. Ratlos setzt er den König ein Feld nach rechts. Die Kamera zeigt die Gesichter in einer Großaufnahme. Dann nur die Augen. Dann ihre Lippen. Sie fasst an den Läufer, umspielt ihn mit den Fingern. Auf und ab. Während er sich auf seinen nächsten Zug konzentriert, schiebt sie unter dem Tisch ihr Bein vor, schmiegt ihr Knie an seinem Schoß. Schließlich sagt sie laut: „Schach.“ Er ist geschlagen, steht auf, scheint über das Spiel zu grübeln. Dann geht er zu ihr, hebt sie aus ihrem Stuhl, spricht: „Wir spielen etwas anderes.“ Ihre Lippen berühren sich, es folgen Küsse im Gegenlicht. Fünfundfünfzig Sekunden lang küssen sie sich, weiß der Filmexperte. Denn dieser Kuss war 1968 der bis dato längste Kuss in der Geschichte des Kinos – die Darsteller Steve McQueen und Faye Dunaway brauchten dafür acht Stunden, über drei Drehtage verteilt.
Famos ist, wie Regisseur Norman Jewison die Szene auflöst: Während sich die zwei Akteure ganz ineinander verlieren, ihre Küsse immer schneller, ihre Bewegungen wilder werden, verschwimmt die Szenerie in bunten Farben, bis auch McQueen und Dunaway in den Farben verschwinden, in einem psychedelischen Ornament, wie es damals parallel auf der Leinwand auch in „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick zu sehen war. Bei Kubrick symbolisierte der Rausch aus Licht und Kolorierung die Reise eines Astronauten über die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft hinaus, bei Jewison sind die verschmelzenden Farbtöne leichter zu begreifen: Sie simulieren den Orgasmus beim Liebesspiel. „In Filmen ist Stil der Inhalt“, definierte Jewison sein Credo, und mit der Kriminalkomödie „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte er dieses Prinzip zur obersten Maxime. Sein Klassiker, der unlängst als Prototyp eines ganzen Genres angesehen wird, ist aus moderner Sicht ganz als Zeitgeist-Wiedergabe zu verstehen. Er entführt in die Swinging Sixties, filmisch und modisch.
Für Letzteres reicht es, die Garderobe zu begutachten, mit der Faye Dunaway für den Film eingekleidet wurde. Erst ein Jahr zuvor war sie durch ihre Hauptrolle im Gangsterdrama „Bonnie und Clyde“ berühmt geworden, doch „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte sie zur Stilikone. Schick und vor allem sexy verkörpert sie eine Versicherungsdetektivin, die nach einem perfekt orchestrierten Banküberfall den Drahtzieher ermitteln soll. Ihr Verdacht führt sie zu Thomas Crown, einem angesehenen Millionär mit Gentleman-Attitüde. Und weil schon ihr erster Auftritt im Film an einem Flughafen, an dem sie den Kommissar der örtlichen Polizei von der ersten Sekunde an felsenfest im Griff hat, zeigt, wie selbstsicher und furchtlos diese brillante Ermittlerin sich durchzuschlagen weiß, konfrontiert sie Crown bei der ersten Gelegenheit mit ihrer Vermutung. Wie er darauf reagiert? Abstreiten tut er es nicht.
Norman Jewison hatte noch ein Jahr zuvor mit dem Rassismusdrama „In der Hitze der Nacht“ fünf Oscars gewonnen, u.a. in der Hauptkategorie als ‚Bester Film‘. Für sein nächstes Projekt engagierte er Alan Trustman, einen Quereinsteiger in der Filmwelt, um ein Drehbuch für ein Heist-Movie, einen Film mit einem Raubüberfall im Zentrum, zu schreiben, wie sie zu dieser Zeit besonders beliebt waren. Doch Trustmans Script unterscheidet sich stark von anderen Genre-Vertretern: Der große Banküberfall, der minutiös geplante und reibungslos durchgeführte Coup, ist an den Anfang gestellt. Fünf verschiedene Gauner werden von einem geheimnisvoll-unbekannten Auftraggeber instruiert, und begehen das perfekte Verbrechen, ohne sich vorher je begegnet zu sein.
Um das ideale Zusammenspiel der Kriminellen zu veranschaulichen, setzte Jewison auf die sogenannte Split-Screen-Technik. Soll heißen: Der Bildschirm teilt sich in verschiedene kastenförmige Segmente, in denen unterschiedliche Handlungen gezeigt werden. Die Virtuosität, mit der so eine der spannendsten Montage-Sequenzen des 60er-Jahre-Kinos erzeugt wurde, ist nahezu berauschend. Die Auftrennung der verschiedenen Aktionen auf Teileinheiten des Gesamtbildes entwickelt einen fulminanten Rhythmus, war ihrer Zeit voraus. Erst 2001 erlebte diese filmische Rhetorik ihre Renaissance, als sie durch die actionreiche TV-Serie „24“ zu neuer Berühmtheit kam.
Darauffolgend widmet sich „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ dem Beziehungsspiel seiner Protagonisten. Für den oft als ‚King of Cool‘ bezeichneten Steve McQueen wurde die Titelrolle zu einer seiner populärsten Darbietungen, und zurecht, denn mit seiner wunderbar sensiblen Performance spielt er kräftig gegen sein Image: Die eiskalte Coolness ist ihm natürlich ins Gesicht geschrieben, doch selten sieht man McQueen so oft sowohl grübelnd und nachdenklich als auch ausgelassen lachend wie in diesem Film. Ursprünglich hatte Trustman beim Schreiben noch Sean Connery für den Part vor Augen, schrieb manche Szenen später um, machte sie für McQueen passend. Besonders prägnant für die Zeichnung der Figur ist eine Szene nach dem geglückten Raubüberfall, als er sich breit grinsend im Spiegel selbst zuprostet. Der deutsche Verleih lag deshalb ganz richtig damit, den eher banalen Originaltitel „The Thomas Crown Affair“, also: „Die Thomas Crown Affäre“, durch den schwungvolleren „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ zu ersetzen.
So ganz greifen lässt sich die Crown-Figur nämlich nicht. Einem echten Motiv für den Banküberfall bleibt er schuldig. Purer Nervenkitzel treibt ihn an, er ist ein Mann, der von seinem Leben in Extravaganz und Wohlstand gelangweilt ist. Er fährt einen schmucken Rolls-Royce, trägt die teuersten Sonnenbrillen, raucht die luxuriösesten Zigaretten, doch es fehlt ihm Befriedigung. Einmal kreist er mit seinem Segelflugzeug ziellos durch die Lüfte. Ursprünglich sollte diese Szene mit „Strawberry Fields Forever“ von den Beatles unterlegt werden, erst spät entschied man sich für den eigens komponierten Song „Windmills of your Mind“, gesungen von Noel Harrison, der schon in der anfänglichen Titelsequenz zu hören war und einen Oscar für das ‚Beste Filmlied‘ erhielt. Der melancholische Text gibt die Leere in Thomas Crown hervorragend wieder: „Rund wie eine Uhr, deren Zeiger über die Minuten ihres Ziffernblatts fegen. Und die Welt ist wie ein Apfel, der lautlos im Raum wirbelt, wie die Kreise, die du in den Windmühlen deines Geistes findest!“
Wenn er und Faye Dunaway, deren gemeinsame Chemie vor sexueller Spannung geradezu prickelt, gemeinsam in einem Buggy über den Strand jagen, ergötzt und verliebt sich die formal exzellent geführte Kamera von Haskell Wexler in den zur Schau gestellten Luxus, so wie auch Dunaways Charakter sich von Crown mehr und mehr verführen lässt. Genial also die Besetzung der Frau, die durch „Bonnie und Clyde“ zu einer Identifikationsfigur der damals rebellierenden Jugend wurde: In „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ergibt sie sich nun dem Prunk des Establishments. Die soziale Realität wird ausgeblendet, der schnöde Alltag ist vergessen, und der Eskapismus formvollendet. Der Stil wird ganz zum Inhalt, wie Jewison es anstrebte.
Die zeitgenössische Kritik warf dem 102-minütigen Film wohl auch deshalb seine Oberflächlichkeit vor, seinen Hochglanz, aber aus einem Missverständnis heraus. Jewison drehte keinen Hochspannungsthriller, kein so gern herauf beschworenes fintenreiches Katz-und-Mausspiel. In Wahrheit gibt die lässige, Piano-lastige Filmmusik von Michel Legrand den Takt vor: „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ist kinematografischer Jazz. So mag es ungestüm, selbstzweckhaft erscheinen, wenn die Split-Screen-Technik in einer Szene bei einem Polospiel einzelne Aufnahmen verzigfacht, dasselbe Bild sechzigmal zugleich gezeigt wird, es ist jedoch Ursprung der filmisch gewünschten Attitüde: Dynamik wird wo immer möglich forciert, rasante, beinahe improvisiert-wirkende Tempiwechsel erzeugen Aufmerksamkeit, die Dialoge sind frivol, verwegen. Das Drehbuch sucht nicht immer nach der inneren Logik, dem tieferen Sinn. Dieser Film will erlebt und gefühlt werden. Ein intellektueller Zugang ist fehl am Platz, schließlich wird symbolträchtig selbst Schach, das edle Spiel der Könige, das Kräftemessen großer Denker und Strategen, zum erotischen Duell umfunktioniert.
Und wie so oft beim Jazz endet auch Jewisons Film auf einer bitteren letzten Note. Beim Versuch, dem von ihr mittlerweile verehrten Millionär eine Falle zu stellen, ist Dunaways Figur in seine getappt. Sie endet weinend, betrogen, ausgetrickst. Anders als in der ironischer angelegten Neuverfilmung von 1999, in den zentralen Rollen mit Pierce Brosnan und Rene Russo besetzt, wartet man dementsprechend vergeblich auf die glückliche Auflösung für das Filmpaar. „Die Thomas Crown Affäre“, eine Liaison mit dem Gentleman-Ganoven, davon durfte geträumt werden, der deutsche Filmtitel aber triumphiert, wie auch die Protagonistin einsehen muss: Dieser Mann ist wirklich nicht zu fassen.
Ein Blechpirat sieht rot
Feuerstoß
Ein Anruf bringt den Arzt Dr. Tracer dazu, den geplanten gemeinsamen Abend mit seiner Frau abzusagen und stattdessen sofort zum College zu fahren, in welchem er unterrichtet. Eine seiner Schülerinnen ist bei einer Feier zusammengebrochen. Dort angekommen, holt er sofort Medizin aus seiner Tasche. In einer Nahaufnahme ist das Bild zweigeteilt: Die rechte Seite zeigt das nervöse Gesicht einer Lehrerin, mit großen Augen beobachtet sie wie in der linken Bildhälfte die Hand des Arztes das Medikament öffnet. Eine bizarre Einstellung, die später noch einmal wichtig wird. Diese Szene ereignet sich nämlich zu Beginn des italienisch-kanadischen Kriminalfilms „Feuerstoß“ und Dr. Tracer wird bald der Hauptverdächtige einer Mordermittlung sein.
Nachdem er der Studentin Louise nämlich das Mittel verabreicht hat, offenbart sich ihr Zusammenbruch als kleiner Scherz, mit welchem der Arzt auf die Studentenfeier gelockt werden sollte. Schon einmal dort, beschließt er, mitzufeiern – ehe kurz darauf Louise erneut zusammenbricht. Dieses Mal wirklich. Und tödlich. Die Obduktion ergibt: Sie wurde vergiftet. Sofort beginnt der Polizist Tony Saitta die Ermittlungen. Louise war nämlich niemand geringeres als seine eigene Schwester. Die wollte am Tag ihres Todes noch mit ihm telefonieren, doch er war gerade zu beschäftigt damit, fliehende Bankräuber zu verfolgen und ganz im Stil von „Dirty Harry“ über den Haufen zu schießen.
