Filmtagebuch: Wallnuss
Moderator: SFI
Für 80s Action ist man nie zu alt
Zwei stahlharte Profis
Im Jahr 1986 erfuhr der junge Filmstudent Shane Black von einem Trick unter Polizisten, der sogenannten „Psycho-Pension“. Hierbei simuliert ein Beamter psychische Probleme, um bezahlten Urlaub und eine Auszeit vom Dienst verordnet zu bekommen. Black hatte sofort einen Gedanken: ‚Was, wenn da ein Cop wäre, von dem alle denken, er wolle die „Psycho-Pension“ – der aber wirklich psychopathisch ist?‘ Er arbeitete die Idee aus und schrieb nicht nur sein erstes richtiges Drehbuch, sondern auch Filmgeschichte, als er dem verrückten Polizisten einen regeltreuen Partner an die Seite stellte. Das fertige Duo kennt heute jeder Filmfan – nicht unter dem deutschen Titel „Zwei stahlharte Profis“, sondern unter dem originalen: „Lethal Weapon“.
Mit dem Film revolutionierten Shane Black und Regisseur Richard Donner, der schon Klassiker wie „Superman“ oder „Die Goonies“ auf dem Kerbholz hatte, das Actiongenre. Dominierten bis dato muskelbepackte Alphamänner das Kino der Ära unter Präsident Ronald Reagan, unterschied „Lethal Weapon“ sich durch verletzbare Protagonisten. Beide werden – symbolträchtig – nackt eingeführt: Der Polizist Roger Murtaugh sitzt in der Badewanne, als seine Familie ihm dort zum 50. Geburtstag gratuliert. Während er seinem grauen Bart abtastet, wird er vom Töchterlein durch die Blume als altes Eisen bezeichnet. Den verrückten Cop Martin Riggs lernen die Zuschauer in seinem Wohnwagen am Strand kennen. Mit Zigarette im Mund, dem Gemächt in der Hand und dem Bier in greifbarer Nähe wird er beim Urinieren gezeigt. Er ist ein einsamer Wolf, der sichtbar mit dem Leben abgeschlossen hat.
Bereits hier unterscheidet sich „Lethal Weapon“ vom Genre-Standard seiner Zeit. Martin Riggs ist ein Revolverheld, jene Figur, die im Männerkino oft idealisiert und romantisiert wird – spätestens seit „Dirty Harry“, der 1971 in Gestalt von Clint Eastwood zur Legende wurde. Shane Black zählt den Film zu seinen Lieblingen. Sein Martin Riggs teilt viele Parallelen mit Harry Callahan: Beide sind Ex-Militärs von hohem Renommee, beide arbeiten außerhalb der Regeln, beide verloren ihre Frauen bei einem Autounfall. Doch Dirty Harry ist dank Eastwood die Coolness in Person. Seinen Schmerz versteckt er unter einer großen Sonnenbrille, seine zynischen Sprüche sind so pragmatisch wie sein Auftreten. Seine persönliche Tragödie erweitert nur sein Heldentum. Riggs ist das Gegenstück, ein emotionales Wrack. Was bei Callahan zur Bewunderung einlädt, ist bei ihm schmerzhafte Realität. In einer der großartigsten Szenen des Films steckt er sich eine Waffe in den Mund, versucht abzudrücken. Als er sich nicht überwinden kann, drückt er heulend das Bild seiner toten Frau an sich, schluchzt: „Wir sehen uns später.“
Kurz darauf befindet sich Riggs in einer identischen Situation wie einst Dirty Harry: Er soll einen Selbstmörder vom Springen abhalten. Eastwood fuhr als Harry per Feuerwehrkran zum Springer herauf, provozierte ihn und schlug ihn bewusstlos, brachte ihn so in Sicherheit. Riggs hingegen kettet sein Handgelenk einfach an das des Selbstmörders und springt mit ihm vom Dach – allerdings immerhin auf ein Sprungkissen der Polizei. In diesem Moment kapiert Murtaugh, sein neuer Partner: Dieser Mann ist nicht auf „Psycho-Pension“ aus, sondern ehrlich suizidgefährdet. Und mit dieser Erkenntnis ist das legendärste Buddy-Cop-Gespann des Kinos geboren, dank Murtaugh auch einer der berühmtesten Sprüche des Genres: „Ich bin zu alt für so eine Scheiße.“
„Lethal Weapon“ ist ein Klassiker, dem seine Frische und Inspiration über dreißig Jahre später noch anzusehen sind. Gründe dafür finden sich viele, einer der wichtigsten sind wohl die Hauptdarsteller: Roger Murtaugh und Martin Riggs wären nie so ikonisch geworden, hätte Richard Donner sie nicht mit Danny Glover und Mel Gibson besetzt. Glover war zwar erst 40 und ist doch als gealterter, engagierter Polizist und Familienmensch vollkommen überzeugend. Gibson ist derweil eine Naturgewalt. Er spielt die unter der Oberfläche lauernde Psychopathie von Riggs so roh, brutal und echt, dass es verwundert, wie er hierfür keine Oscarnominierung erhalten konnte. Ein Blick in seine Augen allein lässt den Schmerz, die Verzweiflung und das Leid seiner Figur erahnen.
Zwei so talentierten Schauspielern auf der Höhe ihrer Kunst dabei zuzusehen, wie sie sich die Bälle zuspielen, ist ein Segen. Ob bei der Verbrecherjagd oder beim Herumschrauben an einem Freizeitboot: Ihre Dialoge erweisen sich als zugleich komisch und erstaunlich tiefsinnig. Shane Black vermengte die Präzision seines Mentoren William Goldman, der „Zwei Banditen“ und „Die Unbestechlichen“ schrieb, mit der harten Prosa eines Walter Hill, dessen „Nur 48 Stunden“ fünf Jahre vor „Lethal Weapon“ den Buddy-Film neuerfand. Auch Hill bot ein unfreiwilliges Duo, als Nick Nolte sich mit Eddie Murphy zusammenraufen musste. Die Rassenthematik eines gemischten Duos mit je weißer und schwarzer Haut gehörte da zum Konzept. Bei „Lethal Weapon“ war sie Zufall: Als man Richard Donner für Murtaugh den schwarzen Danny Glover vorschlug, war dessen Hautfarbe erst ein Contra-Argument für ihn, ehe er bemerkte, dass Murtaughs Hautfarbe im Drehbuch gar keine Erwähnung fand.
Der Plot ist zweckdienlich, nur ein Vorwand für den zweistündigen Cocktail aus Tempo, Gags und Spannung. Ein vermeintlicher Selbstmord eines barbusigen Callgirls führt die Ermittler auf die Spur eines Drogenrings aus ehemaligen CIA-Söldnern, die kurzerhand Murtaughs Tochter in ihre Gewalt bringen. Sobald dieser Schritt erfolgt, zündet Donner ein perfekt getaktetes Actionfeuerwerk, das sich sehen lassen kann, erst recht bei dem spärlichen Budget von nur 15 Millionen Dollar. Gebäude explodieren, es wird mit Elektroschocks gefoltert, Autos krachen ineinander oder heizen über den Hollywood-Boulevard. Es herrscht buchstäblich Krieg in den Straßen von Los Angeles.
Dabei bleibt die Regie stilbewusst und ausgeklügelt. Dies bemerkte sogar Filmkritiker und Pulitzer-Preisträger Roger Ebert, der über den Actionhit schrieb: „Ich bin ein Typ, der von Schießereien und Verfolgungsjagden gelangweilt ist. Ich habe das alles schon gesehen. Aber dieser Film hat mich von Anfang bis Ende begeistert.“ Kein Wunder, inszeniert Donner „Lethal Weapon“ doch als stimmungsvollen Mix aus Großstadt-Western und Neo-Noirdrama und kann sich dabei auf das Können seines ausgezeichneten Kameramanns Stephen Goldblatt verlassen. Ein Showdown mitten in der Wüste wird in fantastischen Panorama-Aufnahmen bebildert, selbst eine einfache Tiefgarage erhält durch seitlich einfallendes Licht einen expressionistischen, surrealistischen Anstrich.
Der überragende Soundtrack von Michael Kamen und Eric Clapton geht auf den Genre-Mix ein, bietet hetzende Gitarren, pompöse Trompeten und ein klagendes Saxophon. Vor allem Kamen fand seine Kompositionen offenbar so stark, dass er sie ein Jahr später für einen weiteren Actionklassiker abwandelte: „Stirb langsam“. Beiden Filmen ist gemein, dass sie an Weihnachten spielen, doch während Filmemacher John McTiernan dies in „Stirb langsam“ als Hintergrund für seine bleigefüllte Kapitalismuskritik nutzte, ist Donner an den Gegensätzen des Fests interessiert, welche sich in seinen Protagonisten ausdrücken: Die Nächstenliebe und das Familiäre im Kontrast zu Einsamkeit und Feiertagsdepressionen.
Besonders bemerkenswert gerät noch das Finale: Hier tritt Mel Gibson zu einem kompromisslosen und physisch nachfühlbaren Faustkampf gegen den Widersacher der Stunde an: Gary Busey, der als folternder Mr. Joshua in jedem anderen Film der absolute Star gewesen wäre. Die restlichen Polizisten, selbst Murtaugh, greifen nicht ein, als diese zwei Kraftprotze ihr Duell der Fäuste austragen. Sowohl Riggs als auch Joshua stehen außerhalb des Systems, außerhalb ihrer Gruppierungen. Sie dürfen ihr letztes Gefecht unter sich entscheiden, nach archaischen Regeln, vor einer großen Zuschauerschaft – eine phänomenale Analogie an die Schlussduelle in alten Westernfilmen.
Es ist eine ausgelutschte Phrase, doch sie stimmt: Nicht zuletzt durch die Leidenschaft aller Beteiligten wurde „Lethal Weapon“ zum Meisterwerk des Actionkinos. Aus den genialen Wortgefechten spricht die Energie eines jungen Drehbuchautors und seine Hoffnung nach dem Durchbruch. Der kam auch: Shane Black wurde in den 90ern zu einem der bestbezahlten Autoren im Filmgeschäft. Mel Gibson und Danny Glover zementierten dank „Lethal Weapon“ ihren Status als Actionhelden und wurden Superstars. Und über das Engagement des filmhistorisch sträflich unterschätzten Richard Donner lässt sich viel erzählen. Er machte aus Blacks Ideen eine aufrichtige Geschichte über eine Männerfreundschaft, in der der „Dirty Harry“-Einzelkämpfer zum Teamplayer wird. Er drehte, um Kosten zu sparen, mehrere Actionszenen in seinem eigenen Haus.
Er versteckte sogar eine politische Botschaft im Film. Am Kühlschrank im Hause Murtaugh prangt ein Aufkleber: „Stoppt die Apartheid!“ Später im Film trägt ein kleiner Junge ein T-Shirt mit derselben Botschaft. Als Reaktion darauf erhielt Donner aggressive Post, bis hin zu Todesdrohungen. Es schüchterte ihn nicht ein – für die erste von drei „Lethal Weapon“-Fortsetzungen, die er allesamt selbst verwirklichte, machte er Apartheid zum zentralen Thema. So arbeiten sie eben, die stahlharten Profis.
Im Jahr 1986 erfuhr der junge Filmstudent Shane Black von einem Trick unter Polizisten, der sogenannten „Psycho-Pension“. Hierbei simuliert ein Beamter psychische Probleme, um bezahlten Urlaub und eine Auszeit vom Dienst verordnet zu bekommen. Black hatte sofort einen Gedanken: ‚Was, wenn da ein Cop wäre, von dem alle denken, er wolle die „Psycho-Pension“ – der aber wirklich psychopathisch ist?‘ Er arbeitete die Idee aus und schrieb nicht nur sein erstes richtiges Drehbuch, sondern auch Filmgeschichte, als er dem verrückten Polizisten einen regeltreuen Partner an die Seite stellte. Das fertige Duo kennt heute jeder Filmfan – nicht unter dem deutschen Titel „Zwei stahlharte Profis“, sondern unter dem originalen: „Lethal Weapon“.
Mit dem Film revolutionierten Shane Black und Regisseur Richard Donner, der schon Klassiker wie „Superman“ oder „Die Goonies“ auf dem Kerbholz hatte, das Actiongenre. Dominierten bis dato muskelbepackte Alphamänner das Kino der Ära unter Präsident Ronald Reagan, unterschied „Lethal Weapon“ sich durch verletzbare Protagonisten. Beide werden – symbolträchtig – nackt eingeführt: Der Polizist Roger Murtaugh sitzt in der Badewanne, als seine Familie ihm dort zum 50. Geburtstag gratuliert. Während er seinem grauen Bart abtastet, wird er vom Töchterlein durch die Blume als altes Eisen bezeichnet. Den verrückten Cop Martin Riggs lernen die Zuschauer in seinem Wohnwagen am Strand kennen. Mit Zigarette im Mund, dem Gemächt in der Hand und dem Bier in greifbarer Nähe wird er beim Urinieren gezeigt. Er ist ein einsamer Wolf, der sichtbar mit dem Leben abgeschlossen hat.
Bereits hier unterscheidet sich „Lethal Weapon“ vom Genre-Standard seiner Zeit. Martin Riggs ist ein Revolverheld, jene Figur, die im Männerkino oft idealisiert und romantisiert wird – spätestens seit „Dirty Harry“, der 1971 in Gestalt von Clint Eastwood zur Legende wurde. Shane Black zählt den Film zu seinen Lieblingen. Sein Martin Riggs teilt viele Parallelen mit Harry Callahan: Beide sind Ex-Militärs von hohem Renommee, beide arbeiten außerhalb der Regeln, beide verloren ihre Frauen bei einem Autounfall. Doch Dirty Harry ist dank Eastwood die Coolness in Person. Seinen Schmerz versteckt er unter einer großen Sonnenbrille, seine zynischen Sprüche sind so pragmatisch wie sein Auftreten. Seine persönliche Tragödie erweitert nur sein Heldentum. Riggs ist das Gegenstück, ein emotionales Wrack. Was bei Callahan zur Bewunderung einlädt, ist bei ihm schmerzhafte Realität. In einer der großartigsten Szenen des Films steckt er sich eine Waffe in den Mund, versucht abzudrücken. Als er sich nicht überwinden kann, drückt er heulend das Bild seiner toten Frau an sich, schluchzt: „Wir sehen uns später.“
Kurz darauf befindet sich Riggs in einer identischen Situation wie einst Dirty Harry: Er soll einen Selbstmörder vom Springen abhalten. Eastwood fuhr als Harry per Feuerwehrkran zum Springer herauf, provozierte ihn und schlug ihn bewusstlos, brachte ihn so in Sicherheit. Riggs hingegen kettet sein Handgelenk einfach an das des Selbstmörders und springt mit ihm vom Dach – allerdings immerhin auf ein Sprungkissen der Polizei. In diesem Moment kapiert Murtaugh, sein neuer Partner: Dieser Mann ist nicht auf „Psycho-Pension“ aus, sondern ehrlich suizidgefährdet. Und mit dieser Erkenntnis ist das legendärste Buddy-Cop-Gespann des Kinos geboren, dank Murtaugh auch einer der berühmtesten Sprüche des Genres: „Ich bin zu alt für so eine Scheiße.“
„Lethal Weapon“ ist ein Klassiker, dem seine Frische und Inspiration über dreißig Jahre später noch anzusehen sind. Gründe dafür finden sich viele, einer der wichtigsten sind wohl die Hauptdarsteller: Roger Murtaugh und Martin Riggs wären nie so ikonisch geworden, hätte Richard Donner sie nicht mit Danny Glover und Mel Gibson besetzt. Glover war zwar erst 40 und ist doch als gealterter, engagierter Polizist und Familienmensch vollkommen überzeugend. Gibson ist derweil eine Naturgewalt. Er spielt die unter der Oberfläche lauernde Psychopathie von Riggs so roh, brutal und echt, dass es verwundert, wie er hierfür keine Oscarnominierung erhalten konnte. Ein Blick in seine Augen allein lässt den Schmerz, die Verzweiflung und das Leid seiner Figur erahnen.
Zwei so talentierten Schauspielern auf der Höhe ihrer Kunst dabei zuzusehen, wie sie sich die Bälle zuspielen, ist ein Segen. Ob bei der Verbrecherjagd oder beim Herumschrauben an einem Freizeitboot: Ihre Dialoge erweisen sich als zugleich komisch und erstaunlich tiefsinnig. Shane Black vermengte die Präzision seines Mentoren William Goldman, der „Zwei Banditen“ und „Die Unbestechlichen“ schrieb, mit der harten Prosa eines Walter Hill, dessen „Nur 48 Stunden“ fünf Jahre vor „Lethal Weapon“ den Buddy-Film neuerfand. Auch Hill bot ein unfreiwilliges Duo, als Nick Nolte sich mit Eddie Murphy zusammenraufen musste. Die Rassenthematik eines gemischten Duos mit je weißer und schwarzer Haut gehörte da zum Konzept. Bei „Lethal Weapon“ war sie Zufall: Als man Richard Donner für Murtaugh den schwarzen Danny Glover vorschlug, war dessen Hautfarbe erst ein Contra-Argument für ihn, ehe er bemerkte, dass Murtaughs Hautfarbe im Drehbuch gar keine Erwähnung fand.
Der Plot ist zweckdienlich, nur ein Vorwand für den zweistündigen Cocktail aus Tempo, Gags und Spannung. Ein vermeintlicher Selbstmord eines barbusigen Callgirls führt die Ermittler auf die Spur eines Drogenrings aus ehemaligen CIA-Söldnern, die kurzerhand Murtaughs Tochter in ihre Gewalt bringen. Sobald dieser Schritt erfolgt, zündet Donner ein perfekt getaktetes Actionfeuerwerk, das sich sehen lassen kann, erst recht bei dem spärlichen Budget von nur 15 Millionen Dollar. Gebäude explodieren, es wird mit Elektroschocks gefoltert, Autos krachen ineinander oder heizen über den Hollywood-Boulevard. Es herrscht buchstäblich Krieg in den Straßen von Los Angeles.
Dabei bleibt die Regie stilbewusst und ausgeklügelt. Dies bemerkte sogar Filmkritiker und Pulitzer-Preisträger Roger Ebert, der über den Actionhit schrieb: „Ich bin ein Typ, der von Schießereien und Verfolgungsjagden gelangweilt ist. Ich habe das alles schon gesehen. Aber dieser Film hat mich von Anfang bis Ende begeistert.“ Kein Wunder, inszeniert Donner „Lethal Weapon“ doch als stimmungsvollen Mix aus Großstadt-Western und Neo-Noirdrama und kann sich dabei auf das Können seines ausgezeichneten Kameramanns Stephen Goldblatt verlassen. Ein Showdown mitten in der Wüste wird in fantastischen Panorama-Aufnahmen bebildert, selbst eine einfache Tiefgarage erhält durch seitlich einfallendes Licht einen expressionistischen, surrealistischen Anstrich.
Der überragende Soundtrack von Michael Kamen und Eric Clapton geht auf den Genre-Mix ein, bietet hetzende Gitarren, pompöse Trompeten und ein klagendes Saxophon. Vor allem Kamen fand seine Kompositionen offenbar so stark, dass er sie ein Jahr später für einen weiteren Actionklassiker abwandelte: „Stirb langsam“. Beiden Filmen ist gemein, dass sie an Weihnachten spielen, doch während Filmemacher John McTiernan dies in „Stirb langsam“ als Hintergrund für seine bleigefüllte Kapitalismuskritik nutzte, ist Donner an den Gegensätzen des Fests interessiert, welche sich in seinen Protagonisten ausdrücken: Die Nächstenliebe und das Familiäre im Kontrast zu Einsamkeit und Feiertagsdepressionen.
Besonders bemerkenswert gerät noch das Finale: Hier tritt Mel Gibson zu einem kompromisslosen und physisch nachfühlbaren Faustkampf gegen den Widersacher der Stunde an: Gary Busey, der als folternder Mr. Joshua in jedem anderen Film der absolute Star gewesen wäre. Die restlichen Polizisten, selbst Murtaugh, greifen nicht ein, als diese zwei Kraftprotze ihr Duell der Fäuste austragen. Sowohl Riggs als auch Joshua stehen außerhalb des Systems, außerhalb ihrer Gruppierungen. Sie dürfen ihr letztes Gefecht unter sich entscheiden, nach archaischen Regeln, vor einer großen Zuschauerschaft – eine phänomenale Analogie an die Schlussduelle in alten Westernfilmen.
Es ist eine ausgelutschte Phrase, doch sie stimmt: Nicht zuletzt durch die Leidenschaft aller Beteiligten wurde „Lethal Weapon“ zum Meisterwerk des Actionkinos. Aus den genialen Wortgefechten spricht die Energie eines jungen Drehbuchautors und seine Hoffnung nach dem Durchbruch. Der kam auch: Shane Black wurde in den 90ern zu einem der bestbezahlten Autoren im Filmgeschäft. Mel Gibson und Danny Glover zementierten dank „Lethal Weapon“ ihren Status als Actionhelden und wurden Superstars. Und über das Engagement des filmhistorisch sträflich unterschätzten Richard Donner lässt sich viel erzählen. Er machte aus Blacks Ideen eine aufrichtige Geschichte über eine Männerfreundschaft, in der der „Dirty Harry“-Einzelkämpfer zum Teamplayer wird. Er drehte, um Kosten zu sparen, mehrere Actionszenen in seinem eigenen Haus.
Er versteckte sogar eine politische Botschaft im Film. Am Kühlschrank im Hause Murtaugh prangt ein Aufkleber: „Stoppt die Apartheid!“ Später im Film trägt ein kleiner Junge ein T-Shirt mit derselben Botschaft. Als Reaktion darauf erhielt Donner aggressive Post, bis hin zu Todesdrohungen. Es schüchterte ihn nicht ein – für die erste von drei „Lethal Weapon“-Fortsetzungen, die er allesamt selbst verwirklichte, machte er Apartheid zum zentralen Thema. So arbeiten sie eben, die stahlharten Profis.
Life in plastic, it's fantastic
Toy Story
Das deutsche Wort „Spielzeug“ ist genau betrachtet ziemlich degradierend: Die Rede ist bloß von „Zeug“, von belanglosen Objekten. Auch von „Spielsachen“ spricht man. Dabei weiß jedes Kind, dass in seinem Zimmer mit kleinen Figuren aus Kunststoff, Holz oder Metall eigene Geschichten erfunden und gespielt hat, wie viel Seele ein Spielzeug haben kann. Sie sind für die Kleinsten unter uns echte Freunde, Gefährten, mit denen man die tollsten Abenteuer erlebt, welche sich die Fantasie nur vorstellen kann. Doch wie sieht es in so einem Spielzeug aus? Sobald sie gefertigt wurden und in die Hände eines Kindes kommen, dreht sich ihr ganzer Lebensinhalt darum, Freude zu spenden. Könnten sie fühlen, was wäre wohl ihre größte Angst? Vermutlich in Vergessenheit zu geraten, nicht mehr gebraucht zu werden. Jedes Kind wird schließlich eines Tages älter – und hört auf zu spielen. Dieser originelle Perspektivwechsel ist keine rein philosophische Überlegung, sondern die Prämisse eines besonderen Films, des ersten vollständig computeranimierten Spielfilms aller Zeiten. Wie passend: Was sind Filmkünstler, wenn nicht spielende Kinder? Was sind ihre Charaktere, wenn nicht Spielzeuge? Was ist ein Film, wenn nicht eine große „Toy Story“?
Nach dem oscargekrönten CGI-Kurzfilm „Tin Toy“, bei dem ebenfalls ein Spielzeug im Mittelpunkt steht, hatte die Animationsfilmschmiede Pixar (eine ehemalige Forschungsabteilung des „Star Wars“-Regisseurs George Lucas) große Ambitionen, ein erstes Langfilmprojekt in Angriff zu nehmen. Doch „Toy Story“ ging vor seiner Veröffentlichung 1995 durch die Produktionshölle. Um das aufwendige Unterfangen überhaupt finanzieren zu können, ließ man sich auf Disney als Geldgeber ein. Und die Micky-Maus-Brutstätte hatte kein Interesse daran, nur zu zahlen: Das Studio hatte durch Mega-Hits wie „Arielle, die Meerjungfrau“, „Die Schöne und das Biest“ und „Aladdin“ eine Renaissance erlebt. So mischte sich der Geldgeber in den Prozess ein, das Drehbuch wurde mehrfach komplett umgeschrieben. Bei einer Version geriet die Hauptfigur, eine Cowboy-Aufziehpuppe namens Woody, gar zu einem tyrannischen Kinderzimmer-Diktator. Ein unverfilmbares Desaster. Nur zwei Wochen blieben Regisseur John Lasseter und seinem Team von da an, um das Projekt zu retten.
Von all dem ist in „Toy Story“ nichts zu sehen, im Gegenteil: Der Film, an dem unter anderem Joss Whedon mitschrieb, ist eine Offenbarung. Er muss sogar als Wunder bezeichnet werden! Die Vermutung lag immerhin nahe, der erste vollständig computeranimierte Film würde sich hauptsächlich auf sein komplexes Gimmick fokussieren, eine Technikdemonstration werden. Weit gefehlt: „Toy Story“ begeistert und fasziniert durch ein ausgeklügeltes, intelligentes Drehbuch und bietet eine emotionale Achterbahnfahrt für Jung und Alt. Die Kreativität des Plots und der Welt, in die er spielt, lässt sich nur bewundern: Immer, wenn der kleine Andy nicht in seinem Kinderzimmer ist, erwachen alle seine Spielzeuge zum Leben. Sie leben in ihrer eigenen Hierarchie. Andys Lieblingsspielzeug Woody ist ein Anführer für seine Mitstreiter. Große Augen machen alle, als Andy zu seinem Geburtstag ein neues Spielzeug bekommt, den High-Tech-Astronauten Buzz Lightyear, der nach und nach Woody aus Andys Herz verdrängt.
Der Blick in den Mikrokosmos von Andys Zimmer alleine zeigt mühelos, dass die kreativen Köpfe von Pixar in ihrer eigenen Liga spielen: Die Figurenzeichnung ist in wenigen Minuten, teils Sekunden, auf den Punkt, entstammen die Charakterzüge doch den jeweiligen Eigenarten des Spielzeugs: Dinosaurier Rex zum Beispiel ist ein billiges Plastikspielzeug, sein Schwanz ist nur dürftig grün besprüht. Kein Wunder also, dass diese Figur, die eigentlich ein mächtiges Raubtier darstellt, starke Minderwertigkeitskomplexe hat. Eine andere Figur, Mr. Potato Head, ist ständig genervt – und wer wäre das nicht, würde ihm auch bei jeder Gelegenheit das Gesicht abfallen? Das Kernstück der Erzählung sind aber Woody und Buzz. Ihr Konflikt ist tatsächlich historisch belegt: In den 1950ern, als das Western-Genre einen Kassenknüller nach dem nächsten erzeugte, gab es einen Boom an Cowboy-Figuren. Durch die aufkommende Weltraumeroberung im Zuge des Sputnik-Programms wurden die Cowboys von den Astronauten verdrängt – so wie Woody von Buzz.
Aber es ist noch etwas komplizierter: Buzz weiß gar nicht, dass er ein Spielzeug ist, sondern glaubt sich als echter Space Ranger. Die Lampe in seinem Arm hält er für einen Laserstrahl. Seine kaputte Verpackung, sein „Raumschiff“, gibt er glatt in Reparatur. Woody versucht sich als Stimme der Vernunft, vergeblich: Buzz lebt in einer Illusion. Schon hier zeigt sich, wie komplex die Handlung aufgebaut ist. Beide Hauptfiguren müssen eine schwierige, tiefsinnige Wandlung durchmachen. Woody muss seinen Neid überwinden und akzeptieren, dass er die Liebe von Andy nicht für sich allein beanspruchen darf. Buzz hingegen steht irgendwann unweigerlich vor der Erkenntnis, in einer Traumwelt zu leben. Es ist eine großartige Szene, als er spät im Film auf einen Fernseher starrt, auf dem ein Werbespot für eine Buzz-Lightyear-Actionfigur sieht und in seinen Augen sichtbar etwas zerbricht. Ein Spielzeug verlässt Platons Höhle.
Vordererst war „Toy Story“ eine technische Revolution, ein Meilenstein der Filmgeschichte. Doch gerade solche können schnell veralten: An beeindruckenden Spezialeffekten nagt der Zahn der Zeit am stärksten. Die Figuren jedoch sehen heute immer noch überzeugend aus – und wurden u.a. auch deshalb gewählt, weil sie allesamt aus Plastik sind, somit leichter zu animieren waren. Allerdings katapultierte Pixar in späteren Filmen die Möglichkeiten des Mediums in neue Höhen, die ihren Erstling längst überschatten. Und doch hat „Toy Story“ seine Stellung als Meisterwerk des Kinos nie eingebüßt. Weil das, was da vor den damals noch minimalistisch-animierten Hintergründen umgesetzt wurde, ein Musterbeispiel für großartiges, einfallsreiches Filmemachen darstellt. In nur 81 Minuten erzählt Lasseter eine starke und abwechslungsreiche Geschichte, deren Ausgangspunkt für einen Kinderfilm gewagt ist: Aus Eifersucht schubst Woody den verhassten Buzz (wenn auch etwas unfreiwillig) aus dem Fenster und wird für diesen versuchten Mord von den anderen Spielzeugen hinterhergeworfen. Von nun an muss das ungleiche Duo mehrere Strapazen und Actionszenen überstehen, um den Weg nach Hause zu finden und sich zusammenzuraufen.
Die Kompromisslosigkeit, mit der „Toy Story“ ein ganzes Genre umkrempelte, ist bemerkenswert. Bei all den Risiken, die Pixar mit der kritisch beäugten Computeranimationstechnik einging, ist es umso erstaunlicher, wie mutig auch die Geschichte des Films ist. Nicht genug, dass die entscheidende Tat des Films Hauptfigur Woody potenziell zum Unsympathen werden lässt, ist „Toy Story“ auch ein radikaler Bruch mit der klassischen Disney-Formel: Der Film ist kein Märchen, hat nur ganz am Rande Ansätze einer Liebesgeschichte, ist nicht einmal ein Musical. Stattdessen erzählt Lasseter seinen Geniestreich als charakterzentriertes Buddy-Movie in der Tradition von „Lethal Weapon“, als postmodernen Actionfilm, dessen großes, perfekt inszeniertes Crescendo (eine wilde Verfolgungsjagd aus dem Lehrbuch) so nur durch die berauschenden virtuellen Kamerafahrten möglich wurde. Und statt Muscialeinlagen rotzt in mehreren funkigen Blues-Songs aus dem Off die Stimme von Soundtrack-Komponist Randy Newman durch die Szenerie – nicht mehr und nicht weniger als ein brillanter Einfall.
Es ist wenig überraschend, dass „Toy Story“ auf lange Sicht das Ende des Zeichentrickfilms einläutete. Woody und Buzz sind dermaßen fantastisch charakterisiert, wohlüberlegt geschrieben und wirken dank ihrer dreidimensionalen Optik umso authentischer, sodass sie allein Grund genug waren, in die bis dato noch in den Kinderschuhen steckende Technik zu investieren. Wenige Jahre später war der Hype bereits so weit, dass bei den Oscars eine eigene Kategorie für den Besten Animationsfilm eingeführt wurde. Dass Woody und Buzz auf der Leinwand mehr Emotionen wecken als mancher Hollywood-Star, mag daran liegen, weil sie von welchen gesprochen werden. Ursprünglich waren Paul Newman und Jim Carrey angedacht, am Ende entschied man sich für die Paarung aus Oscar-Preisträger Tom Hanks für Woody und Sitcom-Ikone Tim Allen für Buzz. Beide transportieren durch ihre Stimmen eine mannigfaltige Palette an Gefühlen und füllen die Figuren mit Leben. Sie sind definitiv kein „Spielzeug“, sondern echte Helden.
„Toy Story“ ist alles, was Kino sein soll: Aufregend, mutig, witzig, intelligent, unterhaltsam und tief bewegend. Die Geburtsstunde der Innovationsschmiede Pixar war ein Triumph in mehrfacher Hinsicht. Sie lancierte zwei neue Ikonen in Millionen von Kinderzimmern, eroberte vielfältige Möglichkeiten der visuellen Darstellungsform und bewies eindrucksvoll, wie gelebter Enthusiasmus große Kunst schaffen kann. Und an noch etwas erinnert der Film: Wie wertvoll es ist, auch als Erwachsener das Spielen nicht zu verlernen. In der Fantasie gibt es schließlich wie im Kino keine Grenzen. Oder – wie Buzz Lightyear zu sagen pflegt – dort geht es „bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter“.
Das deutsche Wort „Spielzeug“ ist genau betrachtet ziemlich degradierend: Die Rede ist bloß von „Zeug“, von belanglosen Objekten. Auch von „Spielsachen“ spricht man. Dabei weiß jedes Kind, dass in seinem Zimmer mit kleinen Figuren aus Kunststoff, Holz oder Metall eigene Geschichten erfunden und gespielt hat, wie viel Seele ein Spielzeug haben kann. Sie sind für die Kleinsten unter uns echte Freunde, Gefährten, mit denen man die tollsten Abenteuer erlebt, welche sich die Fantasie nur vorstellen kann. Doch wie sieht es in so einem Spielzeug aus? Sobald sie gefertigt wurden und in die Hände eines Kindes kommen, dreht sich ihr ganzer Lebensinhalt darum, Freude zu spenden. Könnten sie fühlen, was wäre wohl ihre größte Angst? Vermutlich in Vergessenheit zu geraten, nicht mehr gebraucht zu werden. Jedes Kind wird schließlich eines Tages älter – und hört auf zu spielen. Dieser originelle Perspektivwechsel ist keine rein philosophische Überlegung, sondern die Prämisse eines besonderen Films, des ersten vollständig computeranimierten Spielfilms aller Zeiten. Wie passend: Was sind Filmkünstler, wenn nicht spielende Kinder? Was sind ihre Charaktere, wenn nicht Spielzeuge? Was ist ein Film, wenn nicht eine große „Toy Story“?
Nach dem oscargekrönten CGI-Kurzfilm „Tin Toy“, bei dem ebenfalls ein Spielzeug im Mittelpunkt steht, hatte die Animationsfilmschmiede Pixar (eine ehemalige Forschungsabteilung des „Star Wars“-Regisseurs George Lucas) große Ambitionen, ein erstes Langfilmprojekt in Angriff zu nehmen. Doch „Toy Story“ ging vor seiner Veröffentlichung 1995 durch die Produktionshölle. Um das aufwendige Unterfangen überhaupt finanzieren zu können, ließ man sich auf Disney als Geldgeber ein. Und die Micky-Maus-Brutstätte hatte kein Interesse daran, nur zu zahlen: Das Studio hatte durch Mega-Hits wie „Arielle, die Meerjungfrau“, „Die Schöne und das Biest“ und „Aladdin“ eine Renaissance erlebt. So mischte sich der Geldgeber in den Prozess ein, das Drehbuch wurde mehrfach komplett umgeschrieben. Bei einer Version geriet die Hauptfigur, eine Cowboy-Aufziehpuppe namens Woody, gar zu einem tyrannischen Kinderzimmer-Diktator. Ein unverfilmbares Desaster. Nur zwei Wochen blieben Regisseur John Lasseter und seinem Team von da an, um das Projekt zu retten.
Von all dem ist in „Toy Story“ nichts zu sehen, im Gegenteil: Der Film, an dem unter anderem Joss Whedon mitschrieb, ist eine Offenbarung. Er muss sogar als Wunder bezeichnet werden! Die Vermutung lag immerhin nahe, der erste vollständig computeranimierte Film würde sich hauptsächlich auf sein komplexes Gimmick fokussieren, eine Technikdemonstration werden. Weit gefehlt: „Toy Story“ begeistert und fasziniert durch ein ausgeklügeltes, intelligentes Drehbuch und bietet eine emotionale Achterbahnfahrt für Jung und Alt. Die Kreativität des Plots und der Welt, in die er spielt, lässt sich nur bewundern: Immer, wenn der kleine Andy nicht in seinem Kinderzimmer ist, erwachen alle seine Spielzeuge zum Leben. Sie leben in ihrer eigenen Hierarchie. Andys Lieblingsspielzeug Woody ist ein Anführer für seine Mitstreiter. Große Augen machen alle, als Andy zu seinem Geburtstag ein neues Spielzeug bekommt, den High-Tech-Astronauten Buzz Lightyear, der nach und nach Woody aus Andys Herz verdrängt.
Der Blick in den Mikrokosmos von Andys Zimmer alleine zeigt mühelos, dass die kreativen Köpfe von Pixar in ihrer eigenen Liga spielen: Die Figurenzeichnung ist in wenigen Minuten, teils Sekunden, auf den Punkt, entstammen die Charakterzüge doch den jeweiligen Eigenarten des Spielzeugs: Dinosaurier Rex zum Beispiel ist ein billiges Plastikspielzeug, sein Schwanz ist nur dürftig grün besprüht. Kein Wunder also, dass diese Figur, die eigentlich ein mächtiges Raubtier darstellt, starke Minderwertigkeitskomplexe hat. Eine andere Figur, Mr. Potato Head, ist ständig genervt – und wer wäre das nicht, würde ihm auch bei jeder Gelegenheit das Gesicht abfallen? Das Kernstück der Erzählung sind aber Woody und Buzz. Ihr Konflikt ist tatsächlich historisch belegt: In den 1950ern, als das Western-Genre einen Kassenknüller nach dem nächsten erzeugte, gab es einen Boom an Cowboy-Figuren. Durch die aufkommende Weltraumeroberung im Zuge des Sputnik-Programms wurden die Cowboys von den Astronauten verdrängt – so wie Woody von Buzz.
Aber es ist noch etwas komplizierter: Buzz weiß gar nicht, dass er ein Spielzeug ist, sondern glaubt sich als echter Space Ranger. Die Lampe in seinem Arm hält er für einen Laserstrahl. Seine kaputte Verpackung, sein „Raumschiff“, gibt er glatt in Reparatur. Woody versucht sich als Stimme der Vernunft, vergeblich: Buzz lebt in einer Illusion. Schon hier zeigt sich, wie komplex die Handlung aufgebaut ist. Beide Hauptfiguren müssen eine schwierige, tiefsinnige Wandlung durchmachen. Woody muss seinen Neid überwinden und akzeptieren, dass er die Liebe von Andy nicht für sich allein beanspruchen darf. Buzz hingegen steht irgendwann unweigerlich vor der Erkenntnis, in einer Traumwelt zu leben. Es ist eine großartige Szene, als er spät im Film auf einen Fernseher starrt, auf dem ein Werbespot für eine Buzz-Lightyear-Actionfigur sieht und in seinen Augen sichtbar etwas zerbricht. Ein Spielzeug verlässt Platons Höhle.
Vordererst war „Toy Story“ eine technische Revolution, ein Meilenstein der Filmgeschichte. Doch gerade solche können schnell veralten: An beeindruckenden Spezialeffekten nagt der Zahn der Zeit am stärksten. Die Figuren jedoch sehen heute immer noch überzeugend aus – und wurden u.a. auch deshalb gewählt, weil sie allesamt aus Plastik sind, somit leichter zu animieren waren. Allerdings katapultierte Pixar in späteren Filmen die Möglichkeiten des Mediums in neue Höhen, die ihren Erstling längst überschatten. Und doch hat „Toy Story“ seine Stellung als Meisterwerk des Kinos nie eingebüßt. Weil das, was da vor den damals noch minimalistisch-animierten Hintergründen umgesetzt wurde, ein Musterbeispiel für großartiges, einfallsreiches Filmemachen darstellt. In nur 81 Minuten erzählt Lasseter eine starke und abwechslungsreiche Geschichte, deren Ausgangspunkt für einen Kinderfilm gewagt ist: Aus Eifersucht schubst Woody den verhassten Buzz (wenn auch etwas unfreiwillig) aus dem Fenster und wird für diesen versuchten Mord von den anderen Spielzeugen hinterhergeworfen. Von nun an muss das ungleiche Duo mehrere Strapazen und Actionszenen überstehen, um den Weg nach Hause zu finden und sich zusammenzuraufen.
Die Kompromisslosigkeit, mit der „Toy Story“ ein ganzes Genre umkrempelte, ist bemerkenswert. Bei all den Risiken, die Pixar mit der kritisch beäugten Computeranimationstechnik einging, ist es umso erstaunlicher, wie mutig auch die Geschichte des Films ist. Nicht genug, dass die entscheidende Tat des Films Hauptfigur Woody potenziell zum Unsympathen werden lässt, ist „Toy Story“ auch ein radikaler Bruch mit der klassischen Disney-Formel: Der Film ist kein Märchen, hat nur ganz am Rande Ansätze einer Liebesgeschichte, ist nicht einmal ein Musical. Stattdessen erzählt Lasseter seinen Geniestreich als charakterzentriertes Buddy-Movie in der Tradition von „Lethal Weapon“, als postmodernen Actionfilm, dessen großes, perfekt inszeniertes Crescendo (eine wilde Verfolgungsjagd aus dem Lehrbuch) so nur durch die berauschenden virtuellen Kamerafahrten möglich wurde. Und statt Muscialeinlagen rotzt in mehreren funkigen Blues-Songs aus dem Off die Stimme von Soundtrack-Komponist Randy Newman durch die Szenerie – nicht mehr und nicht weniger als ein brillanter Einfall.
Es ist wenig überraschend, dass „Toy Story“ auf lange Sicht das Ende des Zeichentrickfilms einläutete. Woody und Buzz sind dermaßen fantastisch charakterisiert, wohlüberlegt geschrieben und wirken dank ihrer dreidimensionalen Optik umso authentischer, sodass sie allein Grund genug waren, in die bis dato noch in den Kinderschuhen steckende Technik zu investieren. Wenige Jahre später war der Hype bereits so weit, dass bei den Oscars eine eigene Kategorie für den Besten Animationsfilm eingeführt wurde. Dass Woody und Buzz auf der Leinwand mehr Emotionen wecken als mancher Hollywood-Star, mag daran liegen, weil sie von welchen gesprochen werden. Ursprünglich waren Paul Newman und Jim Carrey angedacht, am Ende entschied man sich für die Paarung aus Oscar-Preisträger Tom Hanks für Woody und Sitcom-Ikone Tim Allen für Buzz. Beide transportieren durch ihre Stimmen eine mannigfaltige Palette an Gefühlen und füllen die Figuren mit Leben. Sie sind definitiv kein „Spielzeug“, sondern echte Helden.
„Toy Story“ ist alles, was Kino sein soll: Aufregend, mutig, witzig, intelligent, unterhaltsam und tief bewegend. Die Geburtsstunde der Innovationsschmiede Pixar war ein Triumph in mehrfacher Hinsicht. Sie lancierte zwei neue Ikonen in Millionen von Kinderzimmern, eroberte vielfältige Möglichkeiten der visuellen Darstellungsform und bewies eindrucksvoll, wie gelebter Enthusiasmus große Kunst schaffen kann. Und an noch etwas erinnert der Film: Wie wertvoll es ist, auch als Erwachsener das Spielen nicht zu verlernen. In der Fantasie gibt es schließlich wie im Kino keine Grenzen. Oder – wie Buzz Lightyear zu sagen pflegt – dort geht es „bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter“.
Ist das Leben nicht zum Kotzen schön?
Asphalt-Cowboy
„Jeder redet auf mich ein. Ich höre kein Wort von dem, was sie sagen. Nur die Echos meiner Gedanken.“ – Manches Musikstück kommt in einem Film so prägend, so unglaublich passend zum Einsatz, dass es von nun an für immer mit dem Werk verbunden ist. So geschehen 1969, als die Zuschauer im dunklen Kinosaal der Stimme von Harry Nilsson lauschten, wie er mit der Folk-Ballade „Everybody’s Talkin“ das Drama „Asphalt-Cowboy“ eröffnet. Das Lied handelt vom Wunsch des Sängers, sich aus der Härte der Stadt zurückzuziehen. Der Film dazu eröffnet entgegengesetzt: Da steigt ein junger Bilderbuch-Texaner, mit Cowboy-Hut, braunen Stiefeln und Fransen an jedem Kleidungsstück, in einen Bus, lässt sein Leben als Tellerwäscher hinter sich, fährt in die Metropole, nach New York City. Er träumt den Amerikanischen Traum, hat das große Geld im Sinn. Wie er, dieser „Asphalt-Cowboy“ namens Joe Buck, sein Ziel erreichen will, weiß er genau: Er plant, ein Gigolo zu werden. Die vornehmen Großstadt-Damen träumen schließlich geradezu von einem Kerl wie ihm – oder?
Natürlich sieht die Realität anders aus. Mit seinen vermeintlich flotten Sprüchen kommt Joe bei den resoluten Damen des Big Apples nicht weit. Als er das erste Mal mit einer älteren Dame im Bett landet, stellt sich diese im Nachhinein selbst als Edel-Prostituierte heraus – und statt zu kassieren, muss Joe für den gemeinsamen Bettsport blechen. Hoffnung schöpft er zum ersten Mal, als er in einer Bar den intelligenten, aber kranken Straßengauner Rizzo trifft. Wenig überraschend fällt der naive Südstaatler zuerst auf den Betrüger rein, lässt sich um 20 Dollar abzocken. Doch als er ihm ein zweites Mal begegnet, helfen sie sich gegenseitig. Rizzo sucht jemanden, mit dem er ein paar müde Mark verdienen und sich ein Busticket ins sonnige Florida leisten kann. Joe darf solange bei ihm unterkommen: In einer erbärmlichen, verfallenen Wohnung eines abrissfälligen Gebäudes.
Zwei Außenseiter also, zwei Loser, zwei Antihelden, die nichts haben, außer ihrer Zweckgemeinschaft, die sie selbst vielleicht für Freundschaft halten. Joe Buck und Enrico Salvatore Rizzo hängen beide ihrerseits am Amerikanischen Traum, leben aber seine hässliche Kehrseite. Aus dem Wasserhahn in ihrer Unterkunft ragt ein großer Eiszapfen, Rizzo hustet regelmäßig hörbar um sein Leben, hinkt mit einem Bein stark nach. Auch Joe kann keinen Stich landen: Mit dem Casanova-Dasein läuft es so miserabel, dass er sich vor lauter finanzieller Verzweiflung heimlich in dunklen Kinosälen trotz seiner Heterosexualität auf Fellatio von männlichen Freiern einlassen muss. Eine gewagte Szene: Als der britische Regisseur John Schlesinger die Romanvorlage von „Asphalt-Cowboy“ verfilmen wollte, waren Inhalte wie dieser der Grund, weshalb man ihm versicherte, kein US-Studio würde sein Projekt finanzieren.
Zum Glück hörte er nicht auf diese Prophezeiungen, sah sich durch sie eher angestachelt: Mit „Asphalt-Cowboy“ gelang ihm sein Meisterstück, sein filmisches Aushängeschild. Seine freie Adaption der Buchvorlage von James Leo Herlihy passte in den Zeitgeist des Jahres 1969, als die Vereinigten Staaten zwischen Depression und Hybris pendelten: Richard Nixon übernahm damals die Macht im Weißen Haus, die Hippies feierten in Woodstock, Kriegsverbrechen in Vietnam kamen ans Licht und der Wettlauf ins All fand seinen Höhepunkt. Während Neil Armstrong in der Schwerelosigkeit einen kleinen Schritt für einen Mensch, aber einen großen Sprung für die Menschheit auf den Mond setzte, humpelte sich Dustin Hoffman als Rizzo, abfällig „Ratso“ genannt, auf dem schwer gepflasterten Boden des New Yorker Großstadtdschungels zum Helden einer Generation von Kinogängern.
Wie er und der damalige Leinwand-Frischling Jon Voight als Joe Buck das Leben mit all seiner Härte nehmen und in ihrer Misere den Wert des jeweils anderen erkennen, ist von beiden Schauspielern so anrührend, offenherzig und facettenreich gespielt, dass sie in dieser Duo-Konstellationen zu Kino-Ikonen wurden. Voight ist mit seinen runden Augen, seinen verwegenen blonden Haaren und der optimistischen Ausstrahlung die Idealbesetzung für Buck, doch Hoffman muss als Naturgewalt bezeichnet werden: Seine Darbietung wird noch ein halbes Jahrhundert später regelmäßig genannt, geht es um die allergrößten Schauspiel-Leistungen – zurecht! Mit intensiver Authentizität reifte sein Rizzo zum Archetyp einer Kinoepoche: Die ausklingenden 1960er waren der Beginn des New Hollywood, eine Zeit, in der das traditionelle Studiosystem durch gesellschaftskritische, unkonventionelle Filme revolutioniert wurden. Schon zwei Jahre zuvor war Hoffman in „Die Reifeprüfung“, einem Vorreiter dieser Ära, der Star, in „Asphalt-Cowboy“ wurde er ihr Gesicht.
Der Mut, mit dem John Schlesinger diesen Film ins Kino brachte, beeindruckt. Bei der Veröffentlichung erhielt sein Werk das frisch eingeführte X-Rating: Die höchste Altersfreigabe, eigentlich ausschließlich für Pornofilme reserviert. Auf das Publikum wirkte der hässliche Blick auf die Lebenswirklichkeit in US-Großstädten unerhört. Die Sprache des Drehbuchautoren Waldo Salt war vulgär, voller Profanität. Sie entstammte dem, was er tagtäglich auf den Straßen von New York hörte. Wohl auch deshalb, weil der Film direkt der Realität entnommen war, sahen seine Macher ihn weniger kontrovers. Kameramann Adam Holender konnte, als die ersten Kritiken erschienen, nicht verstehen, weshalb diese menschliche Geschichte vom Feuilleton zum großen Tabubruch erklärt wurde. Michael Childers, der Lebensgefährte von Schlesinger, erkannte in den Reaktionen sogar Heuchelei – schließlich zeige der Film nichts, was 1969 nicht zum New Yorker Alltag auf der 42. Straße gehörte.
Zum Meisterwerk wird „Asphalt-Cowboy“ durch seine dichte Atmosphäre. Während der urbane Lebensstil als knallharter, schonungsloser Existenzkampf zugespitzt wird, ist in den ruhigen Szenen zwischen Voight und Hoffman ein sanfter Humanismus zu spüren. Mit großer Sensibilität erzählt Schlesinger von seinen tragischen Figuren, und so viel Sympathie er mit ihnen hat, so viele hässliche Seiten gesteht er ihnen auch zu. Genauso gestaltet sich sein Bildaufbau: Die Kamera zeigt beeindruckende Panoramen voller Dreck und Schmutz, blickt aber nicht abfällig auf die unschönen Seiten des Lebens. Stattdessen bekommt der Moloch einen nahezu märchenhaften Charakter. Sollten später Regisseure wie Woody Allen oder Martin Scorsese für ihre New-York-Filme gelobt werden, so ist wohl „Asphalt-Cowboy“ die größte filmische Liebeserklärung an die Stadt, die niemals schläft.
Einer konventionellen Dramaturgie verweigert sich „Asphalt-Cowboy“ mit letzter Konsequenz. Die Odyssee beider Hauptfiguren ist episodisch angelegt, und die Kamera verweilt gerne ein Minütchen länger im Augenblick. Viele Szenen wurden ohne angeheuerte Statisten direkt auf offener Straße gedreht, legendär landete so ein Moment im Film, in dem ein Taxifahrer beinahe Dustin Hoffman überfahren hätte. Mit diesem Willen zur Wiedergabe der Realität dokumentiert die Milieustudie die ganze Bandbreite der New Yorker Kultur: Coca-Cola-Trinker sind omnipräsent, ein kleines Mädchen liest einen Wonder-Woman-Comic, Pazifisten demonstrieren nahe des Time Squares, derweil geraten Joe und Rizzo auf eine Party im Stil des abstrakten Künstlers Andy Warhol, Drogentrip inklusive. An diesen Stellen wird die Montage wild, desorientierend, nervenkitzelnd. Sie ergibt sich dem Rausch, der hedonistischen Illusion.
Im selben Stil wird mehrfach die Vergangenheit von Joe angedeutet, in bunten, verwirrend-albträumerischen Rückblenden scheint er Opfer einer Massenvergewaltigung zu werden. Ansätze einer freudianischen psychoanalytischen Deutung finden sich viele, wer jedoch genau Bescheid wissen will, muss in den Roman schauen. Die Tagträumereien von Rizzo sind hingegen leicht zu verstehen: Er sieht sich gemeinsam mit Joe in einem Luxushotel in Florida, umringt von schönen Damen. Komponist John Barry lässt eine flehende Mundharmonika spielen, trägt damit immens zu der gefühlten Hoffnung bei, beiden Figuren sei ein Ausweg aus ihrem Elend vorherbestimmt. Letztlich endet „Asphalt-Cowboy“ wie er begann mit einer schicksalshaften Busfahrt. Joe und Rizzo machen sich auf den Weg nach Florida, auf den Weg ins Paradies – ein Ort, von dem aus es bekanntlich keine Wiederkehr gibt.
„Asphalt-Cowboy“ ist ein Kultklassiker, ein Kind seiner Zeit, und doch zeitlos. Meisterhaft versteht Schlesinger es, sich nie dem Zynismus hinzugeben, sondern eine zutiefst bittere, aber zugleich zärtliche Loserballade zu erzählen, in welcher der Amerikanische Traum zur Amerikanischen Tragödie wird. 1969 gab es hierfür drei Oscars – u.a. in der Hauptkategorie als "Bester Film". Die Auszeichnung bestätigte, dass die Ära des New Hollywood sich nicht mehr aufhalten ließ. Jon Voight und Dustin Hoffman, beide als "Bester Hauptdarsteller" nominiert, mussten sich jedoch Filmlegende John Wayne geschlagen geben, der für den altmodischen Western „Der Marshal“ seinen einzigen Goldjungen gewann. Erst Jahre später sollten beide in der Kategorie triumphieren. Ironischerweise wird John Wayne selbst in „Asphalt-Cowboy“ erwähnt: Joe nutzt ihn zur Verteidigung, als Rizzo den Cowboy-Kleidungsstil als „schwul“ bezeichnet. Dabei hatte Rizzo nur erkannt, was die Oscar-Jury noch nicht einsehen wollte: Die Zeit der Cowboys war vorbei, das Zeitalter der Asphalt-Cowboys eingeläutet.
„Jeder redet auf mich ein. Ich höre kein Wort von dem, was sie sagen. Nur die Echos meiner Gedanken.“ – Manches Musikstück kommt in einem Film so prägend, so unglaublich passend zum Einsatz, dass es von nun an für immer mit dem Werk verbunden ist. So geschehen 1969, als die Zuschauer im dunklen Kinosaal der Stimme von Harry Nilsson lauschten, wie er mit der Folk-Ballade „Everybody’s Talkin“ das Drama „Asphalt-Cowboy“ eröffnet. Das Lied handelt vom Wunsch des Sängers, sich aus der Härte der Stadt zurückzuziehen. Der Film dazu eröffnet entgegengesetzt: Da steigt ein junger Bilderbuch-Texaner, mit Cowboy-Hut, braunen Stiefeln und Fransen an jedem Kleidungsstück, in einen Bus, lässt sein Leben als Tellerwäscher hinter sich, fährt in die Metropole, nach New York City. Er träumt den Amerikanischen Traum, hat das große Geld im Sinn. Wie er, dieser „Asphalt-Cowboy“ namens Joe Buck, sein Ziel erreichen will, weiß er genau: Er plant, ein Gigolo zu werden. Die vornehmen Großstadt-Damen träumen schließlich geradezu von einem Kerl wie ihm – oder?
Natürlich sieht die Realität anders aus. Mit seinen vermeintlich flotten Sprüchen kommt Joe bei den resoluten Damen des Big Apples nicht weit. Als er das erste Mal mit einer älteren Dame im Bett landet, stellt sich diese im Nachhinein selbst als Edel-Prostituierte heraus – und statt zu kassieren, muss Joe für den gemeinsamen Bettsport blechen. Hoffnung schöpft er zum ersten Mal, als er in einer Bar den intelligenten, aber kranken Straßengauner Rizzo trifft. Wenig überraschend fällt der naive Südstaatler zuerst auf den Betrüger rein, lässt sich um 20 Dollar abzocken. Doch als er ihm ein zweites Mal begegnet, helfen sie sich gegenseitig. Rizzo sucht jemanden, mit dem er ein paar müde Mark verdienen und sich ein Busticket ins sonnige Florida leisten kann. Joe darf solange bei ihm unterkommen: In einer erbärmlichen, verfallenen Wohnung eines abrissfälligen Gebäudes.
Zwei Außenseiter also, zwei Loser, zwei Antihelden, die nichts haben, außer ihrer Zweckgemeinschaft, die sie selbst vielleicht für Freundschaft halten. Joe Buck und Enrico Salvatore Rizzo hängen beide ihrerseits am Amerikanischen Traum, leben aber seine hässliche Kehrseite. Aus dem Wasserhahn in ihrer Unterkunft ragt ein großer Eiszapfen, Rizzo hustet regelmäßig hörbar um sein Leben, hinkt mit einem Bein stark nach. Auch Joe kann keinen Stich landen: Mit dem Casanova-Dasein läuft es so miserabel, dass er sich vor lauter finanzieller Verzweiflung heimlich in dunklen Kinosälen trotz seiner Heterosexualität auf Fellatio von männlichen Freiern einlassen muss. Eine gewagte Szene: Als der britische Regisseur John Schlesinger die Romanvorlage von „Asphalt-Cowboy“ verfilmen wollte, waren Inhalte wie dieser der Grund, weshalb man ihm versicherte, kein US-Studio würde sein Projekt finanzieren.
Zum Glück hörte er nicht auf diese Prophezeiungen, sah sich durch sie eher angestachelt: Mit „Asphalt-Cowboy“ gelang ihm sein Meisterstück, sein filmisches Aushängeschild. Seine freie Adaption der Buchvorlage von James Leo Herlihy passte in den Zeitgeist des Jahres 1969, als die Vereinigten Staaten zwischen Depression und Hybris pendelten: Richard Nixon übernahm damals die Macht im Weißen Haus, die Hippies feierten in Woodstock, Kriegsverbrechen in Vietnam kamen ans Licht und der Wettlauf ins All fand seinen Höhepunkt. Während Neil Armstrong in der Schwerelosigkeit einen kleinen Schritt für einen Mensch, aber einen großen Sprung für die Menschheit auf den Mond setzte, humpelte sich Dustin Hoffman als Rizzo, abfällig „Ratso“ genannt, auf dem schwer gepflasterten Boden des New Yorker Großstadtdschungels zum Helden einer Generation von Kinogängern.
Wie er und der damalige Leinwand-Frischling Jon Voight als Joe Buck das Leben mit all seiner Härte nehmen und in ihrer Misere den Wert des jeweils anderen erkennen, ist von beiden Schauspielern so anrührend, offenherzig und facettenreich gespielt, dass sie in dieser Duo-Konstellationen zu Kino-Ikonen wurden. Voight ist mit seinen runden Augen, seinen verwegenen blonden Haaren und der optimistischen Ausstrahlung die Idealbesetzung für Buck, doch Hoffman muss als Naturgewalt bezeichnet werden: Seine Darbietung wird noch ein halbes Jahrhundert später regelmäßig genannt, geht es um die allergrößten Schauspiel-Leistungen – zurecht! Mit intensiver Authentizität reifte sein Rizzo zum Archetyp einer Kinoepoche: Die ausklingenden 1960er waren der Beginn des New Hollywood, eine Zeit, in der das traditionelle Studiosystem durch gesellschaftskritische, unkonventionelle Filme revolutioniert wurden. Schon zwei Jahre zuvor war Hoffman in „Die Reifeprüfung“, einem Vorreiter dieser Ära, der Star, in „Asphalt-Cowboy“ wurde er ihr Gesicht.
Der Mut, mit dem John Schlesinger diesen Film ins Kino brachte, beeindruckt. Bei der Veröffentlichung erhielt sein Werk das frisch eingeführte X-Rating: Die höchste Altersfreigabe, eigentlich ausschließlich für Pornofilme reserviert. Auf das Publikum wirkte der hässliche Blick auf die Lebenswirklichkeit in US-Großstädten unerhört. Die Sprache des Drehbuchautoren Waldo Salt war vulgär, voller Profanität. Sie entstammte dem, was er tagtäglich auf den Straßen von New York hörte. Wohl auch deshalb, weil der Film direkt der Realität entnommen war, sahen seine Macher ihn weniger kontrovers. Kameramann Adam Holender konnte, als die ersten Kritiken erschienen, nicht verstehen, weshalb diese menschliche Geschichte vom Feuilleton zum großen Tabubruch erklärt wurde. Michael Childers, der Lebensgefährte von Schlesinger, erkannte in den Reaktionen sogar Heuchelei – schließlich zeige der Film nichts, was 1969 nicht zum New Yorker Alltag auf der 42. Straße gehörte.
Zum Meisterwerk wird „Asphalt-Cowboy“ durch seine dichte Atmosphäre. Während der urbane Lebensstil als knallharter, schonungsloser Existenzkampf zugespitzt wird, ist in den ruhigen Szenen zwischen Voight und Hoffman ein sanfter Humanismus zu spüren. Mit großer Sensibilität erzählt Schlesinger von seinen tragischen Figuren, und so viel Sympathie er mit ihnen hat, so viele hässliche Seiten gesteht er ihnen auch zu. Genauso gestaltet sich sein Bildaufbau: Die Kamera zeigt beeindruckende Panoramen voller Dreck und Schmutz, blickt aber nicht abfällig auf die unschönen Seiten des Lebens. Stattdessen bekommt der Moloch einen nahezu märchenhaften Charakter. Sollten später Regisseure wie Woody Allen oder Martin Scorsese für ihre New-York-Filme gelobt werden, so ist wohl „Asphalt-Cowboy“ die größte filmische Liebeserklärung an die Stadt, die niemals schläft.
Einer konventionellen Dramaturgie verweigert sich „Asphalt-Cowboy“ mit letzter Konsequenz. Die Odyssee beider Hauptfiguren ist episodisch angelegt, und die Kamera verweilt gerne ein Minütchen länger im Augenblick. Viele Szenen wurden ohne angeheuerte Statisten direkt auf offener Straße gedreht, legendär landete so ein Moment im Film, in dem ein Taxifahrer beinahe Dustin Hoffman überfahren hätte. Mit diesem Willen zur Wiedergabe der Realität dokumentiert die Milieustudie die ganze Bandbreite der New Yorker Kultur: Coca-Cola-Trinker sind omnipräsent, ein kleines Mädchen liest einen Wonder-Woman-Comic, Pazifisten demonstrieren nahe des Time Squares, derweil geraten Joe und Rizzo auf eine Party im Stil des abstrakten Künstlers Andy Warhol, Drogentrip inklusive. An diesen Stellen wird die Montage wild, desorientierend, nervenkitzelnd. Sie ergibt sich dem Rausch, der hedonistischen Illusion.
Im selben Stil wird mehrfach die Vergangenheit von Joe angedeutet, in bunten, verwirrend-albträumerischen Rückblenden scheint er Opfer einer Massenvergewaltigung zu werden. Ansätze einer freudianischen psychoanalytischen Deutung finden sich viele, wer jedoch genau Bescheid wissen will, muss in den Roman schauen. Die Tagträumereien von Rizzo sind hingegen leicht zu verstehen: Er sieht sich gemeinsam mit Joe in einem Luxushotel in Florida, umringt von schönen Damen. Komponist John Barry lässt eine flehende Mundharmonika spielen, trägt damit immens zu der gefühlten Hoffnung bei, beiden Figuren sei ein Ausweg aus ihrem Elend vorherbestimmt. Letztlich endet „Asphalt-Cowboy“ wie er begann mit einer schicksalshaften Busfahrt. Joe und Rizzo machen sich auf den Weg nach Florida, auf den Weg ins Paradies – ein Ort, von dem aus es bekanntlich keine Wiederkehr gibt.
„Asphalt-Cowboy“ ist ein Kultklassiker, ein Kind seiner Zeit, und doch zeitlos. Meisterhaft versteht Schlesinger es, sich nie dem Zynismus hinzugeben, sondern eine zutiefst bittere, aber zugleich zärtliche Loserballade zu erzählen, in welcher der Amerikanische Traum zur Amerikanischen Tragödie wird. 1969 gab es hierfür drei Oscars – u.a. in der Hauptkategorie als "Bester Film". Die Auszeichnung bestätigte, dass die Ära des New Hollywood sich nicht mehr aufhalten ließ. Jon Voight und Dustin Hoffman, beide als "Bester Hauptdarsteller" nominiert, mussten sich jedoch Filmlegende John Wayne geschlagen geben, der für den altmodischen Western „Der Marshal“ seinen einzigen Goldjungen gewann. Erst Jahre später sollten beide in der Kategorie triumphieren. Ironischerweise wird John Wayne selbst in „Asphalt-Cowboy“ erwähnt: Joe nutzt ihn zur Verteidigung, als Rizzo den Cowboy-Kleidungsstil als „schwul“ bezeichnet. Dabei hatte Rizzo nur erkannt, was die Oscar-Jury noch nicht einsehen wollte: Die Zeit der Cowboys war vorbei, das Zeitalter der Asphalt-Cowboys eingeläutet.
Und der Haifisch, der hat Szene …
Der weiße Hai
Liebhaber des Trash-Kinos, also Fans von Filmen, die eigentlich keine Fans verdienen und durch ihre mehr oder weniger bewusst stümperhafte Umsetzung für Unterhaltung und Fremdscham sorgen, kommen an einem Ungetüm der Meere nicht vorbei: dem Hai. Mal kommt er als Wirbelsturm angerauscht, wie in „Sharknado“, mal als mutiertes Mischwesen à la „Sharktopus“ und auch „Sandsharks“, „Sky Sharks“, ein „Supershark“ oder ein urzeitlicher „Dinoshark“ trieben bereits ihr Unwesen. Von schon im Titel urkomischen Ideen wie „Hai-Alarm am Müggelsee“ oder „Bait – Haie im Supermarkt“ ganz zu schweigen. Ist ein Hai dabei, so scheint es, können Trashfilmproduzenten ihrem Publikum alles andrehen. Je hanebüchener, desto besser. Die Ursprünge der Hai-Manie liegen im Hollywood-Kino der 1970er – bei einem Film, der sich qualitativ so gar nicht in diese unrühmliche Reihe einfügt, von einem Regisseur, der wie kaum ein anderer Filmemacher Jahrzehnte lang das Populär-Kino mitgestaltete: „Der weiße Hai“, das erste große Meisterwerk von Steven Spielberg.
Der wollte den Film nach einer Romanvorlage von Peter Benchley eigentlich nicht übernehmen. Er befürchtete, die Produzenten Richard Zanuck und David Brown würden ihm einen B-Film andrehen, ein Werk zweiter Klasse. Spielberg aber fühlte sich der Kunst verpflichtet, schielte auf die anspruchsvollen und komplexen Filme seiner Kollegen Martin Scorsese und William Friedkin. In der Geschichte um einen Hai, der vor der Küste eines kleinen Urlaubsortes mehrere Menschen frisst, erkannte er kein großes Potenzial. Letztlich willigte er dennoch ein, nicht aber ohne konkrete Vorgaben: Er wollte die Hauptdarsteller aussuchen, setzte Roy Scheider für die Hauptrolle des Polizeichefs Martin Brody gegen Produktionsstätte Universal durch, die den Kassenmagneten Charles Bronson favorisierte. Er verlangte, den Film auf offener See drehen zu dürfen, damals eine Pionierleistung. Und das Drehbuch ließ er stark überarbeiten – teils noch während des Drehs, zum Unmut des gesamten Filmteams.
Der Erfolg gibt ihm recht: Die ikonographische Wucht der meisterhaften Symbiose aus Tierhorror und Abenteuerfilm ist auch fast ein halbes Jahrhundert später noch greifbar, schon bei der brillanten Eröffnungsszene. Eine junge Frau wagt sich bei Morgengrauen ins Wasser. Plötzlich zerrt etwas an ihr, sie schreit panisch auf, ihr Oberkörper tänzelt ruckartig den Horizont entlang, selbst das Festklammern an einer Boje hilft nicht. Als sie untergeht, ist nur noch das leise Rauschen des Meeres zu vernehmen. Eine unverschämt effektive Einführung für das Monster, von dem deutsche Zuschauer schon wissen, dass es „Der weiße Hai“ ist, während im Originaltitel nur „Jaws“, das „Maul“ erwähnt wird. Effektiv ist sie vor allem deshalb, weil sie es nicht zeigt: das Maul, das Monster, den weißen Hai.
Die Maßnahme, diesen Hai die gesamten zwei Stunden nur selten zu zeigen, seine Präsenz nur anzudeuten, war aus der Not geboren. Der mechatronische Hai, vom Filmteam liebevoll „Bruce“ genannt, sah leider viel zu künstlich aus. Also blieb nur die Kompensation: Auf famose Art und Weise verschleierten die Filmemacher die visuelle Abwesenheit des Monsters. Spielberg filmte Badegäste mit Unterwasserkameras aus der Subjektiven des Hais, machte den Zuschauer zum Mitverschwörer der unaufhaltsamen Fressmaschine. Gelbe Fässer, mit denen der Hai bei der Jagd markiert wird, flitzen über die Wasseroberfläche. Ein abgebrochener Pier dreht sich wie von Geisterhand auf dem Wasser um, jagt einem Schwimmer hinterher. So wurde der Hai ein grausiges Mysterium, seine genaue Größe kann lange bloß erraten werden. Erst im spektakulären Finale hat „Bruce“ doch noch seinen großen Auftritt.
Beispiellos für die verängstigende Spannung war insbesondere die Filmmusik von John Williams. Wann immer das prägnante musikalische Leitthema aus nur zwei Noten ertönt, gibt es Auskunft darüber, dass der Hai anwesend ist – und in der Regel bald jemand als Fischfutter enden wird. Angelehnt war diese Methodik an das Zeichentrickfilm-Meisterwerk „Bambi“. Aus der Sicht eines Hirsches erzählt, werden auch hier die feindlichen Menschen nie gezeigt, sondern nur über eine bedrohliche Melodie von Frank Churchill vertreten – eine Melodie, die wohl nicht ganz zufällig stark der ähnelt, die Williams für den weißen Hai ersann, und für die er einen Oscar erhielt.
Er ist der perfekte Komponist für den Film, weil er seine beiden Genres kongenial bedienen kann: Nervenzerfetzendes Spiel mit Urängsten und großes, unterhaltsames Abenteuerkino. Spielberg meistert diesen gewagten Mix durch eine räumliche Zweiteilung. Die erste Hälfte konzentriert sich auf die Angriffe des Haies auf Badegäste der Küstenstadt Amity, übt zudem starke Kapitalismuskritik: Weil das lukrative Wochenende rund um den Unabhängigkeitstag am 4. Juli ansteht, weigert der Bürgermeister von Amity sich, die Strände zu schließen. Es müssen erst weitere Menschen ihr Leben verlieren, darunter ein Kind, ein – gerade in seiner expliziten Brutalität – seltener Tabubruch im Massenkino. Virtuos spielt Spielberg auf der Klaviatur der Paranoia, als er und sein Kameramann Bill Butler zeigen, wie Brody am Strand auf das Meer hinausstarrt, nach einem Anzeichen seines tierischen Feindes lauert.
Als sogar sein Sohn beinahe in den Schlund der Kreatur gerät, wechselt sich das Verhältnis: Der Gejagte wird zum Jäger. Den Film verschlägt es nun auf die ‚Orca‘, das kleine Schiff des kauzigen Seebären Quint, der Brody und den jungen Ozeanographen Hooper aufs Meer hinausfährt. Williams Musik wird leichtfüßig, aufregend, eskapistisch. Spielberg erlaubt seinen Figuren eine unbeschwerte Lockerheit. Beim gemeinsamen Trinken prahlen Quint und Hooper mit ihren Narben, beide durch Haie verursacht. Brody fasst sich kurz an eine nie näher erklärte Schussverletzung, behält sie jedoch für sich. Er lässt sich auf die Machospiele nicht ein, als könne er das Unheil ahnen, das ihnen bevorsteht.
Aus dem faszinierenden Drei-Mann-Mikrokosmos schöpft „Der weiße Hai“ sein volles Potenzial, nicht zuletzt dank der phänomenalen Besetzung: Als mürrischer Kriegsheld Quint repräsentiert Robert Shaw eine archaische Vorstellung von harter Männlichkeit. Dem gegenüber steht ein vorzüglich aufspielender Richard Dreyfuss, dessen junger, wissenschaftlich begabter Hooper zum Vertreter der damals neuen Linken wird. Roy Scheider wiederum steht zwischen den Polen, sein Chief Brody ist wasserscheu, aber pflichtbewusst, engagiert, aber zurückhaltend. Sie alle drei sind Autoritätspersonen, Alphamännchen. Der Hai darf durchaus als Manifestation ihrer maskulinen Hybris gelesen werden. Einmal will Hooper etwa den Hai unter Wasser erledigen, klettert zu diesem Zweck in einen Haikäfig – den die Bestie aber ohne große Mühen auseinandernimmt.
Bei Quint hingegen werden latent wahnsinnige Züge erkennbar. Parallelen zu „Moby Dick“ und dem rachsüchtigen Kapitän Ahab sind beabsichtigt, als der ungewaschene Seefahrer offenbart, dass er im Zweiten Weltkrieg auf der USS Indianapolis war, jenem Militärschiff, das die Atombombe nach Japan transportierte. Als es kurz darauf sank, trieben er und seine Mannschaft mehrere Tage im Wasser, ein Großteil von ihnen wurde von Haien zerfetzt. Wie Charaktervisage Robert Shaw diese Geschichte in einem intensiven, verstörenden Monolog präsentiert, ist großes Schauspielkino, wie es selten auf der Leinwand zu sehen ist. Angeblich stand die gesamte Passage so nicht im Drehbuch: Der Regisseur John Milius improvisierte sie für den befreundeten Spielberg am Telefon.
Am Ende werden sowohl der Arbeiterklassen-Patriot Quint als auch Bildungsbürger Hooper in den finalen Minuten aus dem Spiel genommen. Der ehrbare Durchschnittsmann Brody muss sich als Actionheld der Mittelschicht dem Hai alleine stellen. Für manche erklärt das den Erfolg des Films, immerhin wurden so beide damaligen Lager der US-amerikanischen Filmkritik vereint. Intellektuelle Bewunderer des liberalen New-Hollywood-Kinos der 70er konnten ebenso bis zum Ende mitfiebern wie die konservative Generation, die noch dem Männlichkeitsbild der vergangenen Ära der John-Wayne-Western nachtrauerte.
Kein B-Film, und auch kein Trash: „Der weiße Hai“ ging als gewaltiges Zeitgeistphänomen in die Popkultur ein, ist nach wie vor ein cineastischer Genuss. Steven Spielberg schuf einen Meilenstein des Unterhaltungskinos, der so viel Geld einbrachte, dass er den Begriff ‚Blockbuster‘ neudefinierte. Neben den Produktionskosten von neun Millionen US-Dollar gab Universal zwei weitere Millionen für eine Marketingkampagne aus, die – damals ganz modern – das Fernsehen miteinbezog und so neue Maßstäbe setzte. Werbevideos wurden erstellt, Talkshow-Tourneen veranstaltet, zudem verkauften sich T-Shirts, Spielzeuge, Tassen und dutzende weitere Werbeartikel. Die Vermarktung der Nebenprodukte artete so arg aus, dass Universal in Zeitungsannoncen verlautete: „Der weiße Hai – Es ist auch ein Film.“
Schier unglaubliche 470 Millionen US-Dollar spielte der Mega-Hit anno 1975 ein. Nur einer litt unter diesem Erfolg: der Hai. In Folge der Dämonisierung des Tieres durch die insgesamt drei Fortsetzungen und zahlreichen Nachahmer geriet die für den Menschen weitgehend ungefährliche Tiergattung in Verruf, ist mittlerweile vom Aussterben bedroht. Peter Benchley bereute es deshalb ein Leben lang, die Romanvorlage geschrieben zu haben. Bis zu seinem Tod im Jahr 2006 engagierte er sich leidenschaftlich für den Artenschutz.
Liebhaber des Trash-Kinos, also Fans von Filmen, die eigentlich keine Fans verdienen und durch ihre mehr oder weniger bewusst stümperhafte Umsetzung für Unterhaltung und Fremdscham sorgen, kommen an einem Ungetüm der Meere nicht vorbei: dem Hai. Mal kommt er als Wirbelsturm angerauscht, wie in „Sharknado“, mal als mutiertes Mischwesen à la „Sharktopus“ und auch „Sandsharks“, „Sky Sharks“, ein „Supershark“ oder ein urzeitlicher „Dinoshark“ trieben bereits ihr Unwesen. Von schon im Titel urkomischen Ideen wie „Hai-Alarm am Müggelsee“ oder „Bait – Haie im Supermarkt“ ganz zu schweigen. Ist ein Hai dabei, so scheint es, können Trashfilmproduzenten ihrem Publikum alles andrehen. Je hanebüchener, desto besser. Die Ursprünge der Hai-Manie liegen im Hollywood-Kino der 1970er – bei einem Film, der sich qualitativ so gar nicht in diese unrühmliche Reihe einfügt, von einem Regisseur, der wie kaum ein anderer Filmemacher Jahrzehnte lang das Populär-Kino mitgestaltete: „Der weiße Hai“, das erste große Meisterwerk von Steven Spielberg.
Der wollte den Film nach einer Romanvorlage von Peter Benchley eigentlich nicht übernehmen. Er befürchtete, die Produzenten Richard Zanuck und David Brown würden ihm einen B-Film andrehen, ein Werk zweiter Klasse. Spielberg aber fühlte sich der Kunst verpflichtet, schielte auf die anspruchsvollen und komplexen Filme seiner Kollegen Martin Scorsese und William Friedkin. In der Geschichte um einen Hai, der vor der Küste eines kleinen Urlaubsortes mehrere Menschen frisst, erkannte er kein großes Potenzial. Letztlich willigte er dennoch ein, nicht aber ohne konkrete Vorgaben: Er wollte die Hauptdarsteller aussuchen, setzte Roy Scheider für die Hauptrolle des Polizeichefs Martin Brody gegen Produktionsstätte Universal durch, die den Kassenmagneten Charles Bronson favorisierte. Er verlangte, den Film auf offener See drehen zu dürfen, damals eine Pionierleistung. Und das Drehbuch ließ er stark überarbeiten – teils noch während des Drehs, zum Unmut des gesamten Filmteams.
Der Erfolg gibt ihm recht: Die ikonographische Wucht der meisterhaften Symbiose aus Tierhorror und Abenteuerfilm ist auch fast ein halbes Jahrhundert später noch greifbar, schon bei der brillanten Eröffnungsszene. Eine junge Frau wagt sich bei Morgengrauen ins Wasser. Plötzlich zerrt etwas an ihr, sie schreit panisch auf, ihr Oberkörper tänzelt ruckartig den Horizont entlang, selbst das Festklammern an einer Boje hilft nicht. Als sie untergeht, ist nur noch das leise Rauschen des Meeres zu vernehmen. Eine unverschämt effektive Einführung für das Monster, von dem deutsche Zuschauer schon wissen, dass es „Der weiße Hai“ ist, während im Originaltitel nur „Jaws“, das „Maul“ erwähnt wird. Effektiv ist sie vor allem deshalb, weil sie es nicht zeigt: das Maul, das Monster, den weißen Hai.
Die Maßnahme, diesen Hai die gesamten zwei Stunden nur selten zu zeigen, seine Präsenz nur anzudeuten, war aus der Not geboren. Der mechatronische Hai, vom Filmteam liebevoll „Bruce“ genannt, sah leider viel zu künstlich aus. Also blieb nur die Kompensation: Auf famose Art und Weise verschleierten die Filmemacher die visuelle Abwesenheit des Monsters. Spielberg filmte Badegäste mit Unterwasserkameras aus der Subjektiven des Hais, machte den Zuschauer zum Mitverschwörer der unaufhaltsamen Fressmaschine. Gelbe Fässer, mit denen der Hai bei der Jagd markiert wird, flitzen über die Wasseroberfläche. Ein abgebrochener Pier dreht sich wie von Geisterhand auf dem Wasser um, jagt einem Schwimmer hinterher. So wurde der Hai ein grausiges Mysterium, seine genaue Größe kann lange bloß erraten werden. Erst im spektakulären Finale hat „Bruce“ doch noch seinen großen Auftritt.
Beispiellos für die verängstigende Spannung war insbesondere die Filmmusik von John Williams. Wann immer das prägnante musikalische Leitthema aus nur zwei Noten ertönt, gibt es Auskunft darüber, dass der Hai anwesend ist – und in der Regel bald jemand als Fischfutter enden wird. Angelehnt war diese Methodik an das Zeichentrickfilm-Meisterwerk „Bambi“. Aus der Sicht eines Hirsches erzählt, werden auch hier die feindlichen Menschen nie gezeigt, sondern nur über eine bedrohliche Melodie von Frank Churchill vertreten – eine Melodie, die wohl nicht ganz zufällig stark der ähnelt, die Williams für den weißen Hai ersann, und für die er einen Oscar erhielt.
Er ist der perfekte Komponist für den Film, weil er seine beiden Genres kongenial bedienen kann: Nervenzerfetzendes Spiel mit Urängsten und großes, unterhaltsames Abenteuerkino. Spielberg meistert diesen gewagten Mix durch eine räumliche Zweiteilung. Die erste Hälfte konzentriert sich auf die Angriffe des Haies auf Badegäste der Küstenstadt Amity, übt zudem starke Kapitalismuskritik: Weil das lukrative Wochenende rund um den Unabhängigkeitstag am 4. Juli ansteht, weigert der Bürgermeister von Amity sich, die Strände zu schließen. Es müssen erst weitere Menschen ihr Leben verlieren, darunter ein Kind, ein – gerade in seiner expliziten Brutalität – seltener Tabubruch im Massenkino. Virtuos spielt Spielberg auf der Klaviatur der Paranoia, als er und sein Kameramann Bill Butler zeigen, wie Brody am Strand auf das Meer hinausstarrt, nach einem Anzeichen seines tierischen Feindes lauert.
Als sogar sein Sohn beinahe in den Schlund der Kreatur gerät, wechselt sich das Verhältnis: Der Gejagte wird zum Jäger. Den Film verschlägt es nun auf die ‚Orca‘, das kleine Schiff des kauzigen Seebären Quint, der Brody und den jungen Ozeanographen Hooper aufs Meer hinausfährt. Williams Musik wird leichtfüßig, aufregend, eskapistisch. Spielberg erlaubt seinen Figuren eine unbeschwerte Lockerheit. Beim gemeinsamen Trinken prahlen Quint und Hooper mit ihren Narben, beide durch Haie verursacht. Brody fasst sich kurz an eine nie näher erklärte Schussverletzung, behält sie jedoch für sich. Er lässt sich auf die Machospiele nicht ein, als könne er das Unheil ahnen, das ihnen bevorsteht.
Aus dem faszinierenden Drei-Mann-Mikrokosmos schöpft „Der weiße Hai“ sein volles Potenzial, nicht zuletzt dank der phänomenalen Besetzung: Als mürrischer Kriegsheld Quint repräsentiert Robert Shaw eine archaische Vorstellung von harter Männlichkeit. Dem gegenüber steht ein vorzüglich aufspielender Richard Dreyfuss, dessen junger, wissenschaftlich begabter Hooper zum Vertreter der damals neuen Linken wird. Roy Scheider wiederum steht zwischen den Polen, sein Chief Brody ist wasserscheu, aber pflichtbewusst, engagiert, aber zurückhaltend. Sie alle drei sind Autoritätspersonen, Alphamännchen. Der Hai darf durchaus als Manifestation ihrer maskulinen Hybris gelesen werden. Einmal will Hooper etwa den Hai unter Wasser erledigen, klettert zu diesem Zweck in einen Haikäfig – den die Bestie aber ohne große Mühen auseinandernimmt.
Bei Quint hingegen werden latent wahnsinnige Züge erkennbar. Parallelen zu „Moby Dick“ und dem rachsüchtigen Kapitän Ahab sind beabsichtigt, als der ungewaschene Seefahrer offenbart, dass er im Zweiten Weltkrieg auf der USS Indianapolis war, jenem Militärschiff, das die Atombombe nach Japan transportierte. Als es kurz darauf sank, trieben er und seine Mannschaft mehrere Tage im Wasser, ein Großteil von ihnen wurde von Haien zerfetzt. Wie Charaktervisage Robert Shaw diese Geschichte in einem intensiven, verstörenden Monolog präsentiert, ist großes Schauspielkino, wie es selten auf der Leinwand zu sehen ist. Angeblich stand die gesamte Passage so nicht im Drehbuch: Der Regisseur John Milius improvisierte sie für den befreundeten Spielberg am Telefon.
Am Ende werden sowohl der Arbeiterklassen-Patriot Quint als auch Bildungsbürger Hooper in den finalen Minuten aus dem Spiel genommen. Der ehrbare Durchschnittsmann Brody muss sich als Actionheld der Mittelschicht dem Hai alleine stellen. Für manche erklärt das den Erfolg des Films, immerhin wurden so beide damaligen Lager der US-amerikanischen Filmkritik vereint. Intellektuelle Bewunderer des liberalen New-Hollywood-Kinos der 70er konnten ebenso bis zum Ende mitfiebern wie die konservative Generation, die noch dem Männlichkeitsbild der vergangenen Ära der John-Wayne-Western nachtrauerte.
Kein B-Film, und auch kein Trash: „Der weiße Hai“ ging als gewaltiges Zeitgeistphänomen in die Popkultur ein, ist nach wie vor ein cineastischer Genuss. Steven Spielberg schuf einen Meilenstein des Unterhaltungskinos, der so viel Geld einbrachte, dass er den Begriff ‚Blockbuster‘ neudefinierte. Neben den Produktionskosten von neun Millionen US-Dollar gab Universal zwei weitere Millionen für eine Marketingkampagne aus, die – damals ganz modern – das Fernsehen miteinbezog und so neue Maßstäbe setzte. Werbevideos wurden erstellt, Talkshow-Tourneen veranstaltet, zudem verkauften sich T-Shirts, Spielzeuge, Tassen und dutzende weitere Werbeartikel. Die Vermarktung der Nebenprodukte artete so arg aus, dass Universal in Zeitungsannoncen verlautete: „Der weiße Hai – Es ist auch ein Film.“
Schier unglaubliche 470 Millionen US-Dollar spielte der Mega-Hit anno 1975 ein. Nur einer litt unter diesem Erfolg: der Hai. In Folge der Dämonisierung des Tieres durch die insgesamt drei Fortsetzungen und zahlreichen Nachahmer geriet die für den Menschen weitgehend ungefährliche Tiergattung in Verruf, ist mittlerweile vom Aussterben bedroht. Peter Benchley bereute es deshalb ein Leben lang, die Romanvorlage geschrieben zu haben. Bis zu seinem Tod im Jahr 2006 engagierte er sich leidenschaftlich für den Artenschutz.
Retter des verlorenen Spielzeugs
Toy Story 2
Es ist genau eine Szene in „Toy Story 2“, in der es der Kreativschmiede Pixar bravourös in nur drei Minuten gelingt, mehr zu erzählen als andere Filme in 90 Minuten. Da sitzt eine Cowgirl-Puppe namens Jesse auf einem Fensterrahmen und blickt, wie sie glaubt, ein letztes Mal zur Sonne, ehe sie wieder in die dunkle Kiste eines Spielzeugsammlers gesperrt wird. Sie erzählt Woody, dem Spielzeug-Helden des Vorgängerfilms, von ihrer ehemaligen Besitzerin, dem kleinen Mädchen Emily. Wie sie einst jeden Tag zusammenspielten, allerbeste Freundinnen waren. Doch Emily wurde älter: Aus ihren Pferdefiguren wurden Lippenstift und Nagellack, die Cowgirl-Poster wichen denen von Boybands. Jesse wurde vergessen – und endete in einer Kiste, als Spende für wohltätige Zwecke. Dazu fällt kein gesprochenes Wort, aus dem Off singt eine Frauenstimme: „Als mich jemand liebte, war die Welt so wunderschön.“ Jesse schließt die Rückblende, hörbar schluchzend, mit dem Satz: „Kinder wie Emily vergisst du nie. Aber sie vergessen dich.“
Mit nur dieser Szene katapultieren Regisseur John Lasseter und sein Team die Fortsetzung zu „Toy Story“, dem ersten vollständig computeranimierten Spielfilm, in neue erzählerische Sphären. Der Vorgänger sicherte sich durch seine revolutionäre Technik einen Platz in der Filmgeschichte und verdiente ihn sich dank einer ausgeklügelten Geschichte um lebendige Spielzeuge, die sich über die Liebe zu ihrem Besitzer definieren – und dabei auch in Konkurrenz zueinander treten. „Toy Story 2“ fackelt nicht lang, greift alle Motive wieder auf, aber denkt sie mehrere Ebenen weiter. Im Vorgänger noch geriet Andys Lieblingsspielzeug Woody mit der neuen Astronautenfigur Buzz Lightyear in Konflikt, da er Angst hatte, ersetzt zu werden. Die Fortsetzung verdeutlicht, dass seine Befürchtung durch eine Versöhnung mit Buzz nicht aus der Welt geräumt ist: Andy wird eines Tages erwachsen sein. Welche Zukunft bleibt da noch für seine Spielzeuge?
Woody erfährt das gleich zu Beginn des Films, als beim Spielen eine Naht an seinem Arm reißt. „Spielzeuge halten nicht ewig“, sagt Andys Mutter und setzt ihn weit oben auf ein staubiges Regal. Von nun an plagen ihn Albträume, in denen Andy ihn in bodenlose Mülltonnen fallen lässt, direkt in den (Spielzeug-)Tod. Pixar hält sich bei der Darstellung dieser existenziellen Furcht nicht zurück, riskiert, kleine Zuschauer sogar zu verstören. Mit diesem Mut ist ihnen erneut ein Meisterwerk gelungen! „Toy Story 2“ steht dem berühmten Erstling in nichts nach, übertrifft ihn gar an allen Ecken und Enden. Nirgends ist das so offensichtlich wie bei der Animationskunst: Zwischen beiden Filmen liegen nur vier Jahre, aber einige Softwaregenerationen, die es Lasseter 1999 ermöglichten, Woody, Buzz und die anderen Spielzeuge in nahezu fotorealistische Aufzugschächte, Großstadt-Appartements oder Spielwarengeschäfte zu setzen. Ein detailreich animierter Hund sorgt im Vergleich zu den Tieren aus dem ersten „Toy Story“ für offene Münder und erstmals hat auch eine menschliche Figur viel Leinwandzeit: Der Spielzeugsammler Al, welcher Woody durch eine Kette von Ereignissen in seine Finger bekommt.
Ab hier erzählt Lasseter zwei Geschichten parallel. Eine handelt von Woody in der Wohnung des Sammlers, in der er auf weitere Western-Spielzeuge trifft und erfährt: Er basiert auf einer Marionette aus einer 50er Jahre TV-Show, ist ein seltenes Sammlerstück. Die Sammlung komplettieren Cowgirl Jesse, Stoffpferd Bully und Goldgräber Stinky Pete, der nie aus seiner Schachtel geholt wurde. Warum? Kinder spielten nicht gerne mit ihm, da er in der Sendung die dümmliche Randfigur war. Jene Sendung verdeutlicht erneut Woodys Sterblichkeit: Sie wurde abgesetzt, als der Sputnik-Schock für das Aufkommen von Weltraumspielzeug sorgte. Woody und seiner „Roundup-Gang“ winkt nun nicht mehr oder weniger als die Unsterblichkeit, denn Sammler Al will sie an ein Museum in Japan verkaufen. Im Inneren eines Glaskastens können einen keine Kinderhände beschädigen. Es wird aber auch nie wieder mit einem gespielt werden…
In den tiefschürfenden Dialogen der Autoren Rita Hsiao, Andrew Stanton, Doug Chamberlain und Chris Webb gerät „Toy Story 2“ so zur Metapher fürs Elternsein. Eines Tages brauchen die eigenen Kinder einen nicht mehr, ziehen alleine in die Welt hinaus. Woody steht vor der Frage: Will er Andy auf diesem Weg begleiten und wählt das Selbstopfer für die begrenzte Zeit zu „seinem Kind“? Oder erliegt er seinem Narzissmus, seinem Wunsch nach der großen Ewigkeit, und wählt ein Leben ohne Liebe? Vielleicht braucht er gar nicht zu entscheiden, denn Lasseter hat noch die zweite Handlung in Petto: Natürlich lassen Buzz, Rex, Mr. Potato Head und die anderen Spielzeuge ihren Freund nicht im Stich und starten eine Rettungsaktion. So gelingt es „Toy Story 2“ mühelos, die reife Erzählung rund um Woodys Hadern mit einer actionreichen Abenteuergeschichte zu kreuzen, die selbst auch nicht Halt vor großartigen Konstellationen macht. In einem Spielzeugladen fällt Buzz in eine Identitätskrise, als er auf hunderte Ebenbilder seiner selbst trifft – und gegen eines sogar zum Kampf antreten muss.
Noch aufregender als die Geschichte im Film ist nur noch die Geschichte des Films: Eigentlich sollte „Toy Story 2“ bloß eine billige DVD-Fortsetzung für das schnelle Geld werden, wie es beim Disney-Konzern gängige Praxis ist. Doch die „Toy Story“-Fortsetzung wurde rasch zu teuer – und erwies sich bei einer ersten Vorführung vor dem Konzern-Vorstand als zu gut, um nicht ins Kino gebracht zu werden. Dabei war das Originalteam des Vorgängers hier gar nicht beteiligt, die arbeiteten zu der Zeit am Animationsspaß „Das große Krabbeln“. Als sie zum Projekt hinzustießen, empfanden sie es wiederum als zu schlecht, schmissen alles über den Haufen. In etwas über sieben Monaten wurde so ein komplett neuer 91-minütiger Film erstellt.
Wie mühelos das Pixar-Team brillante Werke scheinbar in Rekordzeit abwickelt, darüber muss gestaunt werden. Und wie es ihnen gelingt, bei aller thematischen Vielfalt auch eine Fülle an kreativen Gags in die Szenen einzubinden, ist großes Tennis. Für Erwachsene gibt es eine Vielzahl an Anspielungen auf andere Werke der Filmgeschichte: Dramatische Höhepunkte erweisen sich als Referenzen auf „Jurassic Park“, „Jäger des verlorenen Schatzes“ oder – besonders witzig – auf „Das Imperium schlägt zurück“. Aber selbst ein musikalischer Wink auf „2001: Odyssee im Weltraum“ findet seinen kongenialen Einsatz, sowie im fulminanten Schlussakt bei der Bekämpfung des überraschenden Schurken auf einem Flughafen-Förderband plötzlich der blendende Einsatz von Blitzlichtern die Rettung bringt – wie einst bei Alfred Hitchcock in „Das Fenster zum Hof“. All diese Querverweise sind keinesfalls vermessen, da Pixar längst bewiesen hat, mindestens in derselben Liga wie diese Vorbilder zu spielen. Nicht von ungefähr erinnert die sentimentale Schlussmoral an die kindliche Naivität des Meisterwerks „Ist das Leben nicht schön?“ von Frank Capra.
Bleiben Kinder selbst bei all diesen Insider-Witzen für ein Kino-erfahrenes Publikum nicht auf der Strecke? Sollte ein Film für kleine Zuschauer vor allem von den Sorgen des Elterndaseins und der Angst vor dem Tod handeln? Wer diese Fragen stellt, hat das Phänomen „Toy Story“ noch nicht ganz verstanden. Die Filme sind keine eskapistischen Trick-Abenteuer, sondern Charakterdramen für alle Altersklassen. Schon die hochkarätige Besetzung verdeutlicht den Anspruch. Woody und Buzz werden erneut von Tom Hanks und Tim Allen gesprochen, einen ähnlich fabelhaften Einsatz machen die Neuzugänge: Kelsey Grammer spricht den griesgrämigen Stinky Pete, Wayne Knight übernimmt den piepsstimmigen Al und als Jesse ist Charakterdarstellerin Joan Cusack zu hören. Die hervorragenden, rein stimmlichen Darstellerleistungen lassen keinen Zweifel daran, dass die Spielzeuge bei „Toy Story“ die besseren Menschen sind.
Bemerkenswert ist deshalb auch, dass beide Filme nie die Lebenswirklichkeit der Spielzeuge hinterfragen. Ihr Auftreten, ihre Gefühle, ihr sozialer Zusammenhalt sind hyperrealistisch. Dabei hätte aus „Toy Story 2“ leicht eine Metapher für die kindliche Fantasie werden können, eine Geschichte, die mit dem Sein der Spielzeuge ironisch kokettiert. Stattdessen nimmt Lasseter all diese Figuren aus Plastik ernst, egal ob es seine eigenen Kreationen sind oder eine Barbie-Puppe, die hier einen Cameo hat. Es geht um Spielzeuge, ihre Beziehungen zu den Menschen. Um all die Gefühle, die ein Kind für seine Spielzeuge empfindet. „Toy Story“ und seine Fortsetzung erzählen, wovon Kinder bereits wissen, dass es wahr ist: Diese Spielzeuge sind echt, so echt wie die Gefühle, die man für sie hat. Dank dieser Botschaft wird der ein oder anderen Puppe das Schicksal der unglücklichen Jesse vielleicht erspart. Bleibt nur die Vorstellung, dass „Toy Story 2“-Komponist Randy Newman mit der „Als mich jemand liebte“-Sequenz womöglich einen Haufen von Spielzeug-Messies erschaffen hat.
Es ist genau eine Szene in „Toy Story 2“, in der es der Kreativschmiede Pixar bravourös in nur drei Minuten gelingt, mehr zu erzählen als andere Filme in 90 Minuten. Da sitzt eine Cowgirl-Puppe namens Jesse auf einem Fensterrahmen und blickt, wie sie glaubt, ein letztes Mal zur Sonne, ehe sie wieder in die dunkle Kiste eines Spielzeugsammlers gesperrt wird. Sie erzählt Woody, dem Spielzeug-Helden des Vorgängerfilms, von ihrer ehemaligen Besitzerin, dem kleinen Mädchen Emily. Wie sie einst jeden Tag zusammenspielten, allerbeste Freundinnen waren. Doch Emily wurde älter: Aus ihren Pferdefiguren wurden Lippenstift und Nagellack, die Cowgirl-Poster wichen denen von Boybands. Jesse wurde vergessen – und endete in einer Kiste, als Spende für wohltätige Zwecke. Dazu fällt kein gesprochenes Wort, aus dem Off singt eine Frauenstimme: „Als mich jemand liebte, war die Welt so wunderschön.“ Jesse schließt die Rückblende, hörbar schluchzend, mit dem Satz: „Kinder wie Emily vergisst du nie. Aber sie vergessen dich.“
Mit nur dieser Szene katapultieren Regisseur John Lasseter und sein Team die Fortsetzung zu „Toy Story“, dem ersten vollständig computeranimierten Spielfilm, in neue erzählerische Sphären. Der Vorgänger sicherte sich durch seine revolutionäre Technik einen Platz in der Filmgeschichte und verdiente ihn sich dank einer ausgeklügelten Geschichte um lebendige Spielzeuge, die sich über die Liebe zu ihrem Besitzer definieren – und dabei auch in Konkurrenz zueinander treten. „Toy Story 2“ fackelt nicht lang, greift alle Motive wieder auf, aber denkt sie mehrere Ebenen weiter. Im Vorgänger noch geriet Andys Lieblingsspielzeug Woody mit der neuen Astronautenfigur Buzz Lightyear in Konflikt, da er Angst hatte, ersetzt zu werden. Die Fortsetzung verdeutlicht, dass seine Befürchtung durch eine Versöhnung mit Buzz nicht aus der Welt geräumt ist: Andy wird eines Tages erwachsen sein. Welche Zukunft bleibt da noch für seine Spielzeuge?
Woody erfährt das gleich zu Beginn des Films, als beim Spielen eine Naht an seinem Arm reißt. „Spielzeuge halten nicht ewig“, sagt Andys Mutter und setzt ihn weit oben auf ein staubiges Regal. Von nun an plagen ihn Albträume, in denen Andy ihn in bodenlose Mülltonnen fallen lässt, direkt in den (Spielzeug-)Tod. Pixar hält sich bei der Darstellung dieser existenziellen Furcht nicht zurück, riskiert, kleine Zuschauer sogar zu verstören. Mit diesem Mut ist ihnen erneut ein Meisterwerk gelungen! „Toy Story 2“ steht dem berühmten Erstling in nichts nach, übertrifft ihn gar an allen Ecken und Enden. Nirgends ist das so offensichtlich wie bei der Animationskunst: Zwischen beiden Filmen liegen nur vier Jahre, aber einige Softwaregenerationen, die es Lasseter 1999 ermöglichten, Woody, Buzz und die anderen Spielzeuge in nahezu fotorealistische Aufzugschächte, Großstadt-Appartements oder Spielwarengeschäfte zu setzen. Ein detailreich animierter Hund sorgt im Vergleich zu den Tieren aus dem ersten „Toy Story“ für offene Münder und erstmals hat auch eine menschliche Figur viel Leinwandzeit: Der Spielzeugsammler Al, welcher Woody durch eine Kette von Ereignissen in seine Finger bekommt.