Nun also ermittelt Saitta gegen Dr. Tracer, dem eine Affäre mit Louise nachgesagt wird. Der filmkundige Cineast wird Dr. Tracer von Beginn an kritisch beäugen, spielt ihn doch Martin Landau, der sich einst als mörderischer Leonard in „Der unsichtbare Dritte“ von Alfred Hitchcock seinen Platz in den Annalen der Filmgeschichte sicherte. 1976 verschlug es ihn nach Montréal, in diesen Poliziottesco, der in Deutschland zuerst unter dem Titel „Tod im College“ erschien, mittlerweile aber „Feuerstoß“ genannt wird. Die Italiener kennen ihn unter „Una Magnum special per Tony Saitta“ (zu deutsch: „Eine spezielle Magnum für Tony Saitta“), ein Titel, der absichtlich nach einem Cop-Film mit Clint Eastwood klingt.
Statt dem übernimmt Stuart Whitman den Part des nach Rache düsternden Ermittlers. Seine Karriere lief der von Eastwood entgegengesetzt: Hatte der erst in Italowestern Fuß gefasst und dann in den USA eine große Karriere begonnen, war Whitman in den 1960ern noch in „Die Comanchen“ an der Seite von John Wayne und in der mit Stars gefüllten Komödie „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ zu sehen, verdingte sich aber ein Jahrzehnt später in Filmen der zweiten Liga. Ein Spezialist für solche war Regisseur Alberto De Martino. Als fleißiger Trash-Filmer drehte er legendäre Gurken wie „Der Puma Mann“, „Mord im schwarzen Cadillac“ sowie den skurrilen „Operation ‚Kleiner Bruder‘“, eine italienische Kopie der frühen „James Bond“-Filme, mit Sean Connerys Bruder Neil Connery als Superspion und anderen „originalen“ Mitgliedern der Bond-Reihe, darunter Lois Maxwell, Bernard Lee und Daniela Bianchi.
„Feuerstoß“ filmte er unter seinem Pseudonym Martin Herbert, ein Name, der für das US-amerikanische Publikum leichter auszusprechen war. Die Drehbuchautoren hießen laut Vorspann Vincent Mann und Frank Clark, dahinter verbergen sich jedoch Vincenzo Mannino und Gianfranco Clerici. Letzterer schrieb wenige Jahre später das Drehbuch zum berühmt-berüchtigten Exploitations-Schocker „Nackt und zerfleischt“, besser bekannt als „Cannibal Holocaust“. Sie trugen dazu bei, dass „Feuerstoß“ zurecht als der beste Film von Alberto De Martino gilt. Zahlreiche Szenen zeichnen sich durch schöne kleine Ideen aus, wie die beschriebene Einstellung, in der Dr. Tracer vor den Augen einer Kollegin seine Medikamente auspackt – die wieder aufgegriffen wird, als jene Kollegin bezeugen soll, dass die Packung des Medikaments noch ungeöffnet war, als Dr. Tracer es verwendete.
Schon gleich der anfängliche Banküberfall ist kompetent und spannend inszeniert, wenn auch ordentlich brutal. Das Lexikon des internationalen Films nennt dieses Werk deswegen gar „gewaltverherrlichend“, nicht unbedingt zurecht. Die Handlung hat nämlich einige Wendungen parat, die auch das Gebaren der Action betreffen. Je näher Saitta der Lösung des Falls kommt, umso klarer wird ihm, dass er den Fall deutlich schneller hätte aufklären können, hätte er seine harte Vorgehensweise ein wenig früher abgelegt.
So entstehen nahezu alle Actionszenen daraus, dass Saitta einen Verdächtigen aufsucht und dieser entweder flieht oder von Saitta so aggressiv angegangen wird, dass es zu einer Auseinandersetzung kommt. Einmal führt ihn etwa eine Spur an die Dachkante eines Hochhauses, wo er auf mehrere Transvestiten trifft – und sich sofort mit ihnen prügelt. Da fliegen Perücken durch die Luft, Blumenkübel werden geworfen, ein heißer Lockenstab sorgt für Bedrängnis, kurz hängt Saitta sogar in schwindelerregender Höhe, stürzt fast in die Tiefe. Außer einer nebensächlichen Information durch den eigentlichen Gesuchten bringt den Ermittler die Schlägerei kaum weiter.
„Feuerstoß“ setzt nicht ausschließlich auf aggressive Gefechte. In einigen Sequenzen gelingen De Martino schöne Spannungsmomente, wie eine effektive Szene mit Louises blinder Mitbewohnerin Julie. Sie wird allein in ihrer Wohnung gezeigt, spürt aber die Anwesenheit einer zweiten Person. Zaghaft sagt sie: „Ich weiß, dass hier noch jemand im Raum ist.“ Als keine Antwort kommt, geht sie vorsichtig jeden Meter ihrer Räumlichkeiten ab, ohne Ergebnis. Auch die Kamera zeigt uns nie den mutmaßlichen Einbrecher. Als aber plötzlich ihre Zimmertür laut knallt, haben wir und sie Gewissheit. Sie schreitet auf den Flur hinterher, unwissentlich, dass dort gebaut wird – und ein Teil der Außenfassade ohne Absperrung offensteht, auf den sie zuschreitet.
Solche Augenblicke der Antizipation nutzt De Martino für mehrere spekulativ inszenierte Mordszenen, die so effektiv sind, dass „Feuerstoß“ in einigen Nachschlagwerken gar als Giallo geführt wird – obwohl der Film sich im Vergleich zu den Werken anderer Gialli-Regisseure wie Sergio Martino, Mario Bava oder Dario Argento mit der Explizität der Tötungen stark zurückhält. Immerhin: Eine der Mordszenen fand später ihren Weg erneut auf die Leinwand, als Argento sie 2005 für seinen „Do You Like Hitchcock?“ beinahe Bild für Bild nachstellte. Die blinde Julie wird dem ein oder anderen Filmkenner übrigens bekannt vorkommen. Ihre Schauspielerin Tisa Farrow sieht ihrer Schwester Mia Farrow ziemlich ähnlich. Natürlich war Mia der größere Star, spätestens seit sie 1968 unter der Regie von Roman Polański „Rosemaries Baby“ bekam.
Der absolute Höhepunkt des Films ist derweil eine exzellente Autoverfolgungsjagd, die überdeutlich große und legendäre Vorbilder wie „Bullitt“, „Die Seven-Ups“ und „Die Blechpiraten“ zitiert, selbst aber ein Musterbeispiel für gelungene Stuntarbeit darstellt. Kein Wunder, war für sie doch der Franzose Rémy Julienne verantwortlich, der bei über 400 Kinofilmen an den Auto-Stunts mitwirkte. Sechsmal fuhr er für „James Bond“, legendär zudem seine Beteiligung an zahlreichen Filmen mit Louis de Funès, insbesondere „Fantomas“ und „Die Abenteuer des Rabbi Jacob“. In „Feuerstoß“ liefert er eine famose zehnminütige Blechschaden-Oper, in der ein Mustang und ein Buick ineinander krachen, in Zeitlupe über fahrende Züge springen und meterweit auf der Seite über den Asphalt schleifen. Eine beeindruckende Szene, für die De Martino und Julienne mehrere viel befahrene Straßen in Montréal sperren ließen.
Die kanadische Millionenstadt liefert eine prächtige Kulisse für die zwanghaft unmoralisch-nymphomanische Welt, in der alles einen doppelten Boden hat. Bald erfährt Saitta, dass seine Schwester keinesfalls ein Unschuldslamm war – in mehrfacher Hinsicht. Die eigentliche Auflösung des Mordfalls gerät sogar erstaunlich pfiffig und sorgt für einen rasanten Abschluss. Besonders rasant wirkt der Film auf das deutsche Publikum, denn es bekam nur 88 Minuten des Films zu sehen, zwölf Minuten wurden für die deutsche Fassung geschnitten. Dafür bietet die Synchronisation aus deutschen Landen einen unschätzbaren Vorteil: Der engagierte Einsatz von Sprecher Horst Schön weiß zu kaschieren, wie lustlos sich Stuart Whitman durch seine Hauptrolle langweilt. Außerdem ist die höchst eigenwillige Kombination, Martin Landau durch Synchron-Urgestein Lothar Blumhagen vertonen zu lassen ein Grund für sich, der deutschen Fassung eine Chance zu geben.
Unbedingt erwähnenswert ist noch die stimmungsvolle Filmmusik von Armando Trovajoli, dessen Jazz-Instrumentationen in Richtung des Soundtracks schielen, den Lalo Schifrin für „Dirty Harry“ komponierte, aber auch geprägt sind durch Trovajolis viele Arbeiten für Filme der Commedia all’italiana, einem Genre italienischer Filmkomödien, die mit satirischem Unterton die kleinbürgerliche Spießigkeit persiflierten. Durch seine rotzigen Melodien ist „Feuerstoß“ mit einem zwingenden, durchgängigen Augenzwinkern versehen, die ihm seine Durchschlagkraft sichern. Man könnte sagen: Wenn im bleihaltigen Finale der harte Hund Tony Saitta mit seiner „Magnum special“ aus dem Originaltitel einen Hubschrauber vom Himmel schießt, ist das bierernst gemeinte Ironie, für die ihn Genre-Fans lieben. Sein wohl berühmtester Bewunderer ist dabei kein Geringerer als der mehrfach mit dem Oscar prämierte Filmemacher Quentin Tarantino.
Ein Anruf bringt den Arzt Dr. Tracer dazu, den geplanten gemeinsamen Abend mit seiner Frau abzusagen und stattdessen sofort zum College zu fahren, in welchem er unterrichtet. Eine seiner Schülerinnen ist bei einer Feier zusammengebrochen. Dort angekommen, holt er sofort Medizin aus seiner Tasche. In einer Nahaufnahme ist das Bild zweigeteilt: Die rechte Seite zeigt das nervöse Gesicht einer Lehrerin, mit großen Augen beobachtet sie wie in der linken Bildhälfte die Hand des Arztes das Medikament öffnet. Eine bizarre Einstellung, die später noch einmal wichtig wird. Diese Szene ereignet sich nämlich zu Beginn des italienisch-kanadischen Kriminalfilms „Feuerstoß“ und Dr. Tracer wird bald der Hauptverdächtige einer Mordermittlung sein.
Nachdem er der Studentin Louise nämlich das Mittel verabreicht hat, offenbart sich ihr Zusammenbruch als kleiner Scherz, mit welchem der Arzt auf die Studentenfeier gelockt werden sollte. Schon einmal dort, beschließt er, mitzufeiern – ehe kurz darauf Louise erneut zusammenbricht. Dieses Mal wirklich. Und tödlich. Die Obduktion ergibt: Sie wurde vergiftet. Sofort beginnt der Polizist Tony Saitta die Ermittlungen. Louise war nämlich niemand geringeres als seine eigene Schwester. Die wollte am Tag ihres Todes noch mit ihm telefonieren, doch er war gerade zu beschäftigt damit, fliehende Bankräuber zu verfolgen und ganz im Stil von „Dirty Harry“ über den Haufen zu schießen.
Nun also ermittelt Saitta gegen Dr. Tracer, dem eine Affäre mit Louise nachgesagt wird. Der filmkundige Cineast wird Dr. Tracer von Beginn an kritisch beäugen, spielt ihn doch Martin Landau, der sich einst als mörderischer Leonard in „Der unsichtbare Dritte“ von Alfred Hitchcock seinen Platz in den Annalen der Filmgeschichte sicherte. 1976 verschlug es ihn nach Montréal, in diesen Poliziottesco, der in Deutschland zuerst unter dem Titel „Tod im College“ erschien, mittlerweile aber „Feuerstoß“ genannt wird. Die Italiener kennen ihn unter „Una Magnum special per Tony Saitta“ (zu deutsch: „Eine spezielle Magnum für Tony Saitta“), ein Titel, der absichtlich nach einem Cop-Film mit Clint Eastwood klingt.