Ab hier erzählt Lasseter zwei Geschichten parallel. Eine handelt von Woody in der Wohnung des Sammlers, in der er auf weitere Western-Spielzeuge trifft und erfährt: Er basiert auf einer Marionette aus einer 50er Jahre TV-Show, ist ein seltenes Sammlerstück. Die Sammlung komplettieren Cowgirl Jesse, Stoffpferd Bully und Goldgräber Stinky Pete, der nie aus seiner Schachtel geholt wurde. Warum? Kinder spielten nicht gerne mit ihm, da er in der Sendung die dümmliche Randfigur war. Jene Sendung verdeutlicht erneut Woodys Sterblichkeit: Sie wurde abgesetzt, als der Sputnik-Schock für das Aufkommen von Weltraumspielzeug sorgte. Woody und seiner „Roundup-Gang“ winkt nun nicht mehr oder weniger als die Unsterblichkeit, denn Sammler Al will sie an ein Museum in Japan verkaufen. Im Inneren eines Glaskastens können einen keine Kinderhände beschädigen. Es wird aber auch nie wieder mit einem gespielt werden…
In den tiefschürfenden Dialogen der Autoren Rita Hsiao, Andrew Stanton, Doug Chamberlain und Chris Webb gerät „Toy Story 2“ so zur Metapher fürs Elternsein. Eines Tages brauchen die eigenen Kinder einen nicht mehr, ziehen alleine in die Welt hinaus. Woody steht vor der Frage: Will er Andy auf diesem Weg begleiten und wählt das Selbstopfer für die begrenzte Zeit zu „seinem Kind“? Oder erliegt er seinem Narzissmus, seinem Wunsch nach der großen Ewigkeit, und wählt ein Leben ohne Liebe? Vielleicht braucht er gar nicht zu entscheiden, denn Lasseter hat noch die zweite Handlung in Petto: Natürlich lassen Buzz, Rex, Mr. Potato Head und die anderen Spielzeuge ihren Freund nicht im Stich und starten eine Rettungsaktion. So gelingt es „Toy Story 2“ mühelos, die reife Erzählung rund um Woodys Hadern mit einer actionreichen Abenteuergeschichte zu kreuzen, die selbst auch nicht Halt vor großartigen Konstellationen macht. In einem Spielzeugladen fällt Buzz in eine Identitätskrise, als er auf hunderte Ebenbilder seiner selbst trifft – und gegen eines sogar zum Kampf antreten muss.
Noch aufregender als die Geschichte im Film ist nur noch die Geschichte des Films: Eigentlich sollte „Toy Story 2“ bloß eine billige DVD-Fortsetzung für das schnelle Geld werden, wie es beim Disney-Konzern gängige Praxis ist. Doch die „Toy Story“-Fortsetzung wurde rasch zu teuer – und erwies sich bei einer ersten Vorführung vor dem Konzern-Vorstand als zu gut, um nicht ins Kino gebracht zu werden. Dabei war das Originalteam des Vorgängers hier gar nicht beteiligt, die arbeiteten zu der Zeit am Animationsspaß „Das große Krabbeln“. Als sie zum Projekt hinzustießen, empfanden sie es wiederum als zu schlecht, schmissen alles über den Haufen. In etwas über sieben Monaten wurde so ein komplett neuer 91-minütiger Film erstellt.
Wie mühelos das Pixar-Team brillante Werke scheinbar in Rekordzeit abwickelt, darüber muss gestaunt werden. Und wie es ihnen gelingt, bei aller thematischen Vielfalt auch eine Fülle an kreativen Gags in die Szenen einzubinden, ist großes Tennis. Für Erwachsene gibt es eine Vielzahl an Anspielungen auf andere Werke der Filmgeschichte: Dramatische Höhepunkte erweisen sich als Referenzen auf „Jurassic Park“, „Jäger des verlorenen Schatzes“ oder – besonders witzig – auf „Das Imperium schlägt zurück“. Aber selbst ein musikalischer Wink auf „2001: Odyssee im Weltraum“ findet seinen kongenialen Einsatz, sowie im fulminanten Schlussakt bei der Bekämpfung des überraschenden Schurken auf einem Flughafen-Förderband plötzlich der blendende Einsatz von Blitzlichtern die Rettung bringt – wie einst bei Alfred Hitchcock in „Das Fenster zum Hof“. All diese Querverweise sind keinesfalls vermessen, da Pixar längst bewiesen hat, mindestens in derselben Liga wie diese Vorbilder zu spielen. Nicht von ungefähr erinnert die sentimentale Schlussmoral an die kindliche Naivität des Meisterwerks „Ist das Leben nicht schön?“ von Frank Capra.
Bleiben Kinder selbst bei all diesen Insider-Witzen für ein Kino-erfahrenes Publikum nicht auf der Strecke? Sollte ein Film für kleine Zuschauer vor allem von den Sorgen des Elterndaseins und der Angst vor dem Tod handeln? Wer diese Fragen stellt, hat das Phänomen „Toy Story“ noch nicht ganz verstanden. Die Filme sind keine eskapistischen Trick-Abenteuer, sondern Charakterdramen für alle Altersklassen. Schon die hochkarätige Besetzung verdeutlicht den Anspruch. Woody und Buzz werden erneut von Tom Hanks und Tim Allen gesprochen, einen ähnlich fabelhaften Einsatz machen die Neuzugänge: Kelsey Grammer spricht den griesgrämigen Stinky Pete, Wayne Knight übernimmt den piepsstimmigen Al und als Jesse ist Charakterdarstellerin Joan Cusack zu hören. Die hervorragenden, rein stimmlichen Darstellerleistungen lassen keinen Zweifel daran, dass die Spielzeuge bei „Toy Story“ die besseren Menschen sind.
Bemerkenswert ist deshalb auch, dass beide Filme nie die Lebenswirklichkeit der Spielzeuge hinterfragen. Ihr Auftreten, ihre Gefühle, ihr sozialer Zusammenhalt sind hyperrealistisch. Dabei hätte aus „Toy Story 2“ leicht eine Metapher für die kindliche Fantasie werden können, eine Geschichte, die mit dem Sein der Spielzeuge ironisch kokettiert. Stattdessen nimmt Lasseter all diese Figuren aus Plastik ernst, egal ob es seine eigenen Kreationen sind oder eine Barbie-Puppe, die hier einen Cameo hat. Es geht um Spielzeuge, ihre Beziehungen zu den Menschen. Um all die Gefühle, die ein Kind für seine Spielzeuge empfindet. „Toy Story“ und seine Fortsetzung erzählen, wovon Kinder bereits wissen, dass es wahr ist: Diese Spielzeuge sind echt, so echt wie die Gefühle, die man für sie hat. Dank dieser Botschaft wird der ein oder anderen Puppe das Schicksal der unglücklichen Jesse vielleicht erspart. Bleibt nur die Vorstellung, dass „Toy Story 2“-Komponist Randy Newman mit der „Als mich jemand liebte“-Sequenz womöglich einen Haufen von Spielzeug-Messies erschaffen hat.
Ein Hai kommt selten allein
Der weiße Hai 2
Ironie der Filmgeschichte: Im meisterhaften Tierhorrorfilm „Der weiße Hai“ von Steven Spielberg lauert das titelgebende Ungetüm vor den Küsten der kleinen Inselstadt Amity und frisst badende Insulaner. Obwohl der ortsansässige Polizeichef Martin Brody vor dem Hai warnt, stößt er beim Bürgermeister Larry Vaughn auf taube Ohren. Das Wochenende um den Unabhängigkeitstag am 4. Juli steht an. Tausende Urlauber werden auf der Insel erwartet. Der Bürgermeister fürchtet bei einer Panik um einen Ausfall der Badesaison und erhebliche finanzielle Einbußen. Ökonomische Bedenken, die sich, hier liegt die Ironie, in der Realität bewahrheiteten: Spielbergs brillanter Blockbuster beeindruckte seine Zuschauer so nachhaltig, dass sich 1975 überall in den USA ein drastischer Rückgang der Strandurlauber verzeichnen ließ. Viele Touristen gaben an, sich beim Gang ins Meer unwohl zu fühlen.
Der Erfolg von „Der weiße Hai“ war so immens, dass Universal Studios gar nicht anders konnte, als eine Fortsetzung zu planen – obwohl der Hai im Grande Finale des ersten Films überdramatisch explodierte. Der französische Filmemacher Jeannot Szwarc übernahm die unrühmliche Aufgabe, einen neuen weißen Hai auf Amity und das Kinopublikum loszulassen – in der Hoffnung, dieselbe ängstigende Wirkung wie einst Spielberg auszulösen. So spielte schon das Plakat zum Film mit der Antizipation eines neuen Schockeffekts, dort stand der später legendär gewordene Werbespruch: „Gerade als Sie dachten, es sei sicher, wieder ins Wasser zu gehen …“
Einen großen Teil seiner filmischen Qualität und seiner suggestiven Kraft verdankte „Der weiße Hai“ dem begnadeten Steven Spielberg. Der aber sagte schon im Oktober 1975 auf dem ‚San Fransisco Film Festival‘: „Fortsetzungen sind nichts weiter als billige Schaustellertricks.“ An einem zweiten Teil hatte er folglich nur wenig Interesse. Gefallen fand er bloß an der Idee, die Vorgeschichte des Seebären Quint auf der USS Indianapolis im Zweiten Weltkrieg zu adaptieren, von der dieser in einem berüchtigten Monolog im Originalfilm erzählte. Doch als Spielberg sich vertraglich an sein Sci-Fi-Projekt „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ band, wollten die Produzenten nicht länger auf ihn warten. Nachdem der vom Studio gewünschte Regisseur John D. Hancock kurz nach Beginn der Dreharbeiten wegen kreativer Differenzen entlassen und das Skript heftig umgeschrieben wurde, kam schließlich Szwarc zum Zug.
Sein „Der weiße Hai 2“ ist weniger eine Fortschreibung der originalen Geschichte als mehr ihre Wiederholung: Erneut greift ein weißer Hai die Badegäste an den Stränden von Amity an, erneut ist Chief Brody der Einzige, der die Gefahr erkennt. Und erneut will Bürgermeister Vaughn mit Blick auf die Wirtschaft davon nichts hören. Doch das Sequel bietet reizvolle Variationen, macht sich die Vorgeschichte der Brody-Figur zu Nutze: Rasch wird deutlich, wie sehr die Ereignisse auf dem untergangenen Fischerboot ‚Orca‘, das zu Beginn der Fortsetzung einen Gastauftritt hat, ihn geprägt und traumatisiert haben. Allein der Gedanke, ein neuer Hai könnte sein Unwesen treiben, verstört ihn. Eine Meeresbiologin fragt er, ob Haie miteinander kommunizieren – so als glaube er, der neue Hai sei von seinem Vorgänger gerufen worden, um Rache für den Tod des Artgenossen zu nehmen.
Roy Scheider kehrte als Brody gegen seinen Willen zurück. Als er kurz vor Drehbeginn bei einem anderen Universal-Film, dem Vietnamkriegsdrama „Die durch die Hölle gehen“ absprang, hatte er vertraglich keine andere Wahl, als die Fortsetzung zu absolvieren. Vielleicht tröstete es ihn, dass auch „Der weiße Hai 2“ den Vietnamkrieg reflektiert: Brody ist nicht mehr und nicht weniger als ein paranoider Veteran, der von seinen Kriegserinnerungen eingeholt wird, der weiter gegen den unsichtbaren Feind kämpft. Neurotisch präpariert er seine Revolverkugeln mit Zyanid. Als er am Strand einen Schwarm Blaufische für den Schatten eines Hais hält, ballert er wüst in den Ozean. Scheider liefert großartiges Schauspiel ab, soll mit Regisseur Szwarc aber erhebliche Probleme gehabt haben. Ihm missfiel dessen Arbeit so sehr, dass er in seinem Hotelzimmer randalierte, in der Hoffnung, aus der Produktion geschmissen zu werden.
Im Originalfilm war die Jagd nach dem Hai für Brody eine Initiation. Als wasserscheuer Städter entschied er sich zum Duell auf hoher See, bewies sich damit als fähiger Inselbewohner. Drei Jahre später ist sein Antrieb ein anderer: Seine beiden Söhne segeln mittlerweile selbst aufs Meer hinaus. Gemeinsam mit einer Schar anderer Jugendlicher werden sie vom Hai attackiert. Hier nimmt „Der weiße Hai 2“ die Grundzüge des Splatter-Kinos vorweg, das in den 1980ern durch Filmreihen wie „Freitag der 13.“ oder „Nightmare on Elm Street“ dominiert wurde. Stereotypen wie die Jungfrau in Nöten, den Sonderling oder den Sportler finden sich vor, und Jungdarstellerin Donna Wilkes versucht sich als Schrei-Königin.
Echte charakterliche Tiefe weiß das Drehbuch von Carl Gottlieb und Howard Sackler den Heranwachsenden nicht zu verleihen, sie dienen nur dazu, entweder gefressen oder errettet zu werden. Blass bleiben daher auch die jungen Schauspieler, die allenfalls durch ihren körperlichen Einsatz überzeugen, da sie nahezu sämtliche Segelszenen selbst ausführen, unter abenteuerlichen Bedingungen. Auf hoher See war es dermaßen kalt, dass alle Akteure vor jeder neuen Aufnahme Eiswürfel lutschen mussten, um den kondensierenden Atem zu vermeiden.
Bei den Dreharbeiten kamen noch weitere Probleme auf: Murray Hamilton, abermalig als Bürgermeister Vaughn zu sehen, verließ den Dreh frühzeitig, als seine Frau an Krebs erkrankte. Die Jungdarsteller wiederum wurden einmal bei den Aufnahmen für die Segelszenen von einem echten Hammerhai umkreist, hyperventilierten vor Angst. Die Produktionsmitglieder bemerkten das Tier nicht, sie hielten die Schreie für gutes Schauspiel, drehten in Seelenruhe weiter. Einige der Aufnahmen landeten sogar im Film. Cable Junction, die felsige Insel, auf der sich eine elektrische Relaisstation befindet, und die extra für das Finale aus Plastik und Glasfasermaterial gebaut wurde, löste sich eines Tages aus ihrer Verankerung und schwamm davon – das Produktionsteam konnte Szwarc nur noch darüber informieren, dass seine Kulisse „auf dem Weg nach Kuba“ sei. Zum Glück fing man sie rechtzeitig wieder ein.
Mit den Hai-Effekten lief es dafür problemlos: Sorgte ‚Bruce‘, die mechatronische Hai-Attrappe des Spielberg-Films, durch sein unechtes Äußeres für einige Hürden, ist die neue Apparatur, vom Team ‚Bruce II‘ getauft, seinem Vorgängermodell technisch deutlich überlegen. All seine Auftritte bestechen durch überwältigende Schauwerte. Die Jagd auf eine Wasserskifahrerin und ihr Boot, welches in Folge einer Kettenreaktion in einem großen Feuerball explodiert, ist ein Höhepunkt des Blockbusters, ebenso sein blitzartiger Angriff auf einen unbedarften Taucher. Mehrfach kündigt ‚Bruce II‘ sich durch seine Haifischflosse an, die aus dem Meer hinausragt – ein ikonographisches Bild, das ins kollektive Gedächtnis einging.
Mit der Glaubwürdigkeit hapert es in den knapp zwei Stunden dafür gelegentlich: Als der Hai einmal in seiner Zerstörungswut einen Hubschrauber angreift und unter Wasser zieht, ist das zwar tricktechnisch beachtlich, aber deutlich zu brachial. Hanebüchen gerät vor allem die Unbeholfenheit der halbwüchsigen Segler, die erst ihre Katamarane versehentlich ineinander rammen und zusätzlich bei jeder erdenklichen Gelegenheit über Bord fallen, um von ihren Leidensgenossen wieder in Sicherheit gezogen oder vom Raubtier gefressen zu werden. Sie hätten wohl ein größeres Boot gebraucht.
Dennoch gelingen Szwarc effektive Szenen des Unwohlseins: Wenn etwa beim Parasailing ein Pilot im Wasser verharrt, während der Hai sich ihm von unten nähert, ist das minutiös ausgetüftelt. Auch das große Finale, in dem Brody in einem Schlauchboot allein gegen das Biest antritt, ist mit beträchtlichem Aufwand durchaus eindrucksvoll inszeniert. Als Meister der Anspannung meldete sich zusätzlich Komponist John Williams zurück. Seine Filmmusik ist sensationell und von enormer Bandbreite, vielleicht noch großartiger als beim Vorwerk: Das berüchtigte Leitmotiv aus nur zwei Tönen arrangiert er als orchestralen Walkürenritt, zum Kontrast laufen mitreißende, mysteriöse oder gar beschwingt-sommerliche Melodien.
Dank aufmerksamkeitsheischenden Werbekampagnen mit Coca-Cola oder dem Süßwarenhersteller Topps avancierte „Der weiße Hai 2“ im Jahr 1978 zur bis dato erfolgreichsten Fortsetzung der Geschichte – trotz Produktionskosten von 30 Millionen US-Dollar. Über die Jahre erlangte er jedoch einen zweifelhaften Ruf: Die zwei weiteren Fortsetzungen in den 1980ern gingen dermaßen bei Kritik und Publikum baden, dass auch das erste Sequel schnell mit ihnen in einen Topf geworfen wurde, nur noch als Fußnote im Zusammenhang mit dem ersten Teil Erwähnung findet. Fair ist diese Sichtweise nicht: Szwarc bietet kompetentes Unterhaltungskino, das sich problemlos selbst über Wasser halten kann. Den großen Horror, die Angst und den Schrecken des ersten Films, erzielte er aber kein zweites Mal. Die Tourismus-Branche wird es gefreut haben: Die Badegäste ließen sich in diesem Jahr ihren Urlaub nicht verderben.
Ironie der Filmgeschichte: Im meisterhaften Tierhorrorfilm „Der weiße Hai“ von Steven Spielberg lauert das titelgebende Ungetüm vor den Küsten der kleinen Inselstadt Amity und frisst badende Insulaner. Obwohl der ortsansässige Polizeichef Martin Brody vor dem Hai warnt, stößt er beim Bürgermeister Larry Vaughn auf taube Ohren. Das Wochenende um den Unabhängigkeitstag am 4. Juli steht an. Tausende Urlauber werden auf der Insel erwartet. Der Bürgermeister fürchtet bei einer Panik um einen Ausfall der Badesaison und erhebliche finanzielle Einbußen. Ökonomische Bedenken, die sich, hier liegt die Ironie, in der Realität bewahrheiteten: Spielbergs brillanter Blockbuster beeindruckte seine Zuschauer so nachhaltig, dass sich 1975 überall in den USA ein drastischer Rückgang der Strandurlauber verzeichnen ließ. Viele Touristen gaben an, sich beim Gang ins Meer unwohl zu fühlen.
Der Erfolg von „Der weiße Hai“ war so immens, dass Universal Studios gar nicht anders konnte, als eine Fortsetzung zu planen – obwohl der Hai im Grande Finale des ersten Films überdramatisch explodierte. Der französische Filmemacher Jeannot Szwarc übernahm die unrühmliche Aufgabe, einen neuen weißen Hai auf Amity und das Kinopublikum loszulassen – in der Hoffnung, dieselbe ängstigende Wirkung wie einst Spielberg auszulösen. So spielte schon das Plakat zum Film mit der Antizipation eines neuen Schockeffekts, dort stand der später legendär gewordene Werbespruch: „Gerade als Sie dachten, es sei sicher, wieder ins Wasser zu gehen …“
Einen großen Teil seiner filmischen Qualität und seiner suggestiven Kraft verdankte „Der weiße Hai“ dem begnadeten Steven Spielberg. Der aber sagte schon im Oktober 1975 auf dem ‚San Fransisco Film Festival‘: „Fortsetzungen sind nichts weiter als billige Schaustellertricks.“ An einem zweiten Teil hatte er folglich nur wenig Interesse. Gefallen fand er bloß an der Idee, die Vorgeschichte des Seebären Quint auf der USS Indianapolis im Zweiten Weltkrieg zu adaptieren, von der dieser in einem berüchtigten Monolog im Originalfilm erzählte. Doch als Spielberg sich vertraglich an sein Sci-Fi-Projekt „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ band, wollten die Produzenten nicht länger auf ihn warten. Nachdem der vom Studio gewünschte Regisseur John D. Hancock kurz nach Beginn der Dreharbeiten wegen kreativer Differenzen entlassen und das Skript heftig umgeschrieben wurde, kam schließlich Szwarc zum Zug.
Sein „Der weiße Hai 2“ ist weniger eine Fortschreibung der originalen Geschichte als mehr ihre Wiederholung: Erneut greift ein weißer Hai die Badegäste an den Stränden von Amity an, erneut ist Chief Brody der Einzige, der die Gefahr erkennt. Und erneut will Bürgermeister Vaughn mit Blick auf die Wirtschaft davon nichts hören. Doch das Sequel bietet reizvolle Variationen, macht sich die Vorgeschichte der Brody-Figur zu Nutze: Rasch wird deutlich, wie sehr die Ereignisse auf dem untergangenen Fischerboot ‚Orca‘, das zu Beginn der Fortsetzung einen Gastauftritt hat, ihn geprägt und traumatisiert haben. Allein der Gedanke, ein neuer Hai könnte sein Unwesen treiben, verstört ihn. Eine Meeresbiologin fragt er, ob Haie miteinander kommunizieren – so als glaube er, der neue Hai sei von seinem Vorgänger gerufen worden, um Rache für den Tod des Artgenossen zu nehmen.
Roy Scheider kehrte als Brody gegen seinen Willen zurück. Als er kurz vor Drehbeginn bei einem anderen Universal-Film, dem Vietnamkriegsdrama „Die durch die Hölle gehen“ absprang, hatte er vertraglich keine andere Wahl, als die Fortsetzung zu absolvieren. Vielleicht tröstete es ihn, dass auch „Der weiße Hai 2“ den Vietnamkrieg reflektiert: Brody ist nicht mehr und nicht weniger als ein paranoider Veteran, der von seinen Kriegserinnerungen eingeholt wird, der weiter gegen den unsichtbaren Feind kämpft. Neurotisch präpariert er seine Revolverkugeln mit Zyanid. Als er am Strand einen Schwarm Blaufische für den Schatten eines Hais hält, ballert er wüst in den Ozean. Scheider liefert großartiges Schauspiel ab, soll mit Regisseur Szwarc aber erhebliche Probleme gehabt haben. Ihm missfiel dessen Arbeit so sehr, dass er in seinem Hotelzimmer randalierte, in der Hoffnung, aus der Produktion geschmissen zu werden.
Im Originalfilm war die Jagd nach dem Hai für Brody eine Initiation. Als wasserscheuer Städter entschied er sich zum Duell auf hoher See, bewies sich damit als fähiger Inselbewohner. Drei Jahre später ist sein Antrieb ein anderer: Seine beiden Söhne segeln mittlerweile selbst aufs Meer hinaus. Gemeinsam mit einer Schar anderer Jugendlicher werden sie vom Hai attackiert. Hier nimmt „Der weiße Hai 2“ die Grundzüge des Splatter-Kinos vorweg, das in den 1980ern durch Filmreihen wie „Freitag der 13.“ oder „Nightmare on Elm Street“ dominiert wurde. Stereotypen wie die Jungfrau in Nöten, den Sonderling oder den Sportler finden sich vor, und Jungdarstellerin Donna Wilkes versucht sich als Schrei-Königin.
Echte charakterliche Tiefe weiß das Drehbuch von Carl Gottlieb und Howard Sackler den Heranwachsenden nicht zu verleihen, sie dienen nur dazu, entweder gefressen oder errettet zu werden. Blass bleiben daher auch die jungen Schauspieler, die allenfalls durch ihren körperlichen Einsatz überzeugen, da sie nahezu sämtliche Segelszenen selbst ausführen, unter abenteuerlichen Bedingungen. Auf hoher See war es dermaßen kalt, dass alle Akteure vor jeder neuen Aufnahme Eiswürfel lutschen mussten, um den kondensierenden Atem zu vermeiden.
Bei den Dreharbeiten kamen noch weitere Probleme auf: Murray Hamilton, abermalig als Bürgermeister Vaughn zu sehen, verließ den Dreh frühzeitig, als seine Frau an Krebs erkrankte. Die Jungdarsteller wiederum wurden einmal bei den Aufnahmen für die Segelszenen von einem echten Hammerhai umkreist, hyperventilierten vor Angst. Die Produktionsmitglieder bemerkten das Tier nicht, sie hielten die Schreie für gutes Schauspiel, drehten in Seelenruhe weiter. Einige der Aufnahmen landeten sogar im Film. Cable Junction, die felsige Insel, auf der sich eine elektrische Relaisstation befindet, und die extra für das Finale aus Plastik und Glasfasermaterial gebaut wurde, löste sich eines Tages aus ihrer Verankerung und schwamm davon – das Produktionsteam konnte Szwarc nur noch darüber informieren, dass seine Kulisse „auf dem Weg nach Kuba“ sei. Zum Glück fing man sie rechtzeitig wieder ein.
Mit den Hai-Effekten lief es dafür problemlos: Sorgte ‚Bruce‘, die mechatronische Hai-Attrappe des Spielberg-Films, durch sein unechtes Äußeres für einige Hürden, ist die neue Apparatur, vom Team ‚Bruce II‘ getauft, seinem Vorgängermodell technisch deutlich überlegen. All seine Auftritte bestechen durch überwältigende Schauwerte. Die Jagd auf eine Wasserskifahrerin und ihr Boot, welches in Folge einer Kettenreaktion in einem großen Feuerball explodiert, ist ein Höhepunkt des Blockbusters, ebenso sein blitzartiger Angriff auf einen unbedarften Taucher. Mehrfach kündigt ‚Bruce II‘ sich durch seine Haifischflosse an, die aus dem Meer hinausragt – ein ikonographisches Bild, das ins kollektive Gedächtnis einging.
Mit der Glaubwürdigkeit hapert es in den knapp zwei Stunden dafür gelegentlich: Als der Hai einmal in seiner Zerstörungswut einen Hubschrauber angreift und unter Wasser zieht, ist das zwar tricktechnisch beachtlich, aber deutlich zu brachial. Hanebüchen gerät vor allem die Unbeholfenheit der halbwüchsigen Segler, die erst ihre Katamarane versehentlich ineinander rammen und zusätzlich bei jeder erdenklichen Gelegenheit über Bord fallen, um von ihren Leidensgenossen wieder in Sicherheit gezogen oder vom Raubtier gefressen zu werden. Sie hätten wohl ein größeres Boot gebraucht.
Dennoch gelingen Szwarc effektive Szenen des Unwohlseins: Wenn etwa beim Parasailing ein Pilot im Wasser verharrt, während der Hai sich ihm von unten nähert, ist das minutiös ausgetüftelt. Auch das große Finale, in dem Brody in einem Schlauchboot allein gegen das Biest antritt, ist mit beträchtlichem Aufwand durchaus eindrucksvoll inszeniert. Als Meister der Anspannung meldete sich zusätzlich Komponist John Williams zurück. Seine Filmmusik ist sensationell und von enormer Bandbreite, vielleicht noch großartiger als beim Vorwerk: Das berüchtigte Leitmotiv aus nur zwei Tönen arrangiert er als orchestralen Walkürenritt, zum Kontrast laufen mitreißende, mysteriöse oder gar beschwingt-sommerliche Melodien.
Dank aufmerksamkeitsheischenden Werbekampagnen mit Coca-Cola oder dem Süßwarenhersteller Topps avancierte „Der weiße Hai 2“ im Jahr 1978 zur bis dato erfolgreichsten Fortsetzung der Geschichte – trotz Produktionskosten von 30 Millionen US-Dollar. Über die Jahre erlangte er jedoch einen zweifelhaften Ruf: Die zwei weiteren Fortsetzungen in den 1980ern gingen dermaßen bei Kritik und Publikum baden, dass auch das erste Sequel schnell mit ihnen in einen Topf geworfen wurde, nur noch als Fußnote im Zusammenhang mit dem ersten Teil Erwähnung findet. Fair ist diese Sichtweise nicht: Szwarc bietet kompetentes Unterhaltungskino, das sich problemlos selbst über Wasser halten kann. Den großen Horror, die Angst und den Schrecken des ersten Films, erzielte er aber kein zweites Mal. Die Tourismus-Branche wird es gefreut haben: Die Badegäste ließen sich in diesem Jahr ihren Urlaub nicht verderben.
Der letzte F*ck in Hollywood
Basic Instinct
Wenige Filmkritiker werden so verehrt wie Roger Ebert. Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalist schrieb mehr als 300 Rezensionen im Jahr, hatte über 30 Jahre mit seinem Kollegen Gene Siskel eine eigene Fernsehsendung, bekam einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. Als er 2013 verstarb, äußerte sich der damalige US-Präsident Barack Obama mit den Worten: „Das Kino wird ohne ihn nicht das Gleiche sein.“ Legendär ist Ebert aber auch für die Filme, die er nicht mochte: Er schimpfte auf den heute als Meisterwerk anerkannten „Fight Club“, hatte wenig übrig für den Action-Klassiker „Stirb langsam“ und mochte „Uhrwerk Orange“ kaum, eines der Meisterwerke des einflussreichen Regisseurs Stanley Kubrick. 1992 ging Ebert mit einem Film hart ins Gericht, der bereits Monate vor seiner Veröffentlichung zum Skandalfilm wurde: „Basic Instinct“, jenem sexuell aufgeladenen Neo-Noir-Thriller von Paul Verhoeven, Hollywoods Enfant terrible.
Homosexuelle Aktivisten hetzten bereits während der Dreharbeiten gegen das Drehbuch von Joe Eszterhas, als sie erfuhren, eine bisexuelle Frau werde hier als Mörderin dargestellt. Um dem Film zu schaden, ließen sie in Zeitungen das Ende verraten. Auf den Titelseiten prangte: „Catherine Tramell hat es getan.“ In seiner Filmkritik erklärte Ebert, warum das eigentlich kein Problem sei. Zwar enthüllt erst die allerletzte Kameraeinstellung, was durch die Aktivisten bereits bekannt war, doch bereits vorher hatte der Kriminalfall des Films eine alternative Lösung angeboten. Ebert schrieb: „Wenn die letzte Aufnahme die gegenteilige Antwort gegeben hätte, wäre sie immer noch mit allem, was im Film passiert ist, konsistent gewesen. Jedes einzelne Beweisfitzelchen im gesamten Film unterstützt zwei verschiedene Schlussfolgerungen.“ Gefallen tat das dem Filmliebhaber gar nicht: „Als Ergebnis verließ ich den Film mit dem Gefühl, manipuliert worden zu sein - denn egal, wie sehr ich versuchte der Handlung zu folgen und die Dinge herauszufinden, der ganze Film spielte nur mit mir.“
Damit erfasste er Paul Verhoeven besser als die meisten seiner Zunft: Verhoeven, der holländische Exportschlager im US-Kino, war in erster Linie kein Geschichtenerzähler, sondern ein Trickster, ein Meister der Subversion. Wirklich nach Hollywood passte er nie. Seine Filme verweigerten ein moralisches Regelwerk, waren ungewöhnlich explizit. Mit seinen ersten US-Erfolgen „Robocop“ und „Die totale Erinnerung – Total Recall“ hatte er sich einen Namen als Provokateur gemacht, auch mit seinem Folgewerk „Basic Instinct“ blieb er diesem Bild treu: Bereits im Vorfeld skandierte er, er wolle das erigierte Glied von Hauptdarsteller Michael Douglas in voller Pracht auf der Leinwand zeigen. Dazu kam es zwar nicht, doch schon die Eröffnungsszene hält sich in der grafischen Darstellung kaum zurück.
Einem Mann werden bei der Kopulation die Hände mit einem Seidenschal ans Bett gefesselt. Seine blonde Partnerin reitet wild auf seinem Schoß. Plötzlich nimmt sie einen Eispickel, sticht auf ihn ein, durchtrennt die Halsschlagader, durchsticht seine Nase. Verhoeven führt Sex und Gewalt kongenial zusammen, wie es in der Prüderie des Hollywood-Kinos der frühen 90er, geprägt durch die Aids-Pandemie, nur er konnte: Als tödliche Ejakulation, bei der die Blutspritzer das ganze Bettlaken und den nackten Körper der Mörderin rot einfärben. Formal wirkt „Basic Instinct“ ab der ersten Szene anrüchig, verwegen, unmoralisch. Der Plot von Eszterhas ist klassischer Film-Noir: Ein Mordfall führt den Ermittler Nick Curran zur Geliebten des Toten, der vermögenden Autorin Catherine Tramell. Die hat vor einiger Zeit einen Roman verfasst, in der jemand auf genau dieselbe Weise ermordet wird, wie es nun ihrem Freund passiert ist. Will da wer Tramell den Mord anhängen oder hat Tramell das Buch geschrieben, um sich für den geplanten Mord ein Alibi zu verschaffen? Während Curran ermittelt, fühlt er sich mehr und mehr von Tramell angezogen …
Der Film Noir atmete in seiner Blütezeit von 1941 bis 1958 stets die Amoral, die Abgründigkeit, so auch hier in seiner Renaissance. Michael Douglas spielt Curran eindringlich als einen intelligenten, aber auch seinen Trieben erliegenden, labil geschwächten Polizisten, der beim Stelldichein mit der Polizeipsychologin Dr. Beth Garner mit dem Analverkehr auch dann nicht aufhört, als sie sich verbal dagegen wehrt. Die Hauptattraktion des Films ist jedoch die umwerfende Sharon Stone als bisexuelle Vielleicht-Mörderin Tramell. Nach dem überwältigenden Erfolg des Films wurde sie für kurze Zeit zum heißesten weiblichen Star im Filmgeschäft. Einer ganzen Generation brannte sich die Szene ein, in der sie bei einem Polizeiverhör die Beine übereinanderschlägt, es so kurz den Anschein macht, man könne ihre Vagina sehen.
Man mag diesen pornographischen Voyeurismus als billig empfinden, doch hier liegt die Kunst von „Basic Instinct“: Virtuos verknüpft Verhoeven in 128 Minuten anspruchsvolles Auteur-Kino mit den schmuddeligen Groschenromanen, die einst den Film Noir prägten. Die größte Inspiration lieferte aber Alfred Hitchcock: Jahre später schwärmte Verhoeven noch davon, „Basic Instinct“ in San Francisco, der Stadt von „Vertigo“ gedreht zu haben, Hitchcocks Meilenstein, der regelmäßig in Ranglisten als der beste Film aller Zeiten genannt wird. Selbst Sharon Stone kann optisch als Besetzung einer „kühlen Hitchcock-Blondine“ betrachtet werden.
Die überaus delikate Kameraarbeit von Jan de Bont sorgt für eine psychologisch ungreifbare Atmosphäre. Sensationell gerät beispielsweise eine kurze Szene, in der Douglas und Stone nachts bei Regen im Auto sitzen und sich in ihren Gesichtern der Regenfall spiegelt. Die eruptive Gewalt der Mordszenen wiederum ist dem italienischen „Giallo“-Kino der 1970er entliehen, einem Genre, das aufgrund seiner misogynen und gewaltverherrlichenden Tendenz gerne der moralistischen Kritik zum Opfer fällt, eine Situation, die Verhoeven nur zu gut kennt. Jerry Goldsmith wurde von Verhoeven für die Filmmusik erwählt. Sie ist ohne Zweifel phänomenal, und selbst eine Hommage: 1974 komponierte Goldsmith bereits die Musik für „Chinatown“ von Roman Polański, dem vermutlich einflussreichsten Neo-Noir der Geschichte. Eine Reminiszenz ist auch das Mordwerkzeug, der Eispickel, der schon 1949 im Detektivroman „Die kleine Schwester“ von Raymond Chandler auf dieselbe Weise Verwendung fand. Ein Roman, der übrigens gnadenlos als Satire auf die Traumwelten von Hollywood zu verstehen ist.
Genauso funktioniert „Basic Instinct“ als spannende Vivisektion des Hollywood-Films, als Affirmation an eine vergangene Kino-Epoche, die Verhoeven um nicht mehr als seine eigene Freizügigkeit erweitert. Sei das im visuellen Sinne zu verstehen oder in der Sprache: Curran, der schließlich mit Tramell ins Bett steigt, bezeichnet ihr Tête-à-Tête später als den „F*ck des Jahrhunderts“. Sein entsetzter Kollege Gus wirft ihm dafür vor: „Sie hat dir mit ihrer Magna-Cum-Laude-Pussy das Gehirn frittiert.“ Und Tramell stellt beim Verhör im Angesicht der schweißgebadeten Polizisten klar, dass sie mit dem Ermordeten keine Beziehung pflegte: „Ich war nicht mit ihm zusammen. Ich habe mit ihm gef*ckt.“
Was ist nun aber dran an der Kritik von Roger Ebert? Verhoeven und Eszterhas erzählen die verdorbene Geschichte von „Basic Instinct“ in eindeutiger Uneindeutigkeit. Dieses Paradoxon sieht wie folgt aus: Regelmäßig stößt der aufmerksame Zuschauer auf Momente der Filmhandlung, die zu überspitzt, zu unwahrscheinlich verlaufen, als dass sie sich am Maßstab der Realität messen lassen. Das ist dramaturgische Absicht. Tramell selbst kündigt im Film an, einen Roman basierend auf ihrer Beziehung zu Curran schreiben zu wollen. Als Curran ihr ankündigt, der Roman werde nicht mit seinem Tod, sondern mit einem gefassten Mörder enden, antwortet Tramell kühl: „Das will keiner lesen. Irgendjemand muss sterben. Weil es immer so ist.“
„Basic Instinct“ ist also ein cineastischer Kunstraum, eine Plattform für Verhoevens Fabulierkunst. Der Plot ist in zwei Richtungen auslegbar, das Ende präsentiert zwei mögliche Täterinnen. Indizien werden so platziert, dass beide Möglichkeiten denkbar wären, doch in jeder Version bleibt ein Restzweifel. In dieser Unterwanderung der konventionellen Krimi-Auflösung liegt ein feministischer Kern verborgen, den die Aktivisten damals nicht erkannten: In „Basic Instinct“ werden die Männer von Frauen bis zuletzt zum Narren gehalten, verführt, ausgenutzt. Das Feminine ist die Bedrohung, fordert männliche Machtpositionen heraus, ist diesen niedersten Instinkten aber auch weit überlegen. Die Bisexualität von Tramell ist da nur der finale Schritt, der gleichgeschlechtliche Liebesakt wird zur letzten Bastion der weiblichen Sexualität, zu welcher der lüsterne Mann nie Zutritt erhalten wird.
Und doch ist es legitim von Ebert, eine Auflösung zu fordern, wo keine sein will, sich betrogen zu fühlen, enttäuscht zu sein. Ihn interessieren die tieferen Implikationen des meisterhaften, erotischen Spiels auf der Rasierklinge nicht, er nimmt sich die Freiheit, nur von sich auszugehen, bei der professionellen Filmkritik ganz persönlich zu werden. Deshalb wurde er so geschätzt: Weil er unverblümt, elegant, aber ohne Rücksicht auf Erwartungen nur sich selbst gerecht werden wollte, selbst wenn er dabei provozierte. Weil er einer war wie Paul Verhoeven.
Wenige Filmkritiker werden so verehrt wie Roger Ebert. Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalist schrieb mehr als 300 Rezensionen im Jahr, hatte über 30 Jahre mit seinem Kollegen Gene Siskel eine eigene Fernsehsendung, bekam einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. Als er 2013 verstarb, äußerte sich der damalige US-Präsident Barack Obama mit den Worten: „Das Kino wird ohne ihn nicht das Gleiche sein.“ Legendär ist Ebert aber auch für die Filme, die er nicht mochte: Er schimpfte auf den heute als Meisterwerk anerkannten „Fight Club“, hatte wenig übrig für den Action-Klassiker „Stirb langsam“ und mochte „Uhrwerk Orange“ kaum, eines der Meisterwerke des einflussreichen Regisseurs Stanley Kubrick. 1992 ging Ebert mit einem Film hart ins Gericht, der bereits Monate vor seiner Veröffentlichung zum Skandalfilm wurde: „Basic Instinct“, jenem sexuell aufgeladenen Neo-Noir-Thriller von Paul Verhoeven, Hollywoods Enfant terrible.
Homosexuelle Aktivisten hetzten bereits während der Dreharbeiten gegen das Drehbuch von Joe Eszterhas, als sie erfuhren, eine bisexuelle Frau werde hier als Mörderin dargestellt. Um dem Film zu schaden, ließen sie in Zeitungen das Ende verraten. Auf den Titelseiten prangte: „Catherine Tramell hat es getan.“ In seiner Filmkritik erklärte Ebert, warum das eigentlich kein Problem sei. Zwar enthüllt erst die allerletzte Kameraeinstellung, was durch die Aktivisten bereits bekannt war, doch bereits vorher hatte der Kriminalfall des Films eine alternative Lösung angeboten. Ebert schrieb: „Wenn die letzte Aufnahme die gegenteilige Antwort gegeben hätte, wäre sie immer noch mit allem, was im Film passiert ist, konsistent gewesen. Jedes einzelne Beweisfitzelchen im gesamten Film unterstützt zwei verschiedene Schlussfolgerungen.“ Gefallen tat das dem Filmliebhaber gar nicht: „Als Ergebnis verließ ich den Film mit dem Gefühl, manipuliert worden zu sein - denn egal, wie sehr ich versuchte der Handlung zu folgen und die Dinge herauszufinden, der ganze Film spielte nur mit mir.“
Damit erfasste er Paul Verhoeven besser als die meisten seiner Zunft: Verhoeven, der holländische Exportschlager im US-Kino, war in erster Linie kein Geschichtenerzähler, sondern ein Trickster, ein Meister der Subversion. Wirklich nach Hollywood passte er nie. Seine Filme verweigerten ein moralisches Regelwerk, waren ungewöhnlich explizit. Mit seinen ersten US-Erfolgen „Robocop“ und „Die totale Erinnerung – Total Recall“ hatte er sich einen Namen als Provokateur gemacht, auch mit seinem Folgewerk „Basic Instinct“ blieb er diesem Bild treu: Bereits im Vorfeld skandierte er, er wolle das erigierte Glied von Hauptdarsteller Michael Douglas in voller Pracht auf der Leinwand zeigen. Dazu kam es zwar nicht, doch schon die Eröffnungsszene hält sich in der grafischen Darstellung kaum zurück.
Einem Mann werden bei der Kopulation die Hände mit einem Seidenschal ans Bett gefesselt. Seine blonde Partnerin reitet wild auf seinem Schoß. Plötzlich nimmt sie einen Eispickel, sticht auf ihn ein, durchtrennt die Halsschlagader, durchsticht seine Nase. Verhoeven führt Sex und Gewalt kongenial zusammen, wie es in der Prüderie des Hollywood-Kinos der frühen 90er, geprägt durch die Aids-Pandemie, nur er konnte: Als tödliche Ejakulation, bei der die Blutspritzer das ganze Bettlaken und den nackten Körper der Mörderin rot einfärben. Formal wirkt „Basic Instinct“ ab der ersten Szene anrüchig, verwegen, unmoralisch. Der Plot von Eszterhas ist klassischer Film-Noir: Ein Mordfall führt den Ermittler Nick Curran zur Geliebten des Toten, der vermögenden Autorin Catherine Tramell. Die hat vor einiger Zeit einen Roman verfasst, in der jemand auf genau dieselbe Weise ermordet wird, wie es nun ihrem Freund passiert ist. Will da wer Tramell den Mord anhängen oder hat Tramell das Buch geschrieben, um sich für den geplanten Mord ein Alibi zu verschaffen? Während Curran ermittelt, fühlt er sich mehr und mehr von Tramell angezogen …
Der Film Noir atmete in seiner Blütezeit von 1941 bis 1958 stets die Amoral, die Abgründigkeit, so auch hier in seiner Renaissance. Michael Douglas spielt Curran eindringlich als einen intelligenten, aber auch seinen Trieben erliegenden, labil geschwächten Polizisten, der beim Stelldichein mit der Polizeipsychologin Dr. Beth Garner mit dem Analverkehr auch dann nicht aufhört, als sie sich verbal dagegen wehrt. Die Hauptattraktion des Films ist jedoch die umwerfende Sharon Stone als bisexuelle Vielleicht-Mörderin Tramell. Nach dem überwältigenden Erfolg des Films wurde sie für kurze Zeit zum heißesten weiblichen Star im Filmgeschäft. Einer ganzen Generation brannte sich die Szene ein, in der sie bei einem Polizeiverhör die Beine übereinanderschlägt, es so kurz den Anschein macht, man könne ihre Vagina sehen.
Man mag diesen pornographischen Voyeurismus als billig empfinden, doch hier liegt die Kunst von „Basic Instinct“: Virtuos verknüpft Verhoeven in 128 Minuten anspruchsvolles Auteur-Kino mit den schmuddeligen Groschenromanen, die einst den Film Noir prägten. Die größte Inspiration lieferte aber Alfred Hitchcock: Jahre später schwärmte Verhoeven noch davon, „Basic Instinct“ in San Francisco, der Stadt von „Vertigo“ gedreht zu haben, Hitchcocks Meilenstein, der regelmäßig in Ranglisten als der beste Film aller Zeiten genannt wird. Selbst Sharon Stone kann optisch als Besetzung einer „kühlen Hitchcock-Blondine“ betrachtet werden.
Die überaus delikate Kameraarbeit von Jan de Bont sorgt für eine psychologisch ungreifbare Atmosphäre. Sensationell gerät beispielsweise eine kurze Szene, in der Douglas und Stone nachts bei Regen im Auto sitzen und sich in ihren Gesichtern der Regenfall spiegelt. Die eruptive Gewalt der Mordszenen wiederum ist dem italienischen „Giallo“-Kino der 1970er entliehen, einem Genre, das aufgrund seiner misogynen und gewaltverherrlichenden Tendenz gerne der moralistischen Kritik zum Opfer fällt, eine Situation, die Verhoeven nur zu gut kennt. Jerry Goldsmith wurde von Verhoeven für die Filmmusik erwählt. Sie ist ohne Zweifel phänomenal, und selbst eine Hommage: 1974 komponierte Goldsmith bereits die Musik für „Chinatown“ von Roman Polański, dem vermutlich einflussreichsten Neo-Noir der Geschichte. Eine Reminiszenz ist auch das Mordwerkzeug, der Eispickel, der schon 1949 im Detektivroman „Die kleine Schwester“ von Raymond Chandler auf dieselbe Weise Verwendung fand. Ein Roman, der übrigens gnadenlos als Satire auf die Traumwelten von Hollywood zu verstehen ist.
Genauso funktioniert „Basic Instinct“ als spannende Vivisektion des Hollywood-Films, als Affirmation an eine vergangene Kino-Epoche, die Verhoeven um nicht mehr als seine eigene Freizügigkeit erweitert. Sei das im visuellen Sinne zu verstehen oder in der Sprache: Curran, der schließlich mit Tramell ins Bett steigt, bezeichnet ihr Tête-à-Tête später als den „F*ck des Jahrhunderts“. Sein entsetzter Kollege Gus wirft ihm dafür vor: „Sie hat dir mit ihrer Magna-Cum-Laude-Pussy das Gehirn frittiert.“ Und Tramell stellt beim Verhör im Angesicht der schweißgebadeten Polizisten klar, dass sie mit dem Ermordeten keine Beziehung pflegte: „Ich war nicht mit ihm zusammen. Ich habe mit ihm gef*ckt.“
Was ist nun aber dran an der Kritik von Roger Ebert? Verhoeven und Eszterhas erzählen die verdorbene Geschichte von „Basic Instinct“ in eindeutiger Uneindeutigkeit. Dieses Paradoxon sieht wie folgt aus: Regelmäßig stößt der aufmerksame Zuschauer auf Momente der Filmhandlung, die zu überspitzt, zu unwahrscheinlich verlaufen, als dass sie sich am Maßstab der Realität messen lassen. Das ist dramaturgische Absicht. Tramell selbst kündigt im Film an, einen Roman basierend auf ihrer Beziehung zu Curran schreiben zu wollen. Als Curran ihr ankündigt, der Roman werde nicht mit seinem Tod, sondern mit einem gefassten Mörder enden, antwortet Tramell kühl: „Das will keiner lesen. Irgendjemand muss sterben. Weil es immer so ist.“
„Basic Instinct“ ist also ein cineastischer Kunstraum, eine Plattform für Verhoevens Fabulierkunst. Der Plot ist in zwei Richtungen auslegbar, das Ende präsentiert zwei mögliche Täterinnen. Indizien werden so platziert, dass beide Möglichkeiten denkbar wären, doch in jeder Version bleibt ein Restzweifel. In dieser Unterwanderung der konventionellen Krimi-Auflösung liegt ein feministischer Kern verborgen, den die Aktivisten damals nicht erkannten: In „Basic Instinct“ werden die Männer von Frauen bis zuletzt zum Narren gehalten, verführt, ausgenutzt. Das Feminine ist die Bedrohung, fordert männliche Machtpositionen heraus, ist diesen niedersten Instinkten aber auch weit überlegen. Die Bisexualität von Tramell ist da nur der finale Schritt, der gleichgeschlechtliche Liebesakt wird zur letzten Bastion der weiblichen Sexualität, zu welcher der lüsterne Mann nie Zutritt erhalten wird.
Und doch ist es legitim von Ebert, eine Auflösung zu fordern, wo keine sein will, sich betrogen zu fühlen, enttäuscht zu sein. Ihn interessieren die tieferen Implikationen des meisterhaften, erotischen Spiels auf der Rasierklinge nicht, er nimmt sich die Freiheit, nur von sich auszugehen, bei der professionellen Filmkritik ganz persönlich zu werden. Deshalb wurde er so geschätzt: Weil er unverblümt, elegant, aber ohne Rücksicht auf Erwartungen nur sich selbst gerecht werden wollte, selbst wenn er dabei provozierte. Weil er einer war wie Paul Verhoeven.
Schach, Jazz und Split-Screen
Thomas Crown ist nicht zu fassen
Beide setzen einen Läufer in die Mitte des Spielbretts. Jeder lässt abwechselnd einen Springer folgen. Sie sehen sich an, erlauben sich ein Schmunzeln. Dann aber: Herausfordernde Blicke. Er beginnt zu schwitzen, blick auf, sieht, wie sie mit ihren langen, lackierten Fingernägeln ihr Abendkleid ein wenig lockert. Wieder sucht er die Konzentration, vergeblich. Ratlos setzt er den König ein Feld nach rechts. Die Kamera zeigt die Gesichter in einer Großaufnahme. Dann nur die Augen. Dann ihre Lippen. Sie fasst an den Läufer, umspielt ihn mit den Fingern. Auf und ab. Während er sich auf seinen nächsten Zug konzentriert, schiebt sie unter dem Tisch ihr Bein vor, schmiegt ihr Knie an seinem Schoß. Schließlich sagt sie laut: „Schach.“ Er ist geschlagen, steht auf, scheint über das Spiel zu grübeln. Dann geht er zu ihr, hebt sie aus ihrem Stuhl, spricht: „Wir spielen etwas anderes.“ Ihre Lippen berühren sich, es folgen Küsse im Gegenlicht. Fünfundfünfzig Sekunden lang küssen sie sich, weiß der Filmexperte. Denn dieser Kuss war 1968 der bis dato längste Kuss in der Geschichte des Kinos – die Darsteller Steve McQueen und Faye Dunaway brauchten dafür acht Stunden, über drei Drehtage verteilt.