Statt dem übernimmt Stuart Whitman den Part des nach Rache düsternden Ermittlers. Seine Karriere lief der von Eastwood entgegengesetzt: Hatte der erst in Italowestern Fuß gefasst und dann in den USA eine große Karriere begonnen, war Whitman in den 1960ern noch in „Die Comanchen“ an der Seite von John Wayne und in der mit Stars gefüllten Komödie „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ zu sehen, verdingte sich aber ein Jahrzehnt später in Filmen der zweiten Liga. Ein Spezialist für solche war Regisseur Alberto De Martino. Als fleißiger Trash-Filmer drehte er legendäre Gurken wie „Der Puma Mann“, „Mord im schwarzen Cadillac“ sowie den skurrilen „Operation ‚Kleiner Bruder‘“, eine italienische Kopie der frühen „James Bond“-Filme, mit Sean Connerys Bruder Neil Connery als Superspion und anderen „originalen“ Mitgliedern der Bond-Reihe, darunter Lois Maxwell, Bernard Lee und Daniela Bianchi.
„Feuerstoß“ filmte er unter seinem Pseudonym Martin Herbert, ein Name, der für das US-amerikanische Publikum leichter auszusprechen war. Die Drehbuchautoren hießen laut Vorspann Vincent Mann und Frank Clark, dahinter verbergen sich jedoch Vincenzo Mannino und Gianfranco Clerici. Letzterer schrieb wenige Jahre später das Drehbuch zum berühmt-berüchtigten Exploitations-Schocker „Nackt und zerfleischt“, besser bekannt als „Cannibal Holocaust“. Sie trugen dazu bei, dass „Feuerstoß“ zurecht als der beste Film von Alberto De Martino gilt. Zahlreiche Szenen zeichnen sich durch schöne kleine Ideen aus, wie die beschriebene Einstellung, in der Dr. Tracer vor den Augen einer Kollegin seine Medikamente auspackt – die wieder aufgegriffen wird, als jene Kollegin bezeugen soll, dass die Packung des Medikaments noch ungeöffnet war, als Dr. Tracer es verwendete.
Schon gleich der anfängliche Banküberfall ist kompetent und spannend inszeniert, wenn auch ordentlich brutal. Das Lexikon des internationalen Films nennt dieses Werk deswegen gar „gewaltverherrlichend“, nicht unbedingt zurecht. Die Handlung hat nämlich einige Wendungen parat, die auch das Gebaren der Action betreffen. Je näher Saitta der Lösung des Falls kommt, umso klarer wird ihm, dass er den Fall deutlich schneller hätte aufklären können, hätte er seine harte Vorgehensweise ein wenig früher abgelegt.
So entstehen nahezu alle Actionszenen daraus, dass Saitta einen Verdächtigen aufsucht und dieser entweder flieht oder von Saitta so aggressiv angegangen wird, dass es zu einer Auseinandersetzung kommt. Einmal führt ihn etwa eine Spur an die Dachkante eines Hochhauses, wo er auf mehrere Transvestiten trifft – und sich sofort mit ihnen prügelt. Da fliegen Perücken durch die Luft, Blumenkübel werden geworfen, ein heißer Lockenstab sorgt für Bedrängnis, kurz hängt Saitta sogar in schwindelerregender Höhe, stürzt fast in die Tiefe. Außer einer nebensächlichen Information durch den eigentlichen Gesuchten bringt den Ermittler die Schlägerei kaum weiter.
„Feuerstoß“ setzt nicht ausschließlich auf aggressive Gefechte. In einigen Sequenzen gelingen De Martino schöne Spannungsmomente, wie eine effektive Szene mit Louises blinder Mitbewohnerin Julie. Sie wird allein in ihrer Wohnung gezeigt, spürt aber die Anwesenheit einer zweiten Person. Zaghaft sagt sie: „Ich weiß, dass hier noch jemand im Raum ist.“ Als keine Antwort kommt, geht sie vorsichtig jeden Meter ihrer Räumlichkeiten ab, ohne Ergebnis. Auch die Kamera zeigt uns nie den mutmaßlichen Einbrecher. Als aber plötzlich ihre Zimmertür laut knallt, haben wir und sie Gewissheit. Sie schreitet auf den Flur hinterher, unwissentlich, dass dort gebaut wird – und ein Teil der Außenfassade ohne Absperrung offensteht, auf den sie zuschreitet.
Solche Augenblicke der Antizipation nutzt De Martino für mehrere spekulativ inszenierte Mordszenen, die so effektiv sind, dass „Feuerstoß“ in einigen Nachschlagwerken gar als Giallo geführt wird – obwohl der Film sich im Vergleich zu den Werken anderer Gialli-Regisseure wie Sergio Martino, Mario Bava oder Dario Argento mit der Explizität der Tötungen stark zurückhält. Immerhin: Eine der Mordszenen fand später ihren Weg erneut auf die Leinwand, als Argento sie 2005 für seinen „Do You Like Hitchcock?“ beinahe Bild für Bild nachstellte. Die blinde Julie wird dem ein oder anderen Filmkenner übrigens bekannt vorkommen. Ihre Schauspielerin Tisa Farrow sieht ihrer Schwester Mia Farrow ziemlich ähnlich. Natürlich war Mia der größere Star, spätestens seit sie 1968 unter der Regie von Roman Polański „Rosemaries Baby“ bekam.
Der absolute Höhepunkt des Films ist derweil eine exzellente Autoverfolgungsjagd, die überdeutlich große und legendäre Vorbilder wie „Bullitt“, „Die Seven-Ups“ und „Die Blechpiraten“ zitiert, selbst aber ein Musterbeispiel für gelungene Stuntarbeit darstellt. Kein Wunder, war für sie doch der Franzose Rémy Julienne verantwortlich, der bei über 400 Kinofilmen an den Auto-Stunts mitwirkte. Sechsmal fuhr er für „James Bond“, legendär zudem seine Beteiligung an zahlreichen Filmen mit Louis de Funès, insbesondere „Fantomas“ und „Die Abenteuer des Rabbi Jacob“. In „Feuerstoß“ liefert er eine famose zehnminütige Blechschaden-Oper, in der ein Mustang und ein Buick ineinander krachen, in Zeitlupe über fahrende Züge springen und meterweit auf der Seite über den Asphalt schleifen. Eine beeindruckende Szene, für die De Martino und Julienne mehrere viel befahrene Straßen in Montréal sperren ließen.
Die kanadische Millionenstadt liefert eine prächtige Kulisse für die zwanghaft unmoralisch-nymphomanische Welt, in der alles einen doppelten Boden hat. Bald erfährt Saitta, dass seine Schwester keinesfalls ein Unschuldslamm war – in mehrfacher Hinsicht. Die eigentliche Auflösung des Mordfalls gerät sogar erstaunlich pfiffig und sorgt für einen rasanten Abschluss. Besonders rasant wirkt der Film auf das deutsche Publikum, denn es bekam nur 88 Minuten des Films zu sehen, zwölf Minuten wurden für die deutsche Fassung geschnitten. Dafür bietet die Synchronisation aus deutschen Landen einen unschätzbaren Vorteil: Der engagierte Einsatz von Sprecher Horst Schön weiß zu kaschieren, wie lustlos sich Stuart Whitman durch seine Hauptrolle langweilt. Außerdem ist die höchst eigenwillige Kombination, Martin Landau durch Synchron-Urgestein Lothar Blumhagen vertonen zu lassen ein Grund für sich, der deutschen Fassung eine Chance zu geben.
Unbedingt erwähnenswert ist noch die stimmungsvolle Filmmusik von Armando Trovajoli, dessen Jazz-Instrumentationen in Richtung des Soundtracks schielen, den Lalo Schifrin für „Dirty Harry“ komponierte, aber auch geprägt sind durch Trovajolis viele Arbeiten für Filme der Commedia all’italiana, einem Genre italienischer Filmkomödien, die mit satirischem Unterton die kleinbürgerliche Spießigkeit persiflierten. Durch seine rotzigen Melodien ist „Feuerstoß“ mit einem zwingenden, durchgängigen Augenzwinkern versehen, die ihm seine Durchschlagkraft sichern. Man könnte sagen: Wenn im bleihaltigen Finale der harte Hund Tony Saitta mit seiner „Magnum special“ aus dem Originaltitel einen Hubschrauber vom Himmel schießt, ist das bierernst gemeinte Ironie, für die ihn Genre-Fans lieben. Sein wohl berühmtester Bewunderer ist dabei kein Geringerer als der mehrfach mit dem Oscar prämierte Filmemacher Quentin Tarantino.
Läuft der alte Ford fort …
Auf der Flucht
Wie gelingt es Geschichtenerzählern, einen fiktiven Charakter in Windeseile liebenswert zu konstruieren? Mit dieser Frage hat sich der Dramaturg Blake Snyder beschäftigt und 2015 ein Sachbuch darübergeschrieben. Seine Antwort steht im Titel: „Rette die Katze! Das ultimative Buch übers Drehbuchschreiben“. Aber was bedeutet es, die Katze zu retten? Snyder erklärt, der einfachste Weg, die Zuneigung des Publikums für eine Hauptfigur zu gewinnen, sähe wie folgt aus: Gleich beim ersten Auftritt müsse die Figur sich selbstlos verhalten und so einen besonders guten Eindruck erwecken – zum Beispiel durch die Rettung eines Kätzchens von einem Baum. Schon sei dem Protagonisten die Sympathie der Zuschauer gewiss. Ein besonders effektiver Einsatz eines „Rette die Katze!“-Szenarios eröffnet den Actionfilm „Auf der Flucht“. Nur ist „die Katze“ ein verletzter Gefängniswärter und „der Baum“ ein verunglückter Bus, der auf Zugschienen liegengeblieben ist.
Denn obwohl dieser Bus den zum Tode verurteilten Chirurgen Dr. Richard Kimble zu seinem Termin mit der Giftspritze bringen sollte, hat er Mitgefühl, als er sich in dem überschlagenen Fahrzeug wiederfindet und ein Zug auf das Bus-Wrack zusteuert. Er stemmt den Wärter über seine Schulter, wirft ihn in Sicherheit und kann in letzter Sekunde selbst dem drohenden Unfalltod entrinnen. Von hier an kann das Publikum gar nicht anders, als für ihn Respekt zu empfinden. Ein kurzer Prolog hatte bereits die missliche Lage von Kimble vorgestellt. Eines Abends fand er in seinem Haus seine Frau ermordet vor und wurde daraufhin von einem einarmigen Mann attackiert. Die Polizei glaubte ihm die Geschichte jedoch nicht, war sicher: Er ist auf die Lebensversicherung seiner noch vermögenderen Gattin aus. Die Todesstrafe war schneller gesprochen, als Kimble die Situation verstehen konnte. Doch obwohl ihm die Justiz so übel mitgespielt hatte, findet er, als es um Sekunden geht und ein dampfender Zug ihn auszulöschen gedenkt, in diesem Moment die Kraft, einen Mann zu schützen, der alles repräsentiert, was Kimbles Leben zerstört hat. Die Katze ist gerettet – und ein Held geboren.
Dieser Held stammt eigentlich aus dem TV-Bildschirm: In 120 Folgen war „Dr. Kimble auf der Flucht“. Zwischen 1963 und 1967 etablierte sich die Geschichte um den zu Unrecht des Mordes an seiner Frau verurteilten Arzt zu einem Straßenfeger. Jede Episode zeigte Kimble mit neu angenommener Identität, wie er vor dem Gesetz floh und den Einarmigen suchte, der ihn entlasten könnte. Die letzte Folge, in der Kimble schließlich seine Freiheit zurückerlangte, hatte am 29. August 1967 in den USA Einschaltquoten von 71 Prozent. Dreißig Jahre nach Beginn der Serie sollte die Flucht erneut beginnen – dieses Mal auf der großen Leinwand. Serienvorkenntnisse brauchte das Publikum für „Auf der Flucht“ allerdings nicht. Sogar Publikumsmagnet Harrison Ford, der für die Filmversion den Kimble mimte, hatte vor Drehbeginn nie eine Folge der Serie gesehen.
Fords Charme lag stets in seinem unerschöpflichen Charisma und seiner Person selbst, vereinte er doch den Glamour eines Hollywood-Stars mit der Bodenständigkeit des US-amerikanischen Jedermanns. Damit war er perfekt für Kimble: Durch ihn wird der Arzt zum Überlebenskämpfer, der dennoch glaubhaft in der Realität verankert bleibt und nie zum plumpen Actionhelden verkommt. Er kann sich nicht durch sein Geschick mit Schusswaffen oder seine übermenschliche Physis behaupten, sondern muss einzig auf seine Intelligenz und eine Portion Glück vertrauen. Seine Verwundbarkeit erzeugt seine Fallhöhe – und Kimble fällt tatsächlich, sogar aus beträchtlicher Höhe, als ihn seine Flucht auf einen Staudamm führt. Dort in die Enge getrieben, weiß der verzweifelte Mann keinen anderen Ausweg, als sich in die Tiefe zu stürzen. Hier flieht kein Alphamännchen, sondern ein gepeinigtes Individuum, das nichts anders will als Gerechtigkeit für sich und seine ermordete Frau. Sein charakteristisches Humpeln ist übrigens kein Regieeinfall: Ford verletzte sich zu Beginn der Dreharbeiten bei Aufnahmen im Wald, verzichtete aber auf eine Operation, um im restlichen Film glaubwürdig zu hinken.
Ein so einvernehmender Held braucht einen mindestens ebenso großen Widersacher – und hier trumpft „Auf der Flucht“ mit dem grandiosen Tommy Lee Jones auf. Er spielt den Chief Deputy Marshal Samuel Gerard als zielstrebigen, fast schon sturköpfigen Kapitän Ahab, der nicht ruhen kann und will, ehe er sein Ziel erjagt hat. Viele grandiose kleine Momente schreiben ihm die Autoren Jeb Stuart und David Twohy, die aus ihm eine der vielschichtigsten Figuren ihrer Art macht. Brillant eine Szene, in der er einen seiner Deputys vor einem bewaffneten Mann rettet, in dem er diesen einfach aus der Deckung heraus erschießt – ohne dabei richtig zu zielen. Als sein Partner sagt: „Du hättest mich treffen können. Du hättest verhandeln sollen“, meint Gerard nur: „Ich verhandele nie mit Kriminellen.“ Gänsehaut generiert die erste Begegnung zwischen ihm und Kimble: Der Marshal verliert seine Waffe, Kimble hebt sie auf, richtet sie auf seinen Verfolger. Er brüllt: „Ich habe meine Frau nicht umgebracht.“ Gerard antwortet: „Das ist mir scheißegal.“
„Auf der Flucht“ ist ein fantastischer Actionfilm, weil er in erster Linie als psychologisches Katz-und-Mausspiel funktioniert. Kimble muss achtsam vorgehen, will er unentdeckt von der Polizei genug Informationen sammeln, um den Mörder seiner Frau aufzuspüren. Gerard wiederrum durchforstet Kimbles Vergangenheit, um dessen Psyche zu verstehen – und obwohl er langsam Zweifel an Kimbles Schuld entwickelt, kann er nicht anders, als diesen Mann aus purem Pflichtgefühl weiter zu jagen. Beide sind getriebene Männer, die mehr verbindet als sie ahnen. Der Kriminalplot um den Mord an Kimbles Frau ist dabei kompetent konstruiert und hält sich seine besten Wendungen vorbildlich für den Schluss auf. Die Nebenfiguren sind mit Joe Pantoliano als schlagfertigen Deputy, Julianne Moore als misstrauische Ärztin und Jeroen Krabbé als Kimbles Freund und Kollege exzellent besetzt, doch es sind die Schultern von Harrison Ford und Tommy Lee Jones, die diesen 130-minütigen, meisterhaften Exkurs in Spannungsaufbau zur Gänze tragen.
Regisseur Andrew Davis hatte ein Jahr zuvor mit dem „Stirb langsam“-Duplikat „Alarmstufe: Rot“ einen Publikumshit gelandet, schon darin überzeugte Tommy Lee Jones als Widersacher. Der Film gefiel Harrison Ford so gut, dass er Davis für „Auf der Flucht“ dabeihaben wollte, nachdem der ursprünglich angedachte Walter Hill lieber den Western „Geronimo“ drehte. Davis inszeniert „Auf der Flucht“ bedacht, findet die richtige Tonalität zwischen intelligentem Thriller und emotionalem Drama. Für die großen Kino-Momente scheute er vor riskanten Improvisationen nicht zurück: Eine Verfolgungsjagd durch die Häuserschluchten von Chicago führt Kimble und Gerard auf eine Parade am Saint Patricks Day. Um die echten Feierlichkeiten zu nutzen, ließ Davis seine Stars einfach durch die Menschenmengen laufen, filmte sie mit versteckten Handkameras.
Trotz der unbestreitbaren Qualität dieses modernen Klassikers war es eine Überraschung, als „Auf der Flucht“ schließlich für sechs Oscars nominiert wurde – darunter sogar als ‚Bester Film‘. Erklären lässt sich dies u. a. über die sozialkritischen Töne, die der Film anschlägt: Die Kritik an der Todesstrafe ist überdeutlich, auch wird die gefährliche Schwarm-Mentalität der Polizei vorgeführt, als im letzten Drittel bei Kimbles erneutem Kampf mit dem Einarmigen ein Polizist den Tod findet und Kimble fürchten muss, nun als „Polizistenmörder“ von jedem beliebigen Ordnungshüter über den Haufen geschossen zu werden. Die fesselnden Kameraaufnahmen von Michael Chapman sowie die mysteriöse Filmmusik von James Newton Howard, die klassisches Orchester mit atmosphärisch-leidenden Synthesizer-Klängen mixt (ohne Zweifel eine der besten Arbeiten seiner beeindruckenden Karriere!), gingen bei den Oscars leider leer aus. Immerhin durfte sich Tommy Lee Jones als ‚Bester Nebendarsteller‘ verdient den Goldjungen abholen. Seine Leistung war so herausragend, dass er fünf Jahre später für die Fortsetzung „Auf der Jagd“ zurückgeholt und sein Gerard darin zur Hauptfigur befördert wurde.
Das Beste, was sich über „Auf der Flucht“ formulieren lässt, ist, dass es sich um einen der wenigen Actionfilme seiner Art handelt, bei denen das mitreißende Finale im und auf dem Dach des Chicago Hilton Hotels einen bis an den Rand des Sitzes treibt, vor Anspannung gar elektrisiert, es aber die ruhigen, menschlichen Momente sind, die über das Filmende hinaus nachwirken. Etwa eine Szene, in der Kimble sich als Reinigungskraft in einem Krankenhaus tarnt und einen kleinen, schwerkranken Jungen beobachtet, dessen Arzt nur oberflächlich seine Symptome begutachtet und eine Fehldiagnose stellt. Kurzerhand bringt Kimble den Jungen eigenhändig in den OP und rettet ihm so das Leben. Seine Tarnung fliegt dadurch auf, er muss erneut seine Identität wechseln und um sein Leben fürchten. Trotzdem weiß das Publikum: Er würde es immer wieder so machen. Weil er als Held nun einmal „die Katze retten“ muss.
Wie gelingt es Geschichtenerzählern, einen fiktiven Charakter in Windeseile liebenswert zu konstruieren? Mit dieser Frage hat sich der Dramaturg Blake Snyder beschäftigt und 2015 ein Sachbuch darübergeschrieben. Seine Antwort steht im Titel: „Rette die Katze! Das ultimative Buch übers Drehbuchschreiben“. Aber was bedeutet es, die Katze zu retten? Snyder erklärt, der einfachste Weg, die Zuneigung des Publikums für eine Hauptfigur zu gewinnen, sähe wie folgt aus: Gleich beim ersten Auftritt müsse die Figur sich selbstlos verhalten und so einen besonders guten Eindruck erwecken – zum Beispiel durch die Rettung eines Kätzchens von einem Baum. Schon sei dem Protagonisten die Sympathie der Zuschauer gewiss. Ein besonders effektiver Einsatz eines „Rette die Katze!“-Szenarios eröffnet den Actionfilm „Auf der Flucht“. Nur ist „die Katze“ ein verletzter Gefängniswärter und „der Baum“ ein verunglückter Bus, der auf Zugschienen liegengeblieben ist.
Denn obwohl dieser Bus den zum Tode verurteilten Chirurgen Dr. Richard Kimble zu seinem Termin mit der Giftspritze bringen sollte, hat er Mitgefühl, als er sich in dem überschlagenen Fahrzeug wiederfindet und ein Zug auf das Bus-Wrack zusteuert. Er stemmt den Wärter über seine Schulter, wirft ihn in Sicherheit und kann in letzter Sekunde selbst dem drohenden Unfalltod entrinnen. Von hier an kann das Publikum gar nicht anders, als für ihn Respekt zu empfinden. Ein kurzer Prolog hatte bereits die missliche Lage von Kimble vorgestellt. Eines Abends fand er in seinem Haus seine Frau ermordet vor und wurde daraufhin von einem einarmigen Mann attackiert. Die Polizei glaubte ihm die Geschichte jedoch nicht, war sicher: Er ist auf die Lebensversicherung seiner noch vermögenderen Gattin aus. Die Todesstrafe war schneller gesprochen, als Kimble die Situation verstehen konnte. Doch obwohl ihm die Justiz so übel mitgespielt hatte, findet er, als es um Sekunden geht und ein dampfender Zug ihn auszulöschen gedenkt, in diesem Moment die Kraft, einen Mann zu schützen, der alles repräsentiert, was Kimbles Leben zerstört hat. Die Katze ist gerettet – und ein Held geboren.
Dieser Held stammt eigentlich aus dem TV-Bildschirm: In 120 Folgen war „Dr. Kimble auf der Flucht“. Zwischen 1963 und 1967 etablierte sich die Geschichte um den zu Unrecht des Mordes an seiner Frau verurteilten Arzt zu einem Straßenfeger. Jede Episode zeigte Kimble mit neu angenommener Identität, wie er vor dem Gesetz floh und den Einarmigen suchte, der ihn entlasten könnte. Die letzte Folge, in der Kimble schließlich seine Freiheit zurückerlangte, hatte am 29. August 1967 in den USA Einschaltquoten von 71 Prozent. Dreißig Jahre nach Beginn der Serie sollte die Flucht erneut beginnen – dieses Mal auf der großen Leinwand. Serienvorkenntnisse brauchte das Publikum für „Auf der Flucht“ allerdings nicht. Sogar Publikumsmagnet Harrison Ford, der für die Filmversion den Kimble mimte, hatte vor Drehbeginn nie eine Folge der Serie gesehen.
Fords Charme lag stets in seinem unerschöpflichen Charisma und seiner Person selbst, vereinte er doch den Glamour eines Hollywood-Stars mit der Bodenständigkeit des US-amerikanischen Jedermanns. Damit war er perfekt für Kimble: Durch ihn wird der Arzt zum Überlebenskämpfer, der dennoch glaubhaft in der Realität verankert bleibt und nie zum plumpen Actionhelden verkommt. Er kann sich nicht durch sein Geschick mit Schusswaffen oder seine übermenschliche Physis behaupten, sondern muss einzig auf seine Intelligenz und eine Portion Glück vertrauen. Seine Verwundbarkeit erzeugt seine Fallhöhe – und Kimble fällt tatsächlich, sogar aus beträchtlicher Höhe, als ihn seine Flucht auf einen Staudamm führt. Dort in die Enge getrieben, weiß der verzweifelte Mann keinen anderen Ausweg, als sich in die Tiefe zu stürzen. Hier flieht kein Alphamännchen, sondern ein gepeinigtes Individuum, das nichts anders will als Gerechtigkeit für sich und seine ermordete Frau. Sein charakteristisches Humpeln ist übrigens kein Regieeinfall: Ford verletzte sich zu Beginn der Dreharbeiten bei Aufnahmen im Wald, verzichtete aber auf eine Operation, um im restlichen Film glaubwürdig zu hinken.