Famos ist, wie Regisseur Norman Jewison die Szene auflöst: Während sich die zwei Akteure ganz ineinander verlieren, ihre Küsse immer schneller, ihre Bewegungen wilder werden, verschwimmt die Szenerie in bunten Farben, bis auch McQueen und Dunaway in den Farben verschwinden, in einem psychedelischen Ornament, wie es damals parallel auf der Leinwand auch in „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick zu sehen war. Bei Kubrick symbolisierte der Rausch aus Licht und Kolorierung die Reise eines Astronauten über die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft hinaus, bei Jewison sind die verschmelzenden Farbtöne leichter zu begreifen: Sie simulieren den Orgasmus beim Liebesspiel. „In Filmen ist Stil der Inhalt“, definierte Jewison sein Credo, und mit der Kriminalkomödie „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte er dieses Prinzip zur obersten Maxime. Sein Klassiker, der unlängst als Prototyp eines ganzen Genres angesehen wird, ist aus moderner Sicht ganz als Zeitgeist-Wiedergabe zu verstehen. Er entführt in die Swinging Sixties, filmisch und modisch.
Für Letzteres reicht es, die Garderobe zu begutachten, mit der Faye Dunaway für den Film eingekleidet wurde. Erst ein Jahr zuvor war sie durch ihre Hauptrolle im Gangsterdrama „Bonnie und Clyde“ berühmt geworden, doch „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte sie zur Stilikone. Schick und vor allem sexy verkörpert sie eine Versicherungsdetektivin, die nach einem perfekt orchestrierten Banküberfall den Drahtzieher ermitteln soll. Ihr Verdacht führt sie zu Thomas Crown, einem angesehenen Millionär mit Gentleman-Attitüde. Und weil schon ihr erster Auftritt im Film an einem Flughafen, an dem sie den Kommissar der örtlichen Polizei von der ersten Sekunde an felsenfest im Griff hat, zeigt, wie selbstsicher und furchtlos diese brillante Ermittlerin sich durchzuschlagen weiß, konfrontiert sie Crown bei der ersten Gelegenheit mit ihrer Vermutung. Wie er darauf reagiert? Abstreiten tut er es nicht.
Norman Jewison hatte noch ein Jahr zuvor mit dem Rassismusdrama „In der Hitze der Nacht“ fünf Oscars gewonnen, u.a. in der Hauptkategorie als ‚Bester Film‘. Für sein nächstes Projekt engagierte er Alan Trustman, einen Quereinsteiger in der Filmwelt, um ein Drehbuch für ein Heist-Movie, einen Film mit einem Raubüberfall im Zentrum, zu schreiben, wie sie zu dieser Zeit besonders beliebt waren. Doch Trustmans Script unterscheidet sich stark von anderen Genre-Vertretern: Der große Banküberfall, der minutiös geplante und reibungslos durchgeführte Coup, ist an den Anfang gestellt. Fünf verschiedene Gauner werden von einem geheimnisvoll-unbekannten Auftraggeber instruiert, und begehen das perfekte Verbrechen, ohne sich vorher je begegnet zu sein.
Um das ideale Zusammenspiel der Kriminellen zu veranschaulichen, setzte Jewison auf die sogenannte Split-Screen-Technik. Soll heißen: Der Bildschirm teilt sich in verschiedene kastenförmige Segmente, in denen unterschiedliche Handlungen gezeigt werden. Die Virtuosität, mit der so eine der spannendsten Montage-Sequenzen des 60er-Jahre-Kinos erzeugt wurde, ist nahezu berauschend. Die Auftrennung der verschiedenen Aktionen auf Teileinheiten des Gesamtbildes entwickelt einen fulminanten Rhythmus, war ihrer Zeit voraus. Erst 2001 erlebte diese filmische Rhetorik ihre Renaissance, als sie durch die actionreiche TV-Serie „24“ zu neuer Berühmtheit kam.
Darauffolgend widmet sich „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ dem Beziehungsspiel seiner Protagonisten. Für den oft als ‚King of Cool‘ bezeichneten Steve McQueen wurde die Titelrolle zu einer seiner populärsten Darbietungen, und zurecht, denn mit seiner wunderbar sensiblen Performance spielt er kräftig gegen sein Image: Die eiskalte Coolness ist ihm natürlich ins Gesicht geschrieben, doch selten sieht man McQueen so oft sowohl grübelnd und nachdenklich als auch ausgelassen lachend wie in diesem Film. Ursprünglich hatte Trustman beim Schreiben noch Sean Connery für den Part vor Augen, schrieb manche Szenen später um, machte sie für McQueen passend. Besonders prägnant für die Zeichnung der Figur ist eine Szene nach dem geglückten Raubüberfall, als er sich breit grinsend im Spiegel selbst zuprostet. Der deutsche Verleih lag deshalb ganz richtig damit, den eher banalen Originaltitel „The Thomas Crown Affair“, also: „Die Thomas Crown Affäre“, durch den schwungvolleren „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ zu ersetzen.
So ganz greifen lässt sich die Crown-Figur nämlich nicht. Einem echten Motiv für den Banküberfall bleibt er schuldig. Purer Nervenkitzel treibt ihn an, er ist ein Mann, der von seinem Leben in Extravaganz und Wohlstand gelangweilt ist. Er fährt einen schmucken Rolls-Royce, trägt die teuersten Sonnenbrillen, raucht die luxuriösesten Zigaretten, doch es fehlt ihm Befriedigung. Einmal kreist er mit seinem Segelflugzeug ziellos durch die Lüfte. Ursprünglich sollte diese Szene mit „Strawberry Fields Forever“ von den Beatles unterlegt werden, erst spät entschied man sich für den eigens komponierten Song „Windmills of your Mind“, gesungen von Noel Harrison, der schon in der anfänglichen Titelsequenz zu hören war und einen Oscar für das ‚Beste Filmlied‘ erhielt. Der melancholische Text gibt die Leere in Thomas Crown hervorragend wieder: „Rund wie eine Uhr, deren Zeiger über die Minuten ihres Ziffernblatts fegen. Und die Welt ist wie ein Apfel, der lautlos im Raum wirbelt, wie die Kreise, die du in den Windmühlen deines Geistes findest!“
Wenn er und Faye Dunaway, deren gemeinsame Chemie vor sexueller Spannung geradezu prickelt, gemeinsam in einem Buggy über den Strand jagen, ergötzt und verliebt sich die formal exzellent geführte Kamera von Haskell Wexler in den zur Schau gestellten Luxus, so wie auch Dunaways Charakter sich von Crown mehr und mehr verführen lässt. Genial also die Besetzung der Frau, die durch „Bonnie und Clyde“ zu einer Identifikationsfigur der damals rebellierenden Jugend wurde: In „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ergibt sie sich nun dem Prunk des Establishments. Die soziale Realität wird ausgeblendet, der schnöde Alltag ist vergessen, und der Eskapismus formvollendet. Der Stil wird ganz zum Inhalt, wie Jewison es anstrebte.
Die zeitgenössische Kritik warf dem 102-minütigen Film wohl auch deshalb seine Oberflächlichkeit vor, seinen Hochglanz, aber aus einem Missverständnis heraus. Jewison drehte keinen Hochspannungsthriller, kein so gern herauf beschworenes fintenreiches Katz-und-Mausspiel. In Wahrheit gibt die lässige, Piano-lastige Filmmusik von Michel Legrand den Takt vor: „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ist kinematografischer Jazz. So mag es ungestüm, selbstzweckhaft erscheinen, wenn die Split-Screen-Technik in einer Szene bei einem Polospiel einzelne Aufnahmen verzigfacht, dasselbe Bild sechzigmal zugleich gezeigt wird, es ist jedoch Ursprung der filmisch gewünschten Attitüde: Dynamik wird wo immer möglich forciert, rasante, beinahe improvisiert-wirkende Tempiwechsel erzeugen Aufmerksamkeit, die Dialoge sind frivol, verwegen. Das Drehbuch sucht nicht immer nach der inneren Logik, dem tieferen Sinn. Dieser Film will erlebt und gefühlt werden. Ein intellektueller Zugang ist fehl am Platz, schließlich wird symbolträchtig selbst Schach, das edle Spiel der Könige, das Kräftemessen großer Denker und Strategen, zum erotischen Duell umfunktioniert.
Und wie so oft beim Jazz endet auch Jewisons Film auf einer bitteren letzten Note. Beim Versuch, dem von ihr mittlerweile verehrten Millionär eine Falle zu stellen, ist Dunaways Figur in seine getappt. Sie endet weinend, betrogen, ausgetrickst. Anders als in der ironischer angelegten Neuverfilmung von 1999, in den zentralen Rollen mit Pierce Brosnan und Rene Russo besetzt, wartet man dementsprechend vergeblich auf die glückliche Auflösung für das Filmpaar. „Die Thomas Crown Affäre“, eine Liaison mit dem Gentleman-Ganoven, davon durfte geträumt werden, der deutsche Filmtitel aber triumphiert, wie auch die Protagonistin einsehen muss: Dieser Mann ist wirklich nicht zu fassen.
Beide setzen einen Läufer in die Mitte des Spielbretts. Jeder lässt abwechselnd einen Springer folgen. Sie sehen sich an, erlauben sich ein Schmunzeln. Dann aber: Herausfordernde Blicke. Er beginnt zu schwitzen, blick auf, sieht, wie sie mit ihren langen, lackierten Fingernägeln ihr Abendkleid ein wenig lockert. Wieder sucht er die Konzentration, vergeblich. Ratlos setzt er den König ein Feld nach rechts. Die Kamera zeigt die Gesichter in einer Großaufnahme. Dann nur die Augen. Dann ihre Lippen. Sie fasst an den Läufer, umspielt ihn mit den Fingern. Auf und ab. Während er sich auf seinen nächsten Zug konzentriert, schiebt sie unter dem Tisch ihr Bein vor, schmiegt ihr Knie an seinem Schoß. Schließlich sagt sie laut: „Schach.“ Er ist geschlagen, steht auf, scheint über das Spiel zu grübeln. Dann geht er zu ihr, hebt sie aus ihrem Stuhl, spricht: „Wir spielen etwas anderes.“ Ihre Lippen berühren sich, es folgen Küsse im Gegenlicht. Fünfundfünfzig Sekunden lang küssen sie sich, weiß der Filmexperte. Denn dieser Kuss war 1968 der bis dato längste Kuss in der Geschichte des Kinos – die Darsteller Steve McQueen und Faye Dunaway brauchten dafür acht Stunden, über drei Drehtage verteilt.
Famos ist, wie Regisseur Norman Jewison die Szene auflöst: Während sich die zwei Akteure ganz ineinander verlieren, ihre Küsse immer schneller, ihre Bewegungen wilder werden, verschwimmt die Szenerie in bunten Farben, bis auch McQueen und Dunaway in den Farben verschwinden, in einem psychedelischen Ornament, wie es damals parallel auf der Leinwand auch in „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick zu sehen war. Bei Kubrick symbolisierte der Rausch aus Licht und Kolorierung die Reise eines Astronauten über die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft hinaus, bei Jewison sind die verschmelzenden Farbtöne leichter zu begreifen: Sie simulieren den Orgasmus beim Liebesspiel. „In Filmen ist Stil der Inhalt“, definierte Jewison sein Credo, und mit der Kriminalkomödie „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte er dieses Prinzip zur obersten Maxime. Sein Klassiker, der unlängst als Prototyp eines ganzen Genres angesehen wird, ist aus moderner Sicht ganz als Zeitgeist-Wiedergabe zu verstehen. Er entführt in die Swinging Sixties, filmisch und modisch.
Für Letzteres reicht es, die Garderobe zu begutachten, mit der Faye Dunaway für den Film eingekleidet wurde. Erst ein Jahr zuvor war sie durch ihre Hauptrolle im Gangsterdrama „Bonnie und Clyde“ berühmt geworden, doch „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte sie zur Stilikone. Schick und vor allem sexy verkörpert sie eine Versicherungsdetektivin, die nach einem perfekt orchestrierten Banküberfall den Drahtzieher ermitteln soll. Ihr Verdacht führt sie zu Thomas Crown, einem angesehenen Millionär mit Gentleman-Attitüde. Und weil schon ihr erster Auftritt im Film an einem Flughafen, an dem sie den Kommissar der örtlichen Polizei von der ersten Sekunde an felsenfest im Griff hat, zeigt, wie selbstsicher und furchtlos diese brillante Ermittlerin sich durchzuschlagen weiß, konfrontiert sie Crown bei der ersten Gelegenheit mit ihrer Vermutung. Wie er darauf reagiert? Abstreiten tut er es nicht.
Norman Jewison hatte noch ein Jahr zuvor mit dem Rassismusdrama „In der Hitze der Nacht“ fünf Oscars gewonnen, u.a. in der Hauptkategorie als ‚Bester Film‘. Für sein nächstes Projekt engagierte er Alan Trustman, einen Quereinsteiger in der Filmwelt, um ein Drehbuch für ein Heist-Movie, einen Film mit einem Raubüberfall im Zentrum, zu schreiben, wie sie zu dieser Zeit besonders beliebt waren. Doch Trustmans Script unterscheidet sich stark von anderen Genre-Vertretern: Der große Banküberfall, der minutiös geplante und reibungslos durchgeführte Coup, ist an den Anfang gestellt. Fünf verschiedene Gauner werden von einem geheimnisvoll-unbekannten Auftraggeber instruiert, und begehen das perfekte Verbrechen, ohne sich vorher je begegnet zu sein.
Um das ideale Zusammenspiel der Kriminellen zu veranschaulichen, setzte Jewison auf die sogenannte Split-Screen-Technik. Soll heißen: Der Bildschirm teilt sich in verschiedene kastenförmige Segmente, in denen unterschiedliche Handlungen gezeigt werden. Die Virtuosität, mit der so eine der spannendsten Montage-Sequenzen des 60er-Jahre-Kinos erzeugt wurde, ist nahezu berauschend. Die Auftrennung der verschiedenen Aktionen auf Teileinheiten des Gesamtbildes entwickelt einen fulminanten Rhythmus, war ihrer Zeit voraus. Erst 2001 erlebte diese filmische Rhetorik ihre Renaissance, als sie durch die actionreiche TV-Serie „24“ zu neuer Berühmtheit kam.
Darauffolgend widmet sich „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ dem Beziehungsspiel seiner Protagonisten. Für den oft als ‚King of Cool‘ bezeichneten Steve McQueen wurde die Titelrolle zu einer seiner populärsten Darbietungen, und zurecht, denn mit seiner wunderbar sensiblen Performance spielt er kräftig gegen sein Image: Die eiskalte Coolness ist ihm natürlich ins Gesicht geschrieben, doch selten sieht man McQueen so oft sowohl grübelnd und nachdenklich als auch ausgelassen lachend wie in diesem Film. Ursprünglich hatte Trustman beim Schreiben noch Sean Connery für den Part vor Augen, schrieb manche Szenen später um, machte sie für McQueen passend. Besonders prägnant für die Zeichnung der Figur ist eine Szene nach dem geglückten Raubüberfall, als er sich breit grinsend im Spiegel selbst zuprostet. Der deutsche Verleih lag deshalb ganz richtig damit, den eher banalen Originaltitel „The Thomas Crown Affair“, also: „Die Thomas Crown Affäre“, durch den schwungvolleren „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ zu ersetzen.
So ganz greifen lässt sich die Crown-Figur nämlich nicht. Einem echten Motiv für den Banküberfall bleibt er schuldig. Purer Nervenkitzel treibt ihn an, er ist ein Mann, der von seinem Leben in Extravaganz und Wohlstand gelangweilt ist. Er fährt einen schmucken Rolls-Royce, trägt die teuersten Sonnenbrillen, raucht die luxuriösesten Zigaretten, doch es fehlt ihm Befriedigung. Einmal kreist er mit seinem Segelflugzeug ziellos durch die Lüfte. Ursprünglich sollte diese Szene mit „Strawberry Fields Forever“ von den Beatles unterlegt werden, erst spät entschied man sich für den eigens komponierten Song „Windmills of your Mind“, gesungen von Noel Harrison, der schon in der anfänglichen Titelsequenz zu hören war und einen Oscar für das ‚Beste Filmlied‘ erhielt. Der melancholische Text gibt die Leere in Thomas Crown hervorragend wieder: „Rund wie eine Uhr, deren Zeiger über die Minuten ihres Ziffernblatts fegen. Und die Welt ist wie ein Apfel, der lautlos im Raum wirbelt, wie die Kreise, die du in den Windmühlen deines Geistes findest!“
Wenn er und Faye Dunaway, deren gemeinsame Chemie vor sexueller Spannung geradezu prickelt, gemeinsam in einem Buggy über den Strand jagen, ergötzt und verliebt sich die formal exzellent geführte Kamera von Haskell Wexler in den zur Schau gestellten Luxus, so wie auch Dunaways Charakter sich von Crown mehr und mehr verführen lässt. Genial also die Besetzung der Frau, die durch „Bonnie und Clyde“ zu einer Identifikationsfigur der damals rebellierenden Jugend wurde: In „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ergibt sie sich nun dem Prunk des Establishments. Die soziale Realität wird ausgeblendet, der schnöde Alltag ist vergessen, und der Eskapismus formvollendet. Der Stil wird ganz zum Inhalt, wie Jewison es anstrebte.
Die zeitgenössische Kritik warf dem 102-minütigen Film wohl auch deshalb seine Oberflächlichkeit vor, seinen Hochglanz, aber aus einem Missverständnis heraus. Jewison drehte keinen Hochspannungsthriller, kein so gern herauf beschworenes fintenreiches Katz-und-Mausspiel. In Wahrheit gibt die lässige, Piano-lastige Filmmusik von Michel Legrand den Takt vor: „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ist kinematografischer Jazz. So mag es ungestüm, selbstzweckhaft erscheinen, wenn die Split-Screen-Technik in einer Szene bei einem Polospiel einzelne Aufnahmen verzigfacht, dasselbe Bild sechzigmal zugleich gezeigt wird, es ist jedoch Ursprung der filmisch gewünschten Attitüde: Dynamik wird wo immer möglich forciert, rasante, beinahe improvisiert-wirkende Tempiwechsel erzeugen Aufmerksamkeit, die Dialoge sind frivol, verwegen. Das Drehbuch sucht nicht immer nach der inneren Logik, dem tieferen Sinn. Dieser Film will erlebt und gefühlt werden. Ein intellektueller Zugang ist fehl am Platz, schließlich wird symbolträchtig selbst Schach, das edle Spiel der Könige, das Kräftemessen großer Denker und Strategen, zum erotischen Duell umfunktioniert.
Und wie so oft beim Jazz endet auch Jewisons Film auf einer bitteren letzten Note. Beim Versuch, dem von ihr mittlerweile verehrten Millionär eine Falle zu stellen, ist Dunaways Figur in seine getappt. Sie endet weinend, betrogen, ausgetrickst. Anders als in der ironischer angelegten Neuverfilmung von 1999, in den zentralen Rollen mit Pierce Brosnan und Rene Russo besetzt, wartet man dementsprechend vergeblich auf die glückliche Auflösung für das Filmpaar. „Die Thomas Crown Affäre“, eine Liaison mit dem Gentleman-Ganoven, davon durfte geträumt werden, der deutsche Filmtitel aber triumphiert, wie auch die Protagonistin einsehen muss: Dieser Mann ist wirklich nicht zu fassen.
Ein Blechpirat sieht rot
Feuerstoß
Ein Anruf bringt den Arzt Dr. Tracer dazu, den geplanten gemeinsamen Abend mit seiner Frau abzusagen und stattdessen sofort zum College zu fahren, in welchem er unterrichtet. Eine seiner Schülerinnen ist bei einer Feier zusammengebrochen. Dort angekommen, holt er sofort Medizin aus seiner Tasche. In einer Nahaufnahme ist das Bild zweigeteilt: Die rechte Seite zeigt das nervöse Gesicht einer Lehrerin, mit großen Augen beobachtet sie wie in der linken Bildhälfte die Hand des Arztes das Medikament öffnet. Eine bizarre Einstellung, die später noch einmal wichtig wird. Diese Szene ereignet sich nämlich zu Beginn des italienisch-kanadischen Kriminalfilms „Feuerstoß“ und Dr. Tracer wird bald der Hauptverdächtige einer Mordermittlung sein.
Nachdem er der Studentin Louise nämlich das Mittel verabreicht hat, offenbart sich ihr Zusammenbruch als kleiner Scherz, mit welchem der Arzt auf die Studentenfeier gelockt werden sollte. Schon einmal dort, beschließt er, mitzufeiern – ehe kurz darauf Louise erneut zusammenbricht. Dieses Mal wirklich. Und tödlich. Die Obduktion ergibt: Sie wurde vergiftet. Sofort beginnt der Polizist Tony Saitta die Ermittlungen. Louise war nämlich niemand geringeres als seine eigene Schwester. Die wollte am Tag ihres Todes noch mit ihm telefonieren, doch er war gerade zu beschäftigt damit, fliehende Bankräuber zu verfolgen und ganz im Stil von „Dirty Harry“ über den Haufen zu schießen.
Nun also ermittelt Saitta gegen Dr. Tracer, dem eine Affäre mit Louise nachgesagt wird. Der filmkundige Cineast wird Dr. Tracer von Beginn an kritisch beäugen, spielt ihn doch Martin Landau, der sich einst als mörderischer Leonard in „Der unsichtbare Dritte“ von Alfred Hitchcock seinen Platz in den Annalen der Filmgeschichte sicherte. 1976 verschlug es ihn nach Montréal, in diesen Poliziottesco, der in Deutschland zuerst unter dem Titel „Tod im College“ erschien, mittlerweile aber „Feuerstoß“ genannt wird. Die Italiener kennen ihn unter „Una Magnum special per Tony Saitta“ (zu deutsch: „Eine spezielle Magnum für Tony Saitta“), ein Titel, der absichtlich nach einem Cop-Film mit Clint Eastwood klingt.
Statt dem übernimmt Stuart Whitman den Part des nach Rache düsternden Ermittlers. Seine Karriere lief der von Eastwood entgegengesetzt: Hatte der erst in Italowestern Fuß gefasst und dann in den USA eine große Karriere begonnen, war Whitman in den 1960ern noch in „Die Comanchen“ an der Seite von John Wayne und in der mit Stars gefüllten Komödie „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ zu sehen, verdingte sich aber ein Jahrzehnt später in Filmen der zweiten Liga. Ein Spezialist für solche war Regisseur Alberto De Martino. Als fleißiger Trash-Filmer drehte er legendäre Gurken wie „Der Puma Mann“, „Mord im schwarzen Cadillac“ sowie den skurrilen „Operation ‚Kleiner Bruder‘“, eine italienische Kopie der frühen „James Bond“-Filme, mit Sean Connerys Bruder Neil Connery als Superspion und anderen „originalen“ Mitgliedern der Bond-Reihe, darunter Lois Maxwell, Bernard Lee und Daniela Bianchi.
„Feuerstoß“ filmte er unter seinem Pseudonym Martin Herbert, ein Name, der für das US-amerikanische Publikum leichter auszusprechen war. Die Drehbuchautoren hießen laut Vorspann Vincent Mann und Frank Clark, dahinter verbergen sich jedoch Vincenzo Mannino und Gianfranco Clerici. Letzterer schrieb wenige Jahre später das Drehbuch zum berühmt-berüchtigten Exploitations-Schocker „Nackt und zerfleischt“, besser bekannt als „Cannibal Holocaust“. Sie trugen dazu bei, dass „Feuerstoß“ zurecht als der beste Film von Alberto De Martino gilt. Zahlreiche Szenen zeichnen sich durch schöne kleine Ideen aus, wie die beschriebene Einstellung, in der Dr. Tracer vor den Augen einer Kollegin seine Medikamente auspackt – die wieder aufgegriffen wird, als jene Kollegin bezeugen soll, dass die Packung des Medikaments noch ungeöffnet war, als Dr. Tracer es verwendete.
Schon gleich der anfängliche Banküberfall ist kompetent und spannend inszeniert, wenn auch ordentlich brutal. Das Lexikon des internationalen Films nennt dieses Werk deswegen gar „gewaltverherrlichend“, nicht unbedingt zurecht. Die Handlung hat nämlich einige Wendungen parat, die auch das Gebaren der Action betreffen. Je näher Saitta der Lösung des Falls kommt, umso klarer wird ihm, dass er den Fall deutlich schneller hätte aufklären können, hätte er seine harte Vorgehensweise ein wenig früher abgelegt.
So entstehen nahezu alle Actionszenen daraus, dass Saitta einen Verdächtigen aufsucht und dieser entweder flieht oder von Saitta so aggressiv angegangen wird, dass es zu einer Auseinandersetzung kommt. Einmal führt ihn etwa eine Spur an die Dachkante eines Hochhauses, wo er auf mehrere Transvestiten trifft – und sich sofort mit ihnen prügelt. Da fliegen Perücken durch die Luft, Blumenkübel werden geworfen, ein heißer Lockenstab sorgt für Bedrängnis, kurz hängt Saitta sogar in schwindelerregender Höhe, stürzt fast in die Tiefe. Außer einer nebensächlichen Information durch den eigentlichen Gesuchten bringt den Ermittler die Schlägerei kaum weiter.
„Feuerstoß“ setzt nicht ausschließlich auf aggressive Gefechte. In einigen Sequenzen gelingen De Martino schöne Spannungsmomente, wie eine effektive Szene mit Louises blinder Mitbewohnerin Julie. Sie wird allein in ihrer Wohnung gezeigt, spürt aber die Anwesenheit einer zweiten Person. Zaghaft sagt sie: „Ich weiß, dass hier noch jemand im Raum ist.“ Als keine Antwort kommt, geht sie vorsichtig jeden Meter ihrer Räumlichkeiten ab, ohne Ergebnis. Auch die Kamera zeigt uns nie den mutmaßlichen Einbrecher. Als aber plötzlich ihre Zimmertür laut knallt, haben wir und sie Gewissheit. Sie schreitet auf den Flur hinterher, unwissentlich, dass dort gebaut wird – und ein Teil der Außenfassade ohne Absperrung offensteht, auf den sie zuschreitet.
Solche Augenblicke der Antizipation nutzt De Martino für mehrere spekulativ inszenierte Mordszenen, die so effektiv sind, dass „Feuerstoß“ in einigen Nachschlagwerken gar als Giallo geführt wird – obwohl der Film sich im Vergleich zu den Werken anderer Gialli-Regisseure wie Sergio Martino, Mario Bava oder Dario Argento mit der Explizität der Tötungen stark zurückhält. Immerhin: Eine der Mordszenen fand später ihren Weg erneut auf die Leinwand, als Argento sie 2005 für seinen „Do You Like Hitchcock?“ beinahe Bild für Bild nachstellte. Die blinde Julie wird dem ein oder anderen Filmkenner übrigens bekannt vorkommen. Ihre Schauspielerin Tisa Farrow sieht ihrer Schwester Mia Farrow ziemlich ähnlich. Natürlich war Mia der größere Star, spätestens seit sie 1968 unter der Regie von Roman Polański „Rosemaries Baby“ bekam.
Der absolute Höhepunkt des Films ist derweil eine exzellente Autoverfolgungsjagd, die überdeutlich große und legendäre Vorbilder wie „Bullitt“, „Die Seven-Ups“ und „Die Blechpiraten“ zitiert, selbst aber ein Musterbeispiel für gelungene Stuntarbeit darstellt. Kein Wunder, war für sie doch der Franzose Rémy Julienne verantwortlich, der bei über 400 Kinofilmen an den Auto-Stunts mitwirkte. Sechsmal fuhr er für „James Bond“, legendär zudem seine Beteiligung an zahlreichen Filmen mit Louis de Funès, insbesondere „Fantomas“ und „Die Abenteuer des Rabbi Jacob“. In „Feuerstoß“ liefert er eine famose zehnminütige Blechschaden-Oper, in der ein Mustang und ein Buick ineinander krachen, in Zeitlupe über fahrende Züge springen und meterweit auf der Seite über den Asphalt schleifen. Eine beeindruckende Szene, für die De Martino und Julienne mehrere viel befahrene Straßen in Montréal sperren ließen.
Die kanadische Millionenstadt liefert eine prächtige Kulisse für die zwanghaft unmoralisch-nymphomanische Welt, in der alles einen doppelten Boden hat. Bald erfährt Saitta, dass seine Schwester keinesfalls ein Unschuldslamm war – in mehrfacher Hinsicht. Die eigentliche Auflösung des Mordfalls gerät sogar erstaunlich pfiffig und sorgt für einen rasanten Abschluss. Besonders rasant wirkt der Film auf das deutsche Publikum, denn es bekam nur 88 Minuten des Films zu sehen, zwölf Minuten wurden für die deutsche Fassung geschnitten. Dafür bietet die Synchronisation aus deutschen Landen einen unschätzbaren Vorteil: Der engagierte Einsatz von Sprecher Horst Schön weiß zu kaschieren, wie lustlos sich Stuart Whitman durch seine Hauptrolle langweilt. Außerdem ist die höchst eigenwillige Kombination, Martin Landau durch Synchron-Urgestein Lothar Blumhagen vertonen zu lassen ein Grund für sich, der deutschen Fassung eine Chance zu geben.
Unbedingt erwähnenswert ist noch die stimmungsvolle Filmmusik von Armando Trovajoli, dessen Jazz-Instrumentationen in Richtung des Soundtracks schielen, den Lalo Schifrin für „Dirty Harry“ komponierte, aber auch geprägt sind durch Trovajolis viele Arbeiten für Filme der Commedia all’italiana, einem Genre italienischer Filmkomödien, die mit satirischem Unterton die kleinbürgerliche Spießigkeit persiflierten. Durch seine rotzigen Melodien ist „Feuerstoß“ mit einem zwingenden, durchgängigen Augenzwinkern versehen, die ihm seine Durchschlagkraft sichern. Man könnte sagen: Wenn im bleihaltigen Finale der harte Hund Tony Saitta mit seiner „Magnum special“ aus dem Originaltitel einen Hubschrauber vom Himmel schießt, ist das bierernst gemeinte Ironie, für die ihn Genre-Fans lieben. Sein wohl berühmtester Bewunderer ist dabei kein Geringerer als der mehrfach mit dem Oscar prämierte Filmemacher Quentin Tarantino.
Ein Anruf bringt den Arzt Dr. Tracer dazu, den geplanten gemeinsamen Abend mit seiner Frau abzusagen und stattdessen sofort zum College zu fahren, in welchem er unterrichtet. Eine seiner Schülerinnen ist bei einer Feier zusammengebrochen. Dort angekommen, holt er sofort Medizin aus seiner Tasche. In einer Nahaufnahme ist das Bild zweigeteilt: Die rechte Seite zeigt das nervöse Gesicht einer Lehrerin, mit großen Augen beobachtet sie wie in der linken Bildhälfte die Hand des Arztes das Medikament öffnet. Eine bizarre Einstellung, die später noch einmal wichtig wird. Diese Szene ereignet sich nämlich zu Beginn des italienisch-kanadischen Kriminalfilms „Feuerstoß“ und Dr. Tracer wird bald der Hauptverdächtige einer Mordermittlung sein.
Nachdem er der Studentin Louise nämlich das Mittel verabreicht hat, offenbart sich ihr Zusammenbruch als kleiner Scherz, mit welchem der Arzt auf die Studentenfeier gelockt werden sollte. Schon einmal dort, beschließt er, mitzufeiern – ehe kurz darauf Louise erneut zusammenbricht. Dieses Mal wirklich. Und tödlich. Die Obduktion ergibt: Sie wurde vergiftet. Sofort beginnt der Polizist Tony Saitta die Ermittlungen. Louise war nämlich niemand geringeres als seine eigene Schwester. Die wollte am Tag ihres Todes noch mit ihm telefonieren, doch er war gerade zu beschäftigt damit, fliehende Bankräuber zu verfolgen und ganz im Stil von „Dirty Harry“ über den Haufen zu schießen.
Nun also ermittelt Saitta gegen Dr. Tracer, dem eine Affäre mit Louise nachgesagt wird. Der filmkundige Cineast wird Dr. Tracer von Beginn an kritisch beäugen, spielt ihn doch Martin Landau, der sich einst als mörderischer Leonard in „Der unsichtbare Dritte“ von Alfred Hitchcock seinen Platz in den Annalen der Filmgeschichte sicherte. 1976 verschlug es ihn nach Montréal, in diesen Poliziottesco, der in Deutschland zuerst unter dem Titel „Tod im College“ erschien, mittlerweile aber „Feuerstoß“ genannt wird. Die Italiener kennen ihn unter „Una Magnum special per Tony Saitta“ (zu deutsch: „Eine spezielle Magnum für Tony Saitta“), ein Titel, der absichtlich nach einem Cop-Film mit Clint Eastwood klingt.
Statt dem übernimmt Stuart Whitman den Part des nach Rache düsternden Ermittlers. Seine Karriere lief der von Eastwood entgegengesetzt: Hatte der erst in Italowestern Fuß gefasst und dann in den USA eine große Karriere begonnen, war Whitman in den 1960ern noch in „Die Comanchen“ an der Seite von John Wayne und in der mit Stars gefüllten Komödie „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ zu sehen, verdingte sich aber ein Jahrzehnt später in Filmen der zweiten Liga. Ein Spezialist für solche war Regisseur Alberto De Martino. Als fleißiger Trash-Filmer drehte er legendäre Gurken wie „Der Puma Mann“, „Mord im schwarzen Cadillac“ sowie den skurrilen „Operation ‚Kleiner Bruder‘“, eine italienische Kopie der frühen „James Bond“-Filme, mit Sean Connerys Bruder Neil Connery als Superspion und anderen „originalen“ Mitgliedern der Bond-Reihe, darunter Lois Maxwell, Bernard Lee und Daniela Bianchi.
„Feuerstoß“ filmte er unter seinem Pseudonym Martin Herbert, ein Name, der für das US-amerikanische Publikum leichter auszusprechen war. Die Drehbuchautoren hießen laut Vorspann Vincent Mann und Frank Clark, dahinter verbergen sich jedoch Vincenzo Mannino und Gianfranco Clerici. Letzterer schrieb wenige Jahre später das Drehbuch zum berühmt-berüchtigten Exploitations-Schocker „Nackt und zerfleischt“, besser bekannt als „Cannibal Holocaust“. Sie trugen dazu bei, dass „Feuerstoß“ zurecht als der beste Film von Alberto De Martino gilt. Zahlreiche Szenen zeichnen sich durch schöne kleine Ideen aus, wie die beschriebene Einstellung, in der Dr. Tracer vor den Augen einer Kollegin seine Medikamente auspackt – die wieder aufgegriffen wird, als jene Kollegin bezeugen soll, dass die Packung des Medikaments noch ungeöffnet war, als Dr. Tracer es verwendete.
Schon gleich der anfängliche Banküberfall ist kompetent und spannend inszeniert, wenn auch ordentlich brutal. Das Lexikon des internationalen Films nennt dieses Werk deswegen gar „gewaltverherrlichend“, nicht unbedingt zurecht. Die Handlung hat nämlich einige Wendungen parat, die auch das Gebaren der Action betreffen. Je näher Saitta der Lösung des Falls kommt, umso klarer wird ihm, dass er den Fall deutlich schneller hätte aufklären können, hätte er seine harte Vorgehensweise ein wenig früher abgelegt.
So entstehen nahezu alle Actionszenen daraus, dass Saitta einen Verdächtigen aufsucht und dieser entweder flieht oder von Saitta so aggressiv angegangen wird, dass es zu einer Auseinandersetzung kommt. Einmal führt ihn etwa eine Spur an die Dachkante eines Hochhauses, wo er auf mehrere Transvestiten trifft – und sich sofort mit ihnen prügelt. Da fliegen Perücken durch die Luft, Blumenkübel werden geworfen, ein heißer Lockenstab sorgt für Bedrängnis, kurz hängt Saitta sogar in schwindelerregender Höhe, stürzt fast in die Tiefe. Außer einer nebensächlichen Information durch den eigentlichen Gesuchten bringt den Ermittler die Schlägerei kaum weiter.
„Feuerstoß“ setzt nicht ausschließlich auf aggressive Gefechte. In einigen Sequenzen gelingen De Martino schöne Spannungsmomente, wie eine effektive Szene mit Louises blinder Mitbewohnerin Julie. Sie wird allein in ihrer Wohnung gezeigt, spürt aber die Anwesenheit einer zweiten Person. Zaghaft sagt sie: „Ich weiß, dass hier noch jemand im Raum ist.“ Als keine Antwort kommt, geht sie vorsichtig jeden Meter ihrer Räumlichkeiten ab, ohne Ergebnis. Auch die Kamera zeigt uns nie den mutmaßlichen Einbrecher. Als aber plötzlich ihre Zimmertür laut knallt, haben wir und sie Gewissheit. Sie schreitet auf den Flur hinterher, unwissentlich, dass dort gebaut wird – und ein Teil der Außenfassade ohne Absperrung offensteht, auf den sie zuschreitet.
Solche Augenblicke der Antizipation nutzt De Martino für mehrere spekulativ inszenierte Mordszenen, die so effektiv sind, dass „Feuerstoß“ in einigen Nachschlagwerken gar als Giallo geführt wird – obwohl der Film sich im Vergleich zu den Werken anderer Gialli-Regisseure wie Sergio Martino, Mario Bava oder Dario Argento mit der Explizität der Tötungen stark zurückhält. Immerhin: Eine der Mordszenen fand später ihren Weg erneut auf die Leinwand, als Argento sie 2005 für seinen „Do You Like Hitchcock?“ beinahe Bild für Bild nachstellte. Die blinde Julie wird dem ein oder anderen Filmkenner übrigens bekannt vorkommen. Ihre Schauspielerin Tisa Farrow sieht ihrer Schwester Mia Farrow ziemlich ähnlich. Natürlich war Mia der größere Star, spätestens seit sie 1968 unter der Regie von Roman Polański „Rosemaries Baby“ bekam.
Der absolute Höhepunkt des Films ist derweil eine exzellente Autoverfolgungsjagd, die überdeutlich große und legendäre Vorbilder wie „Bullitt“, „Die Seven-Ups“ und „Die Blechpiraten“ zitiert, selbst aber ein Musterbeispiel für gelungene Stuntarbeit darstellt. Kein Wunder, war für sie doch der Franzose Rémy Julienne verantwortlich, der bei über 400 Kinofilmen an den Auto-Stunts mitwirkte. Sechsmal fuhr er für „James Bond“, legendär zudem seine Beteiligung an zahlreichen Filmen mit Louis de Funès, insbesondere „Fantomas“ und „Die Abenteuer des Rabbi Jacob“. In „Feuerstoß“ liefert er eine famose zehnminütige Blechschaden-Oper, in der ein Mustang und ein Buick ineinander krachen, in Zeitlupe über fahrende Züge springen und meterweit auf der Seite über den Asphalt schleifen. Eine beeindruckende Szene, für die De Martino und Julienne mehrere viel befahrene Straßen in Montréal sperren ließen.
Die kanadische Millionenstadt liefert eine prächtige Kulisse für die zwanghaft unmoralisch-nymphomanische Welt, in der alles einen doppelten Boden hat. Bald erfährt Saitta, dass seine Schwester keinesfalls ein Unschuldslamm war – in mehrfacher Hinsicht. Die eigentliche Auflösung des Mordfalls gerät sogar erstaunlich pfiffig und sorgt für einen rasanten Abschluss. Besonders rasant wirkt der Film auf das deutsche Publikum, denn es bekam nur 88 Minuten des Films zu sehen, zwölf Minuten wurden für die deutsche Fassung geschnitten. Dafür bietet die Synchronisation aus deutschen Landen einen unschätzbaren Vorteil: Der engagierte Einsatz von Sprecher Horst Schön weiß zu kaschieren, wie lustlos sich Stuart Whitman durch seine Hauptrolle langweilt. Außerdem ist die höchst eigenwillige Kombination, Martin Landau durch Synchron-Urgestein Lothar Blumhagen vertonen zu lassen ein Grund für sich, der deutschen Fassung eine Chance zu geben.
Unbedingt erwähnenswert ist noch die stimmungsvolle Filmmusik von Armando Trovajoli, dessen Jazz-Instrumentationen in Richtung des Soundtracks schielen, den Lalo Schifrin für „Dirty Harry“ komponierte, aber auch geprägt sind durch Trovajolis viele Arbeiten für Filme der Commedia all’italiana, einem Genre italienischer Filmkomödien, die mit satirischem Unterton die kleinbürgerliche Spießigkeit persiflierten. Durch seine rotzigen Melodien ist „Feuerstoß“ mit einem zwingenden, durchgängigen Augenzwinkern versehen, die ihm seine Durchschlagkraft sichern. Man könnte sagen: Wenn im bleihaltigen Finale der harte Hund Tony Saitta mit seiner „Magnum special“ aus dem Originaltitel einen Hubschrauber vom Himmel schießt, ist das bierernst gemeinte Ironie, für die ihn Genre-Fans lieben. Sein wohl berühmtester Bewunderer ist dabei kein Geringerer als der mehrfach mit dem Oscar prämierte Filmemacher Quentin Tarantino.
Läuft der alte Ford fort …
Auf der Flucht
Wie gelingt es Geschichtenerzählern, einen fiktiven Charakter in Windeseile liebenswert zu konstruieren? Mit dieser Frage hat sich der Dramaturg Blake Snyder beschäftigt und 2015 ein Sachbuch darübergeschrieben. Seine Antwort steht im Titel: „Rette die Katze! Das ultimative Buch übers Drehbuchschreiben“. Aber was bedeutet es, die Katze zu retten? Snyder erklärt, der einfachste Weg, die Zuneigung des Publikums für eine Hauptfigur zu gewinnen, sähe wie folgt aus: Gleich beim ersten Auftritt müsse die Figur sich selbstlos verhalten und so einen besonders guten Eindruck erwecken – zum Beispiel durch die Rettung eines Kätzchens von einem Baum. Schon sei dem Protagonisten die Sympathie der Zuschauer gewiss. Ein besonders effektiver Einsatz eines „Rette die Katze!“-Szenarios eröffnet den Actionfilm „Auf der Flucht“. Nur ist „die Katze“ ein verletzter Gefängniswärter und „der Baum“ ein verunglückter Bus, der auf Zugschienen liegengeblieben ist.
Denn obwohl dieser Bus den zum Tode verurteilten Chirurgen Dr. Richard Kimble zu seinem Termin mit der Giftspritze bringen sollte, hat er Mitgefühl, als er sich in dem überschlagenen Fahrzeug wiederfindet und ein Zug auf das Bus-Wrack zusteuert. Er stemmt den Wärter über seine Schulter, wirft ihn in Sicherheit und kann in letzter Sekunde selbst dem drohenden Unfalltod entrinnen. Von hier an kann das Publikum gar nicht anders, als für ihn Respekt zu empfinden. Ein kurzer Prolog hatte bereits die missliche Lage von Kimble vorgestellt. Eines Abends fand er in seinem Haus seine Frau ermordet vor und wurde daraufhin von einem einarmigen Mann attackiert. Die Polizei glaubte ihm die Geschichte jedoch nicht, war sicher: Er ist auf die Lebensversicherung seiner noch vermögenderen Gattin aus. Die Todesstrafe war schneller gesprochen, als Kimble die Situation verstehen konnte. Doch obwohl ihm die Justiz so übel mitgespielt hatte, findet er, als es um Sekunden geht und ein dampfender Zug ihn auszulöschen gedenkt, in diesem Moment die Kraft, einen Mann zu schützen, der alles repräsentiert, was Kimbles Leben zerstört hat. Die Katze ist gerettet – und ein Held geboren.
Dieser Held stammt eigentlich aus dem TV-Bildschirm: In 120 Folgen war „Dr. Kimble auf der Flucht“. Zwischen 1963 und 1967 etablierte sich die Geschichte um den zu Unrecht des Mordes an seiner Frau verurteilten Arzt zu einem Straßenfeger. Jede Episode zeigte Kimble mit neu angenommener Identität, wie er vor dem Gesetz floh und den Einarmigen suchte, der ihn entlasten könnte. Die letzte Folge, in der Kimble schließlich seine Freiheit zurückerlangte, hatte am 29. August 1967 in den USA Einschaltquoten von 71 Prozent. Dreißig Jahre nach Beginn der Serie sollte die Flucht erneut beginnen – dieses Mal auf der großen Leinwand. Serienvorkenntnisse brauchte das Publikum für „Auf der Flucht“ allerdings nicht. Sogar Publikumsmagnet Harrison Ford, der für die Filmversion den Kimble mimte, hatte vor Drehbeginn nie eine Folge der Serie gesehen.
Fords Charme lag stets in seinem unerschöpflichen Charisma und seiner Person selbst, vereinte er doch den Glamour eines Hollywood-Stars mit der Bodenständigkeit des US-amerikanischen Jedermanns. Damit war er perfekt für Kimble: Durch ihn wird der Arzt zum Überlebenskämpfer, der dennoch glaubhaft in der Realität verankert bleibt und nie zum plumpen Actionhelden verkommt. Er kann sich nicht durch sein Geschick mit Schusswaffen oder seine übermenschliche Physis behaupten, sondern muss einzig auf seine Intelligenz und eine Portion Glück vertrauen. Seine Verwundbarkeit erzeugt seine Fallhöhe – und Kimble fällt tatsächlich, sogar aus beträchtlicher Höhe, als ihn seine Flucht auf einen Staudamm führt. Dort in die Enge getrieben, weiß der verzweifelte Mann keinen anderen Ausweg, als sich in die Tiefe zu stürzen. Hier flieht kein Alphamännchen, sondern ein gepeinigtes Individuum, das nichts anders will als Gerechtigkeit für sich und seine ermordete Frau. Sein charakteristisches Humpeln ist übrigens kein Regieeinfall: Ford verletzte sich zu Beginn der Dreharbeiten bei Aufnahmen im Wald, verzichtete aber auf eine Operation, um im restlichen Film glaubwürdig zu hinken.
Ein so einvernehmender Held braucht einen mindestens ebenso großen Widersacher – und hier trumpft „Auf der Flucht“ mit dem grandiosen Tommy Lee Jones auf. Er spielt den Chief Deputy Marshal Samuel Gerard als zielstrebigen, fast schon sturköpfigen Kapitän Ahab, der nicht ruhen kann und will, ehe er sein Ziel erjagt hat. Viele grandiose kleine Momente schreiben ihm die Autoren Jeb Stuart und David Twohy, die aus ihm eine der vielschichtigsten Figuren ihrer Art macht. Brillant eine Szene, in der er einen seiner Deputys vor einem bewaffneten Mann rettet, in dem er diesen einfach aus der Deckung heraus erschießt – ohne dabei richtig zu zielen. Als sein Partner sagt: „Du hättest mich treffen können. Du hättest verhandeln sollen“, meint Gerard nur: „Ich verhandele nie mit Kriminellen.“ Gänsehaut generiert die erste Begegnung zwischen ihm und Kimble: Der Marshal verliert seine Waffe, Kimble hebt sie auf, richtet sie auf seinen Verfolger. Er brüllt: „Ich habe meine Frau nicht umgebracht.“ Gerard antwortet: „Das ist mir scheißegal.“
„Auf der Flucht“ ist ein fantastischer Actionfilm, weil er in erster Linie als psychologisches Katz-und-Mausspiel funktioniert. Kimble muss achtsam vorgehen, will er unentdeckt von der Polizei genug Informationen sammeln, um den Mörder seiner Frau aufzuspüren. Gerard wiederrum durchforstet Kimbles Vergangenheit, um dessen Psyche zu verstehen – und obwohl er langsam Zweifel an Kimbles Schuld entwickelt, kann er nicht anders, als diesen Mann aus purem Pflichtgefühl weiter zu jagen. Beide sind getriebene Männer, die mehr verbindet als sie ahnen. Der Kriminalplot um den Mord an Kimbles Frau ist dabei kompetent konstruiert und hält sich seine besten Wendungen vorbildlich für den Schluss auf. Die Nebenfiguren sind mit Joe Pantoliano als schlagfertigen Deputy, Julianne Moore als misstrauische Ärztin und Jeroen Krabbé als Kimbles Freund und Kollege exzellent besetzt, doch es sind die Schultern von Harrison Ford und Tommy Lee Jones, die diesen 130-minütigen, meisterhaften Exkurs in Spannungsaufbau zur Gänze tragen.
Regisseur Andrew Davis hatte ein Jahr zuvor mit dem „Stirb langsam“-Duplikat „Alarmstufe: Rot“ einen Publikumshit gelandet, schon darin überzeugte Tommy Lee Jones als Widersacher. Der Film gefiel Harrison Ford so gut, dass er Davis für „Auf der Flucht“ dabeihaben wollte, nachdem der ursprünglich angedachte Walter Hill lieber den Western „Geronimo“ drehte. Davis inszeniert „Auf der Flucht“ bedacht, findet die richtige Tonalität zwischen intelligentem Thriller und emotionalem Drama. Für die großen Kino-Momente scheute er vor riskanten Improvisationen nicht zurück: Eine Verfolgungsjagd durch die Häuserschluchten von Chicago führt Kimble und Gerard auf eine Parade am Saint Patricks Day. Um die echten Feierlichkeiten zu nutzen, ließ Davis seine Stars einfach durch die Menschenmengen laufen, filmte sie mit versteckten Handkameras.
Trotz der unbestreitbaren Qualität dieses modernen Klassikers war es eine Überraschung, als „Auf der Flucht“ schließlich für sechs Oscars nominiert wurde – darunter sogar als ‚Bester Film‘. Erklären lässt sich dies u. a. über die sozialkritischen Töne, die der Film anschlägt: Die Kritik an der Todesstrafe ist überdeutlich, auch wird die gefährliche Schwarm-Mentalität der Polizei vorgeführt, als im letzten Drittel bei Kimbles erneutem Kampf mit dem Einarmigen ein Polizist den Tod findet und Kimble fürchten muss, nun als „Polizistenmörder“ von jedem beliebigen Ordnungshüter über den Haufen geschossen zu werden. Die fesselnden Kameraaufnahmen von Michael Chapman sowie die mysteriöse Filmmusik von James Newton Howard, die klassisches Orchester mit atmosphärisch-leidenden Synthesizer-Klängen mixt (ohne Zweifel eine der besten Arbeiten seiner beeindruckenden Karriere!), gingen bei den Oscars leider leer aus. Immerhin durfte sich Tommy Lee Jones als ‚Bester Nebendarsteller‘ verdient den Goldjungen abholen. Seine Leistung war so herausragend, dass er fünf Jahre später für die Fortsetzung „Auf der Jagd“ zurückgeholt und sein Gerard darin zur Hauptfigur befördert wurde.