Ein so einvernehmender Held braucht einen mindestens ebenso großen Widersacher – und hier trumpft „Auf der Flucht“ mit dem grandiosen Tommy Lee Jones auf. Er spielt den Chief Deputy Marshal Samuel Gerard als zielstrebigen, fast schon sturköpfigen Kapitän Ahab, der nicht ruhen kann und will, ehe er sein Ziel erjagt hat. Viele grandiose kleine Momente schreiben ihm die Autoren Jeb Stuart und David Twohy, die aus ihm eine der vielschichtigsten Figuren ihrer Art macht. Brillant eine Szene, in der er einen seiner Deputys vor einem bewaffneten Mann rettet, in dem er diesen einfach aus der Deckung heraus erschießt – ohne dabei richtig zu zielen. Als sein Partner sagt: „Du hättest mich treffen können. Du hättest verhandeln sollen“, meint Gerard nur: „Ich verhandele nie mit Kriminellen.“ Gänsehaut generiert die erste Begegnung zwischen ihm und Kimble: Der Marshal verliert seine Waffe, Kimble hebt sie auf, richtet sie auf seinen Verfolger. Er brüllt: „Ich habe meine Frau nicht umgebracht.“ Gerard antwortet: „Das ist mir scheißegal.“
„Auf der Flucht“ ist ein fantastischer Actionfilm, weil er in erster Linie als psychologisches Katz-und-Mausspiel funktioniert. Kimble muss achtsam vorgehen, will er unentdeckt von der Polizei genug Informationen sammeln, um den Mörder seiner Frau aufzuspüren. Gerard wiederrum durchforstet Kimbles Vergangenheit, um dessen Psyche zu verstehen – und obwohl er langsam Zweifel an Kimbles Schuld entwickelt, kann er nicht anders, als diesen Mann aus purem Pflichtgefühl weiter zu jagen. Beide sind getriebene Männer, die mehr verbindet als sie ahnen. Der Kriminalplot um den Mord an Kimbles Frau ist dabei kompetent konstruiert und hält sich seine besten Wendungen vorbildlich für den Schluss auf. Die Nebenfiguren sind mit Joe Pantoliano als schlagfertigen Deputy, Julianne Moore als misstrauische Ärztin und Jeroen Krabbé als Kimbles Freund und Kollege exzellent besetzt, doch es sind die Schultern von Harrison Ford und Tommy Lee Jones, die diesen 130-minütigen, meisterhaften Exkurs in Spannungsaufbau zur Gänze tragen.
Regisseur Andrew Davis hatte ein Jahr zuvor mit dem „Stirb langsam“-Duplikat „Alarmstufe: Rot“ einen Publikumshit gelandet, schon darin überzeugte Tommy Lee Jones als Widersacher. Der Film gefiel Harrison Ford so gut, dass er Davis für „Auf der Flucht“ dabeihaben wollte, nachdem der ursprünglich angedachte Walter Hill lieber den Western „Geronimo“ drehte. Davis inszeniert „Auf der Flucht“ bedacht, findet die richtige Tonalität zwischen intelligentem Thriller und emotionalem Drama. Für die großen Kino-Momente scheute er vor riskanten Improvisationen nicht zurück: Eine Verfolgungsjagd durch die Häuserschluchten von Chicago führt Kimble und Gerard auf eine Parade am Saint Patricks Day. Um die echten Feierlichkeiten zu nutzen, ließ Davis seine Stars einfach durch die Menschenmengen laufen, filmte sie mit versteckten Handkameras.
Trotz der unbestreitbaren Qualität dieses modernen Klassikers war es eine Überraschung, als „Auf der Flucht“ schließlich für sechs Oscars nominiert wurde – darunter sogar als ‚Bester Film‘. Erklären lässt sich dies u. a. über die sozialkritischen Töne, die der Film anschlägt: Die Kritik an der Todesstrafe ist überdeutlich, auch wird die gefährliche Schwarm-Mentalität der Polizei vorgeführt, als im letzten Drittel bei Kimbles erneutem Kampf mit dem Einarmigen ein Polizist den Tod findet und Kimble fürchten muss, nun als „Polizistenmörder“ von jedem beliebigen Ordnungshüter über den Haufen geschossen zu werden. Die fesselnden Kameraaufnahmen von Michael Chapman sowie die mysteriöse Filmmusik von James Newton Howard, die klassisches Orchester mit atmosphärisch-leidenden Synthesizer-Klängen mixt (ohne Zweifel eine der besten Arbeiten seiner beeindruckenden Karriere!), gingen bei den Oscars leider leer aus. Immerhin durfte sich Tommy Lee Jones als ‚Bester Nebendarsteller‘ verdient den Goldjungen abholen. Seine Leistung war so herausragend, dass er fünf Jahre später für die Fortsetzung „Auf der Jagd“ zurückgeholt und sein Gerard darin zur Hauptfigur befördert wurde.
Das Beste, was sich über „Auf der Flucht“ formulieren lässt, ist, dass es sich um einen der wenigen Actionfilme seiner Art handelt, bei denen das mitreißende Finale im und auf dem Dach des Chicago Hilton Hotels einen bis an den Rand des Sitzes treibt, vor Anspannung gar elektrisiert, es aber die ruhigen, menschlichen Momente sind, die über das Filmende hinaus nachwirken. Etwa eine Szene, in der Kimble sich als Reinigungskraft in einem Krankenhaus tarnt und einen kleinen, schwerkranken Jungen beobachtet, dessen Arzt nur oberflächlich seine Symptome begutachtet und eine Fehldiagnose stellt. Kurzerhand bringt Kimble den Jungen eigenhändig in den OP und rettet ihm so das Leben. Seine Tarnung fliegt dadurch auf, er muss erneut seine Identität wechseln und um sein Leben fürchten. Trotzdem weiß das Publikum: Er würde es immer wieder so machen. Weil er als Held nun einmal „die Katze retten“ muss.
(K)Ein Mann für jede Jahreszeit
The November Man
Die Literaturgeschichte ist nicht arm an großen Autoren des Spionageromans. Jean Bruce erfand 1949 seinen französischen Spion OSS 117, vier Jahre später schuf Ian Fleming sein literarisches Alter Ego James Bond, Agent 007. John le Carré, für viele der große Meister dieser Romangattung, bot den genialen Geheimdienstbeamten George Smiley, später übernahmen Tom Clancy, der über den CIA-Analysten Jack Ryan schrieb, und Robert Ludlum, dessen Jason Bourne ein Agent ohne Erinnerung war, das Feld. Weniger bekannt ist dagegen der Autor Bill Granger, obwohl er über seinen Spion ganze dreizehn Romane verfasste. Der Name ist Devereaux. Peter Devereaux. Deckname: „The November Man“.
Grangers geringer internationaler Bekanntheit wegen dauerte es, bis sein 1979 geschaffener Devereaux den Sprung auf die große Leinwand schaffte. In Planung war ein Kinoauftritt des Novembermanns aber eine ganze Weile. Verantwortlich dafür war ein anderer Spion: James Bond, bzw. dessen fünfter Schauspieler: Pierce Brosnan. Als der irische Filmstar 2005 am Telefon erfuhr, dass sein Einsatz als 007 beendet ist, kaufte er gemeinsam mit seiner Business-Partnerin Beau St. Clair die Rechte an Grangers Buchreihe. „The November Man“ sollte sein Bond-Ersatz sein. Als Hauptquelle für den Film wurde Buch Nr. 7 ausgewählt: „There are no spies“ (zu deutsch: „Es gibt keine Spione“). Eine passende Vorlage für Brosnans Situation: Zu Beginn dieses Buchs befindet sich Devereaux bereits im Ruhestand – und wird von seinem alten Boss wieder in den Dienst gerufen.
2014 also, einige gescheiterte Anläufe später, zwei Jahre nach Grangers Tod, war es an der Zeit. Als Regisseur holte Brosnan seinen Freund Roger Donaldson an Bord, mit dem er 1997 den Katastrophenfilm „Dante’s Peak“ drehte. Die Drehbuchautoren Michael Finch und Karl Gajdusek verlegten den Romanplot vom Kalten Krieg ins 21. Jahrhundert. Neben Brosnan als Ex-Bond kehrte zudem auch Olga Kurylenko ins Agentengeschäft zurück, sie kämpfte 2008 im James-Bond-Film „Ein Quantum Trost“ an der Seite von Brosnans Nachfolger Daniel Craig. In derselben Größenordnung wie 007 konnte „The November Man“ aber von Anfang an nicht spielen: Kostengünstig drehte man in Belgrad und Montenegro, das ganze Projekt kostete nur 15 Millionen Dollar. Zum Vergleich: Der zwei Jahre zuvor erschienene Bond-Film „Skyfall“ hatte ein Budget von 200 Millionen Dollar.
Seine Sparsamkeit steht „The November Man“ allerdings nie im Weg. Die gesamten 108 Minuten packt Donaldson voll mit rasanten Verfolgungsjagden, harten Schusswechseln und auch der nötigen Menge Pyrotechnik, die das Publikum in so einem Film erwarten darf. Insbesondere sein Bildaufbau lässt den Film teuer und elegant wirken. Als Kameramann holte sich Donaldson den Genre-erfahrenen Romain Lacourbas dazu, der zuvor bei den harten Reißern „Colombiana“ und „96 Hours – Taken 2“ mitwirkte. Gemeinsam filmen sie ihre Actionszenen druckvoll, entscheiden sich aber auch, stets nah bei den Charakteren zu bleiben. Actionfilm-Standards, etwa ein Feuergefecht über zwei Etagen, machen so den Anschein eines eng getakteten und streng choreographierten Kammerspiels.
Diese intime Herangehensweise ist bereits in den Vorlagen so angelegt. Granger beschreibt Peter Devereaux als introvertierten, blitzschnellen Denker, der auf den ersten Blick sehr viel weltgewandter wirkt als auf den zweiten. In erster Linie ist er kein Gentleman-Spion oder kühler Schreibtischhengst, sondern ein grausamer, abgestumpfter Mann, dessen tödliche Effizienz ihn von sich selbst entfremdet hat. Er fühlt sich berufsbedingt wohl im Pragmatismus. Als er gefragt wird, wie es sich vermutlich anfühle, erschossen zu werden, antwortet er nur: „Eine Kugel fliegt 1.200 Meter in der Sekunde, viermal schneller als der Schall. Die Wirkung bei diesem Tempo ist absolut. Man hört einfach auf zu existieren.“
In „There are no spies“ und so auch in diesem Film wird er nach Moskau beordert, um seine Ex-Geliebte Natalia zu evakuieren, die dort Beweise gegen den russischen General Fedorow sammelte, der demnächst zum Präsidenten der Russischen Föderation ernannt werden soll. Bei der Evakuierung wird Natalia von einem Attentäter erschossen, der sich als David Mason herausstellt, einem jungen CIA-Agenten, den Devereaux vor seinem Ruhestand ausbildete und den er krachend durchfallen ließ, als dieser bei einer Mission die Nerven verlor und durch seinen nervösen Zeigefinger ein kleines Kind zu Tode kam.
Die Spur führt beide rivalisierenden Alphamännchen zur Asylbetreuerin Alice Fournier, die als letzte Kontakt zur untergetauchten Flüchtlingsfrau Mira Filipova hatte. Die wurde Zeugin von mehreren Menschenrechtsverletzungen, derer sich Fedorow schuldig gemacht hat und ist damit für alle Geheimdienste dieser Welt pures Gold. Was folgt ist eine Ansammlung vieler Gefechte zwischen Devereaux und Mason sowie mehrere der Wendungen und (Ver-)Wirrungen, die fest zur DNA der Spionagegeschichten gehören.
Dabei wird kaum jemand „The November Man“ sehen, ohne fortwährend mit Déjà-vu-Eindrücken zu kämpfen: Pierce Brosnan als alternder Geheimagent wird vom aufmerksamen Zuschauer natürlich umgehend mit seinen Auftritten als James Bond verglichen. Von Natur aus bringt der Schauspieler eine große Portion Charisma und Charme mit in die Rolle, trotz der vermehrten Falten klingt seine Stimme noch sowohl suave als auch gefährlich. Die Routine, die Devereaux bei seinen Einsätzen hat, braucht Brosnan nicht zu spielen, sie steht ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
Das Drehbuch gibt ihm hier jedoch Möglichkeiten, sich von seinen 007-Facetten zu lösen und neue Akzente zu setzen. Devereaux ist nicht der Typ, der nach einem überlebten Einsatz lockere Witze macht und eine schöne Frau verführt. Stattdessen lebt er nach der Devise, persönliche Beziehungen würden einen nur angreifbar machen und hätten in der Geheimdienstwelt keinen Platz. Seinem Schüler führt er diese Maxime in einer beklemmenden Szene vor. Mason erwacht nach einem One-Night-Stand mit seiner Nachbarin und findet diese verängstigt in der Küche als Geisel von Devereaux vor. Der sagt ihm: „Du kannst ein menschliches Wesen sein oder ein Killer von Menschen. Aber nicht beides.“
Um zu testen, was auf seinen ehemaligen Protegé zutrifft, trennt er der schönen Blondine die Oberschenkelschlagader durch und flieht. Mason hat die Wahl: Folgt er seiner Mission und lässt die Frau sterben oder missachtet er seine Befehle und zeigt Empathie. In dieser mehrminütigen Sequenz addiert Brosnan zu seiner Bond-Interpretation eine gewaltige Menge an grimmiger Kaltschnäuzigkeit. Sein Schauspiel erinnert an seinen denkwürdigen Auftritt als sadistischer Geiselnehmer in „Spiel mit der Angst“ von 2007. Donaldson und er riskieren mutwillig, hier die Sympathien des Publikums zum abgründigen Helden zu verlieren.