Das Beste, was sich über „Auf der Flucht“ formulieren lässt, ist, dass es sich um einen der wenigen Actionfilme seiner Art handelt, bei denen das mitreißende Finale im und auf dem Dach des Chicago Hilton Hotels einen bis an den Rand des Sitzes treibt, vor Anspannung gar elektrisiert, es aber die ruhigen, menschlichen Momente sind, die über das Filmende hinaus nachwirken. Etwa eine Szene, in der Kimble sich als Reinigungskraft in einem Krankenhaus tarnt und einen kleinen, schwerkranken Jungen beobachtet, dessen Arzt nur oberflächlich seine Symptome begutachtet und eine Fehldiagnose stellt. Kurzerhand bringt Kimble den Jungen eigenhändig in den OP und rettet ihm so das Leben. Seine Tarnung fliegt dadurch auf, er muss erneut seine Identität wechseln und um sein Leben fürchten. Trotzdem weiß das Publikum: Er würde es immer wieder so machen. Weil er als Held nun einmal „die Katze retten“ muss.
Wie gelingt es Geschichtenerzählern, einen fiktiven Charakter in Windeseile liebenswert zu konstruieren? Mit dieser Frage hat sich der Dramaturg Blake Snyder beschäftigt und 2015 ein Sachbuch darübergeschrieben. Seine Antwort steht im Titel: „Rette die Katze! Das ultimative Buch übers Drehbuchschreiben“. Aber was bedeutet es, die Katze zu retten? Snyder erklärt, der einfachste Weg, die Zuneigung des Publikums für eine Hauptfigur zu gewinnen, sähe wie folgt aus: Gleich beim ersten Auftritt müsse die Figur sich selbstlos verhalten und so einen besonders guten Eindruck erwecken – zum Beispiel durch die Rettung eines Kätzchens von einem Baum. Schon sei dem Protagonisten die Sympathie der Zuschauer gewiss. Ein besonders effektiver Einsatz eines „Rette die Katze!“-Szenarios eröffnet den Actionfilm „Auf der Flucht“. Nur ist „die Katze“ ein verletzter Gefängniswärter und „der Baum“ ein verunglückter Bus, der auf Zugschienen liegengeblieben ist.
Denn obwohl dieser Bus den zum Tode verurteilten Chirurgen Dr. Richard Kimble zu seinem Termin mit der Giftspritze bringen sollte, hat er Mitgefühl, als er sich in dem überschlagenen Fahrzeug wiederfindet und ein Zug auf das Bus-Wrack zusteuert. Er stemmt den Wärter über seine Schulter, wirft ihn in Sicherheit und kann in letzter Sekunde selbst dem drohenden Unfalltod entrinnen. Von hier an kann das Publikum gar nicht anders, als für ihn Respekt zu empfinden. Ein kurzer Prolog hatte bereits die missliche Lage von Kimble vorgestellt. Eines Abends fand er in seinem Haus seine Frau ermordet vor und wurde daraufhin von einem einarmigen Mann attackiert. Die Polizei glaubte ihm die Geschichte jedoch nicht, war sicher: Er ist auf die Lebensversicherung seiner noch vermögenderen Gattin aus. Die Todesstrafe war schneller gesprochen, als Kimble die Situation verstehen konnte. Doch obwohl ihm die Justiz so übel mitgespielt hatte, findet er, als es um Sekunden geht und ein dampfender Zug ihn auszulöschen gedenkt, in diesem Moment die Kraft, einen Mann zu schützen, der alles repräsentiert, was Kimbles Leben zerstört hat. Die Katze ist gerettet – und ein Held geboren.
Dieser Held stammt eigentlich aus dem TV-Bildschirm: In 120 Folgen war „Dr. Kimble auf der Flucht“. Zwischen 1963 und 1967 etablierte sich die Geschichte um den zu Unrecht des Mordes an seiner Frau verurteilten Arzt zu einem Straßenfeger. Jede Episode zeigte Kimble mit neu angenommener Identität, wie er vor dem Gesetz floh und den Einarmigen suchte, der ihn entlasten könnte. Die letzte Folge, in der Kimble schließlich seine Freiheit zurückerlangte, hatte am 29. August 1967 in den USA Einschaltquoten von 71 Prozent. Dreißig Jahre nach Beginn der Serie sollte die Flucht erneut beginnen – dieses Mal auf der großen Leinwand. Serienvorkenntnisse brauchte das Publikum für „Auf der Flucht“ allerdings nicht. Sogar Publikumsmagnet Harrison Ford, der für die Filmversion den Kimble mimte, hatte vor Drehbeginn nie eine Folge der Serie gesehen.
Fords Charme lag stets in seinem unerschöpflichen Charisma und seiner Person selbst, vereinte er doch den Glamour eines Hollywood-Stars mit der Bodenständigkeit des US-amerikanischen Jedermanns. Damit war er perfekt für Kimble: Durch ihn wird der Arzt zum Überlebenskämpfer, der dennoch glaubhaft in der Realität verankert bleibt und nie zum plumpen Actionhelden verkommt. Er kann sich nicht durch sein Geschick mit Schusswaffen oder seine übermenschliche Physis behaupten, sondern muss einzig auf seine Intelligenz und eine Portion Glück vertrauen. Seine Verwundbarkeit erzeugt seine Fallhöhe – und Kimble fällt tatsächlich, sogar aus beträchtlicher Höhe, als ihn seine Flucht auf einen Staudamm führt. Dort in die Enge getrieben, weiß der verzweifelte Mann keinen anderen Ausweg, als sich in die Tiefe zu stürzen. Hier flieht kein Alphamännchen, sondern ein gepeinigtes Individuum, das nichts anders will als Gerechtigkeit für sich und seine ermordete Frau. Sein charakteristisches Humpeln ist übrigens kein Regieeinfall: Ford verletzte sich zu Beginn der Dreharbeiten bei Aufnahmen im Wald, verzichtete aber auf eine Operation, um im restlichen Film glaubwürdig zu hinken.
Ein so einvernehmender Held braucht einen mindestens ebenso großen Widersacher – und hier trumpft „Auf der Flucht“ mit dem grandiosen Tommy Lee Jones auf. Er spielt den Chief Deputy Marshal Samuel Gerard als zielstrebigen, fast schon sturköpfigen Kapitän Ahab, der nicht ruhen kann und will, ehe er sein Ziel erjagt hat. Viele grandiose kleine Momente schreiben ihm die Autoren Jeb Stuart und David Twohy, die aus ihm eine der vielschichtigsten Figuren ihrer Art macht. Brillant eine Szene, in der er einen seiner Deputys vor einem bewaffneten Mann rettet, in dem er diesen einfach aus der Deckung heraus erschießt – ohne dabei richtig zu zielen. Als sein Partner sagt: „Du hättest mich treffen können. Du hättest verhandeln sollen“, meint Gerard nur: „Ich verhandele nie mit Kriminellen.“ Gänsehaut generiert die erste Begegnung zwischen ihm und Kimble: Der Marshal verliert seine Waffe, Kimble hebt sie auf, richtet sie auf seinen Verfolger. Er brüllt: „Ich habe meine Frau nicht umgebracht.“ Gerard antwortet: „Das ist mir scheißegal.“
„Auf der Flucht“ ist ein fantastischer Actionfilm, weil er in erster Linie als psychologisches Katz-und-Mausspiel funktioniert. Kimble muss achtsam vorgehen, will er unentdeckt von der Polizei genug Informationen sammeln, um den Mörder seiner Frau aufzuspüren. Gerard wiederrum durchforstet Kimbles Vergangenheit, um dessen Psyche zu verstehen – und obwohl er langsam Zweifel an Kimbles Schuld entwickelt, kann er nicht anders, als diesen Mann aus purem Pflichtgefühl weiter zu jagen. Beide sind getriebene Männer, die mehr verbindet als sie ahnen. Der Kriminalplot um den Mord an Kimbles Frau ist dabei kompetent konstruiert und hält sich seine besten Wendungen vorbildlich für den Schluss auf. Die Nebenfiguren sind mit Joe Pantoliano als schlagfertigen Deputy, Julianne Moore als misstrauische Ärztin und Jeroen Krabbé als Kimbles Freund und Kollege exzellent besetzt, doch es sind die Schultern von Harrison Ford und Tommy Lee Jones, die diesen 130-minütigen, meisterhaften Exkurs in Spannungsaufbau zur Gänze tragen.
Regisseur Andrew Davis hatte ein Jahr zuvor mit dem „Stirb langsam“-Duplikat „Alarmstufe: Rot“ einen Publikumshit gelandet, schon darin überzeugte Tommy Lee Jones als Widersacher. Der Film gefiel Harrison Ford so gut, dass er Davis für „Auf der Flucht“ dabeihaben wollte, nachdem der ursprünglich angedachte Walter Hill lieber den Western „Geronimo“ drehte. Davis inszeniert „Auf der Flucht“ bedacht, findet die richtige Tonalität zwischen intelligentem Thriller und emotionalem Drama. Für die großen Kino-Momente scheute er vor riskanten Improvisationen nicht zurück: Eine Verfolgungsjagd durch die Häuserschluchten von Chicago führt Kimble und Gerard auf eine Parade am Saint Patricks Day. Um die echten Feierlichkeiten zu nutzen, ließ Davis seine Stars einfach durch die Menschenmengen laufen, filmte sie mit versteckten Handkameras.
Trotz der unbestreitbaren Qualität dieses modernen Klassikers war es eine Überraschung, als „Auf der Flucht“ schließlich für sechs Oscars nominiert wurde – darunter sogar als ‚Bester Film‘. Erklären lässt sich dies u. a. über die sozialkritischen Töne, die der Film anschlägt: Die Kritik an der Todesstrafe ist überdeutlich, auch wird die gefährliche Schwarm-Mentalität der Polizei vorgeführt, als im letzten Drittel bei Kimbles erneutem Kampf mit dem Einarmigen ein Polizist den Tod findet und Kimble fürchten muss, nun als „Polizistenmörder“ von jedem beliebigen Ordnungshüter über den Haufen geschossen zu werden. Die fesselnden Kameraaufnahmen von Michael Chapman sowie die mysteriöse Filmmusik von James Newton Howard, die klassisches Orchester mit atmosphärisch-leidenden Synthesizer-Klängen mixt (ohne Zweifel eine der besten Arbeiten seiner beeindruckenden Karriere!), gingen bei den Oscars leider leer aus. Immerhin durfte sich Tommy Lee Jones als ‚Bester Nebendarsteller‘ verdient den Goldjungen abholen. Seine Leistung war so herausragend, dass er fünf Jahre später für die Fortsetzung „Auf der Jagd“ zurückgeholt und sein Gerard darin zur Hauptfigur befördert wurde.
Das Beste, was sich über „Auf der Flucht“ formulieren lässt, ist, dass es sich um einen der wenigen Actionfilme seiner Art handelt, bei denen das mitreißende Finale im und auf dem Dach des Chicago Hilton Hotels einen bis an den Rand des Sitzes treibt, vor Anspannung gar elektrisiert, es aber die ruhigen, menschlichen Momente sind, die über das Filmende hinaus nachwirken. Etwa eine Szene, in der Kimble sich als Reinigungskraft in einem Krankenhaus tarnt und einen kleinen, schwerkranken Jungen beobachtet, dessen Arzt nur oberflächlich seine Symptome begutachtet und eine Fehldiagnose stellt. Kurzerhand bringt Kimble den Jungen eigenhändig in den OP und rettet ihm so das Leben. Seine Tarnung fliegt dadurch auf, er muss erneut seine Identität wechseln und um sein Leben fürchten. Trotzdem weiß das Publikum: Er würde es immer wieder so machen. Weil er als Held nun einmal „die Katze retten“ muss.
(K)Ein Mann für jede Jahreszeit
The November Man
Die Literaturgeschichte ist nicht arm an großen Autoren des Spionageromans. Jean Bruce erfand 1949 seinen französischen Spion OSS 117, vier Jahre später schuf Ian Fleming sein literarisches Alter Ego James Bond, Agent 007. John le Carré, für viele der große Meister dieser Romangattung, bot den genialen Geheimdienstbeamten George Smiley, später übernahmen Tom Clancy, der über den CIA-Analysten Jack Ryan schrieb, und Robert Ludlum, dessen Jason Bourne ein Agent ohne Erinnerung war, das Feld. Weniger bekannt ist dagegen der Autor Bill Granger, obwohl er über seinen Spion ganze dreizehn Romane verfasste. Der Name ist Devereaux. Peter Devereaux. Deckname: „The November Man“.
Grangers geringer internationaler Bekanntheit wegen dauerte es, bis sein 1979 geschaffener Devereaux den Sprung auf die große Leinwand schaffte. In Planung war ein Kinoauftritt des Novembermanns aber eine ganze Weile. Verantwortlich dafür war ein anderer Spion: James Bond, bzw. dessen fünfter Schauspieler: Pierce Brosnan. Als der irische Filmstar 2005 am Telefon erfuhr, dass sein Einsatz als 007 beendet ist, kaufte er gemeinsam mit seiner Business-Partnerin Beau St. Clair die Rechte an Grangers Buchreihe. „The November Man“ sollte sein Bond-Ersatz sein. Als Hauptquelle für den Film wurde Buch Nr. 7 ausgewählt: „There are no spies“ (zu deutsch: „Es gibt keine Spione“). Eine passende Vorlage für Brosnans Situation: Zu Beginn dieses Buchs befindet sich Devereaux bereits im Ruhestand – und wird von seinem alten Boss wieder in den Dienst gerufen.
2014 also, einige gescheiterte Anläufe später, zwei Jahre nach Grangers Tod, war es an der Zeit. Als Regisseur holte Brosnan seinen Freund Roger Donaldson an Bord, mit dem er 1997 den Katastrophenfilm „Dante’s Peak“ drehte. Die Drehbuchautoren Michael Finch und Karl Gajdusek verlegten den Romanplot vom Kalten Krieg ins 21. Jahrhundert. Neben Brosnan als Ex-Bond kehrte zudem auch Olga Kurylenko ins Agentengeschäft zurück, sie kämpfte 2008 im James-Bond-Film „Ein Quantum Trost“ an der Seite von Brosnans Nachfolger Daniel Craig. In derselben Größenordnung wie 007 konnte „The November Man“ aber von Anfang an nicht spielen: Kostengünstig drehte man in Belgrad und Montenegro, das ganze Projekt kostete nur 15 Millionen Dollar. Zum Vergleich: Der zwei Jahre zuvor erschienene Bond-Film „Skyfall“ hatte ein Budget von 200 Millionen Dollar.
Seine Sparsamkeit steht „The November Man“ allerdings nie im Weg. Die gesamten 108 Minuten packt Donaldson voll mit rasanten Verfolgungsjagden, harten Schusswechseln und auch der nötigen Menge Pyrotechnik, die das Publikum in so einem Film erwarten darf. Insbesondere sein Bildaufbau lässt den Film teuer und elegant wirken. Als Kameramann holte sich Donaldson den Genre-erfahrenen Romain Lacourbas dazu, der zuvor bei den harten Reißern „Colombiana“ und „96 Hours – Taken 2“ mitwirkte. Gemeinsam filmen sie ihre Actionszenen druckvoll, entscheiden sich aber auch, stets nah bei den Charakteren zu bleiben. Actionfilm-Standards, etwa ein Feuergefecht über zwei Etagen, machen so den Anschein eines eng getakteten und streng choreographierten Kammerspiels.
Diese intime Herangehensweise ist bereits in den Vorlagen so angelegt. Granger beschreibt Peter Devereaux als introvertierten, blitzschnellen Denker, der auf den ersten Blick sehr viel weltgewandter wirkt als auf den zweiten. In erster Linie ist er kein Gentleman-Spion oder kühler Schreibtischhengst, sondern ein grausamer, abgestumpfter Mann, dessen tödliche Effizienz ihn von sich selbst entfremdet hat. Er fühlt sich berufsbedingt wohl im Pragmatismus. Als er gefragt wird, wie es sich vermutlich anfühle, erschossen zu werden, antwortet er nur: „Eine Kugel fliegt 1.200 Meter in der Sekunde, viermal schneller als der Schall. Die Wirkung bei diesem Tempo ist absolut. Man hört einfach auf zu existieren.“
In „There are no spies“ und so auch in diesem Film wird er nach Moskau beordert, um seine Ex-Geliebte Natalia zu evakuieren, die dort Beweise gegen den russischen General Fedorow sammelte, der demnächst zum Präsidenten der Russischen Föderation ernannt werden soll. Bei der Evakuierung wird Natalia von einem Attentäter erschossen, der sich als David Mason herausstellt, einem jungen CIA-Agenten, den Devereaux vor seinem Ruhestand ausbildete und den er krachend durchfallen ließ, als dieser bei einer Mission die Nerven verlor und durch seinen nervösen Zeigefinger ein kleines Kind zu Tode kam.
Die Spur führt beide rivalisierenden Alphamännchen zur Asylbetreuerin Alice Fournier, die als letzte Kontakt zur untergetauchten Flüchtlingsfrau Mira Filipova hatte. Die wurde Zeugin von mehreren Menschenrechtsverletzungen, derer sich Fedorow schuldig gemacht hat und ist damit für alle Geheimdienste dieser Welt pures Gold. Was folgt ist eine Ansammlung vieler Gefechte zwischen Devereaux und Mason sowie mehrere der Wendungen und (Ver-)Wirrungen, die fest zur DNA der Spionagegeschichten gehören.
Dabei wird kaum jemand „The November Man“ sehen, ohne fortwährend mit Déjà-vu-Eindrücken zu kämpfen: Pierce Brosnan als alternder Geheimagent wird vom aufmerksamen Zuschauer natürlich umgehend mit seinen Auftritten als James Bond verglichen. Von Natur aus bringt der Schauspieler eine große Portion Charisma und Charme mit in die Rolle, trotz der vermehrten Falten klingt seine Stimme noch sowohl suave als auch gefährlich. Die Routine, die Devereaux bei seinen Einsätzen hat, braucht Brosnan nicht zu spielen, sie steht ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
Das Drehbuch gibt ihm hier jedoch Möglichkeiten, sich von seinen 007-Facetten zu lösen und neue Akzente zu setzen. Devereaux ist nicht der Typ, der nach einem überlebten Einsatz lockere Witze macht und eine schöne Frau verführt. Stattdessen lebt er nach der Devise, persönliche Beziehungen würden einen nur angreifbar machen und hätten in der Geheimdienstwelt keinen Platz. Seinem Schüler führt er diese Maxime in einer beklemmenden Szene vor. Mason erwacht nach einem One-Night-Stand mit seiner Nachbarin und findet diese verängstigt in der Küche als Geisel von Devereaux vor. Der sagt ihm: „Du kannst ein menschliches Wesen sein oder ein Killer von Menschen. Aber nicht beides.“
Um zu testen, was auf seinen ehemaligen Protegé zutrifft, trennt er der schönen Blondine die Oberschenkelschlagader durch und flieht. Mason hat die Wahl: Folgt er seiner Mission und lässt die Frau sterben oder missachtet er seine Befehle und zeigt Empathie. In dieser mehrminütigen Sequenz addiert Brosnan zu seiner Bond-Interpretation eine gewaltige Menge an grimmiger Kaltschnäuzigkeit. Sein Schauspiel erinnert an seinen denkwürdigen Auftritt als sadistischer Geiselnehmer in „Spiel mit der Angst“ von 2007. Donaldson und er riskieren mutwillig, hier die Sympathien des Publikums zum abgründigen Helden zu verlieren.
Solche Risiken hätte die Produktion gerne noch öfter eingehen können, statt gerade im Schlussakt auf ein konventionelles Standardmotiv zurückzugreifen. Der große Verschwörungsplot, der das Schicksal von Mira Filipova und die Gräueltaten von Fedorow um eine historische Dimension erweitert und mit dem Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs verknüpft, erzeugt genügend Spannung, spielt aber leider für das Finale keine allzu große Rolle mehr. Unglücklich auch, dass die Geschichte des Romans zwar in die Gegenwart versetzt wurde, aber viele Kalter-Krieg-Klischees immer noch allzu leicht auszumachen sind. Gemeint ist hierbei ganz besonders die Rolle einer stereotypen russischen Auftragskillerin, die inmitten des modernen Thrillertreibens reichlich angestaubt wirkt.
Das hohe Tempo und die angenehm intelligenten Schlagabtausche zwischen Brosnans Devereaux und dem von Luke Bracey gespielten Mason lenken dafür bis zuletzt von kleinen Unstimmigkeiten ab. Besonders schön fällt noch die Filmmusik auf, die der vielbeschäftigte Marco Beltrami komponierte. Beltrami, bekannt für seinen perkussiven Stil, vor allem für seinen regelmäßigen Einsatz von Bassdrums, verzichtet stilistisch gänzlich auf James-Bond-Assoziationen und mischt osteuropäische Klangteppiche mit westlichen Motiven. Das persuasive Ergebnis findet die passende Tonalität und macht selbst den Abspann hörenswert – nachdem dort der irritierend gut passende Soul-Rocksong „Ticking Bomb“ von Aloe Blacc verstummt ist.
Eine neue Filmreihe konnte „The November Man“ nicht lostreten, als Konkurrenz zu anderen Langzeitagenten erst recht nicht dienen. Dennoch gelingt Donaldson ein angenehmer, spannender Film, der sein Versprechen einlöst und langjährigen Fans des Hauptdarstellers selbigen wieder in seiner Paraderolle präsentiert und ihn dabei trotzdem frisch und anders wirken lässt. Bill Granger wäre mit dieser Interpretation seiner Romanreihe wahrscheinlich einverstanden gewesen, adaptiert sie doch nicht nur seine Figuren und Geschichten, sondern teils direkt sein geschriebenes Wort. So stammt eine Passage wörtlich aus der Vorlage, als dem Zuschauer der titelgebende Deckname von Devereaux erklärt wird: „Wir nannten dich Novembermann – denn wo du vorbeikamst, lebte nichts mehr.“
Als Geheimtipp mit Kultpotenzial dürfte „The November Man“ auch auf lange Sicht gute Chancen haben, wer Genre-affin ist, kann bedenkenlos einen Blick auf diese kleine Perle werfen. Wirklich gemacht ist der rasante Actionthriller aber für die Fans, die frei nach Andreas Möller auf folgende Frage immer so antworten würden: „Bond oder Bourne? Egal, Hauptsache Brosnan!“
Die Literaturgeschichte ist nicht arm an großen Autoren des Spionageromans. Jean Bruce erfand 1949 seinen französischen Spion OSS 117, vier Jahre später schuf Ian Fleming sein literarisches Alter Ego James Bond, Agent 007. John le Carré, für viele der große Meister dieser Romangattung, bot den genialen Geheimdienstbeamten George Smiley, später übernahmen Tom Clancy, der über den CIA-Analysten Jack Ryan schrieb, und Robert Ludlum, dessen Jason Bourne ein Agent ohne Erinnerung war, das Feld. Weniger bekannt ist dagegen der Autor Bill Granger, obwohl er über seinen Spion ganze dreizehn Romane verfasste. Der Name ist Devereaux. Peter Devereaux. Deckname: „The November Man“.
Grangers geringer internationaler Bekanntheit wegen dauerte es, bis sein 1979 geschaffener Devereaux den Sprung auf die große Leinwand schaffte. In Planung war ein Kinoauftritt des Novembermanns aber eine ganze Weile. Verantwortlich dafür war ein anderer Spion: James Bond, bzw. dessen fünfter Schauspieler: Pierce Brosnan. Als der irische Filmstar 2005 am Telefon erfuhr, dass sein Einsatz als 007 beendet ist, kaufte er gemeinsam mit seiner Business-Partnerin Beau St. Clair die Rechte an Grangers Buchreihe. „The November Man“ sollte sein Bond-Ersatz sein. Als Hauptquelle für den Film wurde Buch Nr. 7 ausgewählt: „There are no spies“ (zu deutsch: „Es gibt keine Spione“). Eine passende Vorlage für Brosnans Situation: Zu Beginn dieses Buchs befindet sich Devereaux bereits im Ruhestand – und wird von seinem alten Boss wieder in den Dienst gerufen.
2014 also, einige gescheiterte Anläufe später, zwei Jahre nach Grangers Tod, war es an der Zeit. Als Regisseur holte Brosnan seinen Freund Roger Donaldson an Bord, mit dem er 1997 den Katastrophenfilm „Dante’s Peak“ drehte. Die Drehbuchautoren Michael Finch und Karl Gajdusek verlegten den Romanplot vom Kalten Krieg ins 21. Jahrhundert. Neben Brosnan als Ex-Bond kehrte zudem auch Olga Kurylenko ins Agentengeschäft zurück, sie kämpfte 2008 im James-Bond-Film „Ein Quantum Trost“ an der Seite von Brosnans Nachfolger Daniel Craig. In derselben Größenordnung wie 007 konnte „The November Man“ aber von Anfang an nicht spielen: Kostengünstig drehte man in Belgrad und Montenegro, das ganze Projekt kostete nur 15 Millionen Dollar. Zum Vergleich: Der zwei Jahre zuvor erschienene Bond-Film „Skyfall“ hatte ein Budget von 200 Millionen Dollar.
Seine Sparsamkeit steht „The November Man“ allerdings nie im Weg. Die gesamten 108 Minuten packt Donaldson voll mit rasanten Verfolgungsjagden, harten Schusswechseln und auch der nötigen Menge Pyrotechnik, die das Publikum in so einem Film erwarten darf. Insbesondere sein Bildaufbau lässt den Film teuer und elegant wirken. Als Kameramann holte sich Donaldson den Genre-erfahrenen Romain Lacourbas dazu, der zuvor bei den harten Reißern „Colombiana“ und „96 Hours – Taken 2“ mitwirkte. Gemeinsam filmen sie ihre Actionszenen druckvoll, entscheiden sich aber auch, stets nah bei den Charakteren zu bleiben. Actionfilm-Standards, etwa ein Feuergefecht über zwei Etagen, machen so den Anschein eines eng getakteten und streng choreographierten Kammerspiels.
Diese intime Herangehensweise ist bereits in den Vorlagen so angelegt. Granger beschreibt Peter Devereaux als introvertierten, blitzschnellen Denker, der auf den ersten Blick sehr viel weltgewandter wirkt als auf den zweiten. In erster Linie ist er kein Gentleman-Spion oder kühler Schreibtischhengst, sondern ein grausamer, abgestumpfter Mann, dessen tödliche Effizienz ihn von sich selbst entfremdet hat. Er fühlt sich berufsbedingt wohl im Pragmatismus. Als er gefragt wird, wie es sich vermutlich anfühle, erschossen zu werden, antwortet er nur: „Eine Kugel fliegt 1.200 Meter in der Sekunde, viermal schneller als der Schall. Die Wirkung bei diesem Tempo ist absolut. Man hört einfach auf zu existieren.“
In „There are no spies“ und so auch in diesem Film wird er nach Moskau beordert, um seine Ex-Geliebte Natalia zu evakuieren, die dort Beweise gegen den russischen General Fedorow sammelte, der demnächst zum Präsidenten der Russischen Föderation ernannt werden soll. Bei der Evakuierung wird Natalia von einem Attentäter erschossen, der sich als David Mason herausstellt, einem jungen CIA-Agenten, den Devereaux vor seinem Ruhestand ausbildete und den er krachend durchfallen ließ, als dieser bei einer Mission die Nerven verlor und durch seinen nervösen Zeigefinger ein kleines Kind zu Tode kam.
Die Spur führt beide rivalisierenden Alphamännchen zur Asylbetreuerin Alice Fournier, die als letzte Kontakt zur untergetauchten Flüchtlingsfrau Mira Filipova hatte. Die wurde Zeugin von mehreren Menschenrechtsverletzungen, derer sich Fedorow schuldig gemacht hat und ist damit für alle Geheimdienste dieser Welt pures Gold. Was folgt ist eine Ansammlung vieler Gefechte zwischen Devereaux und Mason sowie mehrere der Wendungen und (Ver-)Wirrungen, die fest zur DNA der Spionagegeschichten gehören.
Dabei wird kaum jemand „The November Man“ sehen, ohne fortwährend mit Déjà-vu-Eindrücken zu kämpfen: Pierce Brosnan als alternder Geheimagent wird vom aufmerksamen Zuschauer natürlich umgehend mit seinen Auftritten als James Bond verglichen. Von Natur aus bringt der Schauspieler eine große Portion Charisma und Charme mit in die Rolle, trotz der vermehrten Falten klingt seine Stimme noch sowohl suave als auch gefährlich. Die Routine, die Devereaux bei seinen Einsätzen hat, braucht Brosnan nicht zu spielen, sie steht ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
Das Drehbuch gibt ihm hier jedoch Möglichkeiten, sich von seinen 007-Facetten zu lösen und neue Akzente zu setzen. Devereaux ist nicht der Typ, der nach einem überlebten Einsatz lockere Witze macht und eine schöne Frau verführt. Stattdessen lebt er nach der Devise, persönliche Beziehungen würden einen nur angreifbar machen und hätten in der Geheimdienstwelt keinen Platz. Seinem Schüler führt er diese Maxime in einer beklemmenden Szene vor. Mason erwacht nach einem One-Night-Stand mit seiner Nachbarin und findet diese verängstigt in der Küche als Geisel von Devereaux vor. Der sagt ihm: „Du kannst ein menschliches Wesen sein oder ein Killer von Menschen. Aber nicht beides.“
Um zu testen, was auf seinen ehemaligen Protegé zutrifft, trennt er der schönen Blondine die Oberschenkelschlagader durch und flieht. Mason hat die Wahl: Folgt er seiner Mission und lässt die Frau sterben oder missachtet er seine Befehle und zeigt Empathie. In dieser mehrminütigen Sequenz addiert Brosnan zu seiner Bond-Interpretation eine gewaltige Menge an grimmiger Kaltschnäuzigkeit. Sein Schauspiel erinnert an seinen denkwürdigen Auftritt als sadistischer Geiselnehmer in „Spiel mit der Angst“ von 2007. Donaldson und er riskieren mutwillig, hier die Sympathien des Publikums zum abgründigen Helden zu verlieren.
Solche Risiken hätte die Produktion gerne noch öfter eingehen können, statt gerade im Schlussakt auf ein konventionelles Standardmotiv zurückzugreifen. Der große Verschwörungsplot, der das Schicksal von Mira Filipova und die Gräueltaten von Fedorow um eine historische Dimension erweitert und mit dem Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs verknüpft, erzeugt genügend Spannung, spielt aber leider für das Finale keine allzu große Rolle mehr. Unglücklich auch, dass die Geschichte des Romans zwar in die Gegenwart versetzt wurde, aber viele Kalter-Krieg-Klischees immer noch allzu leicht auszumachen sind. Gemeint ist hierbei ganz besonders die Rolle einer stereotypen russischen Auftragskillerin, die inmitten des modernen Thrillertreibens reichlich angestaubt wirkt.
Das hohe Tempo und die angenehm intelligenten Schlagabtausche zwischen Brosnans Devereaux und dem von Luke Bracey gespielten Mason lenken dafür bis zuletzt von kleinen Unstimmigkeiten ab. Besonders schön fällt noch die Filmmusik auf, die der vielbeschäftigte Marco Beltrami komponierte. Beltrami, bekannt für seinen perkussiven Stil, vor allem für seinen regelmäßigen Einsatz von Bassdrums, verzichtet stilistisch gänzlich auf James-Bond-Assoziationen und mischt osteuropäische Klangteppiche mit westlichen Motiven. Das persuasive Ergebnis findet die passende Tonalität und macht selbst den Abspann hörenswert – nachdem dort der irritierend gut passende Soul-Rocksong „Ticking Bomb“ von Aloe Blacc verstummt ist.
Eine neue Filmreihe konnte „The November Man“ nicht lostreten, als Konkurrenz zu anderen Langzeitagenten erst recht nicht dienen. Dennoch gelingt Donaldson ein angenehmer, spannender Film, der sein Versprechen einlöst und langjährigen Fans des Hauptdarstellers selbigen wieder in seiner Paraderolle präsentiert und ihn dabei trotzdem frisch und anders wirken lässt. Bill Granger wäre mit dieser Interpretation seiner Romanreihe wahrscheinlich einverstanden gewesen, adaptiert sie doch nicht nur seine Figuren und Geschichten, sondern teils direkt sein geschriebenes Wort. So stammt eine Passage wörtlich aus der Vorlage, als dem Zuschauer der titelgebende Deckname von Devereaux erklärt wird: „Wir nannten dich Novembermann – denn wo du vorbeikamst, lebte nichts mehr.“
Als Geheimtipp mit Kultpotenzial dürfte „The November Man“ auch auf lange Sicht gute Chancen haben, wer Genre-affin ist, kann bedenkenlos einen Blick auf diese kleine Perle werfen. Wirklich gemacht ist der rasante Actionthriller aber für die Fans, die frei nach Andreas Möller auf folgende Frage immer so antworten würden: „Bond oder Bourne? Egal, Hauptsache Brosnan!“
Das Trümmerfeld der Liebe
Niemandsland – The Aftermath
„Sie sind im Begriff, einem merkwürdigen Volk in einem merkwürdigen, feindlichen Land zu begegnen“, liest ein kleiner Junge laut im Zug. „Halten Sie sich unbedingt von den Deutschen fern. Jedes Fraternisieren ist unerwünscht.“ Die Britin Rachael Morgan sitzt dem Jungen gegenüber. Der Zug bringt sie im Winter 1945 in das zerbombte Hamburg, der Zweite Weltkrieg endete vor fünf Monaten. Ihr Gatte Lewis, ein hochrangiger Besatzungsoffizier, erwartet sie dort. Er soll die Entnazifizierung der Stadt beaufsichtigen und will mit seiner Frau in einer von den Alliierten beschlagnahmten Villa an der Elbe wohnen. Schon bei ihrer Ankunft ist Rachael verwundert, welche Töne ihr Mann gegenüber dem besiegten Feind anschlägt. „Auf Hamburg sind an einem Wochenende mehr Bomben gefallen als auf London im ganzen Krieg“, erklärt er ihr. Mitgefühl ist in seiner Stimme.
Sich von den Deutschen fernhalten wird schwierig für Rachael, als sie erfährt, dass der Architekt ihres neuen Hauses, der deutsche Stefan Lubert, und seine Tochter Freda von ihrem Mann eingeladen wurden, weiter auf dem Dachboden zu leben. Woher er wisse, bei beiden handle es sich nicht um ehemalige Mitglieder der Partei, fragt seine Frau. Immerhin hat Lubert bislang keinen Persilschein ausgestellt bekommen. „Ich bezweifle, dass man einen Menschen aufgrund eines Fragebogens beurteilen kann“, sagt er. Doch was macht man stattdessen? „Man sieht ihm in die Augen.“
Nun sieht Rachael genauer hin: In den Augen des Architekten, der um seine Frau trauert, die bei einem der Bombenabwürfe ums Leben kam, sieht sie Schmerz, denselben Schmerz, den sie in den Augen ihres eigenen Mannes nicht erkennen kann. Dabei verlor auch das Ehepaar Morgan ihren kleinen Sohn auf dieselbe Weise, als in London eine Bombe ihr Haus zerstörte. Der Schmerz entfremdet das eine Paar und bringt das andere zusammen. Aus der anfänglichen Ablehnung, die Stefan und Freda von Rachael zu spüren bekommen, wird seelische Verbundenheit. Als sie sich einen Ruck geben, der erste Kuss zwischen ihr und dem Deutschen fällt, stehen sie regelrecht in Flammen.
Von einer riskanten Affäre also erzählt „Niemandsland – The Aftermath“, basierend auf der gleichnamigen Buchvorlage des walisischen Autoren Rhidian Brook. Sein Roman landete eines Tages auf dem Schreibtisch von Regie-Gigant Ridley Scott. Der war sofort fasziniert: Scotts eigener Vater war britischer Offizier, der nach dem Krieg ebenfalls in Hamburg stationiert wurde. So lebte Scott als 10-Jähriger selbst in einem ganz ähnlichen Haus. Ursprünglich wollte er daher unbedingt persönlich „The Aftermath“ inszenieren, doch mit beiden Händen in andere Projekte eingebunden, fungierte er schlussendlich nur als Produzent, gab die Regie an den TV-erfahrenen James Kent ab. Klar ist: Hätte Scott inszeniert, wäre dies ein anderer, ein autobiografischerer Film geworden. Aber auch ein besserer?
Auf dieses Urteil mag man kommen, liest man die Kritiken, die 2019 kaum ein gutes Haar an der Romanverfilmung ließen. Nahezu jede Rezension nutzte das böse Schlagwort: „Kitsch“. Der Film sei plump inszeniert, drücke auf die Tränendrüse, ließe Subtilität vermissen. Die Affäre zwischen Stefan und Rachael wurde als „naiv“ empfunden, über die teils pompöse Bildsprache schrieb David Steinitz abfällig in der Süddeutschen Zeitung, der Film sähe aus „wie eine schicke Luxusuhrenwerbung, die aus unerfindlichen Gründen im Jahr 1946 spielt“. Patrick Seyboth von EPD Film fand, Regisseur Kent erzähle „kurzatmig und grob wie eine Vorabend-Soap“.
All das mögen in einem gewissen Rahmen zutreffende Beobachtungen sein, doch übersehen sie die Ambitionen dieser wunderbar sinnlichen Filmperle. Rhidian Brook hatte sich einen Namen als Autor rührender Melodramen gemacht. Er schrieb „The Aftermath“ als eine epische Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund, nach Vorbild des klassischen Hollywood-Kinos der 40er- und 50er-Jahre. James Kent hat das erkannt – so verzichtet seine 109 Minuten lange Adaption gänzlich auf die ironischen Metaebenen und den postmodernen Zynismus, mit dem sich Regisseure seit der Jahrtausendwende dem romantischen Genre meist nähern. In seinem Film wird noch mit großen Gesten geliebt, mit Dackelblick geschmachtet, und ohnehin darf kein einzelner Kuss ohne meterdickes Pathos auskommen.
Kaum zufällig hat er Rachael mit der großartigen Keira Knightley besetzt, die jahrelang durch Literaturverfilmungen wie „Stolz und Vorurteil“, „Anna Karenina“ oder „Abbitte“ zum letzten Gesicht des melodramatischen Kinos geworden ist. Ihr Charme ist klassisch, ihr Schauspiel überlebensgroß. Es ist keine Überraschung, zu sagen, dass „The Aftermath“ ganz und gar ihr gehört, von ihrer Ausstrahlung, ihrem Charisma lebt. Ergreifend, wie sie am Klavier einsam „Claire de Lune“ von Claude Debussy spielt und dabei in Erinnerung an ihren Sohn in Tränen ausbricht. Wiederrum köstlich mit anzusehen, wie sie sich im Prunk ihrer neuen Behausung unwohl fühlt und an einem ungewöhnlichen Sessel stört, ehe Stefan ihr fachmännisch erklärt, dass dieser von Ludwig Mies van der Rohe gestaltet wurde, dem berühmtesten Vertreter des Minimalismus in der Architektur, der die Formel prägte: „Weniger ist mehr.“
Für den Film gilt dieser Grundsatz nur selten, sehr wohl aber für Jason Clarke als Lewis und Alexander Skarsgård als Stefan. Sie überlassen die übersprudelnden Emotionen ganz Keira Knightley und erden den Film durch zurückgenommene Auftritte. Skarsgård legt seinen Bildungsbürger gar als lebende Chiffre an, als geheimnisvollen Kavalier, spielt seine Anziehung zu Knightley glaubhaft – nur wenn er im Originalton deutsch sprechen muss, wirkt der gebürtige Schwede ungemein weniger authentisch. Jason Clarke zeigt dafür sein ganzes Talent in einem schwierigen Part: Als altruistischer Militär will er aufrichtig dem leidgeplagten deutschen Volk helfen, muss aber in Gefahrensituationen und bei Verhören den starken Mann markieren. Die Liebesbeziehungen von Rachael mit beiden Männern haben dank dieser feinen Charakterisierungen die nötige emotionale Tiefe und Größe.
Groß ist vieles an diesem Film, vor allem, wie er das „Niemandsland“ des deutschen Titels illustriert. Die Trümmerhaufen des zerstörten Hamburgs musste die Produktion am Computer erstellen, die Außenaufnahmen fanden in Prag statt. In kalten, dunklen Farbtönen zeigt Kent eine schneebedeckte Welt, in der Hoffnung und Perspektive verloren sind. Mehrfach schwingt seine Kamera über die Gesichter der Hamburger, die vom Krieg gezeichnet, traumatisiert sind. Stefans Tochter Freda freundet sich mit Albert an, einem ehemaligen Hitlerjugendlichen, gespielt von Jannik Schümann. Dieser greift einmal vor ihren Augen auf den verschmutzten Boden, hält ihr seine mit Dreck beschmierte Hand entgegen, sagt: „Das ist der Staub unserer Stadt. Die Asche, die von den Menschen geblieben ist.“ In den Arm hat er sich eine „88“ gebrannt …
Als Gegengewicht zum vernichteten Hamburg fungiert die in warmen Farben gefilmte Villa der Morgans. Gedreht wurde dafür in Schleswig-Holstein im Schloss Tralau. Allzu leicht wäre es, die Arbeit des Kameramanns Franz Lustig als elegant und umwerfend zu beschreiben, weil die Kulisse, die er abfilmt, elegant und umwerfend ausschaut. Es ist aber erst seine wunderbare Bildgestaltung, seine einfallsreiche Kinematographie, die aus „The Aftermath“ ein solches Vergnügen macht – insbesondere im Zusammenspiel mit der dezenten, meist nur subliminal wahrzunehmenden Filmmusik von Martin Phipps.
Welch düstere Historie selbst die schönsten deutschen Gemäuer haben, vergessen weder Film noch Rachael: In jedem requirierten Haus, das sie besucht, bemerkt sie ein weißes Quadrat an der Wand. Es sind die Umrisse eines abgehängten Gemäldes. „Wer hat da gehangen?“, will Rachael wissen. „Der Führer“, antwortet ihr eine Freundin. „Der Schandfleck, der nicht verschwindet.“
Die Metaphern sind groß, das Szenenbild von Sonja Kraus theatralisch, die Dialoge schwülstig, das Schauspiel der Hauptdarstellerin gewaltig. Obwohl die Situation im Haus der Morgans auch die Situation des besetzten Deutschlands widerspiegelt, in dem einstige Feinde plötzlich nebeneinanderher leben müssen, ist James Kent mit seinem fantastischen Erotikdrama von einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit der politischen Situation der frühen Nachkriegszeit weit entfernt. Sein Film entstammt der Tradition des goldenen Zeitalters des Hollywood-Kinos, ist als würdiger Erbe von „Doktor Schiwago“ oder gar „Vom Winde verweht“ zu verstehen.
Mit Ridley Scott als Regisseur wäre dieser Film so wohl nicht entstanden. Gut also, dass er sich für eine Produzententätigkeit entschied. Schade nur, wie Großteile der internationalen Filmkritik auf das fertige Werk reagierten. Wieso sollte „Kitsch“ ein Vorwurf sein, wenn er doch so inspiriert umgesetzt wird? Die altmodischen US-Melodramen sind vielleicht zurecht aus der Kino-Gegenwart verschwunden, vielleicht hat das Publikum aber auch verlernt, sich auf offenherziges Überwältigungskino einzulassen. Mit dieser Gattung Film ist es wie mit dem ersten Kuss: Wer sich einen Ruck gibt, kann danach regelrecht in Flammen stehen. Aber man muss sich dafür fallen lassen können. „Niemandsland – The Aftermath“ ist perfekt für alle, die genau das wollen – oder es erst lernen möchten.
„Sie sind im Begriff, einem merkwürdigen Volk in einem merkwürdigen, feindlichen Land zu begegnen“, liest ein kleiner Junge laut im Zug. „Halten Sie sich unbedingt von den Deutschen fern. Jedes Fraternisieren ist unerwünscht.“ Die Britin Rachael Morgan sitzt dem Jungen gegenüber. Der Zug bringt sie im Winter 1945 in das zerbombte Hamburg, der Zweite Weltkrieg endete vor fünf Monaten. Ihr Gatte Lewis, ein hochrangiger Besatzungsoffizier, erwartet sie dort. Er soll die Entnazifizierung der Stadt beaufsichtigen und will mit seiner Frau in einer von den Alliierten beschlagnahmten Villa an der Elbe wohnen. Schon bei ihrer Ankunft ist Rachael verwundert, welche Töne ihr Mann gegenüber dem besiegten Feind anschlägt. „Auf Hamburg sind an einem Wochenende mehr Bomben gefallen als auf London im ganzen Krieg“, erklärt er ihr. Mitgefühl ist in seiner Stimme.
Sich von den Deutschen fernhalten wird schwierig für Rachael, als sie erfährt, dass der Architekt ihres neuen Hauses, der deutsche Stefan Lubert, und seine Tochter Freda von ihrem Mann eingeladen wurden, weiter auf dem Dachboden zu leben. Woher er wisse, bei beiden handle es sich nicht um ehemalige Mitglieder der Partei, fragt seine Frau. Immerhin hat Lubert bislang keinen Persilschein ausgestellt bekommen. „Ich bezweifle, dass man einen Menschen aufgrund eines Fragebogens beurteilen kann“, sagt er. Doch was macht man stattdessen? „Man sieht ihm in die Augen.“
Nun sieht Rachael genauer hin: In den Augen des Architekten, der um seine Frau trauert, die bei einem der Bombenabwürfe ums Leben kam, sieht sie Schmerz, denselben Schmerz, den sie in den Augen ihres eigenen Mannes nicht erkennen kann. Dabei verlor auch das Ehepaar Morgan ihren kleinen Sohn auf dieselbe Weise, als in London eine Bombe ihr Haus zerstörte. Der Schmerz entfremdet das eine Paar und bringt das andere zusammen. Aus der anfänglichen Ablehnung, die Stefan und Freda von Rachael zu spüren bekommen, wird seelische Verbundenheit. Als sie sich einen Ruck geben, der erste Kuss zwischen ihr und dem Deutschen fällt, stehen sie regelrecht in Flammen.
Von einer riskanten Affäre also erzählt „Niemandsland – The Aftermath“, basierend auf der gleichnamigen Buchvorlage des walisischen Autoren Rhidian Brook. Sein Roman landete eines Tages auf dem Schreibtisch von Regie-Gigant Ridley Scott. Der war sofort fasziniert: Scotts eigener Vater war britischer Offizier, der nach dem Krieg ebenfalls in Hamburg stationiert wurde. So lebte Scott als 10-Jähriger selbst in einem ganz ähnlichen Haus. Ursprünglich wollte er daher unbedingt persönlich „The Aftermath“ inszenieren, doch mit beiden Händen in andere Projekte eingebunden, fungierte er schlussendlich nur als Produzent, gab die Regie an den TV-erfahrenen James Kent ab. Klar ist: Hätte Scott inszeniert, wäre dies ein anderer, ein autobiografischerer Film geworden. Aber auch ein besserer?
Auf dieses Urteil mag man kommen, liest man die Kritiken, die 2019 kaum ein gutes Haar an der Romanverfilmung ließen. Nahezu jede Rezension nutzte das böse Schlagwort: „Kitsch“. Der Film sei plump inszeniert, drücke auf die Tränendrüse, ließe Subtilität vermissen. Die Affäre zwischen Stefan und Rachael wurde als „naiv“ empfunden, über die teils pompöse Bildsprache schrieb David Steinitz abfällig in der Süddeutschen Zeitung, der Film sähe aus „wie eine schicke Luxusuhrenwerbung, die aus unerfindlichen Gründen im Jahr 1946 spielt“. Patrick Seyboth von EPD Film fand, Regisseur Kent erzähle „kurzatmig und grob wie eine Vorabend-Soap“.
All das mögen in einem gewissen Rahmen zutreffende Beobachtungen sein, doch übersehen sie die Ambitionen dieser wunderbar sinnlichen Filmperle. Rhidian Brook hatte sich einen Namen als Autor rührender Melodramen gemacht. Er schrieb „The Aftermath“ als eine epische Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund, nach Vorbild des klassischen Hollywood-Kinos der 40er- und 50er-Jahre. James Kent hat das erkannt – so verzichtet seine 109 Minuten lange Adaption gänzlich auf die ironischen Metaebenen und den postmodernen Zynismus, mit dem sich Regisseure seit der Jahrtausendwende dem romantischen Genre meist nähern. In seinem Film wird noch mit großen Gesten geliebt, mit Dackelblick geschmachtet, und ohnehin darf kein einzelner Kuss ohne meterdickes Pathos auskommen.
Kaum zufällig hat er Rachael mit der großartigen Keira Knightley besetzt, die jahrelang durch Literaturverfilmungen wie „Stolz und Vorurteil“, „Anna Karenina“ oder „Abbitte“ zum letzten Gesicht des melodramatischen Kinos geworden ist. Ihr Charme ist klassisch, ihr Schauspiel überlebensgroß. Es ist keine Überraschung, zu sagen, dass „The Aftermath“ ganz und gar ihr gehört, von ihrer Ausstrahlung, ihrem Charisma lebt. Ergreifend, wie sie am Klavier einsam „Claire de Lune“ von Claude Debussy spielt und dabei in Erinnerung an ihren Sohn in Tränen ausbricht. Wiederrum köstlich mit anzusehen, wie sie sich im Prunk ihrer neuen Behausung unwohl fühlt und an einem ungewöhnlichen Sessel stört, ehe Stefan ihr fachmännisch erklärt, dass dieser von Ludwig Mies van der Rohe gestaltet wurde, dem berühmtesten Vertreter des Minimalismus in der Architektur, der die Formel prägte: „Weniger ist mehr.“
Für den Film gilt dieser Grundsatz nur selten, sehr wohl aber für Jason Clarke als Lewis und Alexander Skarsgård als Stefan. Sie überlassen die übersprudelnden Emotionen ganz Keira Knightley und erden den Film durch zurückgenommene Auftritte. Skarsgård legt seinen Bildungsbürger gar als lebende Chiffre an, als geheimnisvollen Kavalier, spielt seine Anziehung zu Knightley glaubhaft – nur wenn er im Originalton deutsch sprechen muss, wirkt der gebürtige Schwede ungemein weniger authentisch. Jason Clarke zeigt dafür sein ganzes Talent in einem schwierigen Part: Als altruistischer Militär will er aufrichtig dem leidgeplagten deutschen Volk helfen, muss aber in Gefahrensituationen und bei Verhören den starken Mann markieren. Die Liebesbeziehungen von Rachael mit beiden Männern haben dank dieser feinen Charakterisierungen die nötige emotionale Tiefe und Größe.
Groß ist vieles an diesem Film, vor allem, wie er das „Niemandsland“ des deutschen Titels illustriert. Die Trümmerhaufen des zerstörten Hamburgs musste die Produktion am Computer erstellen, die Außenaufnahmen fanden in Prag statt. In kalten, dunklen Farbtönen zeigt Kent eine schneebedeckte Welt, in der Hoffnung und Perspektive verloren sind. Mehrfach schwingt seine Kamera über die Gesichter der Hamburger, die vom Krieg gezeichnet, traumatisiert sind. Stefans Tochter Freda freundet sich mit Albert an, einem ehemaligen Hitlerjugendlichen, gespielt von Jannik Schümann. Dieser greift einmal vor ihren Augen auf den verschmutzten Boden, hält ihr seine mit Dreck beschmierte Hand entgegen, sagt: „Das ist der Staub unserer Stadt. Die Asche, die von den Menschen geblieben ist.“ In den Arm hat er sich eine „88“ gebrannt …
Als Gegengewicht zum vernichteten Hamburg fungiert die in warmen Farben gefilmte Villa der Morgans. Gedreht wurde dafür in Schleswig-Holstein im Schloss Tralau. Allzu leicht wäre es, die Arbeit des Kameramanns Franz Lustig als elegant und umwerfend zu beschreiben, weil die Kulisse, die er abfilmt, elegant und umwerfend ausschaut. Es ist aber erst seine wunderbare Bildgestaltung, seine einfallsreiche Kinematographie, die aus „The Aftermath“ ein solches Vergnügen macht – insbesondere im Zusammenspiel mit der dezenten, meist nur subliminal wahrzunehmenden Filmmusik von Martin Phipps.