Solche Risiken hätte die Produktion gerne noch öfter eingehen können, statt gerade im Schlussakt auf ein konventionelles Standardmotiv zurückzugreifen. Der große Verschwörungsplot, der das Schicksal von Mira Filipova und die Gräueltaten von Fedorow um eine historische Dimension erweitert und mit dem Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs verknüpft, erzeugt genügend Spannung, spielt aber leider für das Finale keine allzu große Rolle mehr. Unglücklich auch, dass die Geschichte des Romans zwar in die Gegenwart versetzt wurde, aber viele Kalter-Krieg-Klischees immer noch allzu leicht auszumachen sind. Gemeint ist hierbei ganz besonders die Rolle einer stereotypen russischen Auftragskillerin, die inmitten des modernen Thrillertreibens reichlich angestaubt wirkt.
Das hohe Tempo und die angenehm intelligenten Schlagabtausche zwischen Brosnans Devereaux und dem von Luke Bracey gespielten Mason lenken dafür bis zuletzt von kleinen Unstimmigkeiten ab. Besonders schön fällt noch die Filmmusik auf, die der vielbeschäftigte Marco Beltrami komponierte. Beltrami, bekannt für seinen perkussiven Stil, vor allem für seinen regelmäßigen Einsatz von Bassdrums, verzichtet stilistisch gänzlich auf James-Bond-Assoziationen und mischt osteuropäische Klangteppiche mit westlichen Motiven. Das persuasive Ergebnis findet die passende Tonalität und macht selbst den Abspann hörenswert – nachdem dort der irritierend gut passende Soul-Rocksong „Ticking Bomb“ von Aloe Blacc verstummt ist.
Eine neue Filmreihe konnte „The November Man“ nicht lostreten, als Konkurrenz zu anderen Langzeitagenten erst recht nicht dienen. Dennoch gelingt Donaldson ein angenehmer, spannender Film, der sein Versprechen einlöst und langjährigen Fans des Hauptdarstellers selbigen wieder in seiner Paraderolle präsentiert und ihn dabei trotzdem frisch und anders wirken lässt. Bill Granger wäre mit dieser Interpretation seiner Romanreihe wahrscheinlich einverstanden gewesen, adaptiert sie doch nicht nur seine Figuren und Geschichten, sondern teils direkt sein geschriebenes Wort. So stammt eine Passage wörtlich aus der Vorlage, als dem Zuschauer der titelgebende Deckname von Devereaux erklärt wird: „Wir nannten dich Novembermann – denn wo du vorbeikamst, lebte nichts mehr.“
Als Geheimtipp mit Kultpotenzial dürfte „The November Man“ auch auf lange Sicht gute Chancen haben, wer Genre-affin ist, kann bedenkenlos einen Blick auf diese kleine Perle werfen. Wirklich gemacht ist der rasante Actionthriller aber für die Fans, die frei nach Andreas Möller auf folgende Frage immer so antworten würden: „Bond oder Bourne? Egal, Hauptsache Brosnan!“
Die Literaturgeschichte ist nicht arm an großen Autoren des Spionageromans. Jean Bruce erfand 1949 seinen französischen Spion OSS 117, vier Jahre später schuf Ian Fleming sein literarisches Alter Ego James Bond, Agent 007. John le Carré, für viele der große Meister dieser Romangattung, bot den genialen Geheimdienstbeamten George Smiley, später übernahmen Tom Clancy, der über den CIA-Analysten Jack Ryan schrieb, und Robert Ludlum, dessen Jason Bourne ein Agent ohne Erinnerung war, das Feld. Weniger bekannt ist dagegen der Autor Bill Granger, obwohl er über seinen Spion ganze dreizehn Romane verfasste. Der Name ist Devereaux. Peter Devereaux. Deckname: „The November Man“.
Grangers geringer internationaler Bekanntheit wegen dauerte es, bis sein 1979 geschaffener Devereaux den Sprung auf die große Leinwand schaffte. In Planung war ein Kinoauftritt des Novembermanns aber eine ganze Weile. Verantwortlich dafür war ein anderer Spion: James Bond, bzw. dessen fünfter Schauspieler: Pierce Brosnan. Als der irische Filmstar 2005 am Telefon erfuhr, dass sein Einsatz als 007 beendet ist, kaufte er gemeinsam mit seiner Business-Partnerin Beau St. Clair die Rechte an Grangers Buchreihe. „The November Man“ sollte sein Bond-Ersatz sein. Als Hauptquelle für den Film wurde Buch Nr. 7 ausgewählt: „There are no spies“ (zu deutsch: „Es gibt keine Spione“). Eine passende Vorlage für Brosnans Situation: Zu Beginn dieses Buchs befindet sich Devereaux bereits im Ruhestand – und wird von seinem alten Boss wieder in den Dienst gerufen.
2014 also, einige gescheiterte Anläufe später, zwei Jahre nach Grangers Tod, war es an der Zeit. Als Regisseur holte Brosnan seinen Freund Roger Donaldson an Bord, mit dem er 1997 den Katastrophenfilm „Dante’s Peak“ drehte. Die Drehbuchautoren Michael Finch und Karl Gajdusek verlegten den Romanplot vom Kalten Krieg ins 21. Jahrhundert. Neben Brosnan als Ex-Bond kehrte zudem auch Olga Kurylenko ins Agentengeschäft zurück, sie kämpfte 2008 im James-Bond-Film „Ein Quantum Trost“ an der Seite von Brosnans Nachfolger Daniel Craig. In derselben Größenordnung wie 007 konnte „The November Man“ aber von Anfang an nicht spielen: Kostengünstig drehte man in Belgrad und Montenegro, das ganze Projekt kostete nur 15 Millionen Dollar. Zum Vergleich: Der zwei Jahre zuvor erschienene Bond-Film „Skyfall“ hatte ein Budget von 200 Millionen Dollar.
Seine Sparsamkeit steht „The November Man“ allerdings nie im Weg. Die gesamten 108 Minuten packt Donaldson voll mit rasanten Verfolgungsjagden, harten Schusswechseln und auch der nötigen Menge Pyrotechnik, die das Publikum in so einem Film erwarten darf. Insbesondere sein Bildaufbau lässt den Film teuer und elegant wirken. Als Kameramann holte sich Donaldson den Genre-erfahrenen Romain Lacourbas dazu, der zuvor bei den harten Reißern „Colombiana“ und „96 Hours – Taken 2“ mitwirkte. Gemeinsam filmen sie ihre Actionszenen druckvoll, entscheiden sich aber auch, stets nah bei den Charakteren zu bleiben. Actionfilm-Standards, etwa ein Feuergefecht über zwei Etagen, machen so den Anschein eines eng getakteten und streng choreographierten Kammerspiels.
Diese intime Herangehensweise ist bereits in den Vorlagen so angelegt. Granger beschreibt Peter Devereaux als introvertierten, blitzschnellen Denker, der auf den ersten Blick sehr viel weltgewandter wirkt als auf den zweiten. In erster Linie ist er kein Gentleman-Spion oder kühler Schreibtischhengst, sondern ein grausamer, abgestumpfter Mann, dessen tödliche Effizienz ihn von sich selbst entfremdet hat. Er fühlt sich berufsbedingt wohl im Pragmatismus. Als er gefragt wird, wie es sich vermutlich anfühle, erschossen zu werden, antwortet er nur: „Eine Kugel fliegt 1.200 Meter in der Sekunde, viermal schneller als der Schall. Die Wirkung bei diesem Tempo ist absolut. Man hört einfach auf zu existieren.“
In „There are no spies“ und so auch in diesem Film wird er nach Moskau beordert, um seine Ex-Geliebte Natalia zu evakuieren, die dort Beweise gegen den russischen General Fedorow sammelte, der demnächst zum Präsidenten der Russischen Föderation ernannt werden soll. Bei der Evakuierung wird Natalia von einem Attentäter erschossen, der sich als David Mason herausstellt, einem jungen CIA-Agenten, den Devereaux vor seinem Ruhestand ausbildete und den er krachend durchfallen ließ, als dieser bei einer Mission die Nerven verlor und durch seinen nervösen Zeigefinger ein kleines Kind zu Tode kam.
Die Spur führt beide rivalisierenden Alphamännchen zur Asylbetreuerin Alice Fournier, die als letzte Kontakt zur untergetauchten Flüchtlingsfrau Mira Filipova hatte. Die wurde Zeugin von mehreren Menschenrechtsverletzungen, derer sich Fedorow schuldig gemacht hat und ist damit für alle Geheimdienste dieser Welt pures Gold. Was folgt ist eine Ansammlung vieler Gefechte zwischen Devereaux und Mason sowie mehrere der Wendungen und (Ver-)Wirrungen, die fest zur DNA der Spionagegeschichten gehören.
Dabei wird kaum jemand „The November Man“ sehen, ohne fortwährend mit Déjà-vu-Eindrücken zu kämpfen: Pierce Brosnan als alternder Geheimagent wird vom aufmerksamen Zuschauer natürlich umgehend mit seinen Auftritten als James Bond verglichen. Von Natur aus bringt der Schauspieler eine große Portion Charisma und Charme mit in die Rolle, trotz der vermehrten Falten klingt seine Stimme noch sowohl suave als auch gefährlich. Die Routine, die Devereaux bei seinen Einsätzen hat, braucht Brosnan nicht zu spielen, sie steht ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
Das Drehbuch gibt ihm hier jedoch Möglichkeiten, sich von seinen 007-Facetten zu lösen und neue Akzente zu setzen. Devereaux ist nicht der Typ, der nach einem überlebten Einsatz lockere Witze macht und eine schöne Frau verführt. Stattdessen lebt er nach der Devise, persönliche Beziehungen würden einen nur angreifbar machen und hätten in der Geheimdienstwelt keinen Platz. Seinem Schüler führt er diese Maxime in einer beklemmenden Szene vor. Mason erwacht nach einem One-Night-Stand mit seiner Nachbarin und findet diese verängstigt in der Küche als Geisel von Devereaux vor. Der sagt ihm: „Du kannst ein menschliches Wesen sein oder ein Killer von Menschen. Aber nicht beides.“
Um zu testen, was auf seinen ehemaligen Protegé zutrifft, trennt er der schönen Blondine die Oberschenkelschlagader durch und flieht. Mason hat die Wahl: Folgt er seiner Mission und lässt die Frau sterben oder missachtet er seine Befehle und zeigt Empathie. In dieser mehrminütigen Sequenz addiert Brosnan zu seiner Bond-Interpretation eine gewaltige Menge an grimmiger Kaltschnäuzigkeit. Sein Schauspiel erinnert an seinen denkwürdigen Auftritt als sadistischer Geiselnehmer in „Spiel mit der Angst“ von 2007. Donaldson und er riskieren mutwillig, hier die Sympathien des Publikums zum abgründigen Helden zu verlieren.
Solche Risiken hätte die Produktion gerne noch öfter eingehen können, statt gerade im Schlussakt auf ein konventionelles Standardmotiv zurückzugreifen. Der große Verschwörungsplot, der das Schicksal von Mira Filipova und die Gräueltaten von Fedorow um eine historische Dimension erweitert und mit dem Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs verknüpft, erzeugt genügend Spannung, spielt aber leider für das Finale keine allzu große Rolle mehr. Unglücklich auch, dass die Geschichte des Romans zwar in die Gegenwart versetzt wurde, aber viele Kalter-Krieg-Klischees immer noch allzu leicht auszumachen sind. Gemeint ist hierbei ganz besonders die Rolle einer stereotypen russischen Auftragskillerin, die inmitten des modernen Thrillertreibens reichlich angestaubt wirkt.
Das hohe Tempo und die angenehm intelligenten Schlagabtausche zwischen Brosnans Devereaux und dem von Luke Bracey gespielten Mason lenken dafür bis zuletzt von kleinen Unstimmigkeiten ab. Besonders schön fällt noch die Filmmusik auf, die der vielbeschäftigte Marco Beltrami komponierte. Beltrami, bekannt für seinen perkussiven Stil, vor allem für seinen regelmäßigen Einsatz von Bassdrums, verzichtet stilistisch gänzlich auf James-Bond-Assoziationen und mischt osteuropäische Klangteppiche mit westlichen Motiven. Das persuasive Ergebnis findet die passende Tonalität und macht selbst den Abspann hörenswert – nachdem dort der irritierend gut passende Soul-Rocksong „Ticking Bomb“ von Aloe Blacc verstummt ist.
Eine neue Filmreihe konnte „The November Man“ nicht lostreten, als Konkurrenz zu anderen Langzeitagenten erst recht nicht dienen. Dennoch gelingt Donaldson ein angenehmer, spannender Film, der sein Versprechen einlöst und langjährigen Fans des Hauptdarstellers selbigen wieder in seiner Paraderolle präsentiert und ihn dabei trotzdem frisch und anders wirken lässt. Bill Granger wäre mit dieser Interpretation seiner Romanreihe wahrscheinlich einverstanden gewesen, adaptiert sie doch nicht nur seine Figuren und Geschichten, sondern teils direkt sein geschriebenes Wort. So stammt eine Passage wörtlich aus der Vorlage, als dem Zuschauer der titelgebende Deckname von Devereaux erklärt wird: „Wir nannten dich Novembermann – denn wo du vorbeikamst, lebte nichts mehr.“
Als Geheimtipp mit Kultpotenzial dürfte „The November Man“ auch auf lange Sicht gute Chancen haben, wer Genre-affin ist, kann bedenkenlos einen Blick auf diese kleine Perle werfen. Wirklich gemacht ist der rasante Actionthriller aber für die Fans, die frei nach Andreas Möller auf folgende Frage immer so antworten würden: „Bond oder Bourne? Egal, Hauptsache Brosnan!“
Das Trümmerfeld der Liebe
Niemandsland – The Aftermath
„Sie sind im Begriff, einem merkwürdigen Volk in einem merkwürdigen, feindlichen Land zu begegnen“, liest ein kleiner Junge laut im Zug. „Halten Sie sich unbedingt von den Deutschen fern. Jedes Fraternisieren ist unerwünscht.“ Die Britin Rachael Morgan sitzt dem Jungen gegenüber. Der Zug bringt sie im Winter 1945 in das zerbombte Hamburg, der Zweite Weltkrieg endete vor fünf Monaten. Ihr Gatte Lewis, ein hochrangiger Besatzungsoffizier, erwartet sie dort. Er soll die Entnazifizierung der Stadt beaufsichtigen und will mit seiner Frau in einer von den Alliierten beschlagnahmten Villa an der Elbe wohnen. Schon bei ihrer Ankunft ist Rachael verwundert, welche Töne ihr Mann gegenüber dem besiegten Feind anschlägt. „Auf Hamburg sind an einem Wochenende mehr Bomben gefallen als auf London im ganzen Krieg“, erklärt er ihr. Mitgefühl ist in seiner Stimme.
Sich von den Deutschen fernhalten wird schwierig für Rachael, als sie erfährt, dass der Architekt ihres neuen Hauses, der deutsche Stefan Lubert, und seine Tochter Freda von ihrem Mann eingeladen wurden, weiter auf dem Dachboden zu leben. Woher er wisse, bei beiden handle es sich nicht um ehemalige Mitglieder der Partei, fragt seine Frau. Immerhin hat Lubert bislang keinen Persilschein ausgestellt bekommen. „Ich bezweifle, dass man einen Menschen aufgrund eines Fragebogens beurteilen kann“, sagt er. Doch was macht man stattdessen? „Man sieht ihm in die Augen.“
Nun sieht Rachael genauer hin: In den Augen des Architekten, der um seine Frau trauert, die bei einem der Bombenabwürfe ums Leben kam, sieht sie Schmerz, denselben Schmerz, den sie in den Augen ihres eigenen Mannes nicht erkennen kann. Dabei verlor auch das Ehepaar Morgan ihren kleinen Sohn auf dieselbe Weise, als in London eine Bombe ihr Haus zerstörte. Der Schmerz entfremdet das eine Paar und bringt das andere zusammen. Aus der anfänglichen Ablehnung, die Stefan und Freda von Rachael zu spüren bekommen, wird seelische Verbundenheit. Als sie sich einen Ruck geben, der erste Kuss zwischen ihr und dem Deutschen fällt, stehen sie regelrecht in Flammen.
Von einer riskanten Affäre also erzählt „Niemandsland – The Aftermath“, basierend auf der gleichnamigen Buchvorlage des walisischen Autoren Rhidian Brook. Sein Roman landete eines Tages auf dem Schreibtisch von Regie-Gigant Ridley Scott. Der war sofort fasziniert: Scotts eigener Vater war britischer Offizier, der nach dem Krieg ebenfalls in Hamburg stationiert wurde. So lebte Scott als 10-Jähriger selbst in einem ganz ähnlichen Haus. Ursprünglich wollte er daher unbedingt persönlich „The Aftermath“ inszenieren, doch mit beiden Händen in andere Projekte eingebunden, fungierte er schlussendlich nur als Produzent, gab die Regie an den TV-erfahrenen James Kent ab. Klar ist: Hätte Scott inszeniert, wäre dies ein anderer, ein autobiografischerer Film geworden. Aber auch ein besserer?
Auf dieses Urteil mag man kommen, liest man die Kritiken, die 2019 kaum ein gutes Haar an der Romanverfilmung ließen. Nahezu jede Rezension nutzte das böse Schlagwort: „Kitsch“. Der Film sei plump inszeniert, drücke auf die Tränendrüse, ließe Subtilität vermissen. Die Affäre zwischen Stefan und Rachael wurde als „naiv“ empfunden, über die teils pompöse Bildsprache schrieb David Steinitz abfällig in der Süddeutschen Zeitung, der Film sähe aus „wie eine schicke Luxusuhrenwerbung, die aus unerfindlichen Gründen im Jahr 1946 spielt“. Patrick Seyboth von EPD Film fand, Regisseur Kent erzähle „kurzatmig und grob wie eine Vorabend-Soap“.
All das mögen in einem gewissen Rahmen zutreffende Beobachtungen sein, doch übersehen sie die Ambitionen dieser wunderbar sinnlichen Filmperle. Rhidian Brook hatte sich einen Namen als Autor rührender Melodramen gemacht. Er schrieb „The Aftermath“ als eine epische Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund, nach Vorbild des klassischen Hollywood-Kinos der 40er- und 50er-Jahre. James Kent hat das erkannt – so verzichtet seine 109 Minuten lange Adaption gänzlich auf die ironischen Metaebenen und den postmodernen Zynismus, mit dem sich Regisseure seit der Jahrtausendwende dem romantischen Genre meist nähern. In seinem Film wird noch mit großen Gesten geliebt, mit Dackelblick geschmachtet, und ohnehin darf kein einzelner Kuss ohne meterdickes Pathos auskommen.
Kaum zufällig hat er Rachael mit der großartigen Keira Knightley besetzt, die jahrelang durch Literaturverfilmungen wie „Stolz und Vorurteil“, „Anna Karenina“ oder „Abbitte“ zum letzten Gesicht des melodramatischen Kinos geworden ist. Ihr Charme ist klassisch, ihr Schauspiel überlebensgroß. Es ist keine Überraschung, zu sagen, dass „The Aftermath“ ganz und gar ihr gehört, von ihrer Ausstrahlung, ihrem Charisma lebt. Ergreifend, wie sie am Klavier einsam „Claire de Lune“ von Claude Debussy spielt und dabei in Erinnerung an ihren Sohn in Tränen ausbricht. Wiederrum köstlich mit anzusehen, wie sie sich im Prunk ihrer neuen Behausung unwohl fühlt und an einem ungewöhnlichen Sessel stört, ehe Stefan ihr fachmännisch erklärt, dass dieser von Ludwig Mies van der Rohe gestaltet wurde, dem berühmtesten Vertreter des Minimalismus in der Architektur, der die Formel prägte: „Weniger ist mehr.“
Für den Film gilt dieser Grundsatz nur selten, sehr wohl aber für Jason Clarke als Lewis und Alexander Skarsgård als Stefan. Sie überlassen die übersprudelnden Emotionen ganz Keira Knightley und erden den Film durch zurückgenommene Auftritte. Skarsgård legt seinen Bildungsbürger gar als lebende Chiffre an, als geheimnisvollen Kavalier, spielt seine Anziehung zu Knightley glaubhaft – nur wenn er im Originalton deutsch sprechen muss, wirkt der gebürtige Schwede ungemein weniger authentisch. Jason Clarke zeigt dafür sein ganzes Talent in einem schwierigen Part: Als altruistischer Militär will er aufrichtig dem leidgeplagten deutschen Volk helfen, muss aber in Gefahrensituationen und bei Verhören den starken Mann markieren. Die Liebesbeziehungen von Rachael mit beiden Männern haben dank dieser feinen Charakterisierungen die nötige emotionale Tiefe und Größe.
Groß ist vieles an diesem Film, vor allem, wie er das „Niemandsland“ des deutschen Titels illustriert. Die Trümmerhaufen des zerstörten Hamburgs musste die Produktion am Computer erstellen, die Außenaufnahmen fanden in Prag statt. In kalten, dunklen Farbtönen zeigt Kent eine schneebedeckte Welt, in der Hoffnung und Perspektive verloren sind. Mehrfach schwingt seine Kamera über die Gesichter der Hamburger, die vom Krieg gezeichnet, traumatisiert sind. Stefans Tochter Freda freundet sich mit Albert an, einem ehemaligen Hitlerjugendlichen, gespielt von Jannik Schümann. Dieser greift einmal vor ihren Augen auf den verschmutzten Boden, hält ihr seine mit Dreck beschmierte Hand entgegen, sagt: „Das ist der Staub unserer Stadt. Die Asche, die von den Menschen geblieben ist.“ In den Arm hat er sich eine „88“ gebrannt …
Als Gegengewicht zum vernichteten Hamburg fungiert die in warmen Farben gefilmte Villa der Morgans. Gedreht wurde dafür in Schleswig-Holstein im Schloss Tralau. Allzu leicht wäre es, die Arbeit des Kameramanns Franz Lustig als elegant und umwerfend zu beschreiben, weil die Kulisse, die er abfilmt, elegant und umwerfend ausschaut. Es ist aber erst seine wunderbare Bildgestaltung, seine einfallsreiche Kinematographie, die aus „The Aftermath“ ein solches Vergnügen macht – insbesondere im Zusammenspiel mit der dezenten, meist nur subliminal wahrzunehmenden Filmmusik von Martin Phipps.
Welch düstere Historie selbst die schönsten deutschen Gemäuer haben, vergessen weder Film noch Rachael: In jedem requirierten Haus, das sie besucht, bemerkt sie ein weißes Quadrat an der Wand. Es sind die Umrisse eines abgehängten Gemäldes. „Wer hat da gehangen?“, will Rachael wissen. „Der Führer“, antwortet ihr eine Freundin. „Der Schandfleck, der nicht verschwindet.“
Die Metaphern sind groß, das Szenenbild von Sonja Kraus theatralisch, die Dialoge schwülstig, das Schauspiel der Hauptdarstellerin gewaltig. Obwohl die Situation im Haus der Morgans auch die Situation des besetzten Deutschlands widerspiegelt, in dem einstige Feinde plötzlich nebeneinanderher leben müssen, ist James Kent mit seinem fantastischen Erotikdrama von einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit der politischen Situation der frühen Nachkriegszeit weit entfernt. Sein Film entstammt der Tradition des goldenen Zeitalters des Hollywood-Kinos, ist als würdiger Erbe von „Doktor Schiwago“ oder gar „Vom Winde verweht“ zu verstehen.