Welch düstere Historie selbst die schönsten deutschen Gemäuer haben, vergessen weder Film noch Rachael: In jedem requirierten Haus, das sie besucht, bemerkt sie ein weißes Quadrat an der Wand. Es sind die Umrisse eines abgehängten Gemäldes. „Wer hat da gehangen?“, will Rachael wissen. „Der Führer“, antwortet ihr eine Freundin. „Der Schandfleck, der nicht verschwindet.“
Die Metaphern sind groß, das Szenenbild von Sonja Kraus theatralisch, die Dialoge schwülstig, das Schauspiel der Hauptdarstellerin gewaltig. Obwohl die Situation im Haus der Morgans auch die Situation des besetzten Deutschlands widerspiegelt, in dem einstige Feinde plötzlich nebeneinanderher leben müssen, ist James Kent mit seinem fantastischen Erotikdrama von einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit der politischen Situation der frühen Nachkriegszeit weit entfernt. Sein Film entstammt der Tradition des goldenen Zeitalters des Hollywood-Kinos, ist als würdiger Erbe von „Doktor Schiwago“ oder gar „Vom Winde verweht“ zu verstehen.
Mit Ridley Scott als Regisseur wäre dieser Film so wohl nicht entstanden. Gut also, dass er sich für eine Produzententätigkeit entschied. Schade nur, wie Großteile der internationalen Filmkritik auf das fertige Werk reagierten. Wieso sollte „Kitsch“ ein Vorwurf sein, wenn er doch so inspiriert umgesetzt wird? Die altmodischen US-Melodramen sind vielleicht zurecht aus der Kino-Gegenwart verschwunden, vielleicht hat das Publikum aber auch verlernt, sich auf offenherziges Überwältigungskino einzulassen. Mit dieser Gattung Film ist es wie mit dem ersten Kuss: Wer sich einen Ruck gibt, kann danach regelrecht in Flammen stehen. Aber man muss sich dafür fallen lassen können. „Niemandsland – The Aftermath“ ist perfekt für alle, die genau das wollen – oder es erst lernen möchten.
Bis ihre Klapper schlapper klang
Die Klapperschlange
Deutsche Filmtitel sind eine Wissenschaft für sich. Oft entscheiden Verleihe, die Originaltitel eines Films zu ignorieren, um auf eingängigere Formulierungen zu setzen. Anstatt die Komödie „Stripes“ einfach „Offiziersstreifen“ zu nennen, heißt sie hierzulande: „Ich glaub‘ mich knutscht ein Elch!“. Der Italowestern „The Good, The Bad and the Ugly“ hat im Original drei Titelfiguren: den Guten, den Bösen, den Hässlichen. Doch im Deutschen werden nur „Zwei glorreiche Halunken“ erwähnt. Und für den Filmklassiker „North by Northwest“ von Alfred Hitchcock war dem Verleih die Übersetzung „Von Nord- nach Nordwesten“ vermutlich zu unspektakulär, man wählte stattdessen „Der unsichtbare Dritte“.
Über Geschmack lässt sich in diesen Fällen streiten. Aber keine Aufzählung peinlicher deutscher Titelentgleisungen ist je komplett, wenn sie nicht den dystopischen Actionreißer enthält, der 1981 unter der Regie von John Carpenter zum Kult wurde: „Die Klapperschlange“. Warum der Titel so daneben ist? Es kommt überhaupt keine Klapperschlange im Film vor. Die Hauptfigur, der kernige Ex-Elitesoldat und Outlaw S.D. Plissken, besteht zwar darauf, „Snake“, also „Schlange“, genannt zu werden. Gemeint hat der Verleih aber wohl eher sein auffälliges, tierisches Tattoo am Oberkörper. Dummerweise braucht es allerdings keinen Tierforscher, um zu erkennen: Das ist keine Klapperschlange, sondern eine Kobra.
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, den perfekten Originaltitel zu bemühen: „Escape from New York“, zu deutsch „Flucht aus New York“. Denn Carpenter, der zuvor bereits die Horrorfilm-Meisterwerke „Halloween“ und „The Fog“ drehte, schuf hier einen Film, dessen Name zugleich sein Programm ist: Im Jahr 1997 steht die Welt kurz vor einem Atomkrieg. Die USA haben vor den Aufständen ihrer Bevölkerung kapituliert, den ganzen New Yorker Stadtteil Manhattan eingezäunt und in ein riesiges Inselgefängnis verwandelt, aus dem es kein Entkommen gibt – außer durch den Tod.
Dieses Schicksal droht auch dem US-amerikanischen Präsidenten selbst, als antiimperialistische Terroristen sein Privatflugzeug kapern und es mutwillig über Manhattan abstürzen lassen. Zwar überlebt das Staatsoberhaupt, ist aber fortan Geisel der Kriminellen. Gefängniswärter Bob Hauk will Feuer mit Feuer bekämpfen – und so kommt Snake Plissken ins Spiel. Er ist gerade frisch verhaftet worden, man bietet ihm vollen Straferlass, wenn er den Präsidenten binnen 24 Stunden aus New York und damit aus seiner Misere befreit.
„Amerikaner lieben Gesetzlose! Wir haben eine Schwäche für Bösewichte“, wird John Carpenter im Zusammenhang mit „Die Klapperschlange“ zitiert. Erklärt das die Faszination hinter Snake Plissken? Kurt Russell jedenfalls wurde durch diese Rolle über Nacht zum Actionstar. Verdientermaßen, denn er funktioniert hervorragend als mythisch überhöhte Einmannarmee: Längst gestorben soll er eigentlich sein, betont nahezu jeder Charakter, dem Snake im Verlauf des Films begegnet. Carpenter hatte das Drehbuch zur Klapperschlange schon 1973 geschrieben, seine düstere, pechschwarze Sicht auf die USA, die er hier als korrupten Polizeistaat inszeniert, war geprägt durch den Watergate-Skandal.
Einen desillusionierten Söldner auf eine patriotische Mission zu schicken, war dabei der Kerngedanke für den Plot. Carpenter sagt von sich selbst: „Ich habe ein ernsthaftes Problem mit Autoritäten. Immer wenn ich mich ihnen widersetzen kann, mache ich das mit Freude.“ So ist es nicht schwierig, Snake Plissken als Alter Ego seines Schöpfers zu sehen. Der muskulöse Waffenexperte mit der charakteristischen Augenklappe ist wortkarg, lässt jedoch keine Chance ungenutzt, seine tiefe Verachtung für Staat und System durch einen zynischen Spruch auszudrücken. Als Hauk ihn über die Lage aufklärt, schlägt er nur lakonisch vor: „Besorgen Sie sich einen neuen Präsidenten.“ In Carpenters Filmwelt, in der jeder Funke des Widerstands sofort mit harter Hand von Oben unterdrückt wird, ist Plissken der letzte Rebell.
Wer den Film im englischen Original sieht, wird bemerken, dass Kurt Russell den ganzen Film hindurch klingt, als sei er insgeheim als Imitator von Filmstar Clint Eastwood engagiert worden. Das ist kein Zufall: Plissken basierte auf dessen berühmtesten Rollen, auf dem pessimistischen Polizisten „Dirty Harry“ und auf dem Revolverhelden aus dem Western „Für eine Handvoll Dollar“. Carpenter träumte seit Anbeginn seiner Karriere davon, einen Western zu drehen, und Snake Plissken wurde sein Pistolero: Ein einsamer Wolf, ein Gesetzloser, der nur den eigenen Ehrenkodex verfolgt. Mehr als nur eine kleine Genre-Hommage ist daher die Besetzung des Gefängnisdirektors mit Lee Van Cleef, der zu den populärsten Italowestern-Stars der Geschichte zählt.
Carpenters intelligente Zukunftsvision begeistert schon im Intro. Die dort zu hörende, bedrohliche Synthesizer-Musik, die er und Alan Howarth komponierten, stimmt auf die apokalyptische Endzeit-Atmosphäre ein. Die Produktion drehte in Missouri in der Stadt St. Louis, in der 1976 ein Brand ganze Häuserblöcke entstellte, die nicht wieder aufgebaut wurden. Sie ermöglichen bedrückende, klaustrophobische Bilder einer heruntergekommenen Zivilisation. Überall liegt Müll, Autos stehen kopfüber, Tonnen brennen vielerorts, ständig huschen Schatten vorbei. Die Gefahr scheint allgegenwärtig. In langen, konzentrierten Aufnahmen schafft Carpenter eine phänomenale, nachdenkliche Daueranspannung. Gleichzeitig bleibt er in den eruptiven Actionszenen dicht bei den Figuren, zeigt heftige, barbarische, maßlose Gewalt.
Sensationell gelingt es so in nur 99 Minuten, das fragile Gebilde des gesitteten menschlichen Miteinanders vorzuführen. Inmitten der Anarchie bilden sich neue Kleinstgruppen. Eine davon, die „Crazys“, so erfahren wir, wildern so umher, dass ihnen am Monatsende meist das Essen ausgeht – ihnen bleibt dann nur der Kannibalismus. Sex-Soulprotz Isaac Hayes spielt den Ghettomonarch Duke, der das archaische Recht des Stärkeren durch absurde Gladiatorenkämpfe durchzusetzen versucht. Edelmime Ernest Borgnine wiederum ist als Cabbie zu sehen, der weiter seiner Beteiligung als Taxifahrer nachgeht, ganz so, als hätte sich in New York nichts geändert. Naja, fast! Aufdringliche Passagiere wehrt er schon mal gutgelaunt mit einem Molotow-Cocktail ab.
Die handwerkliche Qualität dieses Genre-Meilensteins ist unbestritten. Ein Großteil des Films wurde in der Nacht gedreht, weshalb das Filmteam jeden Morgen eilig die Kulissen von den Straßen räumen musste. Für eine spektakuläre Sequenz, in der Snake mit einem Segelflugzeug auf dem World Trade Center landet, wurde das Dach des Nordturms aufwendig nachgebaut. Um das abgestürzte Flugzeug des Präsidenten zu zeigen, kaufte das Filmteam unter der Leitung von Ward Welton auf einem Schrottplatz eine Douglas DC-8, schnitt sie in drei Teile und legte sie brennend in St. Louis auf einer Kreuzung ab – ohne Genehmigung der Stadt. Angeblich behaupteten noch Wochen lang Anwohner, den nie stattgefundenen Absturz der Maschine mit eigenen Augen gesehen zu haben.
Trotz der verblüffenden Anzahl spektakulärer Spezialeffekte, für die Roy Arbogast zuständig war, der zuvor an „Der weiße Hai“ und „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ arbeitete, verloren Carpenter und sein Co-Autor Nick Castle nie die Geschichte aus den Augen. Produzentin Debra Hill verstand „Die Klapperschlange“ gar als politischen Film, als Mahnung, stets den Schutz der Bürgerrechte zu wahren. Durchaus geschickt jonglierten die Macher mit realen Zukunftsängsten: 1981 war die weltweite Panik vor einem Atomkrieg allgegenwärtig, kurz zuvor hatten thematisch ähnliche Filme wie „Mad Max“ und „Stalker“ bereits große Erfolge gefeiert.
Dementsprechend ging „Die Klapperschlange“ nahtlos in die Popkultur ein. Der japanische Spieleentwickler Hideo Kojima war so nachhaltig vom Film beeindruckt, dass der ihn 1998 zur Videospielreihe „Metal Gear Solid“ inspirierte. Der Protagonist darin hat nicht nur eine Augenklappe, sondern heißt auch direkt Snake. Andere Figuren des Films waren ebenfalls Vorlagen für Charaktere der Spielreihe, wie Donald Pleasance als weinerlicher Präsident, Harry Dean Stanton als verbrecherischer Intellektueller und Adrienne Barbeau als waffenstarke Antiheldin. Ursprünglich wollte der französische Bezahlfernsehsender Canal+ als Mitbesitzer der „Die Klapperschlange“-Rechte deswegen gegen Kojima klagen, doch Carpenter verhinderte dies aus Sympathie zu dem Entwickler.
Noch eine unübersehbare Spur hinterließ die bleihaltige Flucht aus New York: Früh zu Beginn des Films lässt Bob Hauk dem miesgelaunten Snake zwei Sprengladungen in die Halsschlagader setzen, die ihm den Kopf sprengen sollen, falls er desertiert. Dieses Element faszinierte den Comicautoren John Ostrander so sehr, dass er es zur zentralen Prämisse für seine Comicreihe „Suicide Squad“ erklärte, in der ebenfalls Kriminelle mit Sprengstoff im Nacken im Gegenzug für Straferlass Aufträge für die Regierung ausführen. 2016 schaffte es die Selbstmordtruppe erstmals selbst auf die große Leinwand.
Kurt Russell war so in Snake Plissken und „Die Klapperschlange“ vernarrt, dass er Carpenter immer wieder zu einer Fortsetzung überreden wollte. 1996 gab der schließlich nach und drehte „Escape from L.A.“, der sich mehr als Neuverfilmung denn als echte Weiterführung entpuppte, auf das Klapperschlangen-Budget von 6 Millionen US-Dollar nochmal 43 Millionen drauflegte, aber Fans und Kritiker enttäuschte. Nur Titel-Fetischisten wurden endlich befriedigt: Im Deutschen hieß die Fortsetzung weder „Die Kreuzotter“ noch „Die Ringelnatter“, sondern schlicht „Flucht aus L.A.“.
Deutsche Filmtitel sind eine Wissenschaft für sich. Oft entscheiden Verleihe, die Originaltitel eines Films zu ignorieren, um auf eingängigere Formulierungen zu setzen. Anstatt die Komödie „Stripes“ einfach „Offiziersstreifen“ zu nennen, heißt sie hierzulande: „Ich glaub‘ mich knutscht ein Elch!“. Der Italowestern „The Good, The Bad and the Ugly“ hat im Original drei Titelfiguren: den Guten, den Bösen, den Hässlichen. Doch im Deutschen werden nur „Zwei glorreiche Halunken“ erwähnt. Und für den Filmklassiker „North by Northwest“ von Alfred Hitchcock war dem Verleih die Übersetzung „Von Nord- nach Nordwesten“ vermutlich zu unspektakulär, man wählte stattdessen „Der unsichtbare Dritte“.
Über Geschmack lässt sich in diesen Fällen streiten. Aber keine Aufzählung peinlicher deutscher Titelentgleisungen ist je komplett, wenn sie nicht den dystopischen Actionreißer enthält, der 1981 unter der Regie von John Carpenter zum Kult wurde: „Die Klapperschlange“. Warum der Titel so daneben ist? Es kommt überhaupt keine Klapperschlange im Film vor. Die Hauptfigur, der kernige Ex-Elitesoldat und Outlaw S.D. Plissken, besteht zwar darauf, „Snake“, also „Schlange“, genannt zu werden. Gemeint hat der Verleih aber wohl eher sein auffälliges, tierisches Tattoo am Oberkörper. Dummerweise braucht es allerdings keinen Tierforscher, um zu erkennen: Das ist keine Klapperschlange, sondern eine Kobra.
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, den perfekten Originaltitel zu bemühen: „Escape from New York“, zu deutsch „Flucht aus New York“. Denn Carpenter, der zuvor bereits die Horrorfilm-Meisterwerke „Halloween“ und „The Fog“ drehte, schuf hier einen Film, dessen Name zugleich sein Programm ist: Im Jahr 1997 steht die Welt kurz vor einem Atomkrieg. Die USA haben vor den Aufständen ihrer Bevölkerung kapituliert, den ganzen New Yorker Stadtteil Manhattan eingezäunt und in ein riesiges Inselgefängnis verwandelt, aus dem es kein Entkommen gibt – außer durch den Tod.
Dieses Schicksal droht auch dem US-amerikanischen Präsidenten selbst, als antiimperialistische Terroristen sein Privatflugzeug kapern und es mutwillig über Manhattan abstürzen lassen. Zwar überlebt das Staatsoberhaupt, ist aber fortan Geisel der Kriminellen. Gefängniswärter Bob Hauk will Feuer mit Feuer bekämpfen – und so kommt Snake Plissken ins Spiel. Er ist gerade frisch verhaftet worden, man bietet ihm vollen Straferlass, wenn er den Präsidenten binnen 24 Stunden aus New York und damit aus seiner Misere befreit.
„Amerikaner lieben Gesetzlose! Wir haben eine Schwäche für Bösewichte“, wird John Carpenter im Zusammenhang mit „Die Klapperschlange“ zitiert. Erklärt das die Faszination hinter Snake Plissken? Kurt Russell jedenfalls wurde durch diese Rolle über Nacht zum Actionstar. Verdientermaßen, denn er funktioniert hervorragend als mythisch überhöhte Einmannarmee: Längst gestorben soll er eigentlich sein, betont nahezu jeder Charakter, dem Snake im Verlauf des Films begegnet. Carpenter hatte das Drehbuch zur Klapperschlange schon 1973 geschrieben, seine düstere, pechschwarze Sicht auf die USA, die er hier als korrupten Polizeistaat inszeniert, war geprägt durch den Watergate-Skandal.
Einen desillusionierten Söldner auf eine patriotische Mission zu schicken, war dabei der Kerngedanke für den Plot. Carpenter sagt von sich selbst: „Ich habe ein ernsthaftes Problem mit Autoritäten. Immer wenn ich mich ihnen widersetzen kann, mache ich das mit Freude.“ So ist es nicht schwierig, Snake Plissken als Alter Ego seines Schöpfers zu sehen. Der muskulöse Waffenexperte mit der charakteristischen Augenklappe ist wortkarg, lässt jedoch keine Chance ungenutzt, seine tiefe Verachtung für Staat und System durch einen zynischen Spruch auszudrücken. Als Hauk ihn über die Lage aufklärt, schlägt er nur lakonisch vor: „Besorgen Sie sich einen neuen Präsidenten.“ In Carpenters Filmwelt, in der jeder Funke des Widerstands sofort mit harter Hand von Oben unterdrückt wird, ist Plissken der letzte Rebell.
Wer den Film im englischen Original sieht, wird bemerken, dass Kurt Russell den ganzen Film hindurch klingt, als sei er insgeheim als Imitator von Filmstar Clint Eastwood engagiert worden. Das ist kein Zufall: Plissken basierte auf dessen berühmtesten Rollen, auf dem pessimistischen Polizisten „Dirty Harry“ und auf dem Revolverhelden aus dem Western „Für eine Handvoll Dollar“. Carpenter träumte seit Anbeginn seiner Karriere davon, einen Western zu drehen, und Snake Plissken wurde sein Pistolero: Ein einsamer Wolf, ein Gesetzloser, der nur den eigenen Ehrenkodex verfolgt. Mehr als nur eine kleine Genre-Hommage ist daher die Besetzung des Gefängnisdirektors mit Lee Van Cleef, der zu den populärsten Italowestern-Stars der Geschichte zählt.
Carpenters intelligente Zukunftsvision begeistert schon im Intro. Die dort zu hörende, bedrohliche Synthesizer-Musik, die er und Alan Howarth komponierten, stimmt auf die apokalyptische Endzeit-Atmosphäre ein. Die Produktion drehte in Missouri in der Stadt St. Louis, in der 1976 ein Brand ganze Häuserblöcke entstellte, die nicht wieder aufgebaut wurden. Sie ermöglichen bedrückende, klaustrophobische Bilder einer heruntergekommenen Zivilisation. Überall liegt Müll, Autos stehen kopfüber, Tonnen brennen vielerorts, ständig huschen Schatten vorbei. Die Gefahr scheint allgegenwärtig. In langen, konzentrierten Aufnahmen schafft Carpenter eine phänomenale, nachdenkliche Daueranspannung. Gleichzeitig bleibt er in den eruptiven Actionszenen dicht bei den Figuren, zeigt heftige, barbarische, maßlose Gewalt.
Sensationell gelingt es so in nur 99 Minuten, das fragile Gebilde des gesitteten menschlichen Miteinanders vorzuführen. Inmitten der Anarchie bilden sich neue Kleinstgruppen. Eine davon, die „Crazys“, so erfahren wir, wildern so umher, dass ihnen am Monatsende meist das Essen ausgeht – ihnen bleibt dann nur der Kannibalismus. Sex-Soulprotz Isaac Hayes spielt den Ghettomonarch Duke, der das archaische Recht des Stärkeren durch absurde Gladiatorenkämpfe durchzusetzen versucht. Edelmime Ernest Borgnine wiederum ist als Cabbie zu sehen, der weiter seiner Beteiligung als Taxifahrer nachgeht, ganz so, als hätte sich in New York nichts geändert. Naja, fast! Aufdringliche Passagiere wehrt er schon mal gutgelaunt mit einem Molotow-Cocktail ab.
Die handwerkliche Qualität dieses Genre-Meilensteins ist unbestritten. Ein Großteil des Films wurde in der Nacht gedreht, weshalb das Filmteam jeden Morgen eilig die Kulissen von den Straßen räumen musste. Für eine spektakuläre Sequenz, in der Snake mit einem Segelflugzeug auf dem World Trade Center landet, wurde das Dach des Nordturms aufwendig nachgebaut. Um das abgestürzte Flugzeug des Präsidenten zu zeigen, kaufte das Filmteam unter der Leitung von Ward Welton auf einem Schrottplatz eine Douglas DC-8, schnitt sie in drei Teile und legte sie brennend in St. Louis auf einer Kreuzung ab – ohne Genehmigung der Stadt. Angeblich behaupteten noch Wochen lang Anwohner, den nie stattgefundenen Absturz der Maschine mit eigenen Augen gesehen zu haben.
Trotz der verblüffenden Anzahl spektakulärer Spezialeffekte, für die Roy Arbogast zuständig war, der zuvor an „Der weiße Hai“ und „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ arbeitete, verloren Carpenter und sein Co-Autor Nick Castle nie die Geschichte aus den Augen. Produzentin Debra Hill verstand „Die Klapperschlange“ gar als politischen Film, als Mahnung, stets den Schutz der Bürgerrechte zu wahren. Durchaus geschickt jonglierten die Macher mit realen Zukunftsängsten: 1981 war die weltweite Panik vor einem Atomkrieg allgegenwärtig, kurz zuvor hatten thematisch ähnliche Filme wie „Mad Max“ und „Stalker“ bereits große Erfolge gefeiert.
Dementsprechend ging „Die Klapperschlange“ nahtlos in die Popkultur ein. Der japanische Spieleentwickler Hideo Kojima war so nachhaltig vom Film beeindruckt, dass der ihn 1998 zur Videospielreihe „Metal Gear Solid“ inspirierte. Der Protagonist darin hat nicht nur eine Augenklappe, sondern heißt auch direkt Snake. Andere Figuren des Films waren ebenfalls Vorlagen für Charaktere der Spielreihe, wie Donald Pleasance als weinerlicher Präsident, Harry Dean Stanton als verbrecherischer Intellektueller und Adrienne Barbeau als waffenstarke Antiheldin. Ursprünglich wollte der französische Bezahlfernsehsender Canal+ als Mitbesitzer der „Die Klapperschlange“-Rechte deswegen gegen Kojima klagen, doch Carpenter verhinderte dies aus Sympathie zu dem Entwickler.
Noch eine unübersehbare Spur hinterließ die bleihaltige Flucht aus New York: Früh zu Beginn des Films lässt Bob Hauk dem miesgelaunten Snake zwei Sprengladungen in die Halsschlagader setzen, die ihm den Kopf sprengen sollen, falls er desertiert. Dieses Element faszinierte den Comicautoren John Ostrander so sehr, dass er es zur zentralen Prämisse für seine Comicreihe „Suicide Squad“ erklärte, in der ebenfalls Kriminelle mit Sprengstoff im Nacken im Gegenzug für Straferlass Aufträge für die Regierung ausführen. 2016 schaffte es die Selbstmordtruppe erstmals selbst auf die große Leinwand.
Kurt Russell war so in Snake Plissken und „Die Klapperschlange“ vernarrt, dass er Carpenter immer wieder zu einer Fortsetzung überreden wollte. 1996 gab der schließlich nach und drehte „Escape from L.A.“, der sich mehr als Neuverfilmung denn als echte Weiterführung entpuppte, auf das Klapperschlangen-Budget von 6 Millionen US-Dollar nochmal 43 Millionen drauflegte, aber Fans und Kritiker enttäuschte. Nur Titel-Fetischisten wurden endlich befriedigt: Im Deutschen hieß die Fortsetzung weder „Die Kreuzotter“ noch „Die Ringelnatter“, sondern schlicht „Flucht aus L.A.“.
Der Bestechliche
Frost/Nixon
Als 1974 der Watergate-Skandal den ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon zu Fall brachte, war das ein Medienereignis: 400 Millionen Zuschauer sahen seine letzte Präsidentschaftsrede live im Fernsehen. Einer von ihnen war der Talkshow-Moderator David Frost, dessen Karriere zu dem Zeitpunkt stagnierte. Doch die Quoten von Nixons Abgang brachten ihn auf eine Idee: Ein Interview mit diesem Mann könnte seine Chance auf Nobilitierung bedeuten. Dafür riskierte er alles: Da kein TV-Sender ihn finanziell unterstützen wollte, bot er Richard Nixon stolze 600.000 Dollar, um ihn aus seinem Domizil an der Westküste zu locken. Der nahm an. Er wollte sich mitteilen, seine politische Reputation wiederherstellen.
Seine Berater fanden, Frost sei dafür der ideale Mann. Sie nahmen den übertrieben schick gekleideten Ausländer, dessen bis dato größtes Interview er mit den Bee Gees führte, nicht für voll, erachteten ihn bloß als Stichwortgeber, den das rhetorische Genie Richard Nixon leicht austricksen könne. Sie sollten sich irren. Gewaltig. Das Interview, aufgeteilt auf 12 Tage, mit einer Gesamtlänge von 28 Stunden, wurde für Nixon zum Desaster. Frost nagelte ihn beim Thema Watergate fest und bot ihm den Prozess, dem er zuvor entkommen war, weil – zum Ärger eines Großteils des US-amerikanischen Volkes – sein Präsidentschaftsnachfolger Gerald Ford ihn für sämtliche Vergehen vollständig begnadigte. Das Gespräch mit Nixon, das in vier 90-minütigen Sendungen ausgestrahlt wurde, schrieb TV-Geschichte. Die letzte Ausgabe zog 45 Millionen US-Zuschauer vor die Flimmerkisten – bis heute ein Talkshow-Rekord. Frost gewann das Interview, das längst ein Duell geworden war.
Ein Duell, welches den gefeierten britischen Autoren Peter Morgan drei Jahrzehnte später zu einem Theaterstück inspirierte. 2006 wurde die Geschichte um die Vorbereitung des Interviews und die schicksalsträchtige TV-Aufzeichnung in London uraufgeführt, so erfolgreich, dass es kurz darauf auch am Broadway gespielt wurde. Doch eine Geschichte, die ihren Ursprung auf den Bildschirmen nahm, findet wohl unweigerlich dorthin zurück – so erschien bereits 2008 die verfilmte Version in den Kinos. Das Drehbuch dafür schrieb Peter Morgan gleich selbst, als Regisseur kam Ron Howard an Bord. Er hatte schon zuvor biografische Geschichten angenommen und sie in Filmen wie „Apollo 13“ und „A Beautiful Mind“ zu glossigen, rührseligen Hollywood-Melodramen umfunktioniert.
Bei „Frost/Nixon“ ist davon keine Spur mehr: Er geht das intellektuelle Sujet ernst an, widersteht jedem Versuch, sich mit kitschigen oder sentimentalen Elementen dem Massenpublikum anzubiedern. Bravourös und raffiniert gelingt es ihm, die kammerspielhafte Spannung des Bühnenstücks auf die Leinwand zu transportieren. Dabei machen er und sein Kameramann Salvatore Totino übermäßig Gebrauch von dem filmischen Stilmittel, welches bereits beim Theaterstück Verwendung fand: die Nahaufnahme. Dank Kameras auf der Bühne konnten die Zuschauer über Monitore direkt in die Gesichter der Schauspieler gucken. Schon für das Theater war dies ein brillanter Einfall, denn Morgans Stück ist als große Medienkritik zu verstehen: Wie Politik zu einer einzigen Inszenierung wird, zur Show, in der die Akteure nur an Optik und Auftreten gemessen werden, ist das substanzielle Futter dieser Interview-Adaption.
Frost etwa versprüht stets einen ungeheuren Charme, das Scheinwerferlicht schmeichelt ihm. Nixon wiederum taugt nicht zum Charismatiker, die Fernsehkameras sind ihm nicht gnädig. Experten gehen davon aus, dass er die Präsidentschaftswahl 1960 gegen John F. Kennedy deshalb verlor, weil im TV-Duell die Schweißperlen auf seinem Gesicht in den Nahaufnahmen deutlich zu erkennen waren und er so auf das TV-Publikum unprofessionell wirkte. Am Ende des Films sinniert der Republikaner, beide hätten das falsche Leben gewählt: Er wäre als unbequemer Fragesteller ideal gewesen, Frost hätte es dagegen als Politiker weit gebracht.
Die Umsetzung als 122-minütiger Kinofilm rechtfertigen allein schon das Dekor, die Frisuren, die authentischen 70s-Klamotten sowie das detailverliebte Produktionsdesign: Gedreht wurde an Originalschauplätzen, in Nixons Haus in San Clemente sowie in Frosts Hotel-Suite. Hans Zimmer steuerte die Filmmusik bei und verzichtete auf seine bekannte Bombast-Untermalung, stattdessen bietet er herausragende leise Zwischentöne. Die Bühnenversion aber liefert die wichtigsten Ideen zur Inszenierung: Im Theater wendeten sich die Berater der beiden Widersacher direkt mit ihren Kommentaren an das Publikum. Howard behält dies bei, indem er wiederholt Szenen einschiebt, in denen die Charaktere aus dem Rückblick berichtend in die Kamera erzählen, so als sei „Frost/Nixon“ kein Spiel-, sondern ein Dokumentarfilm – womit er Morgans medienkritischem Ansatz eine zusätzliche Metaebene überstülpt.
Zu einem so delikaten Vergnügen wird „Frost/Nixon“ aber erst durch seine Besetzung. Für die Hauptrollen wurden die Bühnenstars der Erstbesetzung zurückgeholt. Michael Sheen spielt somit David Frost. Brillant verkörpert er den Moderator als Karrieristen, der die Herausforderung sucht und dabei kein Scheitern kennt. Zur Zeit der Interviews war Frost mit der Britin Caroline Cushing zusammen, und Morgan nutzt diese Beziehung, um Frost als Playboy zu zeigen, der sich nimmt, was er will: Im Flugzeug lernt er Cushing kennen, bezaubernd von Rebecca Hall gespielt. Mit selbstsicherem Perlweiß-Grinsen erobert er in Windeseile ihr Herz.
Frank Langella, der für seine Bühnen-Performance als Richard Nixon mit einem Tony-Award geehrt wurde, steht dem in Nichts nach. Weniger machiavellistisch als 1995 noch Anthony Hopkins in „Nixon“ von Oliver Stone, verkörpert er den Staatsmann als intelligenten, widerstandsfähigen Kämpfer, der sich mit dem Ruhestand nicht zufriedengibt – und dabei eine fatalistische Selbstsicherheit ausstrahlt. Das Skript verharmlost Nixons Charakter nicht: Sein Gesicht drückt Ekel aus, als er davon hört, Frost sei einmal mit einer schwarzen Frau, der Schauspielerin Diahann Carroll, verlobt gewesen. Doch Morgan ist bemüht, Nixon als Menschen zu zeigen und Langella spielt auch auf der Leinwand so phänomenal, dass er zurecht bei den Oscars als ‚Bester Hauptdarsteller‘ nominiert wurde (vier weitere Nominierungen gab es in den Kategorien ‚Bester Film‘, ‚Beste Regie‘, ‚Bestes adaptiertes Drehbuch‘ und ‚Bester Schnitt‘, doch der Film ging leer aus).
Auch die restlichen Schauspieler sind grandios: Kevin Bacon ist als loyalster Vertrauter von Nixon sensationell, übertroffen wird er nur von Sam Rockwell, der als idealistischer Liberaler mit dem nach Ruhm gierenden Frost, für den er zu Watergate recherchiert, in Konflikt gerät. Er ist fassungslos, als Nixon sich in den Interviews aufgrund von Frosts Unachtsamkeit leicht aus jeder Misere reden kann. Auf die peinlich-provokante Einstiegsfrage, warum er die Tonbandmitschnitte aus dem Oval Office, die gegen ihn verwendet wurden, nicht einfach verbrannt habe, antwortet Nixon mit einer erschlagenden 23-minütigen Rede, welche der Frage ultimativ ausweicht. Später gesteht er ein, den Vietnamkrieg nach Kambodscha ausgeweitet zu haben, aber doch nur, um damit Waffenlager der Kommunisten zu vernichten – womit er vielen US-Soldaten das Leben gerettet hätte. Gegen diese rasiermesserscharfe Artikulationswucht kommt Frost lange nicht an.
Ihr verbales Kräftemessen ist psychologisch dermaßen eindringlich geschrieben und so dicht an der Wirklichkeit, dass die Versuchung groß ist, sich zu der Phrase „Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst“ hinreißen zu lassen. Die beste Szene dieses Films aber schrieb das Leben nicht, sie ist gänzlich fiktiv. Wenige Nächte vor dem letzten Interview ruft ein betrunkener Richard Nixon seinen Gegenspieler in dessen Hotelzimmer an. Er erklärt Frost in einem geradezu gespenstischen Monolog, wie viel sie verbinde: Sie beide stammen aus der Arbeiterklasse, haben sich in die elitären Kreise hocharbeiten müssen, sich jede Schwäche, jede Verletzlichkeit abtrainiert. „Haben die Snobs auch auf Sie herabgeblickt?“, fragt er. Seine Stimme bricht.
Kein noch so meisterhafter Watergate-Film kann gedreht werden, ohne Assoziationen mit „Die Unbestechlichen“ zu wecken, jenem grandiosen Journalismus-Thriller, der schon 1976 von den Mitarbeitern der Washington Post erzählte, deren Recherche-Arbeit erst das ganze Ausmaß des Skandals aufdeckte und Nixon das Amt kostete. Doch an noch einen anderen Film aus demselben Jahr erinnert „Frost/Nixon“. Wie er die Geschichte der Interviews als Underdog-Fabel verpackt, um einen David, der einen übermächtigen Goliath zu Fall bringt, ähnelt dem wohl größten Aufsteigermärchen des US-Kinos: „Rocky“. Kein Zufall! Als Morgan die Arbeit am Theaterstück begann, stellte er sich zuallererst tatsächlich die Frage: „Wie erzähle ich einen Boxkampf nur durch Dialoge?“
Folgerichtig entscheidet in „Frost/Nixon“ am Ende ein einziger vernichtender Fausthieb das Duell: Habe er das Volk nicht mit seinem Handeln im Watergate-Skandal verraten, fragt Frost sein Gegenüber. Könne er wenigstens diesen einen Fehler, diese Straftat eingestehen? „Nein“, entfährt es Nixon. „Wenn der Präsident etwas tut, bedeutet das, dass es nicht illegal ist.“ Ein Satz, der – wie ein zeitgenössischer Spiegel-Artikel schrieb – so klingt wie: „Der Führer hat immer recht.“ Dieser eine Satz offenbarte die ungeheuerliche Hybris Nixons. Er brachte einer ganzen Nation die bitternötige Katharsis, und ließ Frost triumphierend aus dem Ring gehen. Sieg durch Knockout.
Als 1974 der Watergate-Skandal den ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon zu Fall brachte, war das ein Medienereignis: 400 Millionen Zuschauer sahen seine letzte Präsidentschaftsrede live im Fernsehen. Einer von ihnen war der Talkshow-Moderator David Frost, dessen Karriere zu dem Zeitpunkt stagnierte. Doch die Quoten von Nixons Abgang brachten ihn auf eine Idee: Ein Interview mit diesem Mann könnte seine Chance auf Nobilitierung bedeuten. Dafür riskierte er alles: Da kein TV-Sender ihn finanziell unterstützen wollte, bot er Richard Nixon stolze 600.000 Dollar, um ihn aus seinem Domizil an der Westküste zu locken. Der nahm an. Er wollte sich mitteilen, seine politische Reputation wiederherstellen.
Seine Berater fanden, Frost sei dafür der ideale Mann. Sie nahmen den übertrieben schick gekleideten Ausländer, dessen bis dato größtes Interview er mit den Bee Gees führte, nicht für voll, erachteten ihn bloß als Stichwortgeber, den das rhetorische Genie Richard Nixon leicht austricksen könne. Sie sollten sich irren. Gewaltig. Das Interview, aufgeteilt auf 12 Tage, mit einer Gesamtlänge von 28 Stunden, wurde für Nixon zum Desaster. Frost nagelte ihn beim Thema Watergate fest und bot ihm den Prozess, dem er zuvor entkommen war, weil – zum Ärger eines Großteils des US-amerikanischen Volkes – sein Präsidentschaftsnachfolger Gerald Ford ihn für sämtliche Vergehen vollständig begnadigte. Das Gespräch mit Nixon, das in vier 90-minütigen Sendungen ausgestrahlt wurde, schrieb TV-Geschichte. Die letzte Ausgabe zog 45 Millionen US-Zuschauer vor die Flimmerkisten – bis heute ein Talkshow-Rekord. Frost gewann das Interview, das längst ein Duell geworden war.
Ein Duell, welches den gefeierten britischen Autoren Peter Morgan drei Jahrzehnte später zu einem Theaterstück inspirierte. 2006 wurde die Geschichte um die Vorbereitung des Interviews und die schicksalsträchtige TV-Aufzeichnung in London uraufgeführt, so erfolgreich, dass es kurz darauf auch am Broadway gespielt wurde. Doch eine Geschichte, die ihren Ursprung auf den Bildschirmen nahm, findet wohl unweigerlich dorthin zurück – so erschien bereits 2008 die verfilmte Version in den Kinos. Das Drehbuch dafür schrieb Peter Morgan gleich selbst, als Regisseur kam Ron Howard an Bord. Er hatte schon zuvor biografische Geschichten angenommen und sie in Filmen wie „Apollo 13“ und „A Beautiful Mind“ zu glossigen, rührseligen Hollywood-Melodramen umfunktioniert.
Bei „Frost/Nixon“ ist davon keine Spur mehr: Er geht das intellektuelle Sujet ernst an, widersteht jedem Versuch, sich mit kitschigen oder sentimentalen Elementen dem Massenpublikum anzubiedern. Bravourös und raffiniert gelingt es ihm, die kammerspielhafte Spannung des Bühnenstücks auf die Leinwand zu transportieren. Dabei machen er und sein Kameramann Salvatore Totino übermäßig Gebrauch von dem filmischen Stilmittel, welches bereits beim Theaterstück Verwendung fand: die Nahaufnahme. Dank Kameras auf der Bühne konnten die Zuschauer über Monitore direkt in die Gesichter der Schauspieler gucken. Schon für das Theater war dies ein brillanter Einfall, denn Morgans Stück ist als große Medienkritik zu verstehen: Wie Politik zu einer einzigen Inszenierung wird, zur Show, in der die Akteure nur an Optik und Auftreten gemessen werden, ist das substanzielle Futter dieser Interview-Adaption.
Frost etwa versprüht stets einen ungeheuren Charme, das Scheinwerferlicht schmeichelt ihm. Nixon wiederum taugt nicht zum Charismatiker, die Fernsehkameras sind ihm nicht gnädig. Experten gehen davon aus, dass er die Präsidentschaftswahl 1960 gegen John F. Kennedy deshalb verlor, weil im TV-Duell die Schweißperlen auf seinem Gesicht in den Nahaufnahmen deutlich zu erkennen waren und er so auf das TV-Publikum unprofessionell wirkte. Am Ende des Films sinniert der Republikaner, beide hätten das falsche Leben gewählt: Er wäre als unbequemer Fragesteller ideal gewesen, Frost hätte es dagegen als Politiker weit gebracht.
Die Umsetzung als 122-minütiger Kinofilm rechtfertigen allein schon das Dekor, die Frisuren, die authentischen 70s-Klamotten sowie das detailverliebte Produktionsdesign: Gedreht wurde an Originalschauplätzen, in Nixons Haus in San Clemente sowie in Frosts Hotel-Suite. Hans Zimmer steuerte die Filmmusik bei und verzichtete auf seine bekannte Bombast-Untermalung, stattdessen bietet er herausragende leise Zwischentöne. Die Bühnenversion aber liefert die wichtigsten Ideen zur Inszenierung: Im Theater wendeten sich die Berater der beiden Widersacher direkt mit ihren Kommentaren an das Publikum. Howard behält dies bei, indem er wiederholt Szenen einschiebt, in denen die Charaktere aus dem Rückblick berichtend in die Kamera erzählen, so als sei „Frost/Nixon“ kein Spiel-, sondern ein Dokumentarfilm – womit er Morgans medienkritischem Ansatz eine zusätzliche Metaebene überstülpt.
Zu einem so delikaten Vergnügen wird „Frost/Nixon“ aber erst durch seine Besetzung. Für die Hauptrollen wurden die Bühnenstars der Erstbesetzung zurückgeholt. Michael Sheen spielt somit David Frost. Brillant verkörpert er den Moderator als Karrieristen, der die Herausforderung sucht und dabei kein Scheitern kennt. Zur Zeit der Interviews war Frost mit der Britin Caroline Cushing zusammen, und Morgan nutzt diese Beziehung, um Frost als Playboy zu zeigen, der sich nimmt, was er will: Im Flugzeug lernt er Cushing kennen, bezaubernd von Rebecca Hall gespielt. Mit selbstsicherem Perlweiß-Grinsen erobert er in Windeseile ihr Herz.
Frank Langella, der für seine Bühnen-Performance als Richard Nixon mit einem Tony-Award geehrt wurde, steht dem in Nichts nach. Weniger machiavellistisch als 1995 noch Anthony Hopkins in „Nixon“ von Oliver Stone, verkörpert er den Staatsmann als intelligenten, widerstandsfähigen Kämpfer, der sich mit dem Ruhestand nicht zufriedengibt – und dabei eine fatalistische Selbstsicherheit ausstrahlt. Das Skript verharmlost Nixons Charakter nicht: Sein Gesicht drückt Ekel aus, als er davon hört, Frost sei einmal mit einer schwarzen Frau, der Schauspielerin Diahann Carroll, verlobt gewesen. Doch Morgan ist bemüht, Nixon als Menschen zu zeigen und Langella spielt auch auf der Leinwand so phänomenal, dass er zurecht bei den Oscars als ‚Bester Hauptdarsteller‘ nominiert wurde (vier weitere Nominierungen gab es in den Kategorien ‚Bester Film‘, ‚Beste Regie‘, ‚Bestes adaptiertes Drehbuch‘ und ‚Bester Schnitt‘, doch der Film ging leer aus).
Auch die restlichen Schauspieler sind grandios: Kevin Bacon ist als loyalster Vertrauter von Nixon sensationell, übertroffen wird er nur von Sam Rockwell, der als idealistischer Liberaler mit dem nach Ruhm gierenden Frost, für den er zu Watergate recherchiert, in Konflikt gerät. Er ist fassungslos, als Nixon sich in den Interviews aufgrund von Frosts Unachtsamkeit leicht aus jeder Misere reden kann. Auf die peinlich-provokante Einstiegsfrage, warum er die Tonbandmitschnitte aus dem Oval Office, die gegen ihn verwendet wurden, nicht einfach verbrannt habe, antwortet Nixon mit einer erschlagenden 23-minütigen Rede, welche der Frage ultimativ ausweicht. Später gesteht er ein, den Vietnamkrieg nach Kambodscha ausgeweitet zu haben, aber doch nur, um damit Waffenlager der Kommunisten zu vernichten – womit er vielen US-Soldaten das Leben gerettet hätte. Gegen diese rasiermesserscharfe Artikulationswucht kommt Frost lange nicht an.
Ihr verbales Kräftemessen ist psychologisch dermaßen eindringlich geschrieben und so dicht an der Wirklichkeit, dass die Versuchung groß ist, sich zu der Phrase „Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst“ hinreißen zu lassen. Die beste Szene dieses Films aber schrieb das Leben nicht, sie ist gänzlich fiktiv. Wenige Nächte vor dem letzten Interview ruft ein betrunkener Richard Nixon seinen Gegenspieler in dessen Hotelzimmer an. Er erklärt Frost in einem geradezu gespenstischen Monolog, wie viel sie verbinde: Sie beide stammen aus der Arbeiterklasse, haben sich in die elitären Kreise hocharbeiten müssen, sich jede Schwäche, jede Verletzlichkeit abtrainiert. „Haben die Snobs auch auf Sie herabgeblickt?“, fragt er. Seine Stimme bricht.
Kein noch so meisterhafter Watergate-Film kann gedreht werden, ohne Assoziationen mit „Die Unbestechlichen“ zu wecken, jenem grandiosen Journalismus-Thriller, der schon 1976 von den Mitarbeitern der Washington Post erzählte, deren Recherche-Arbeit erst das ganze Ausmaß des Skandals aufdeckte und Nixon das Amt kostete. Doch an noch einen anderen Film aus demselben Jahr erinnert „Frost/Nixon“. Wie er die Geschichte der Interviews als Underdog-Fabel verpackt, um einen David, der einen übermächtigen Goliath zu Fall bringt, ähnelt dem wohl größten Aufsteigermärchen des US-Kinos: „Rocky“. Kein Zufall! Als Morgan die Arbeit am Theaterstück begann, stellte er sich zuallererst tatsächlich die Frage: „Wie erzähle ich einen Boxkampf nur durch Dialoge?“
Folgerichtig entscheidet in „Frost/Nixon“ am Ende ein einziger vernichtender Fausthieb das Duell: Habe er das Volk nicht mit seinem Handeln im Watergate-Skandal verraten, fragt Frost sein Gegenüber. Könne er wenigstens diesen einen Fehler, diese Straftat eingestehen? „Nein“, entfährt es Nixon. „Wenn der Präsident etwas tut, bedeutet das, dass es nicht illegal ist.“ Ein Satz, der – wie ein zeitgenössischer Spiegel-Artikel schrieb – so klingt wie: „Der Führer hat immer recht.“ Dieser eine Satz offenbarte die ungeheuerliche Hybris Nixons. Er brachte einer ganzen Nation die bitternötige Katharsis, und ließ Frost triumphierend aus dem Ring gehen. Sieg durch Knockout.
Alice im Zombieland
Resident Evil
Ein direkter deutscher Ausdruck für den Begriff „Guilty Pleasure“ findet sich nicht. Die wörtliche Übersetzung wäre: „Schuldiges Vergnügen“. Gemeint sind damit u. a. Filme, die man gerne sieht, obwohl man sie eigentlich als schlecht empfindet, die einem also ein wenig peinlich sind. Fast jeder Filmfan wird seinen obskuren Favoriten haben, für manche sind „Guily Pleasures“ so definierend wie ihre großen Lieblingsfilme. Kein Problem damit, sein „schuldiges Vergnügen“ mit der Welt zu teilen, hatte Star-Regisseur James Cameron. Im Jahr 2014 beantwortete das „Titanic“-Mastermind auf der Online-Plattform Reddit Fragen seiner Fans – und wurde nach seinem „Guilty Pleasure“ gefragt. Seine Antwort: „Resident Evil“.
Was macht „Resident Evil“ zu einem „Guilty Pleasure“, nicht nur für Cameron, sondern für viele Filmfans, die auf Reddit dem Regisseur schnell beipflichteten? Zuerst stellt sich die Frage nach dem Schuldgefühl: Der Zombiehorrorthriller sammelte schon bei seinem Kinostart 2002 massenweise schlechte Kritiken ein. Viele davon kamen von enttäuschten Fans, denn der Film basierte auf einer gleichnamigen japanischen Videospielreihe des Unternehmens Capcom, die seit ihrem Start 1996 die Erzählweise des Game-Mediums revolutionierte. Dennoch sollte der „Resident Evil“-Film nicht als Adaption bezeichnet werden. Abgesehen von Genre, Titel, zwei Monstern und wenigen Namen blieb aus den Spielen nichts für die Leinwandversion übrig.
Natürlich erzürnte das die Fans – erst recht als bekannt wurde, dass Produzent Bernd Eichinger vorab ein Drehbuch ablehnte, das einerseits nahe am Plot der ersten zwei Spiele liegen sollte und andererseits von George A. Romero, dem Meister des Zombiefilmgenres, verfasst wurde. Statt ihm wurde Paul W. S. Anderson für Drehbuch und Regie rekrutiert. Er hatte zuvor bereits mit „Mortal Kombat“ die bis dato erfolgreichste Videospielverfilmung verantwortet, aber schon da die Vorlagen weitgehend ignoriert.
Sein „Resident Evil“ spielt größtenteils im unterirdischen Forschungslabor der sogenannten Umbrella Corporation, die heimlich Biowaffen entwickelt. Dort gab es einen Ausbruch eines T-Virus, welches in der Lage ist, tote Zellen wiederzubeleben – und damit jeden Infizierten zum Untoten werden lässt (das Wort „Zombie“ vermeidet der Film im Originalton gänzlich). Eine noch unwissende Eliteeinheit soll im Labor den Zentralcomputer, eine Künstliche Intelligenz namens „Red Queen“, abschalten und den Tod sämtlicher Mitarbeiter untersuchen. Mit im Schlepptau haben sie eine schöne Frau ohne jede Erinnerung, die oberhalb der Anlage als Sicherheitskraft wohnte. Als im Labor das Virus ausbrach, versuchte die „Red Queen“, den Ausbruch einzudämmen. Zu den Sicherheitsvorkehrungen gehörte auch, in der oberen Anlage ein Nervengas zu versprühen, zu dessen Nebenwirkungen Gedächtnisverlust zählt.
Wozu so ein Nervengas gut sein soll? Diese Frage darf besser nicht gestellt werden und wird auch vom Film nie beantwortet. In erster Linie bietet das Gas Anderson einfach viele Gelegenheiten, Exposition unterzubringen. Da die Amnesiegeplagte sich an nichts erinnert, müssen ihr die Elitesoldaten sämtliche Vorgänge minutiös erklären. Ähnlich subtil erzählt Anderson den ganzen Film: Nahezu alle Dialoge bestehen aus militärischen Kommandos, die durchgängig die Handlung verbalisieren. Auf Charakterzeichnung legt das Drehbuch die vollen 100 Minuten keinen Wert. Selbst den Namen der Protagonistin erfährt das Publikum nur im Abspann: Als Rollenname wird für die Heldin Alice angegeben.
Anderson meint diesen Namen als Anspielung auf „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll und streut wahllos ein paar Referenzen an den Romanklassiker ein. Ein weißes Kaninchen hat kurz Relevanz und der Geheimeingang zur unterirdischen Welt findet sich „hinter den Spiegeln“. Diese Meta-Spielerei bietet keinen Mehrwert, den fand der Regisseur dafür hinter der Kamera. Hauptdarstellerin Milla Jovovich und er wurden nach dem Dreh ein Paar, heirateten im Jahr 2009 und arbeiteten weiter zusammen: Bis 2016 wurden ganze fünf „Resident Evil“-Fortsetzungen produziert. Anderson schrieb alle davon und inszenierte drei der Filme, Jovovich spielte ihre Alice bis zum Schluss.
Der durchaus beachtliche finanzielle Erfolg des Films ermöglichte den Ausbau zur Franchise, doch erlaubt dieser keinen Rückschluss auf die Qualität. „Resident Evil“ fiel bei der Fachpresse durch. Filmkritiker und Pulitzer-Preisträger Roger Ebert nannte den Film und die erste Fortsetzung „Resident Evil: Apocalypse“ sogar auf der Liste seiner meistgehassten Filme. Hier liegt James Cameron mit dem „Guilty Pleasure“-Begriff richtig: Wenn „Resident Evil“ gefällt, dann als absurdes Trash-Vergnügen. Ernstnehmen lässt sich das formelhafte Script nicht, das sämtliche Klischeeszenarien des Zombiehorrors in Windeseile abspult und spätestens im stümperhaft getricksten Finale jeden Versuch aufgibt, mit überzeugenden Schockmomenten aufzuwarten.
Dennoch hat das Untotengemetzel einen Reiz, der sich nur schwerlich leugnen lässt. Die Action, größtenteils Dauergeballer auf schlurfende Mutanten, inszeniert Anderson bestenfalls routiniert, schlimmstenfalls uninspiriert, einen gewissen Stil kann man seiner Regie aber nicht absprechen. Seine Faszination für die alten Meisterwerke von John Carpenter ist sofort erkennbar, nicht nur an der bläulich-kühlen, distanzierten Bildsprache, sondern auch anhand der Filmmusik, für die er einmal den durch die „Scream“-Reihe horrorerprobten Marco Beltrami und zusätzlich den Skandal-Musiker Marilyn Manson verpflichtete. Beide verpassen den untoten Gegenspielern gar eine Rock’n’Roll-Attitüde: Wo immer ein Zombie im Bild erscheint, ertönen rotzige Gitarrenriffs.
Pulp ist das durch und durch, mit gutem Willen lässt sich auch leichte Selbstironie erkennen. Als direktes Überbleibsel der Vorlagen aus Bits und Bytes haben es beispielsweise ein paar untote Dobermänner, Zombiehunde also, in den Film geschafft. Grandios lachhaft übersteuert ist ihr Angriff auf Alice, bei dem Jovovich erst als abgebrühte Amazone fleißig Kopfschüsse verteilt und in Reminiszenz an „Matrix“ schließlich an der Wand hochrennt und per Sprungtritt den letzten Vierbeiner ins Nirvana befördert. Ein echter Stunt, für den die engagierte Schauspielerin über drei Monate trainierte.
Eingebrannt hat sich im kollektiven Gedächtnis der Filmgeschichte zudem eine tatsächlich großartige Szene, in der mehrere der bewaffneten Soldaten in einen Gang geraten, der sich als perfide Falle entpuppt. Hier rasen plötzlich Laserstrahlen vertikal durch den Raum und schneiden die Soldaten in zwei Teile. Einzig der Anführer, gespielt von Colin Salmon, der in mehreren „James Bond“-Filmen als Kollege von 007-Darsteller Pierce Brosnan auftrat, kann den Lasern ausweichen – ehe diese plötzlich ein dichtes Gitternetz bilden und ihn in kleine Würfel schneiden. Die vom Horrorhit „Cube“ inspirierte Szene war derartig gelungen, dass selbst die Programmierer bei Capcom ihr Tribut zollten und einen ähnlichen Level als Hommage in ihrem Videospiel „Resident Evil 4“ einbauten.
Für deutsche Zuschauer dürfte noch interessant sein, dass größtenteils in Berlin gedreht wurde. Viele Aufnahmen entstanden im Studio Berlin Adlershof, eine längere Szene rund um einen unterirdischen Zug wurde am damals noch unfertigen U-Bahnhof ‚Bundestag‘ der Berliner Linie U5 gedreht – für Ortskundige leicht an den charakteristischen Säulen des U-Bahnhofs zu erkennen. Das Schloss Lindstedt in Potsdam diente für die Villa, in der Alice oberhalb des Laborkomplexes lebt. Zudem finden sich unter der Besetzung als Söldner der Schweizer Musiker Pasquale Aleardi sowie die deutsche Schauspielerin und Moderatorin Heike Makatsch als Laborantin. So viel sei zu ihren Rollen gesagt: Beide machen auch als Zombie eine gute Figur.
Großer, gedankenloser Quatsch ist „Resident Evil“ zweifelsohne, doch so ganz wundert es nicht, dass der Film in James Cameron einen Bewunderer fand. Vor allem der Nebenhandlungsstrang um die „Red Queen“, den Zentralcomputer des Labors, der, um das Virus im Labor zu halten, alle Mitarbeiter einschloss und zum Tode verdammte, dürfte sein Interesse geweckt haben. Die Konstellation erinnert direkt an die großen antagonistischen Künstlichen Intelligenzen der Filmgeschichte, etwa HAL-9000 aus „2001: Odyssee im Weltraum“ oder natürlich an den tödlichen „Terminator“, den James Cameron selbst erfand.
Doch Anderson verfällt nicht in das bekannte binäre Gut-gegen-Böse-Schema im Kampf zwischen Mensch und Maschine. Statt eines Muskelpakets oder einer bedrohlichen tiefen Stimme wird die „Red Queen“ durch das Hologramm eines kleinen Mädchens dargestellt. Und das sagt dann zwar die obligatorischen Hiobsbotschaften à la „Ihr werdet alle sterben“, ist aber keine ausschließlich gegnerische Kraft: Die Überlebenden und die „Red Queen“ sind für die Erfüllung ihrer Ziele voneinander abhängig und arbeiten streckenweise zusammen.
Außerdem dürfte es dem erklärten Feministen Cameron gefallen haben, dass sich hier gleich zwei Frauen als Actionheldinnen empfehlen. Neben Milla Jovovich ist noch Michelle Rodriguez dabei, bekannt aus „The Fast and the Furious“. Als Söldnerin mit losem Mundwerk könnte sie direkt aus Camerons „Aliens – Die Rückkehr“ entnommen sein. Einige Jahre später fand daher zusammen, was zusammengehört: Cameron besetzte Rodriguez in nahezu identischer Rolle 2009 für sein erfolgreiches Kino-Epos „Avater – Aufbruch nach Pandora“.
Aber wie erklärt sich James Cameron selbst, dass „Resident Evil“ sein größtes „Guilty Pleasure“ ist? Gar nicht. Auf Nachfrage verriet der Filmemacher bei Reddit bloß: „Ich mag den Film einfach! Ein ‚Guilty Pleasure‘ muss man nicht verteidigen.“
Ein direkter deutscher Ausdruck für den Begriff „Guilty Pleasure“ findet sich nicht. Die wörtliche Übersetzung wäre: „Schuldiges Vergnügen“. Gemeint sind damit u. a. Filme, die man gerne sieht, obwohl man sie eigentlich als schlecht empfindet, die einem also ein wenig peinlich sind. Fast jeder Filmfan wird seinen obskuren Favoriten haben, für manche sind „Guily Pleasures“ so definierend wie ihre großen Lieblingsfilme. Kein Problem damit, sein „schuldiges Vergnügen“ mit der Welt zu teilen, hatte Star-Regisseur James Cameron. Im Jahr 2014 beantwortete das „Titanic“-Mastermind auf der Online-Plattform Reddit Fragen seiner Fans – und wurde nach seinem „Guilty Pleasure“ gefragt. Seine Antwort: „Resident Evil“.
Was macht „Resident Evil“ zu einem „Guilty Pleasure“, nicht nur für Cameron, sondern für viele Filmfans, die auf Reddit dem Regisseur schnell beipflichteten? Zuerst stellt sich die Frage nach dem Schuldgefühl: Der Zombiehorrorthriller sammelte schon bei seinem Kinostart 2002 massenweise schlechte Kritiken ein. Viele davon kamen von enttäuschten Fans, denn der Film basierte auf einer gleichnamigen japanischen Videospielreihe des Unternehmens Capcom, die seit ihrem Start 1996 die Erzählweise des Game-Mediums revolutionierte. Dennoch sollte der „Resident Evil“-Film nicht als Adaption bezeichnet werden. Abgesehen von Genre, Titel, zwei Monstern und wenigen Namen blieb aus den Spielen nichts für die Leinwandversion übrig.
Natürlich erzürnte das die Fans – erst recht als bekannt wurde, dass Produzent Bernd Eichinger vorab ein Drehbuch ablehnte, das einerseits nahe am Plot der ersten zwei Spiele liegen sollte und andererseits von George A. Romero, dem Meister des Zombiefilmgenres, verfasst wurde. Statt ihm wurde Paul W. S. Anderson für Drehbuch und Regie rekrutiert. Er hatte zuvor bereits mit „Mortal Kombat“ die bis dato erfolgreichste Videospielverfilmung verantwortet, aber schon da die Vorlagen weitgehend ignoriert.
Sein „Resident Evil“ spielt größtenteils im unterirdischen Forschungslabor der sogenannten Umbrella Corporation, die heimlich Biowaffen entwickelt. Dort gab es einen Ausbruch eines T-Virus, welches in der Lage ist, tote Zellen wiederzubeleben – und damit jeden Infizierten zum Untoten werden lässt (das Wort „Zombie“ vermeidet der Film im Originalton gänzlich). Eine noch unwissende Eliteeinheit soll im Labor den Zentralcomputer, eine Künstliche Intelligenz namens „Red Queen“, abschalten und den Tod sämtlicher Mitarbeiter untersuchen. Mit im Schlepptau haben sie eine schöne Frau ohne jede Erinnerung, die oberhalb der Anlage als Sicherheitskraft wohnte. Als im Labor das Virus ausbrach, versuchte die „Red Queen“, den Ausbruch einzudämmen. Zu den Sicherheitsvorkehrungen gehörte auch, in der oberen Anlage ein Nervengas zu versprühen, zu dessen Nebenwirkungen Gedächtnisverlust zählt.
Wozu so ein Nervengas gut sein soll? Diese Frage darf besser nicht gestellt werden und wird auch vom Film nie beantwortet. In erster Linie bietet das Gas Anderson einfach viele Gelegenheiten, Exposition unterzubringen. Da die Amnesiegeplagte sich an nichts erinnert, müssen ihr die Elitesoldaten sämtliche Vorgänge minutiös erklären. Ähnlich subtil erzählt Anderson den ganzen Film: Nahezu alle Dialoge bestehen aus militärischen Kommandos, die durchgängig die Handlung verbalisieren. Auf Charakterzeichnung legt das Drehbuch die vollen 100 Minuten keinen Wert. Selbst den Namen der Protagonistin erfährt das Publikum nur im Abspann: Als Rollenname wird für die Heldin Alice angegeben.
Anderson meint diesen Namen als Anspielung auf „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll und streut wahllos ein paar Referenzen an den Romanklassiker ein. Ein weißes Kaninchen hat kurz Relevanz und der Geheimeingang zur unterirdischen Welt findet sich „hinter den Spiegeln“. Diese Meta-Spielerei bietet keinen Mehrwert, den fand der Regisseur dafür hinter der Kamera. Hauptdarstellerin Milla Jovovich und er wurden nach dem Dreh ein Paar, heirateten im Jahr 2009 und arbeiteten weiter zusammen: Bis 2016 wurden ganze fünf „Resident Evil“-Fortsetzungen produziert. Anderson schrieb alle davon und inszenierte drei der Filme, Jovovich spielte ihre Alice bis zum Schluss.
Der durchaus beachtliche finanzielle Erfolg des Films ermöglichte den Ausbau zur Franchise, doch erlaubt dieser keinen Rückschluss auf die Qualität. „Resident Evil“ fiel bei der Fachpresse durch. Filmkritiker und Pulitzer-Preisträger Roger Ebert nannte den Film und die erste Fortsetzung „Resident Evil: Apocalypse“ sogar auf der Liste seiner meistgehassten Filme. Hier liegt James Cameron mit dem „Guilty Pleasure“-Begriff richtig: Wenn „Resident Evil“ gefällt, dann als absurdes Trash-Vergnügen. Ernstnehmen lässt sich das formelhafte Script nicht, das sämtliche Klischeeszenarien des Zombiehorrors in Windeseile abspult und spätestens im stümperhaft getricksten Finale jeden Versuch aufgibt, mit überzeugenden Schockmomenten aufzuwarten.
Dennoch hat das Untotengemetzel einen Reiz, der sich nur schwerlich leugnen lässt. Die Action, größtenteils Dauergeballer auf schlurfende Mutanten, inszeniert Anderson bestenfalls routiniert, schlimmstenfalls uninspiriert, einen gewissen Stil kann man seiner Regie aber nicht absprechen. Seine Faszination für die alten Meisterwerke von John Carpenter ist sofort erkennbar, nicht nur an der bläulich-kühlen, distanzierten Bildsprache, sondern auch anhand der Filmmusik, für die er einmal den durch die „Scream“-Reihe horrorerprobten Marco Beltrami und zusätzlich den Skandal-Musiker Marilyn Manson verpflichtete. Beide verpassen den untoten Gegenspielern gar eine Rock’n’Roll-Attitüde: Wo immer ein Zombie im Bild erscheint, ertönen rotzige Gitarrenriffs.
Pulp ist das durch und durch, mit gutem Willen lässt sich auch leichte Selbstironie erkennen. Als direktes Überbleibsel der Vorlagen aus Bits und Bytes haben es beispielsweise ein paar untote Dobermänner, Zombiehunde also, in den Film geschafft. Grandios lachhaft übersteuert ist ihr Angriff auf Alice, bei dem Jovovich erst als abgebrühte Amazone fleißig Kopfschüsse verteilt und in Reminiszenz an „Matrix“ schließlich an der Wand hochrennt und per Sprungtritt den letzten Vierbeiner ins Nirvana befördert. Ein echter Stunt, für den die engagierte Schauspielerin über drei Monate trainierte.
Eingebrannt hat sich im kollektiven Gedächtnis der Filmgeschichte zudem eine tatsächlich großartige Szene, in der mehrere der bewaffneten Soldaten in einen Gang geraten, der sich als perfide Falle entpuppt. Hier rasen plötzlich Laserstrahlen vertikal durch den Raum und schneiden die Soldaten in zwei Teile. Einzig der Anführer, gespielt von Colin Salmon, der in mehreren „James Bond“-Filmen als Kollege von 007-Darsteller Pierce Brosnan auftrat, kann den Lasern ausweichen – ehe diese plötzlich ein dichtes Gitternetz bilden und ihn in kleine Würfel schneiden. Die vom Horrorhit „Cube“ inspirierte Szene war derartig gelungen, dass selbst die Programmierer bei Capcom ihr Tribut zollten und einen ähnlichen Level als Hommage in ihrem Videospiel „Resident Evil 4“ einbauten.
Für deutsche Zuschauer dürfte noch interessant sein, dass größtenteils in Berlin gedreht wurde. Viele Aufnahmen entstanden im Studio Berlin Adlershof, eine längere Szene rund um einen unterirdischen Zug wurde am damals noch unfertigen U-Bahnhof ‚Bundestag‘ der Berliner Linie U5 gedreht – für Ortskundige leicht an den charakteristischen Säulen des U-Bahnhofs zu erkennen. Das Schloss Lindstedt in Potsdam diente für die Villa, in der Alice oberhalb des Laborkomplexes lebt. Zudem finden sich unter der Besetzung als Söldner der Schweizer Musiker Pasquale Aleardi sowie die deutsche Schauspielerin und Moderatorin Heike Makatsch als Laborantin. So viel sei zu ihren Rollen gesagt: Beide machen auch als Zombie eine gute Figur.
Großer, gedankenloser Quatsch ist „Resident Evil“ zweifelsohne, doch so ganz wundert es nicht, dass der Film in James Cameron einen Bewunderer fand. Vor allem der Nebenhandlungsstrang um die „Red Queen“, den Zentralcomputer des Labors, der, um das Virus im Labor zu halten, alle Mitarbeiter einschloss und zum Tode verdammte, dürfte sein Interesse geweckt haben. Die Konstellation erinnert direkt an die großen antagonistischen Künstlichen Intelligenzen der Filmgeschichte, etwa HAL-9000 aus „2001: Odyssee im Weltraum“ oder natürlich an den tödlichen „Terminator“, den James Cameron selbst erfand.
Doch Anderson verfällt nicht in das bekannte binäre Gut-gegen-Böse-Schema im Kampf zwischen Mensch und Maschine. Statt eines Muskelpakets oder einer bedrohlichen tiefen Stimme wird die „Red Queen“ durch das Hologramm eines kleinen Mädchens dargestellt. Und das sagt dann zwar die obligatorischen Hiobsbotschaften à la „Ihr werdet alle sterben“, ist aber keine ausschließlich gegnerische Kraft: Die Überlebenden und die „Red Queen“ sind für die Erfüllung ihrer Ziele voneinander abhängig und arbeiten streckenweise zusammen.
Außerdem dürfte es dem erklärten Feministen Cameron gefallen haben, dass sich hier gleich zwei Frauen als Actionheldinnen empfehlen. Neben Milla Jovovich ist noch Michelle Rodriguez dabei, bekannt aus „The Fast and the Furious“. Als Söldnerin mit losem Mundwerk könnte sie direkt aus Camerons „Aliens – Die Rückkehr“ entnommen sein. Einige Jahre später fand daher zusammen, was zusammengehört: Cameron besetzte Rodriguez in nahezu identischer Rolle 2009 für sein erfolgreiches Kino-Epos „Avater – Aufbruch nach Pandora“.
Aber wie erklärt sich James Cameron selbst, dass „Resident Evil“ sein größtes „Guilty Pleasure“ ist? Gar nicht. Auf Nachfrage verriet der Filmemacher bei Reddit bloß: „Ich mag den Film einfach! Ein ‚Guilty Pleasure‘ muss man nicht verteidigen.“
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Ist ja witzig, dass du das Thema Guilty Pleasures ansprichst - das ist nämlich genau unser Thema in der diesmonatigen Podcast-Folge von unserem D.A.S.- Podcast. ;) U. a. besprechen wir ARMAGEDDON, das CATS-Remake, Con air, Speed 2 und einiges mehr
"Resident Evil" fand ich beim ersten ansehen sehr spannend, ich mag aber - vermutlich auch als einer der wenigen hier im Forum - den zweiten, actiongeladeneren Teil ne Ecke lieber ;)
"Resident Evil" fand ich beim ersten ansehen sehr spannend, ich mag aber - vermutlich auch als einer der wenigen hier im Forum - den zweiten, actiongeladeneren Teil ne Ecke lieber ;)
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Für mich war die Reihe auch immer ein Vergnügen, aber nur wegen Milla Jovovich. Am besten fand ich aber den dritten Teil, da stimmt das Setting und die Inszenierung. Danach ging es rapide bergab.
Apocalypse Mau
Resident Evil: Apocalypse
Bei TV-Serien ist es gängige Praxis, einzelne Episoden mit einem kurzen „Was bisher geschah“-Segment beginnen zu lassen, in dem die wichtigsten vorangegangenen Ereignisse noch einmal nacherzählt werden – falls jemand die Woche zuvor nicht einschalten konnte. Der zweite Teil der sehr losen Videospieladaption „Resident Evil“, Zusatztitel: „Apocalypse“, eröffnet mit einem ebensolchen Segment. Actionheldin Milla Jovovich berichtet in ihrer Rolle der Alice, wie sie als ehemalige Sicherheitsangestellte der Umbrella Corporation in einem unterirdischen Labor gegen Zombies kämpfen musste, die durch den Ausbruch eines sogenannten T-Virus entstanden. Wieder an der Oberfläche musste sie, als eine von nur zwei Überlebenden, mit Schrecken feststellen, dass das Virus auch in der fiktiven Metropole Raccoon City ausgebrochen ist.
Als Paul W. S. Anderson seinen B-Horrorfilm im Jahr 2002 so endete, zitierte er nicht nur die deprimierenden Enden des 70er-Jahre-Kinos, er schielte bereits in Richtung Fortsetzung. Obwohl „Resident Evil“ mit seinen Gaming-Vorlagen so wenig gemein hatte, dass er von Fans nahezu einstimmig Schelte erhielt, spielte der Film bei 33 Millionen US-Dollar Kosten über das Dreifache wieder ein. Sofort begann Anderson mit dem Drehbuch für das Sequel und er gelobte den Anhängern Besserung: Für den Plot orientierte er sich am dritten Teil der Videospielreihe, baute bekannte Charaktere ein wie die Polizistin Jill Valentine, den Söldner Carlos Olivera und Nemesis, einen Zombie-Monster-Hybrid in Lederklamotten.
Nur die Regie gab er schweren Herzens ab: Als großer Fan der „Alien“- und „Predator“-Filme, konnte er nicht widerstehen, das Crossover „Alien vs. Predator“ zu inszenieren. Sein Regie-Nachfolger wurde Alexander Witt, der zuvor als Leiter der zweiten Staffel bei Filmen wie „Gladiator“, „Die Bourne Identität“ oder „Fluch der Karibik“ Erfahrungen mit Actionszenen sammelte. Mehr Vorwissen brauchte er für „Resident Evil: Apocalypse“ nicht, denn mit dem Horrorkino hat die Fortsetzung nichts mehr zu tun. Stattdessen ist der Minimal-Plot die Vorlage für eine 93-minütige Ballerorgie.
Die Umbrella Corporation hat ganz Raccoon City abgeriegelt, nun rennen hunderttausende Untote durch die Straßen. Alice und einige andere Überlebende schießen sich die ganze Nacht in endlosen Gefechten den Weg frei und haben dabei Zeitdruck, denn am nächsten Morgen soll eine Atombombe die Stadt vernichten. Immerhin: Dieses Mal standen gar 45 Millionen US-Dollar zur Verfügung, von denen gar die Hälfte die Pyrotechnik verschlungen haben dürfte.
War der Vorgänger als knackiges Pulp-Remmidemmi noch eingeschränkt vergnüglich, ist Andersons Drehbuch für die Fortsetzung dramaturgisch eine Frechheit. Die ersten zwanzig Minuten verbringt „Apocalypse“ damit, haufenweise unsympathische Stereotypen einzuführen, darunter die egozentrische Reporterin, der raubeinige Söldner mit dem großen Herzen und das rassistische Paradebeispiel des dauerquasselnden Afroamerikaners. Sie alle erleben von da an bleihaltige Mini-Abenteuer, ehe sie im noch bleihaltigeren Finale einander begegnen.
Zocker werden nur wenig Freude daran haben, in den vielen Schusswechseln ihre einst spielbaren Figuren wieder zu entdecken. Die britische Schauspielerin Sienna Guillory etwa ist als Jill Valentine zwar optisch ideal besetzt, tut aber nicht mehr, als mit steifem Gesichtsausdruck fürchterlich peinliche Actionfilm-Sprüche aufzusagen. Ihr aus den Spielen entnommener blauer Minirock kann kein bisschen darüber hinwegtäuschen, dass ihre filmische Charakterzeichnung der ihres virtuellen Pendants meilenweit unterlegen ist.
Um aufzuzeigen, wie stupide und hohl sich dieser Film entwickelt, reicht es, wenige Szenen genauer zu beschreiben: In einer beispielsweise verstecken Jill und weitere Überlebende sich in einer Kirche, als sie von mutierten Zombieviechern attackiert werden. Als ihnen die Munition ausgeht, kracht aus dem Nichts plötzlich Alice auf einem Motorrad durchs Kirchenfenster. Per Rückwärtssalto springt sie von ihrem Gefährt ab, dieses kracht in eines der Monster. Mit zwei Pistolen schießt sie dem Fahrzeug nach. In Zeitlupe treffen die Patronen den Gastank des Motorrads und lösen eine gewaltige Explosion aus. Woher Alice wusste, dass sich in der Kirche andere Überlebende in Gefahr befinden? Nicht fragen! Stil triumphiert hier grundsätzlich über Substanz, so fragwürdig er auch sein mag.
Zweites Beispiel gefällig? Kurz darauf flieht die Gruppe um Alice und Jill über einen Friedhof, als dort vielzählig Untote aus ihren Gräbern aufsteigen und sich von Milla Jovovich und Co. eine volle Ladung an Roundhouse-Kicks abholen. Eine klassische Zombiefilmszene, mag man argumentieren, doch leider wurde die Funktionsweise des T-Virus noch im Vorgänger explizit so erklärt, dass längst Verstorbene nicht zu Zombies werden dürften. Wohl absichtlich wurde diese Erklärung im anfänglichen „Was bisher geschah“-Segment nicht wiederholt. Wer sich erinnert, ist selbst schuld.
Anderson und Witt wussten vermutlich selbst, auf welch dünnem Eis sich ihr Film bewegt. Daher bedienen sie sich für „Resident Evil: Apocalypse“ großzügig bei anderen Filmen. Das Szenario der hermetisch abgeriegelten Stadt Raccoon City (die in Panorama-Aufnahmen schnell als ihr Drehort Toronto zu erkennen ist), aus der die Hauptfiguren in einer Nacht flüchten müssen, ist dreist bei „Die Klapperschlange“ von John Carpenter entnommen. Als sie ein Wissenschaftler (ausdruckslos gespielt von Jared Harris) kontaktiert, der ihnen von außerhalb helfen will, sollten sie seine kleine Tochter aus der Stadt eskortieren, lässt „Aliens – Die Rückkehr“ grüßen, da Alice für das junge Mädchen eine Art Ersatzmami mit Maschinengewehr wird.
Dass sich Witt bei den Aufnahmen der Zombiescharen an „Dawn of the Dead“ orientiert, dem Überklassiker von George A. Romero, ist naheliegend, weniger aber seine anderen Inspirationsquellen. Ein kurzer Ausflug in eine Schule, inklusive Zombie-Grundschüler, soll an den japanischen Horrorhit „Ring“ erinnern. Eine im Anschluss von den Kameramännern Christian Sebaldt und Derek Rogers grauenhaft unübersichtlich gefilmte Flucht vor zwei Zombiehunden durch die Schulküche imitiert unfreiwillig komisch die ikonische Küchenszene aus „Jurassic Park“.
Da Alice dank Experimenten der Umbrella Corporation jetzt nie näher erklärte Superkräfte wie übermenschliche Stärke, erhöhte Wahrnehmung und Telekinese hat, verkommt jede überstilisierte Kampfeinlage von ihr zur obskur-vergurkten Mixtur aus vergleichbaren Sequenzen in „Blade“ oder „Matrix“. Selbst der menschliche Antagonist ist uninspiriert abgekupfert: Der deutsche Thomas Kretschmann spielt seinen Umbrella-Befehlshaber unverhohlen als biederen Nazi-Verschnitt – wenig überraschend, da sich Kretschmann nach Filmen wie „Stalingrad“, „U-571“ oder „Der Pianist“ längst als Hollywoods Favorit für Faschisten etabliert hatte. Kaum erwähnenswert: Selbst die Filmmusik von Jeff Danna leistet nicht mehr, als die Soundtracks der Videospiele nachzuahmen.
In Summe ist diese lärmende Action-Collage eher ermüdend denn spannend, der hölzernen Milla Jovovich fehlt das Charisma, um diese Chose zu tragen und die Kampfszenen müssen so mies choreographiert gewesen sein, dass der verantwortliche Editor Eddie Hamilton keine andere Wahl hatte, als sie in einer irren Frequenz zu zerschneiden. Leider lassen sich die Bewegungsabläufe unter diesen Stakkatoschnitten und rasanten Verwisch-Effekten jetzt nur noch erahnen. Selbst das Sounddesign ist dilettantisch: Wann immer Alice einem Menschen, Zombie oder dem – nach Videospiel-Logik – „Endgegner“ Nemesis ins Gesicht tritt oder schlägt, ertönt das immer gleiche Geräusch, das verdächtig an die Peitsche von Indiana Jones erinnert.
Aber steckt hinter all dem vielleicht doch mehr als gedacht? Schon in seiner Kritik zum ersten „Resident Evil“ prophezeite Hans Schifferle von der Süddeutschen Zeitung eine Wiederentdeckung des Zombiegenres unter den Vorzeichen des 21. Jahrhunderts und begründete dies mit der Verunsicherung „einer losgelösten Welt nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs“. Eine treffende Beobachtung: Anders als in klassischen Zombiefilmen dienen die Untoten bei „Resident Evil“ nicht als Gesellschafts- und Konsumkritik an einer gedankenlosen Masse, sondern zeigen eine globalisierte Gesellschaft, in der politische Institutionen machtlos gegen Konzerne wie Umbrella sind, für die Menschen nur noch im machiavellistischen Sinne „Mittel zum Zweck“ darstellen.
Dass dies intendiert sein könnte, darauf verweist das Ende des Films. Im letzten Kampf zwischen Alice und Nemesis erkennt sie, dass sich unter dem Zombiekoloß der andere Überlebende des Vorgänger-Films verbirgt, jetzt als Zombie-Cyborg ferngesteuert von Umbrella. Der Mensch verkommt in der Welt der Konzerne also zur Maschine, zum „Terminator“. Alice verschont Nemesis daraufhin, der sich von seiner Programmierung losreißt und seine Peiniger attackiert. Nach getaner Arbeit will Alice ihren Umbrella-Gegenspieler den Untoten überlassen. „Durch meinen Tod würde sich nichts ändern“, fleht Kretschmanns Charakter. „Nein“, sagt Alice und opfert ihn dennoch dem hirntoten Kollektiv: „Aber es ist ein Anfang.“
Man kann diese Schlichtheit des B-Kinos bewundern oder sich von ihr kopfschüttelnd abwenden. „Resident Evil: Apocalypse“ lässt sich als Zeitgeist-Dokument oder als gewaltverherrlichender Nonsens begreifen. Wahr ist aber auch: Erneut pokerten die Macher mit einem offenen Ende auf Fortsetzungen und behielten recht. 129,3 Millionen US-Dollar spielte der Film im Jahr 2004 ein. Bis 2016 folgten noch vier weitere Teile. Immerhin: So wenig, wie in „Apocalypse“ passiert, konnte sich der direkte Nachfolger „Resident Evil: Extinction“ wenigstens die anfängliche Erzählzeit für ein weiteres „Was bisher geschah“-Segment sparen.
Bei TV-Serien ist es gängige Praxis, einzelne Episoden mit einem kurzen „Was bisher geschah“-Segment beginnen zu lassen, in dem die wichtigsten vorangegangenen Ereignisse noch einmal nacherzählt werden – falls jemand die Woche zuvor nicht einschalten konnte. Der zweite Teil der sehr losen Videospieladaption „Resident Evil“, Zusatztitel: „Apocalypse“, eröffnet mit einem ebensolchen Segment. Actionheldin Milla Jovovich berichtet in ihrer Rolle der Alice, wie sie als ehemalige Sicherheitsangestellte der Umbrella Corporation in einem unterirdischen Labor gegen Zombies kämpfen musste, die durch den Ausbruch eines sogenannten T-Virus entstanden. Wieder an der Oberfläche musste sie, als eine von nur zwei Überlebenden, mit Schrecken feststellen, dass das Virus auch in der fiktiven Metropole Raccoon City ausgebrochen ist.
Als Paul W. S. Anderson seinen B-Horrorfilm im Jahr 2002 so endete, zitierte er nicht nur die deprimierenden Enden des 70er-Jahre-Kinos, er schielte bereits in Richtung Fortsetzung. Obwohl „Resident Evil“ mit seinen Gaming-Vorlagen so wenig gemein hatte, dass er von Fans nahezu einstimmig Schelte erhielt, spielte der Film bei 33 Millionen US-Dollar Kosten über das Dreifache wieder ein. Sofort begann Anderson mit dem Drehbuch für das Sequel und er gelobte den Anhängern Besserung: Für den Plot orientierte er sich am dritten Teil der Videospielreihe, baute bekannte Charaktere ein wie die Polizistin Jill Valentine, den Söldner Carlos Olivera und Nemesis, einen Zombie-Monster-Hybrid in Lederklamotten.
Nur die Regie gab er schweren Herzens ab: Als großer Fan der „Alien“- und „Predator“-Filme, konnte er nicht widerstehen, das Crossover „Alien vs. Predator“ zu inszenieren. Sein Regie-Nachfolger wurde Alexander Witt, der zuvor als Leiter der zweiten Staffel bei Filmen wie „Gladiator“, „Die Bourne Identität“ oder „Fluch der Karibik“ Erfahrungen mit Actionszenen sammelte. Mehr Vorwissen brauchte er für „Resident Evil: Apocalypse“ nicht, denn mit dem Horrorkino hat die Fortsetzung nichts mehr zu tun. Stattdessen ist der Minimal-Plot die Vorlage für eine 93-minütige Ballerorgie.
Die Umbrella Corporation hat ganz Raccoon City abgeriegelt, nun rennen hunderttausende Untote durch die Straßen. Alice und einige andere Überlebende schießen sich die ganze Nacht in endlosen Gefechten den Weg frei und haben dabei Zeitdruck, denn am nächsten Morgen soll eine Atombombe die Stadt vernichten. Immerhin: Dieses Mal standen gar 45 Millionen US-Dollar zur Verfügung, von denen gar die Hälfte die Pyrotechnik verschlungen haben dürfte.
War der Vorgänger als knackiges Pulp-Remmidemmi noch eingeschränkt vergnüglich, ist Andersons Drehbuch für die Fortsetzung dramaturgisch eine Frechheit. Die ersten zwanzig Minuten verbringt „Apocalypse“ damit, haufenweise unsympathische Stereotypen einzuführen, darunter die egozentrische Reporterin, der raubeinige Söldner mit dem großen Herzen und das rassistische Paradebeispiel des dauerquasselnden Afroamerikaners. Sie alle erleben von da an bleihaltige Mini-Abenteuer, ehe sie im noch bleihaltigeren Finale einander begegnen.
Zocker werden nur wenig Freude daran haben, in den vielen Schusswechseln ihre einst spielbaren Figuren wieder zu entdecken. Die britische Schauspielerin Sienna Guillory etwa ist als Jill Valentine zwar optisch ideal besetzt, tut aber nicht mehr, als mit steifem Gesichtsausdruck fürchterlich peinliche Actionfilm-Sprüche aufzusagen. Ihr aus den Spielen entnommener blauer Minirock kann kein bisschen darüber hinwegtäuschen, dass ihre filmische Charakterzeichnung der ihres virtuellen Pendants meilenweit unterlegen ist.
Um aufzuzeigen, wie stupide und hohl sich dieser Film entwickelt, reicht es, wenige Szenen genauer zu beschreiben: In einer beispielsweise verstecken Jill und weitere Überlebende sich in einer Kirche, als sie von mutierten Zombieviechern attackiert werden. Als ihnen die Munition ausgeht, kracht aus dem Nichts plötzlich Alice auf einem Motorrad durchs Kirchenfenster. Per Rückwärtssalto springt sie von ihrem Gefährt ab, dieses kracht in eines der Monster. Mit zwei Pistolen schießt sie dem Fahrzeug nach. In Zeitlupe treffen die Patronen den Gastank des Motorrads und lösen eine gewaltige Explosion aus. Woher Alice wusste, dass sich in der Kirche andere Überlebende in Gefahr befinden? Nicht fragen! Stil triumphiert hier grundsätzlich über Substanz, so fragwürdig er auch sein mag.
Zweites Beispiel gefällig? Kurz darauf flieht die Gruppe um Alice und Jill über einen Friedhof, als dort vielzählig Untote aus ihren Gräbern aufsteigen und sich von Milla Jovovich und Co. eine volle Ladung an Roundhouse-Kicks abholen. Eine klassische Zombiefilmszene, mag man argumentieren, doch leider wurde die Funktionsweise des T-Virus noch im Vorgänger explizit so erklärt, dass längst Verstorbene nicht zu Zombies werden dürften. Wohl absichtlich wurde diese Erklärung im anfänglichen „Was bisher geschah“-Segment nicht wiederholt. Wer sich erinnert, ist selbst schuld.
Anderson und Witt wussten vermutlich selbst, auf welch dünnem Eis sich ihr Film bewegt. Daher bedienen sie sich für „Resident Evil: Apocalypse“ großzügig bei anderen Filmen. Das Szenario der hermetisch abgeriegelten Stadt Raccoon City (die in Panorama-Aufnahmen schnell als ihr Drehort Toronto zu erkennen ist), aus der die Hauptfiguren in einer Nacht flüchten müssen, ist dreist bei „Die Klapperschlange“ von John Carpenter entnommen. Als sie ein Wissenschaftler (ausdruckslos gespielt von Jared Harris) kontaktiert, der ihnen von außerhalb helfen will, sollten sie seine kleine Tochter aus der Stadt eskortieren, lässt „Aliens – Die Rückkehr“ grüßen, da Alice für das junge Mädchen eine Art Ersatzmami mit Maschinengewehr wird.
Dass sich Witt bei den Aufnahmen der Zombiescharen an „Dawn of the Dead“ orientiert, dem Überklassiker von George A. Romero, ist naheliegend, weniger aber seine anderen Inspirationsquellen. Ein kurzer Ausflug in eine Schule, inklusive Zombie-Grundschüler, soll an den japanischen Horrorhit „Ring“ erinnern. Eine im Anschluss von den Kameramännern Christian Sebaldt und Derek Rogers grauenhaft unübersichtlich gefilmte Flucht vor zwei Zombiehunden durch die Schulküche imitiert unfreiwillig komisch die ikonische Küchenszene aus „Jurassic Park“.
Da Alice dank Experimenten der Umbrella Corporation jetzt nie näher erklärte Superkräfte wie übermenschliche Stärke, erhöhte Wahrnehmung und Telekinese hat, verkommt jede überstilisierte Kampfeinlage von ihr zur obskur-vergurkten Mixtur aus vergleichbaren Sequenzen in „Blade“ oder „Matrix“. Selbst der menschliche Antagonist ist uninspiriert abgekupfert: Der deutsche Thomas Kretschmann spielt seinen Umbrella-Befehlshaber unverhohlen als biederen Nazi-Verschnitt – wenig überraschend, da sich Kretschmann nach Filmen wie „Stalingrad“, „U-571“ oder „Der Pianist“ längst als Hollywoods Favorit für Faschisten etabliert hatte. Kaum erwähnenswert: Selbst die Filmmusik von Jeff Danna leistet nicht mehr, als die Soundtracks der Videospiele nachzuahmen.
In Summe ist diese lärmende Action-Collage eher ermüdend denn spannend, der hölzernen Milla Jovovich fehlt das Charisma, um diese Chose zu tragen und die Kampfszenen müssen so mies choreographiert gewesen sein, dass der verantwortliche Editor Eddie Hamilton keine andere Wahl hatte, als sie in einer irren Frequenz zu zerschneiden. Leider lassen sich die Bewegungsabläufe unter diesen Stakkatoschnitten und rasanten Verwisch-Effekten jetzt nur noch erahnen. Selbst das Sounddesign ist dilettantisch: Wann immer Alice einem Menschen, Zombie oder dem – nach Videospiel-Logik – „Endgegner“ Nemesis ins Gesicht tritt oder schlägt, ertönt das immer gleiche Geräusch, das verdächtig an die Peitsche von Indiana Jones erinnert.
Aber steckt hinter all dem vielleicht doch mehr als gedacht? Schon in seiner Kritik zum ersten „Resident Evil“ prophezeite Hans Schifferle von der Süddeutschen Zeitung eine Wiederentdeckung des Zombiegenres unter den Vorzeichen des 21. Jahrhunderts und begründete dies mit der Verunsicherung „einer losgelösten Welt nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs“. Eine treffende Beobachtung: Anders als in klassischen Zombiefilmen dienen die Untoten bei „Resident Evil“ nicht als Gesellschafts- und Konsumkritik an einer gedankenlosen Masse, sondern zeigen eine globalisierte Gesellschaft, in der politische Institutionen machtlos gegen Konzerne wie Umbrella sind, für die Menschen nur noch im machiavellistischen Sinne „Mittel zum Zweck“ darstellen.
Dass dies intendiert sein könnte, darauf verweist das Ende des Films. Im letzten Kampf zwischen Alice und Nemesis erkennt sie, dass sich unter dem Zombiekoloß der andere Überlebende des Vorgänger-Films verbirgt, jetzt als Zombie-Cyborg ferngesteuert von Umbrella. Der Mensch verkommt in der Welt der Konzerne also zur Maschine, zum „Terminator“. Alice verschont Nemesis daraufhin, der sich von seiner Programmierung losreißt und seine Peiniger attackiert. Nach getaner Arbeit will Alice ihren Umbrella-Gegenspieler den Untoten überlassen. „Durch meinen Tod würde sich nichts ändern“, fleht Kretschmanns Charakter. „Nein“, sagt Alice und opfert ihn dennoch dem hirntoten Kollektiv: „Aber es ist ein Anfang.“
Man kann diese Schlichtheit des B-Kinos bewundern oder sich von ihr kopfschüttelnd abwenden. „Resident Evil: Apocalypse“ lässt sich als Zeitgeist-Dokument oder als gewaltverherrlichender Nonsens begreifen. Wahr ist aber auch: Erneut pokerten die Macher mit einem offenen Ende auf Fortsetzungen und behielten recht. 129,3 Millionen US-Dollar spielte der Film im Jahr 2004 ein. Bis 2016 folgten noch vier weitere Teile. Immerhin: So wenig, wie in „Apocalypse“ passiert, konnte sich der direkte Nachfolger „Resident Evil: Extinction“ wenigstens die anfängliche Erzählzeit für ein weiteres „Was bisher geschah“-Segment sparen.
Re: Filmtagebuch: Wallnuss
Der zweite Teil der RE-Reihe kam hier im Forum teilweise nicth gut weg. Ich schwimme da gerne gegen den Strom, empfinde ihn als straight und rund und schaue ihn immer mal wieder gerne, was wohl auch daran liegt, weil ich dem Genre Action-Horror recht zugetan bin und Horrorfilme oft eher feiere, wenn sie mit ein wenig Action gewürzt sind. Der erste war da eher auf Spannung gemacht, der zweite vereinigte beides, und wie gesagt, ich mochte den immer ganz gerne.
Unser neuestes Projekt: https://open.spotify.com/show/35s3iDdkQ12ikEFT9hOoTP - Talk rund um Filme und Serien
Aller guten Dinge sind frei
Toy Story 3
„Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter!“ – Das Lebensmotto des Spielzeug-Sternenkriegers Buzz Lightyear könnte auch als die Maxime seiner Schöpfer, den Animationsfilmkünstlern von Pixar, verstanden werden. 1995 waren sie noch eine kleine Gruppe Verrückter, die in Hollywood ein ganzes Filmsegment neu definierten: „Toy Story“, der erste vollständig am Computer animierte Spielfilm, veränderte die technischen Möglichkeiten des Mediums. Buzz, einer der Helden dieses bemerkenswerten Films, wurde schlagartig fester Bestandteil der Popkultur. Vier Jahre später glückte Regisseur John Lasseter der Geniestreich ein zweites Mal, er schuf mit „Toy Story 2“ eine der wenigen Fortsetzungen der Filmgeschichte, die als ebenbürtig mit ihrem Vorgänger angesehen wird. Von hier an ging eine Dekade ins Jahr. Pixar zementierte seinen Ruf als kreativstes Studio des US-Kinos mit famosen Mega-Hits wie „Ratatouille“, „Findet Nemo“ oder dem Superheldenspektakel „Die Unglaublichen“. Doch 2010 ging es noch einmal ins Kinderzimmer … und noch viel weiter, versteht sich.
„Toy Story 2“ endete mit einer sentimentalen Liebeserklärung an die unschuldige Zeit der Kindheit. Mit dem Problem konfrontiert, dass „sein“ Kind Andy einmal erwachsen werden und nicht mehr mit ihm spielen wird, antwortete Cowboypuppe Woody: „Ich werd’s genießen, solange es dauert.“ In „Toy Story 3“ hat das Genießen ein Ende. Andy ist, wie alle Kinder, die in den 90ern mit den ersten Filmen aufwuchsen, erwachsen geworden, bereitet sich auf die Universität vor. Was wird nun aus seinem Spielzeug? Zur Erinnerung: In den „Toy Story“-Filmen erwachen die Spielzeuge zum Leben, sobald wir Menschen wegschauen. Sie haben Sorgen und Ängste, sie halten Konferenzen ab, helfen sich gegenseitig und behandeln es wie ihren Beruf, ihr Kind glücklich zu machen. Nicht mehr von Nutzen zu sein, lässt sie zu dem werden, was sie in unserer Realität sind: Objekte, Gebrauchsgegenstände. Die Trilogie handelte stets von einem tiefschürfenden Perspektivwechsel, der hier auf die Spitze getrieben wird: Die kleinen Plastik-Philosophen müssen den Sinn ihres Lebens neu ermitteln.
Schwere Kost, harter Tobak! Lee Unkrich, der sich bei „Toy Story 3“ zum Regisseur hochgearbeitet hat, steht bei diesem Film vor der bis dato schwersten Aufgabe in der Geschichte von Pixar: Das neue Abenteuer von Woody und Buzz ist strenggenommen ein Alterswerk, ein zutiefst nachdenkliches, melancholisches Epos um das Streben nach Bedeutung. Es kommt einer Offenbarung gleich, wie leichtfüßig die Erzählung eine emotionale Achterbahnfahrt mit den höchsten vorstellbaren Höhen und tiefsten vertretbaren Tiefen ausbalanciert bekommt – ohne jedoch in Schwermut zu geraten. Stattdessen entpuppt sich „Toy Story 3“ als rasanter Actionthriller, in dem sich die Ereignisse regelmäßig überschlagen und der in seinen 103 Minuten trotzdem stets die Zeit findet, das Seelenleben seiner Figuren zu erkunden. Davon können sich viele Hollywood-Blockbuster mehrere Scheiben abschneiden.
Die Animationsfilmkunst hat sich dermaßen weiterentwickelt, dass die dritte „Toy Story“ für eine Einstellung so viel Datenmenge aufbringen muss, wie einst der gesamte Originalfilm verbrauchte. Nirgends lässt Pixar so die Muskeln spielen wie im primären Handlungsort des meisterhaften 3D-Abenteuers: Woody, Buzz und die restliche Gang landen im metaphorischen „Spielzeug-Altersheim“, der Kindertagesstätte Sunnyside. Hier quillt jedes Bild, jede Kameraperspektive über vor liebevoll animierten Details. Hunderte Spielzeuge bevölkern parallel die Leinwand, alle sind bis ins letzte Detail ausgeklügelt. Paradoxerweise eröffnete sich durch den enormen technischen Fortschritt ein kurioses Problem: Um einen einheitlichen Stil zu den Vorgängern zu kreieren, nutzte Unkrichs Team bewusst vereinfachte Formen, setzte auf Cartoon-Physik. War das einstige Ziel der originalen „Toy Story“, so realistisch wie möglich die Welt zu illusionieren, mussten nun Abstriche gemacht werden, um nicht zu realistisch zu wirken.
Unter den vielen tollen neuen Figuren befindet sich in Sunnyside der lilafarbene Plüschbär Lotso, für dessen Fell mehrere hunderttausende Haare einzeln animiert wurden. Sein äußerer Schein trügt jedoch: Lotso entpuppt sich in einer erstaunlichen Wendung als tyrannischer Despot, der in der Kita mit eiserner Faust regiert. Neue Spielzeuge verdammt er in den Raupenraum, wo die kleinsten Kinder in hyperaktiver Manier die Spielzeuge abnutzen, sprich: verstümmeln und misshandeln. Bei Wiedersetzung drohen Gefangennahme, Folter oder der Müllverbrennungsofen. In einem wagemutigen Coup zitieren die Filmemacher bei der Darstellung von Lotsos Schreckensherrschaft Gefängnisdramen wie „Der Unbeugsame“, „Papillon“ oder „Gesprengte Ketten“. Ganze Einstellungen lehnen sich schockierend nah an die NS-Ästhetik an. Einen Kindergarten als Metapher für Konzentrationslager zu denken, dürfte einer der kühnsten Stunts sein, die sich je ein sogenannter „Kinderfilm“ erlaubt hat. Selbst Komponist Randy Newman, der die Vorgänger mit rotzigem Pop-Jazz unterlegte, spielt in mehreren Szenen düstere Marschmusik – mit erkennbar-historischen Vorbildern. Sogar die ganz Kleinen verstehen: In Sunnyside sind alle Spielzeuge gleich, aber manche sind gleicher.