Mit Ridley Scott als Regisseur wäre dieser Film so wohl nicht entstanden. Gut also, dass er sich für eine Produzententätigkeit entschied. Schade nur, wie Großteile der internationalen Filmkritik auf das fertige Werk reagierten. Wieso sollte „Kitsch“ ein Vorwurf sein, wenn er doch so inspiriert umgesetzt wird? Die altmodischen US-Melodramen sind vielleicht zurecht aus der Kino-Gegenwart verschwunden, vielleicht hat das Publikum aber auch verlernt, sich auf offenherziges Überwältigungskino einzulassen. Mit dieser Gattung Film ist es wie mit dem ersten Kuss: Wer sich einen Ruck gibt, kann danach regelrecht in Flammen stehen. Aber man muss sich dafür fallen lassen können. „Niemandsland – The Aftermath“ ist perfekt für alle, die genau das wollen – oder es erst lernen möchten.
„Sie sind im Begriff, einem merkwürdigen Volk in einem merkwürdigen, feindlichen Land zu begegnen“, liest ein kleiner Junge laut im Zug. „Halten Sie sich unbedingt von den Deutschen fern. Jedes Fraternisieren ist unerwünscht.“ Die Britin Rachael Morgan sitzt dem Jungen gegenüber. Der Zug bringt sie im Winter 1945 in das zerbombte Hamburg, der Zweite Weltkrieg endete vor fünf Monaten. Ihr Gatte Lewis, ein hochrangiger Besatzungsoffizier, erwartet sie dort. Er soll die Entnazifizierung der Stadt beaufsichtigen und will mit seiner Frau in einer von den Alliierten beschlagnahmten Villa an der Elbe wohnen. Schon bei ihrer Ankunft ist Rachael verwundert, welche Töne ihr Mann gegenüber dem besiegten Feind anschlägt. „Auf Hamburg sind an einem Wochenende mehr Bomben gefallen als auf London im ganzen Krieg“, erklärt er ihr. Mitgefühl ist in seiner Stimme.
Sich von den Deutschen fernhalten wird schwierig für Rachael, als sie erfährt, dass der Architekt ihres neuen Hauses, der deutsche Stefan Lubert, und seine Tochter Freda von ihrem Mann eingeladen wurden, weiter auf dem Dachboden zu leben. Woher er wisse, bei beiden handle es sich nicht um ehemalige Mitglieder der Partei, fragt seine Frau. Immerhin hat Lubert bislang keinen Persilschein ausgestellt bekommen. „Ich bezweifle, dass man einen Menschen aufgrund eines Fragebogens beurteilen kann“, sagt er. Doch was macht man stattdessen? „Man sieht ihm in die Augen.“
Nun sieht Rachael genauer hin: In den Augen des Architekten, der um seine Frau trauert, die bei einem der Bombenabwürfe ums Leben kam, sieht sie Schmerz, denselben Schmerz, den sie in den Augen ihres eigenen Mannes nicht erkennen kann. Dabei verlor auch das Ehepaar Morgan ihren kleinen Sohn auf dieselbe Weise, als in London eine Bombe ihr Haus zerstörte. Der Schmerz entfremdet das eine Paar und bringt das andere zusammen. Aus der anfänglichen Ablehnung, die Stefan und Freda von Rachael zu spüren bekommen, wird seelische Verbundenheit. Als sie sich einen Ruck geben, der erste Kuss zwischen ihr und dem Deutschen fällt, stehen sie regelrecht in Flammen.
Von einer riskanten Affäre also erzählt „Niemandsland – The Aftermath“, basierend auf der gleichnamigen Buchvorlage des walisischen Autoren Rhidian Brook. Sein Roman landete eines Tages auf dem Schreibtisch von Regie-Gigant Ridley Scott. Der war sofort fasziniert: Scotts eigener Vater war britischer Offizier, der nach dem Krieg ebenfalls in Hamburg stationiert wurde. So lebte Scott als 10-Jähriger selbst in einem ganz ähnlichen Haus. Ursprünglich wollte er daher unbedingt persönlich „The Aftermath“ inszenieren, doch mit beiden Händen in andere Projekte eingebunden, fungierte er schlussendlich nur als Produzent, gab die Regie an den TV-erfahrenen James Kent ab. Klar ist: Hätte Scott inszeniert, wäre dies ein anderer, ein autobiografischerer Film geworden. Aber auch ein besserer?
Auf dieses Urteil mag man kommen, liest man die Kritiken, die 2019 kaum ein gutes Haar an der Romanverfilmung ließen. Nahezu jede Rezension nutzte das böse Schlagwort: „Kitsch“. Der Film sei plump inszeniert, drücke auf die Tränendrüse, ließe Subtilität vermissen. Die Affäre zwischen Stefan und Rachael wurde als „naiv“ empfunden, über die teils pompöse Bildsprache schrieb David Steinitz abfällig in der Süddeutschen Zeitung, der Film sähe aus „wie eine schicke Luxusuhrenwerbung, die aus unerfindlichen Gründen im Jahr 1946 spielt“. Patrick Seyboth von EPD Film fand, Regisseur Kent erzähle „kurzatmig und grob wie eine Vorabend-Soap“.
All das mögen in einem gewissen Rahmen zutreffende Beobachtungen sein, doch übersehen sie die Ambitionen dieser wunderbar sinnlichen Filmperle. Rhidian Brook hatte sich einen Namen als Autor rührender Melodramen gemacht. Er schrieb „The Aftermath“ als eine epische Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund, nach Vorbild des klassischen Hollywood-Kinos der 40er- und 50er-Jahre. James Kent hat das erkannt – so verzichtet seine 109 Minuten lange Adaption gänzlich auf die ironischen Metaebenen und den postmodernen Zynismus, mit dem sich Regisseure seit der Jahrtausendwende dem romantischen Genre meist nähern. In seinem Film wird noch mit großen Gesten geliebt, mit Dackelblick geschmachtet, und ohnehin darf kein einzelner Kuss ohne meterdickes Pathos auskommen.
Kaum zufällig hat er Rachael mit der großartigen Keira Knightley besetzt, die jahrelang durch Literaturverfilmungen wie „Stolz und Vorurteil“, „Anna Karenina“ oder „Abbitte“ zum letzten Gesicht des melodramatischen Kinos geworden ist. Ihr Charme ist klassisch, ihr Schauspiel überlebensgroß. Es ist keine Überraschung, zu sagen, dass „The Aftermath“ ganz und gar ihr gehört, von ihrer Ausstrahlung, ihrem Charisma lebt. Ergreifend, wie sie am Klavier einsam „Claire de Lune“ von Claude Debussy spielt und dabei in Erinnerung an ihren Sohn in Tränen ausbricht. Wiederrum köstlich mit anzusehen, wie sie sich im Prunk ihrer neuen Behausung unwohl fühlt und an einem ungewöhnlichen Sessel stört, ehe Stefan ihr fachmännisch erklärt, dass dieser von Ludwig Mies van der Rohe gestaltet wurde, dem berühmtesten Vertreter des Minimalismus in der Architektur, der die Formel prägte: „Weniger ist mehr.“
Für den Film gilt dieser Grundsatz nur selten, sehr wohl aber für Jason Clarke als Lewis und Alexander Skarsgård als Stefan. Sie überlassen die übersprudelnden Emotionen ganz Keira Knightley und erden den Film durch zurückgenommene Auftritte. Skarsgård legt seinen Bildungsbürger gar als lebende Chiffre an, als geheimnisvollen Kavalier, spielt seine Anziehung zu Knightley glaubhaft – nur wenn er im Originalton deutsch sprechen muss, wirkt der gebürtige Schwede ungemein weniger authentisch. Jason Clarke zeigt dafür sein ganzes Talent in einem schwierigen Part: Als altruistischer Militär will er aufrichtig dem leidgeplagten deutschen Volk helfen, muss aber in Gefahrensituationen und bei Verhören den starken Mann markieren. Die Liebesbeziehungen von Rachael mit beiden Männern haben dank dieser feinen Charakterisierungen die nötige emotionale Tiefe und Größe.
Groß ist vieles an diesem Film, vor allem, wie er das „Niemandsland“ des deutschen Titels illustriert. Die Trümmerhaufen des zerstörten Hamburgs musste die Produktion am Computer erstellen, die Außenaufnahmen fanden in Prag statt. In kalten, dunklen Farbtönen zeigt Kent eine schneebedeckte Welt, in der Hoffnung und Perspektive verloren sind. Mehrfach schwingt seine Kamera über die Gesichter der Hamburger, die vom Krieg gezeichnet, traumatisiert sind. Stefans Tochter Freda freundet sich mit Albert an, einem ehemaligen Hitlerjugendlichen, gespielt von Jannik Schümann. Dieser greift einmal vor ihren Augen auf den verschmutzten Boden, hält ihr seine mit Dreck beschmierte Hand entgegen, sagt: „Das ist der Staub unserer Stadt. Die Asche, die von den Menschen geblieben ist.“ In den Arm hat er sich eine „88“ gebrannt …
Als Gegengewicht zum vernichteten Hamburg fungiert die in warmen Farben gefilmte Villa der Morgans. Gedreht wurde dafür in Schleswig-Holstein im Schloss Tralau. Allzu leicht wäre es, die Arbeit des Kameramanns Franz Lustig als elegant und umwerfend zu beschreiben, weil die Kulisse, die er abfilmt, elegant und umwerfend ausschaut. Es ist aber erst seine wunderbare Bildgestaltung, seine einfallsreiche Kinematographie, die aus „The Aftermath“ ein solches Vergnügen macht – insbesondere im Zusammenspiel mit der dezenten, meist nur subliminal wahrzunehmenden Filmmusik von Martin Phipps.
Welch düstere Historie selbst die schönsten deutschen Gemäuer haben, vergessen weder Film noch Rachael: In jedem requirierten Haus, das sie besucht, bemerkt sie ein weißes Quadrat an der Wand. Es sind die Umrisse eines abgehängten Gemäldes. „Wer hat da gehangen?“, will Rachael wissen. „Der Führer“, antwortet ihr eine Freundin. „Der Schandfleck, der nicht verschwindet.“
Die Metaphern sind groß, das Szenenbild von Sonja Kraus theatralisch, die Dialoge schwülstig, das Schauspiel der Hauptdarstellerin gewaltig. Obwohl die Situation im Haus der Morgans auch die Situation des besetzten Deutschlands widerspiegelt, in dem einstige Feinde plötzlich nebeneinanderher leben müssen, ist James Kent mit seinem fantastischen Erotikdrama von einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit der politischen Situation der frühen Nachkriegszeit weit entfernt. Sein Film entstammt der Tradition des goldenen Zeitalters des Hollywood-Kinos, ist als würdiger Erbe von „Doktor Schiwago“ oder gar „Vom Winde verweht“ zu verstehen.
Mit Ridley Scott als Regisseur wäre dieser Film so wohl nicht entstanden. Gut also, dass er sich für eine Produzententätigkeit entschied. Schade nur, wie Großteile der internationalen Filmkritik auf das fertige Werk reagierten. Wieso sollte „Kitsch“ ein Vorwurf sein, wenn er doch so inspiriert umgesetzt wird? Die altmodischen US-Melodramen sind vielleicht zurecht aus der Kino-Gegenwart verschwunden, vielleicht hat das Publikum aber auch verlernt, sich auf offenherziges Überwältigungskino einzulassen. Mit dieser Gattung Film ist es wie mit dem ersten Kuss: Wer sich einen Ruck gibt, kann danach regelrecht in Flammen stehen. Aber man muss sich dafür fallen lassen können. „Niemandsland – The Aftermath“ ist perfekt für alle, die genau das wollen – oder es erst lernen möchten.
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