Die meisterhafte Gradwanderung gelingt durch ihr exzellentes Timing: In der genau richtigen Dosierung wechseln sich bedrohliche Gefahrensituationen mit humorvollem Slapstick ab. Als brillant erweist sich der Einfall, erneut mit dem Bewusstsein von Buzz Lightyear herumzuspielen. Auf Werkseinstellungen zurückgesetzt wird er erst wider Willen zum Feind für seine Freunde, ehe er plötzlich nur noch spanisch spricht und die Finger nicht vom Tangotanz lassen kann. Tim Allen meistert alle Facetten der Plastikfigur mit Bravour, doch die ganze Besetzungsliste ist ein Segen. Nahezu alle etablierten Sprecher sind zurück, die Western-Spielzeuge Woody und Jesse sprechen erneut mit den Stimmen der Charakterdarsteller Tom Hanks und Joan Cusack. Als Lotso ist Hollywood-Legende Ned Beatty zu hören, in kleinen Parts geben sich Timothy Dalton, Whoopie Goldberg oder Michael Keaton die Ehre. Letzterer ist ein heimliches Highlight: Er spricht Ken, den Gefährten von Barbie, dessen Männlichkeit von den anderen „Gefängniswärter-Spielzeugen“ regelmäßig in Frage gestellt wird. Immerhin ist er nur eine Puppe für kleine Mädchen …
Klischees stehen also auf dem Prüfstand, Erwartungshaltungen werden gebrochen oder minutiös unterwandert. Gleich die Eröffnungsszene, eine phänomenale Verfolgungsjagd durch den Wilden Westen, entpuppt sich als verspielte Fantasie von Andy. Selbst Lotso ist kein einfacher Bilderbuch-Bösewicht, sondern bekommt eine umfangreiche Hintergrundgeschichte – die nicht von ungefähr stark an Jesses Rückblenden-Montage aus „Toy Story 2“ erinnert, welche einst durch den Song „Als mich jemand liebte“ zum emotionalen Aushängeschild der Reihe wurde. Lotso wurde traumatisiert, vergessen und von seiner ehemaligen Besitzerin ersetzt. Er wurde damit konfrontiert, nicht einzigartig zu sein. Dieses Thema greift Unkrich an mehreren Stellen auf: Woody kann sich nicht von seiner Beziehung zu Andy lösen, will kein anderes Kind in seinem Herzen akzeptieren. Als Ken an einer Stelle zwischen Lotso und Barbie entscheiden muss, sagt ihm der Plüschdespot: „Barbie-Puppen gibt es Hundert Millionen auf der Welt.“ Ken jedoch antwortet mit Pathos: „Für mich gibt’s nur die eine.“
Da es sich im Gefängnis nicht lange aushalten lässt, planen Woody und Co. in bester Genre-Manier den Ausbruch. Wie phänomenal wendungsreich die Geschichte von hier an verläuft, ohne das große Ziel je aus den Augen zu verlieren, mag dem Entstehungsprozess des Films zu verdanken sein: Entworfen wurde die Handlung an einem Wochenende von den vier Pixar-Chefautoren John Lasseter, Lee Unkrich, Andrew Stanton und Pete Docter. Für die Verschriftlichung des eigentlichen Drehbuchs wurde dann Oscar-Preisträger Michael Arndt beauftragt. Arndt arbeitete viele Jahre bei verschiedenen Filmprojekten als Script-Doktor, überarbeitete Drehbücher, bügelte logische Schwächen aus. Für „Toy Story 3“ beweist er sich als begnadeter Dramaturg: Er erntet kompromisslos die Saat der Vorgänger, lässt sogar den Exitus sämtlicher Spielzeugfiguren unvermeidbar wirken. Selbst Erwachsene dürfen kurz zweifeln, das Gefühl von Sicherheit vergessen, ein Animationsfilm würde wohl kaum so drastisch enden. Die letzte große emotionale Szene konfrontiert Woody, Buzz, Jesse, Mr. und Mrs. Potato Head sowie die anderen mit einem Blick ins Höllenfeuer, die opulente Bildgestaltung scheint einem spätgotischen Gemälde von Hieronymus Bosch entnommen.
Natürlich gibt es den Ausweg in letzter Sekunde. „Toy Story 3“ will nicht schocken, sondern berühren und erarbeitet sich nach all der Action und dem Horror ein zärtliches, kluges Schlusskapitel im Zeichen des Abschieds. Pixars bis dato bester und reifster Film endet, wie ihr allererster Film einst begann: Damals sah der Zuschauer zum Auftakt weiße Wolken vor blauem Himmel. Es handelte sich um die Tapete von Andys Kinderzimmer, welches symbolisch die ganze Welt von Woody, Buzz und den anderen war. „Toy Story 3“ endet mit denselben Wolken, doch dieses Mal ist es der echte Himmel, der zu sehen ist. Die Spielzeuge sind ihrer Welt abhandengekommen. Vielleicht sind sie genau wie Andy, wie die Verrückten von Pixar und wie ihre Fans einfach erwachsen geworden.
„Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter!“ – Das Lebensmotto des Spielzeug-Sternenkriegers Buzz Lightyear könnte auch als die Maxime seiner Schöpfer, den Animationsfilmkünstlern von Pixar, verstanden werden. 1995 waren sie noch eine kleine Gruppe Verrückter, die in Hollywood ein ganzes Filmsegment neu definierten: „Toy Story“, der erste vollständig am Computer animierte Spielfilm, veränderte die technischen Möglichkeiten des Mediums. Buzz, einer der Helden dieses bemerkenswerten Films, wurde schlagartig fester Bestandteil der Popkultur. Vier Jahre später glückte Regisseur John Lasseter der Geniestreich ein zweites Mal, er schuf mit „Toy Story 2“ eine der wenigen Fortsetzungen der Filmgeschichte, die als ebenbürtig mit ihrem Vorgänger angesehen wird. Von hier an ging eine Dekade ins Jahr. Pixar zementierte seinen Ruf als kreativstes Studio des US-Kinos mit famosen Mega-Hits wie „Ratatouille“, „Findet Nemo“ oder dem Superheldenspektakel „Die Unglaublichen“. Doch 2010 ging es noch einmal ins Kinderzimmer … und noch viel weiter, versteht sich.
„Toy Story 2“ endete mit einer sentimentalen Liebeserklärung an die unschuldige Zeit der Kindheit. Mit dem Problem konfrontiert, dass „sein“ Kind Andy einmal erwachsen werden und nicht mehr mit ihm spielen wird, antwortete Cowboypuppe Woody: „Ich werd’s genießen, solange es dauert.“ In „Toy Story 3“ hat das Genießen ein Ende. Andy ist, wie alle Kinder, die in den 90ern mit den ersten Filmen aufwuchsen, erwachsen geworden, bereitet sich auf die Universität vor. Was wird nun aus seinem Spielzeug? Zur Erinnerung: In den „Toy Story“-Filmen erwachen die Spielzeuge zum Leben, sobald wir Menschen wegschauen. Sie haben Sorgen und Ängste, sie halten Konferenzen ab, helfen sich gegenseitig und behandeln es wie ihren Beruf, ihr Kind glücklich zu machen. Nicht mehr von Nutzen zu sein, lässt sie zu dem werden, was sie in unserer Realität sind: Objekte, Gebrauchsgegenstände. Die Trilogie handelte stets von einem tiefschürfenden Perspektivwechsel, der hier auf die Spitze getrieben wird: Die kleinen Plastik-Philosophen müssen den Sinn ihres Lebens neu ermitteln.
Schwere Kost, harter Tobak! Lee Unkrich, der sich bei „Toy Story 3“ zum Regisseur hochgearbeitet hat, steht bei diesem Film vor der bis dato schwersten Aufgabe in der Geschichte von Pixar: Das neue Abenteuer von Woody und Buzz ist strenggenommen ein Alterswerk, ein zutiefst nachdenkliches, melancholisches Epos um das Streben nach Bedeutung. Es kommt einer Offenbarung gleich, wie leichtfüßig die Erzählung eine emotionale Achterbahnfahrt mit den höchsten vorstellbaren Höhen und tiefsten vertretbaren Tiefen ausbalanciert bekommt – ohne jedoch in Schwermut zu geraten. Stattdessen entpuppt sich „Toy Story 3“ als rasanter Actionthriller, in dem sich die Ereignisse regelmäßig überschlagen und der in seinen 103 Minuten trotzdem stets die Zeit findet, das Seelenleben seiner Figuren zu erkunden. Davon können sich viele Hollywood-Blockbuster mehrere Scheiben abschneiden.
Die Animationsfilmkunst hat sich dermaßen weiterentwickelt, dass die dritte „Toy Story“ für eine Einstellung so viel Datenmenge aufbringen muss, wie einst der gesamte Originalfilm verbrauchte. Nirgends lässt Pixar so die Muskeln spielen wie im primären Handlungsort des meisterhaften 3D-Abenteuers: Woody, Buzz und die restliche Gang landen im metaphorischen „Spielzeug-Altersheim“, der Kindertagesstätte Sunnyside. Hier quillt jedes Bild, jede Kameraperspektive über vor liebevoll animierten Details. Hunderte Spielzeuge bevölkern parallel die Leinwand, alle sind bis ins letzte Detail ausgeklügelt. Paradoxerweise eröffnete sich durch den enormen technischen Fortschritt ein kurioses Problem: Um einen einheitlichen Stil zu den Vorgängern zu kreieren, nutzte Unkrichs Team bewusst vereinfachte Formen, setzte auf Cartoon-Physik. War das einstige Ziel der originalen „Toy Story“, so realistisch wie möglich die Welt zu illusionieren, mussten nun Abstriche gemacht werden, um nicht zu realistisch zu wirken.
Unter den vielen tollen neuen Figuren befindet sich in Sunnyside der lilafarbene Plüschbär Lotso, für dessen Fell mehrere hunderttausende Haare einzeln animiert wurden. Sein äußerer Schein trügt jedoch: Lotso entpuppt sich in einer erstaunlichen Wendung als tyrannischer Despot, der in der Kita mit eiserner Faust regiert. Neue Spielzeuge verdammt er in den Raupenraum, wo die kleinsten Kinder in hyperaktiver Manier die Spielzeuge abnutzen, sprich: verstümmeln und misshandeln. Bei Wiedersetzung drohen Gefangennahme, Folter oder der Müllverbrennungsofen. In einem wagemutigen Coup zitieren die Filmemacher bei der Darstellung von Lotsos Schreckensherrschaft Gefängnisdramen wie „Der Unbeugsame“, „Papillon“ oder „Gesprengte Ketten“. Ganze Einstellungen lehnen sich schockierend nah an die NS-Ästhetik an. Einen Kindergarten als Metapher für Konzentrationslager zu denken, dürfte einer der kühnsten Stunts sein, die sich je ein sogenannter „Kinderfilm“ erlaubt hat. Selbst Komponist Randy Newman, der die Vorgänger mit rotzigem Pop-Jazz unterlegte, spielt in mehreren Szenen düstere Marschmusik – mit erkennbar-historischen Vorbildern. Sogar die ganz Kleinen verstehen: In Sunnyside sind alle Spielzeuge gleich, aber manche sind gleicher.
Die meisterhafte Gradwanderung gelingt durch ihr exzellentes Timing: In der genau richtigen Dosierung wechseln sich bedrohliche Gefahrensituationen mit humorvollem Slapstick ab. Als brillant erweist sich der Einfall, erneut mit dem Bewusstsein von Buzz Lightyear herumzuspielen. Auf Werkseinstellungen zurückgesetzt wird er erst wider Willen zum Feind für seine Freunde, ehe er plötzlich nur noch spanisch spricht und die Finger nicht vom Tangotanz lassen kann. Tim Allen meistert alle Facetten der Plastikfigur mit Bravour, doch die ganze Besetzungsliste ist ein Segen. Nahezu alle etablierten Sprecher sind zurück, die Western-Spielzeuge Woody und Jesse sprechen erneut mit den Stimmen der Charakterdarsteller Tom Hanks und Joan Cusack. Als Lotso ist Hollywood-Legende Ned Beatty zu hören, in kleinen Parts geben sich Timothy Dalton, Whoopie Goldberg oder Michael Keaton die Ehre. Letzterer ist ein heimliches Highlight: Er spricht Ken, den Gefährten von Barbie, dessen Männlichkeit von den anderen „Gefängniswärter-Spielzeugen“ regelmäßig in Frage gestellt wird. Immerhin ist er nur eine Puppe für kleine Mädchen …
Klischees stehen also auf dem Prüfstand, Erwartungshaltungen werden gebrochen oder minutiös unterwandert. Gleich die Eröffnungsszene, eine phänomenale Verfolgungsjagd durch den Wilden Westen, entpuppt sich als verspielte Fantasie von Andy. Selbst Lotso ist kein einfacher Bilderbuch-Bösewicht, sondern bekommt eine umfangreiche Hintergrundgeschichte – die nicht von ungefähr stark an Jesses Rückblenden-Montage aus „Toy Story 2“ erinnert, welche einst durch den Song „Als mich jemand liebte“ zum emotionalen Aushängeschild der Reihe wurde. Lotso wurde traumatisiert, vergessen und von seiner ehemaligen Besitzerin ersetzt. Er wurde damit konfrontiert, nicht einzigartig zu sein. Dieses Thema greift Unkrich an mehreren Stellen auf: Woody kann sich nicht von seiner Beziehung zu Andy lösen, will kein anderes Kind in seinem Herzen akzeptieren. Als Ken an einer Stelle zwischen Lotso und Barbie entscheiden muss, sagt ihm der Plüschdespot: „Barbie-Puppen gibt es Hundert Millionen auf der Welt.“ Ken jedoch antwortet mit Pathos: „Für mich gibt’s nur die eine.“
Da es sich im Gefängnis nicht lange aushalten lässt, planen Woody und Co. in bester Genre-Manier den Ausbruch. Wie phänomenal wendungsreich die Geschichte von hier an verläuft, ohne das große Ziel je aus den Augen zu verlieren, mag dem Entstehungsprozess des Films zu verdanken sein: Entworfen wurde die Handlung an einem Wochenende von den vier Pixar-Chefautoren John Lasseter, Lee Unkrich, Andrew Stanton und Pete Docter. Für die Verschriftlichung des eigentlichen Drehbuchs wurde dann Oscar-Preisträger Michael Arndt beauftragt. Arndt arbeitete viele Jahre bei verschiedenen Filmprojekten als Script-Doktor, überarbeitete Drehbücher, bügelte logische Schwächen aus. Für „Toy Story 3“ beweist er sich als begnadeter Dramaturg: Er erntet kompromisslos die Saat der Vorgänger, lässt sogar den Exitus sämtlicher Spielzeugfiguren unvermeidbar wirken. Selbst Erwachsene dürfen kurz zweifeln, das Gefühl von Sicherheit vergessen, ein Animationsfilm würde wohl kaum so drastisch enden. Die letzte große emotionale Szene konfrontiert Woody, Buzz, Jesse, Mr. und Mrs. Potato Head sowie die anderen mit einem Blick ins Höllenfeuer, die opulente Bildgestaltung scheint einem spätgotischen Gemälde von Hieronymus Bosch entnommen.
Natürlich gibt es den Ausweg in letzter Sekunde. „Toy Story 3“ will nicht schocken, sondern berühren und erarbeitet sich nach all der Action und dem Horror ein zärtliches, kluges Schlusskapitel im Zeichen des Abschieds. Pixars bis dato bester und reifster Film endet, wie ihr allererster Film einst begann: Damals sah der Zuschauer zum Auftakt weiße Wolken vor blauem Himmel. Es handelte sich um die Tapete von Andys Kinderzimmer, welches symbolisch die ganze Welt von Woody, Buzz und den anderen war. „Toy Story 3“ endet mit denselben Wolken, doch dieses Mal ist es der echte Himmel, der zu sehen ist. Die Spielzeuge sind ihrer Welt abhandengekommen. Vielleicht sind sie genau wie Andy, wie die Verrückten von Pixar und wie ihre Fans einfach erwachsen geworden.
Dieselbe Prozedur wie jeden Tag
Was vom Tage übrigblieb
„Ein guter Butler verfügt über Würde im Einklang mit seiner Position“, heißt es in einer Schlüsselszene von „Was vom Tage übrigblieb“. In diesem Moment, irgendwann in den 1930er Jahren, sitzt das Personal des Landsitzes Darlington Hall zusammen bei Tisch. Am Kopfende spricht der den Ton angebende Butler James Stevens. Sein ganzes Lebensziel, so wird in dieser Szene sehr deutlich, ist die des Dieners. Alles was er tut, verfolgt die Ambition, seinem Arbeitgeber, den angesehen Lord Darlington nach besten Kräften zu versorgen. Mit am Tisch sitzt sein Vater Stevens Senior, der ebenfalls sein ganzes Leben lang gedient hat und seinem Sohn – ihre Dynamik zeigt es – nur diesen Wert vermitteln konnte: Immer die Würde wahren. Um jeden Preis.
Als später der Senior sehr krank wird und schließlich verstirbt, findet in Darlington Hall gerade eine wichtige politische Konferenz statt. Die Haushälterin Miss Kenton zieht Stevens zur Seite: „Es tut mir sehr leid. Ihr Vater ist vor vier Minuten von uns gegangen“, sagt sie mitfühlend. „Ich verstehe“, antwortet Stevens. Auf die Frage, ob er seinen toten Vater sehen möchte, meint er nur: „Ich habe im Moment sehr viel zu tun“ und „Mein Vater würde wünschen, dass ich mit meiner Arbeit fortfahre“. Die ganze Szene ist er nur im Dunkeln oder von hinten zu sehen. Selbst wenn Mr. Stevens hier für eine Sekunde eine Gefühlsregung gezeigt haben sollte: Die Kamera wahrt für ihn sein Gesicht.
Die vielfach preisgekrönte, gleichnamige Romanvorlage des japanisch-britischen Autoren Kazuo Ishiguro ist ein Werk der Introspektive. Alle Erkenntnisse, alle Gedanken formulieren sich aus dem Inneren der Figuren heraus. Deswegen galt das Buch gleich bei seiner Veröffentlichung als „unverfilmbar“. Um das Gegenteil zu beweisen, trat das Triumvirat der Produktionsstätte „Merchant Ivory Productions“ an: Regisseur James Ivory, sein Lebensgefährte und Produzent Ismail Merchant sowie die Drehbuchautorin Ruth Prawer Jhabvala. Zusammen hatten sie zwischen 1961 und 2005 über zwanzig Produktionen verwirklicht, viele davon urbritische Kostümfilme, zumeist Literaturadaptionen.
Doch obwohl viele ihrer Arbeiten, darunter Hits wie „Die Damen aus Boston“ und „Zimmer mit Aussicht“ sowohl Publikum als auch Kritiker begeistern konnten, sollte erst „Was vom Tage übrigblieb“ ihr Magnum opus werden, ein Film von so meisterlicher Eleganz, dass er wie seine Vorlage als brillant einzustufen ist, diese in Teilen gar übertrifft. Erst wollte Mike Nichols das Projekt übernehmen und die Protagonisten, Butler Stevens und Haushälterin Kenton, mit Jeremy Irons und Meryl Streep besetzen. Als Ivory an Bord kam, vereinte er stattdessen wieder das Traumpaar seines vorherigen Films „Wiedersehen in Howards End“: Anthony Hopkins und Emma Thompson.
Der Film beginnt 1956: Nach dem Tod von Lord Darlington wird sein Anwesen an den US-amerikanischen Ex-Politiker Jack Lewis versteigert. Er übernimmt die gesamte Belegschaft, darunter den treuen Stevens. Durch einen Briefwechsel mit Miss Kenton, die Darlington Hall vor langer Zeit den Rücken kehrte, erinnert sich Stevens an ihre gemeinsame Zeit. Er beschließt, nach Südwestengland zu fahren und sie nach Jahren wiederzusehen – vorgeblich, weil er sie erneut als Haushälterin anwerben will.
Ein Großteil des Films spielt nun in den Erinnerungen von Mr. Stevens. James Ivory zeichnet anhand des übertrieben aufopferungsvollen Butlers ein bestechendes Porträt der englischen Aristokratie und erzählt vom Klassensystem des imperialen Zeitalters: Stevens hat in Darlington Hall einen festen Platz, ein klar definiertes Schicksal. Sein einziger Traum darf darin bestehen, diese Rolle so perfekt wie möglich auszufüllen. Seinem Herrn vertraut er blind. Die Überzeugungen des Mannes spielen dafür keine Rolle, entscheidend ist allein das gesellschaftlich eindeutige Verhältnis zueinander. Großbritannien vor dem Zweiten Weltkrieg, zeigt Ivory auf, atmete die letzten Züge des Neo-Feudalismus.
Dabei legt er seine Finger in eine Wunde, mit der das Vereinigte Königreich nur ungerne konfrontiert wird: Die historische Rolle, die der englische Adel beim Aufstieg des deutschen Faschismus spielte. Darlington, piekfein von James Fox verkörpert, ist treuer Anhänger der Appeasement-Politik von Neville Chamberlain. Er empfand den Versailler Vertrag als Verrat am deutschen Volk. Seine Sympathien für das im Ersten Weltkrieg besiegte Deutschland verpflichten ihn, so glaubt er, in Friedensgesprächen zwischen Großbritannien und den Nationalsozialisten zu vermitteln. Über die Jahre gehen viele Herrschaften in Darlington Hall ein und aus, darunter fanatische Anhänger der Schwarzhemden-Organisation, die offen von einem faschistischen Putsch träumen, und Botschafter des Deutschen Reichs.
Obwohl Ivory auch Idealisten zeigt, darunter des Lords Patenkind, der Journalist Reginald Cardinal, oder jener Jack Lewis, der später in Darlington Hall wohnen wird, ist sein politisches Drama von einer lustvollen Janusköpfigkeit durchzogen: Zum einen ist seine makellose, durchweg inspirierte Regie von einer nostalgischen Sehnsucht geprägt, die jede Möglichkeit erlaubt, sich in der sentimental-verklärten Bourgeoisie zu suhlen. Zum anderen genießt er es, diese Idylle des Upper Class Großbritanniens aufzubrechen, sie einzureißen. Mag der Film anfangs noch Bewunderung für Mr. Stevens auslösen, der beharrlich sein ganzes Dasein dem Dienen widmet, schlägt es in Frustration um, als klar wird, wie fehlgeleitet seine Loyalität Darlington gegenüber ist.
In einer phänomenal deprimierenden Szene etwa zitiert der Lord seinen Butler zu sich, um über die deutschen Flüchtlingsmädchen Elsa und Irma zu sprechen, die unter Mr. Stevens als Dienstmädchen arbeiten. Der Lord wünscht, dass die Mädchen entlassen werden. Als Stevens Bedenken äußert, platzt es aus Darlington heraus: „Sie sind Juden.“ Miss Kenton ist schockiert. Sie droht mit Kündigung. Und auch Stevens ist dabei nicht wohl. Dennoch führt er den Befehl aus. Sein Herr und er sind gar nicht so verschieden: Sie beide sind vor lauter Prinzipientreue zu blind, um zu sehen, auf welche Irrwege sie geführt werden.
Miss Kenton macht ihr Vorhaben nicht wahr. Sie bleibt, und es wird mit jeder Szene klarer, wieso. Sie entwickelt Gefühle für den ihr so rätselhaften Mr. Stevens. Wiederholt drängt sie nun um seine Zuneigung, doch er flieht davor. Er kann und will sie nicht an sich heranlassen – dabei ist längst klar, dass auch er etwas fühlt. Kein Wunder also, dass Ivory für diesen enorm schwierigen Part unbedingt Anthony Hopkins wollte. Er liefert ab: Der Jahrhundertschauspieler war nie besser, seine Leistung ist nuanciert, grandios, wahrhaftig. Dasselbe gilt für Emma Thompson, die die aufkeimende Liebe und ihre verwirrende Faszination für den Butler hervorragend spielt und einem gar das Herz bricht, als sich bei ihr die Erkenntnis breit macht, dass diese Gefühle nie eine Zukunft haben werden.
Die restliche Besetzung ist nicht weniger großartig. Als verliebtes Hausmädchen ist Lena Headey in einer ihrer ersten Rollen zu sehen, sie wurde zwanzig Jahre später durch die Fantasyserie „Game of Thrones“ zum Star. Charakterdarsteller Michael Lonsdale mimt grandios einen französischen Abgesandten, der – statt über Politik zu diskutieren – ausschließlich über seine geschwollenen Füße lamentiert. „Superman“-Ikone Christopher Reeve repräsentiert in der Rolle des Lewis die Stimme der Vernunft, als er seiner Lordschaft vorwirft, er sei ein Amateur und ihn vor „Frieden um jeden Preis“ warnt. Der integre Reginald Cardinal wird zudem exzellent vom jungen Hugh Grant verkörpert, der erst ein Jahr später durch „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ zum englischen Superstar avancierte.
Nicht genug Lob lässt sich über die Ausstattung verlieren: Die Kostüme allein sind über jeden Zweifel erhaben und geprägt von einem weitreichenden Verständnis für die traditionsreiche britische Hochkultur. Mehrere englische Landhäuser zum Einsatz für die edlen Aufnahmen des Kameramanns Tony Pierce-Roberts. Über die vollen 134 Minuten begeistert außerdem die gefühlvolle Musik des Pianisten Richard Robbins, der regelmäßig an Merchant Ivory Produktionen mitwirkte. Dennoch ging Ivorys Romanadaption bei den großen Preisverleihungen 1993 leer aus. Zu in sich gekehrt, zu ruhig, konzentriert, langsam und introvertiert war sie, als dass sie gegen andere, in ihrer Absicht direktere Werke wie das Holocaustdrama „Schindlers Liste“ oder den Liebesfilm „Das Piano“ eine Chance gehabt hätte.
Ivorys Herzschmerzkino ist ein großer Abgesang auf vertane Lebenschancen. Der finale Geniestreich erschließt sich aber erst im Vergleich zur Romanvorlage. Dort erlebt Mr. Stevens auf den letzten Seiten als alter, gebrochener Mann ein Umdenken. Er beschließt, die alte steife Butler-Ideologie loszulassen und seine letzten Lebensjahre zu genießen. Der Film jedoch endet fatalistisch, tragisch und tieftraurig. Stevens beharrt auf seiner Würde, wählt seine Pflichten und damit die Einsamkeit. „Es hat keinen Sinn, über vergossene Milch zu klagen“, sagt er einmal. Und so verbleibt er in Darlington Hall, wahrt vermeintlich den längst vergangenen Stolz der britischen Aristokratie, und bleibt allein mit der Frage, was vom Tage übrigblieb.
„Ein guter Butler verfügt über Würde im Einklang mit seiner Position“, heißt es in einer Schlüsselszene von „Was vom Tage übrigblieb“. In diesem Moment, irgendwann in den 1930er Jahren, sitzt das Personal des Landsitzes Darlington Hall zusammen bei Tisch. Am Kopfende spricht der den Ton angebende Butler James Stevens. Sein ganzes Lebensziel, so wird in dieser Szene sehr deutlich, ist die des Dieners. Alles was er tut, verfolgt die Ambition, seinem Arbeitgeber, den angesehen Lord Darlington nach besten Kräften zu versorgen. Mit am Tisch sitzt sein Vater Stevens Senior, der ebenfalls sein ganzes Leben lang gedient hat und seinem Sohn – ihre Dynamik zeigt es – nur diesen Wert vermitteln konnte: Immer die Würde wahren. Um jeden Preis.
Als später der Senior sehr krank wird und schließlich verstirbt, findet in Darlington Hall gerade eine wichtige politische Konferenz statt. Die Haushälterin Miss Kenton zieht Stevens zur Seite: „Es tut mir sehr leid. Ihr Vater ist vor vier Minuten von uns gegangen“, sagt sie mitfühlend. „Ich verstehe“, antwortet Stevens. Auf die Frage, ob er seinen toten Vater sehen möchte, meint er nur: „Ich habe im Moment sehr viel zu tun“ und „Mein Vater würde wünschen, dass ich mit meiner Arbeit fortfahre“. Die ganze Szene ist er nur im Dunkeln oder von hinten zu sehen. Selbst wenn Mr. Stevens hier für eine Sekunde eine Gefühlsregung gezeigt haben sollte: Die Kamera wahrt für ihn sein Gesicht.
Die vielfach preisgekrönte, gleichnamige Romanvorlage des japanisch-britischen Autoren Kazuo Ishiguro ist ein Werk der Introspektive. Alle Erkenntnisse, alle Gedanken formulieren sich aus dem Inneren der Figuren heraus. Deswegen galt das Buch gleich bei seiner Veröffentlichung als „unverfilmbar“. Um das Gegenteil zu beweisen, trat das Triumvirat der Produktionsstätte „Merchant Ivory Productions“ an: Regisseur James Ivory, sein Lebensgefährte und Produzent Ismail Merchant sowie die Drehbuchautorin Ruth Prawer Jhabvala. Zusammen hatten sie zwischen 1961 und 2005 über zwanzig Produktionen verwirklicht, viele davon urbritische Kostümfilme, zumeist Literaturadaptionen.
Doch obwohl viele ihrer Arbeiten, darunter Hits wie „Die Damen aus Boston“ und „Zimmer mit Aussicht“ sowohl Publikum als auch Kritiker begeistern konnten, sollte erst „Was vom Tage übrigblieb“ ihr Magnum opus werden, ein Film von so meisterlicher Eleganz, dass er wie seine Vorlage als brillant einzustufen ist, diese in Teilen gar übertrifft. Erst wollte Mike Nichols das Projekt übernehmen und die Protagonisten, Butler Stevens und Haushälterin Kenton, mit Jeremy Irons und Meryl Streep besetzen. Als Ivory an Bord kam, vereinte er stattdessen wieder das Traumpaar seines vorherigen Films „Wiedersehen in Howards End“: Anthony Hopkins und Emma Thompson.
Der Film beginnt 1956: Nach dem Tod von Lord Darlington wird sein Anwesen an den US-amerikanischen Ex-Politiker Jack Lewis versteigert. Er übernimmt die gesamte Belegschaft, darunter den treuen Stevens. Durch einen Briefwechsel mit Miss Kenton, die Darlington Hall vor langer Zeit den Rücken kehrte, erinnert sich Stevens an ihre gemeinsame Zeit. Er beschließt, nach Südwestengland zu fahren und sie nach Jahren wiederzusehen – vorgeblich, weil er sie erneut als Haushälterin anwerben will.
Ein Großteil des Films spielt nun in den Erinnerungen von Mr. Stevens. James Ivory zeichnet anhand des übertrieben aufopferungsvollen Butlers ein bestechendes Porträt der englischen Aristokratie und erzählt vom Klassensystem des imperialen Zeitalters: Stevens hat in Darlington Hall einen festen Platz, ein klar definiertes Schicksal. Sein einziger Traum darf darin bestehen, diese Rolle so perfekt wie möglich auszufüllen. Seinem Herrn vertraut er blind. Die Überzeugungen des Mannes spielen dafür keine Rolle, entscheidend ist allein das gesellschaftlich eindeutige Verhältnis zueinander. Großbritannien vor dem Zweiten Weltkrieg, zeigt Ivory auf, atmete die letzten Züge des Neo-Feudalismus.
Dabei legt er seine Finger in eine Wunde, mit der das Vereinigte Königreich nur ungerne konfrontiert wird: Die historische Rolle, die der englische Adel beim Aufstieg des deutschen Faschismus spielte. Darlington, piekfein von James Fox verkörpert, ist treuer Anhänger der Appeasement-Politik von Neville Chamberlain. Er empfand den Versailler Vertrag als Verrat am deutschen Volk. Seine Sympathien für das im Ersten Weltkrieg besiegte Deutschland verpflichten ihn, so glaubt er, in Friedensgesprächen zwischen Großbritannien und den Nationalsozialisten zu vermitteln. Über die Jahre gehen viele Herrschaften in Darlington Hall ein und aus, darunter fanatische Anhänger der Schwarzhemden-Organisation, die offen von einem faschistischen Putsch träumen, und Botschafter des Deutschen Reichs.
Obwohl Ivory auch Idealisten zeigt, darunter des Lords Patenkind, der Journalist Reginald Cardinal, oder jener Jack Lewis, der später in Darlington Hall wohnen wird, ist sein politisches Drama von einer lustvollen Janusköpfigkeit durchzogen: Zum einen ist seine makellose, durchweg inspirierte Regie von einer nostalgischen Sehnsucht geprägt, die jede Möglichkeit erlaubt, sich in der sentimental-verklärten Bourgeoisie zu suhlen. Zum anderen genießt er es, diese Idylle des Upper Class Großbritanniens aufzubrechen, sie einzureißen. Mag der Film anfangs noch Bewunderung für Mr. Stevens auslösen, der beharrlich sein ganzes Dasein dem Dienen widmet, schlägt es in Frustration um, als klar wird, wie fehlgeleitet seine Loyalität Darlington gegenüber ist.
In einer phänomenal deprimierenden Szene etwa zitiert der Lord seinen Butler zu sich, um über die deutschen Flüchtlingsmädchen Elsa und Irma zu sprechen, die unter Mr. Stevens als Dienstmädchen arbeiten. Der Lord wünscht, dass die Mädchen entlassen werden. Als Stevens Bedenken äußert, platzt es aus Darlington heraus: „Sie sind Juden.“ Miss Kenton ist schockiert. Sie droht mit Kündigung. Und auch Stevens ist dabei nicht wohl. Dennoch führt er den Befehl aus. Sein Herr und er sind gar nicht so verschieden: Sie beide sind vor lauter Prinzipientreue zu blind, um zu sehen, auf welche Irrwege sie geführt werden.
Miss Kenton macht ihr Vorhaben nicht wahr. Sie bleibt, und es wird mit jeder Szene klarer, wieso. Sie entwickelt Gefühle für den ihr so rätselhaften Mr. Stevens. Wiederholt drängt sie nun um seine Zuneigung, doch er flieht davor. Er kann und will sie nicht an sich heranlassen – dabei ist längst klar, dass auch er etwas fühlt. Kein Wunder also, dass Ivory für diesen enorm schwierigen Part unbedingt Anthony Hopkins wollte. Er liefert ab: Der Jahrhundertschauspieler war nie besser, seine Leistung ist nuanciert, grandios, wahrhaftig. Dasselbe gilt für Emma Thompson, die die aufkeimende Liebe und ihre verwirrende Faszination für den Butler hervorragend spielt und einem gar das Herz bricht, als sich bei ihr die Erkenntnis breit macht, dass diese Gefühle nie eine Zukunft haben werden.
Die restliche Besetzung ist nicht weniger großartig. Als verliebtes Hausmädchen ist Lena Headey in einer ihrer ersten Rollen zu sehen, sie wurde zwanzig Jahre später durch die Fantasyserie „Game of Thrones“ zum Star. Charakterdarsteller Michael Lonsdale mimt grandios einen französischen Abgesandten, der – statt über Politik zu diskutieren – ausschließlich über seine geschwollenen Füße lamentiert. „Superman“-Ikone Christopher Reeve repräsentiert in der Rolle des Lewis die Stimme der Vernunft, als er seiner Lordschaft vorwirft, er sei ein Amateur und ihn vor „Frieden um jeden Preis“ warnt. Der integre Reginald Cardinal wird zudem exzellent vom jungen Hugh Grant verkörpert, der erst ein Jahr später durch „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ zum englischen Superstar avancierte.
Nicht genug Lob lässt sich über die Ausstattung verlieren: Die Kostüme allein sind über jeden Zweifel erhaben und geprägt von einem weitreichenden Verständnis für die traditionsreiche britische Hochkultur. Mehrere englische Landhäuser zum Einsatz für die edlen Aufnahmen des Kameramanns Tony Pierce-Roberts. Über die vollen 134 Minuten begeistert außerdem die gefühlvolle Musik des Pianisten Richard Robbins, der regelmäßig an Merchant Ivory Produktionen mitwirkte. Dennoch ging Ivorys Romanadaption bei den großen Preisverleihungen 1993 leer aus. Zu in sich gekehrt, zu ruhig, konzentriert, langsam und introvertiert war sie, als dass sie gegen andere, in ihrer Absicht direktere Werke wie das Holocaustdrama „Schindlers Liste“ oder den Liebesfilm „Das Piano“ eine Chance gehabt hätte.
Ivorys Herzschmerzkino ist ein großer Abgesang auf vertane Lebenschancen. Der finale Geniestreich erschließt sich aber erst im Vergleich zur Romanvorlage. Dort erlebt Mr. Stevens auf den letzten Seiten als alter, gebrochener Mann ein Umdenken. Er beschließt, die alte steife Butler-Ideologie loszulassen und seine letzten Lebensjahre zu genießen. Der Film jedoch endet fatalistisch, tragisch und tieftraurig. Stevens beharrt auf seiner Würde, wählt seine Pflichten und damit die Einsamkeit. „Es hat keinen Sinn, über vergossene Milch zu klagen“, sagt er einmal. Und so verbleibt er in Darlington Hall, wahrt vermeintlich den längst vergangenen Stolz der britischen Aristokratie, und bleibt allein mit der Frage, was vom Tage übrigblieb.
Drachenfliegen leicht gemacht
Auf der Fährte des Adlers
Wer an die 1970er denkt, denkt an Clogs, Schlaghosen, Lavalampen, die Bee Gees und … Drachenflieger? Na klar! Der Luftsport, bei dem ein Pilot unter einem Hängegleiter, auch Deltasegler oder Drachen genannt, mit etwa elf Metern Spannweite hängt und durch die Lüfte segelt, war im Disco-Jahrzehnt – wie man damals sagte – „hipp“. Die Erfindung des gefährlichen Freizeitvertriebs geht auf den Aerodynamiker Francis Rogallo zurück. Er erschuf im Auftrag der NASA nach dem Zweiten Weltkrieg einen zusammenklappbaren, flexiblen Flügel, der für die Rückkehr von ausgebrannten Raketenstufen zur Erde dienen sollte. Mitte der 60er wurden die Geräte als Rogallo-Gleitschirme bekannt, doch die NASA verzichtete letztlich auf ihren Einsatz. Seine Erfindung machte dennoch Schule und inmitten der Flower-Power-Bewegung etablierte sich das Drachenfliegen in den Küstenregionen der USA.
Auch in Deutschland löste der Sport einen Medienrummel aus, als 1973 der junge Kalifornier Mike Harker mit einem Gleiter von der Zugspitze abflog. Drachenfliegen war damit in Europa angekommen – und wenig verwunderlich griff es kurz darauf die Filmwelt auf. Noch im selben Jahr sah man Roger Moore in seinem ersten Einsatz als „James Bond 007“ im Film „Leben und sterben lassen“ unter einem Hängegleiter, ein paar Jahre später griff die Reihe den Sport in „Moonraker“ erneut auf. Der kultige satirische Actionkracher „The Man from Hong Kong“ warb 1975 ebenfalls groß mit seinen spektakulären Drachenflieger-Szenen. Das kinematografische Potenzial der motorlosen Fluggeräte erkannte auch der Produzent Sandy Howard und beschloss, einen ganzen Film um das Drachenfliegen herum zu konstruieren: „Auf der Fährte des Adlers“.
Worum es in diesem Film abseits vom Luftsport geht, ist flott erklärt: In Athen überfallen bewaffnete Männer mit Eishockeymasken das Haus des Millionärs Jonas Bracken. Seine Frau Ellen und ihre zwei Kinder werden entführt, sämtliche Hausangestellte erschossen. Bracken selbst ist zu dem Zeitpunkt bei einem Geschäftstermin. Nun soll er sich über Funk bereithalten, und ein saftiges Lösegeld an die Entführer zahlen. Die Polizei aber bittet ihn, auf Zeit zu spielen, um die Terroristen in die Finger zu bekommen, die sich als anti-imperialistische Revoluzzer zu erkennen geben. Doch die Polizei erweist sich als unfähig: Bei einem ersten Versuch, die Terroristen zu orten, geraten sie in eine Falle, bei der drei blaue Engel ihr Leben lassen, darunter der Neffe des leitenden Inspektors Nikolidis.
Welch Glück für Jonas Bracken, dass Ellens Ex-Mann Jim McCabe ein echtes Raubein ist! Sobald der Gelegenheitskriminelle von der Entführung seiner ehemaligen Gattin hört, beschließt er, auf eigene Faust die Gangster ausfindig zu machen. Tatsächlich findet er heraus, dass Ellen und die Kinder auf einem abgelegenen Bergkloster festgehalten werden. Nur: Wie kommt man da jetzt rauf, um die Geiseln freizuschießen? Kurzerhand heuert McCabe professionelle Drachenflieger an und macht einen Hängegleiter-Schnellkurs. Kann doch so schwer nicht sein. Und schon finden er und seine neuen Freunde sich in einer Nacht- und Nebelaktion erst in luftiger Höhe und dann im Kugelhagel wieder …
Da wirklich einzig und allein die Luftszenen der Grund sind, warum „Auf der Fährte des Adlers“ je gedreht wurde, versucht Regisseur Douglas Hickox möglichst schnell zum Punkt zu kommen. Nur 91 Minuten kurz ist sein Actionfilm, wobei die große Rettungsmission in Minute 54 beginnt. Dementsprechend hoch ist das Tempo: Keine fünf Minuten dauert es, ehe die mit Sturmgewehren bewaffneten Terroristen die Familie entführen, danach werden rasch alle Figuren in Stellung gebracht. Den knallharten Haudegen McCabe mit James Coburn zu besetzen, kann gar als Abkürzung betrachtet werden, denn der Western-Star aus „Die glorreichen Sieben“ und „Pat Garrett jagt Billy the Kid“ spielt hier von der ersten Sekunde erkennbar schlicht seine bekannte Leinwand-Persona: Immer Herr der Lage, unbestreitbar cool und verwegen, ein Macher eben.
Die illustre Besetzung kann sich auch abseits von ihm sehen lassen: Die entführte Gattin gibt Susannah York, die damals spätestens dank des Tanzfilms „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“ zur A-Liga im europäischen Kino gehörte, ihren besorgten Mann spielt Robert Culp, berühmt als Serienstar neben Bill Cosby in „Tennisschläger und Kanonen“. Wirklich köstlich ist der bewusst diktatorisch angelegte Auftritt des armenisch-französischen Komponisten und Schauspielers Charles Aznavour als Inspektor der Polizei von Athen, der im Originalton übrigens gar nicht erst versucht, einen griechischen Akzent zu behaupten.
Auf Seiten der aalglatten Schurken gibt es in einem skurrilen Part die Model-Ikone Zouzou und den Österreicher Werner Pochath als Anführer der Terroristen zu sehen. Pochath war oft auf Bösewicht-Rollen abonniert (etwa im Western „Die rote Sonne der Rache“ oder in der Prügelkomödie „Plattfuß in Afrika“) und liefert auch hier in seinen wenigen Szenen ab. Eher unscheinbar als einer der Drachenflieger ist außerdem John Beck mit an Bord, der nur wenige Jahre später den Mark Graison im TV-Hit „Dallas“ spielte – und schon in „Auf der Fährte des Adlers“ seinen charakteristischen dicken Schnurrbart trägt.
Dank ihnen allen weht ein Eau de Fleur von Hollywood durch die mit einem Budget von 350.000 Dollar günstige Produktion, wobei noch insbesondere der großartige Komponist Lalo Schifrin („Dirty Harry“, „Bullitt“) mit seiner beschwingt-fröhlichen Titelmusik für Stimmung sorgt. Das eigentliche Interesse des Films liegt aber in seinen Bildern: Nicht nur dürfte Griechenland als Handlungsort bei den US-Zuschauern für einen Hauch von Exotik gesorgt haben, die Aufnahmen von Drachenfliegern sind schlicht und ergreifend spektakulär. Acht echte Hängegleiter-Piloten (Chris Wills, Bob Wills, Susie Wills, Kurt Kiefer, Dix Roper, Carol Price, Chris Price & Dean Tanji) flogen für die Produktion durch das enge griechische Metéora-Gebirge, gefilmt vom begnadeten Helikopterkameramann Greg MacGillivray.
Die Kamera hängt dabei teilweise mit den Piloten im Gleiter und sorgt für phänomenale Einstellungen. Als nach der Landung auf einem der vielen dort hochgelegenen Kloster gelandet und geballert wird, bietet Hickox eine Materialschlacht sondergleichen. Das aufwendige Feuergefecht, in dem sich noch die griechische Polizei und der besorgte Familienpapa Bracken mit Maschinengewehr einmischen, ist übersät mit Explosionen und endet mit einer waghalsigen letzten Jagd, in der die flüchtenden Drachenflieger von einem Helikopter verfolgt werden. An dessen Kufen hängt zu dem Zeitpunkt James Coburn höchstpersönlich und macht damit seinem Ruf als Actionheld alle Ehren. Die Aufnahmen dieser finalen halben Stunde sind so furios und mitreißend, dass sie kurz darauf wiederverwendet wurden: Im Intro der TV-Serie „Ein Colt für alle Fälle“ kann man unter anderem den am Helikopter hängenden Coburn erkennen.
Freilich nimmt es „Auf der Fährte des Adlers“ mit der Logik nicht allzu genau und ist einzig und allein als schnelles Spektakel konzipiert. Damit kann er aber auch als Wegbereiter gesehen werden: Im Rückblick wirkt Hickox runder Spaß wie ein Prolog auf das Actionkino der 80er Jahre, in dem Namen wie Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone den Ton angaben. Nicht bloß, weil die Action durch die absurden, körperlichen Höchstleistungen ihrer Akteure getragen wird, sondern auch weil McCabe als Hauptfigur selbst wie viele seiner Nachfolger als der personifizierte geheime Traum der vermeintlich spießigen Zivilgesellschaft auftritt: Er schreitet mit Waffe in der Hand und coolem Spruch auf den Lippen zur Tat, als der Staat gänzlich versagt. Ein weiterer Vergleich: Der zehn Jahre später erschienene 80s-Überhit „Top Gun“ tat letztlich auch nichts anderes, als seinen dünnen Plot um spektakuläre Flugsequenzen (dieses Mal im Kampfjet) herum zu konstruieren.
Man kann die unverhohlene Selbstjustiz-Geschichte negativ betrachten, und das wurde sie damals auch. Die Kritiken stürzten sich anno 1976 auf den kommerziell enttäuschenden Film. Das Lexikon des internationalen Films etwa urteilt: „Ganz nach Klischee inszeniert, nur mäßig spannend und von fragwürdiger ideologischer Tendenz.“ Dass wiederum „Auf der Fährte des Adlers“ auch seine Liebhaber fand und andere Filme inspirierte, lässt sich allzu leicht erkennen: Fünf Jahre später klauten der Produzent Albert R. Broccoli und der Regisseur John Glen bei dem Actionspektakel dreist für ihren „James Bond 007“-Film „In tödlicher Mission“. Auch dort muss Roger Moore im spannenden Finale unbemerkt die Festung der Bösewichte stürmen, die sich in einem Bergkloster im Metéora-Gebirge verstecken – allerdings nicht per Drachenflieger, sondern mit dem Kletterseil ausgerüstet.
Als launig-naiver und zügig erzählter Geheimtipp ist „Auf der Fährte des Adlers“ noch heute für einen gemütlichen Abend gut. Zumal dem Film ein ungewöhnliches Kompliment gemacht werden kann: Sein deutscher Titel ist international die tatsächlich beste Alternative. Im Original kennt man ihn unter dem banalen „Sky Riders“ (zu deutsch: „Himmelsreiter“), die Franzosen nennen ihn (übersetzt) „Die Delta-Intervention“, die Italiener „Die Falkenmänner“ und die Spanier gar „Der Angriff der Vogelmenschen“.
Wer an die 1970er denkt, denkt an Clogs, Schlaghosen, Lavalampen, die Bee Gees und … Drachenflieger? Na klar! Der Luftsport, bei dem ein Pilot unter einem Hängegleiter, auch Deltasegler oder Drachen genannt, mit etwa elf Metern Spannweite hängt und durch die Lüfte segelt, war im Disco-Jahrzehnt – wie man damals sagte – „hipp“. Die Erfindung des gefährlichen Freizeitvertriebs geht auf den Aerodynamiker Francis Rogallo zurück. Er erschuf im Auftrag der NASA nach dem Zweiten Weltkrieg einen zusammenklappbaren, flexiblen Flügel, der für die Rückkehr von ausgebrannten Raketenstufen zur Erde dienen sollte. Mitte der 60er wurden die Geräte als Rogallo-Gleitschirme bekannt, doch die NASA verzichtete letztlich auf ihren Einsatz. Seine Erfindung machte dennoch Schule und inmitten der Flower-Power-Bewegung etablierte sich das Drachenfliegen in den Küstenregionen der USA.
Auch in Deutschland löste der Sport einen Medienrummel aus, als 1973 der junge Kalifornier Mike Harker mit einem Gleiter von der Zugspitze abflog. Drachenfliegen war damit in Europa angekommen – und wenig verwunderlich griff es kurz darauf die Filmwelt auf. Noch im selben Jahr sah man Roger Moore in seinem ersten Einsatz als „James Bond 007“ im Film „Leben und sterben lassen“ unter einem Hängegleiter, ein paar Jahre später griff die Reihe den Sport in „Moonraker“ erneut auf. Der kultige satirische Actionkracher „The Man from Hong Kong“ warb 1975 ebenfalls groß mit seinen spektakulären Drachenflieger-Szenen. Das kinematografische Potenzial der motorlosen Fluggeräte erkannte auch der Produzent Sandy Howard und beschloss, einen ganzen Film um das Drachenfliegen herum zu konstruieren: „Auf der Fährte des Adlers“.
Worum es in diesem Film abseits vom Luftsport geht, ist flott erklärt: In Athen überfallen bewaffnete Männer mit Eishockeymasken das Haus des Millionärs Jonas Bracken. Seine Frau Ellen und ihre zwei Kinder werden entführt, sämtliche Hausangestellte erschossen. Bracken selbst ist zu dem Zeitpunkt bei einem Geschäftstermin. Nun soll er sich über Funk bereithalten, und ein saftiges Lösegeld an die Entführer zahlen. Die Polizei aber bittet ihn, auf Zeit zu spielen, um die Terroristen in die Finger zu bekommen, die sich als anti-imperialistische Revoluzzer zu erkennen geben. Doch die Polizei erweist sich als unfähig: Bei einem ersten Versuch, die Terroristen zu orten, geraten sie in eine Falle, bei der drei blaue Engel ihr Leben lassen, darunter der Neffe des leitenden Inspektors Nikolidis.
Welch Glück für Jonas Bracken, dass Ellens Ex-Mann Jim McCabe ein echtes Raubein ist! Sobald der Gelegenheitskriminelle von der Entführung seiner ehemaligen Gattin hört, beschließt er, auf eigene Faust die Gangster ausfindig zu machen. Tatsächlich findet er heraus, dass Ellen und die Kinder auf einem abgelegenen Bergkloster festgehalten werden. Nur: Wie kommt man da jetzt rauf, um die Geiseln freizuschießen? Kurzerhand heuert McCabe professionelle Drachenflieger an und macht einen Hängegleiter-Schnellkurs. Kann doch so schwer nicht sein. Und schon finden er und seine neuen Freunde sich in einer Nacht- und Nebelaktion erst in luftiger Höhe und dann im Kugelhagel wieder …
Da wirklich einzig und allein die Luftszenen der Grund sind, warum „Auf der Fährte des Adlers“ je gedreht wurde, versucht Regisseur Douglas Hickox möglichst schnell zum Punkt zu kommen. Nur 91 Minuten kurz ist sein Actionfilm, wobei die große Rettungsmission in Minute 54 beginnt. Dementsprechend hoch ist das Tempo: Keine fünf Minuten dauert es, ehe die mit Sturmgewehren bewaffneten Terroristen die Familie entführen, danach werden rasch alle Figuren in Stellung gebracht. Den knallharten Haudegen McCabe mit James Coburn zu besetzen, kann gar als Abkürzung betrachtet werden, denn der Western-Star aus „Die glorreichen Sieben“ und „Pat Garrett jagt Billy the Kid“ spielt hier von der ersten Sekunde erkennbar schlicht seine bekannte Leinwand-Persona: Immer Herr der Lage, unbestreitbar cool und verwegen, ein Macher eben.
Die illustre Besetzung kann sich auch abseits von ihm sehen lassen: Die entführte Gattin gibt Susannah York, die damals spätestens dank des Tanzfilms „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“ zur A-Liga im europäischen Kino gehörte, ihren besorgten Mann spielt Robert Culp, berühmt als Serienstar neben Bill Cosby in „Tennisschläger und Kanonen“. Wirklich köstlich ist der bewusst diktatorisch angelegte Auftritt des armenisch-französischen Komponisten und Schauspielers Charles Aznavour als Inspektor der Polizei von Athen, der im Originalton übrigens gar nicht erst versucht, einen griechischen Akzent zu behaupten.
Auf Seiten der aalglatten Schurken gibt es in einem skurrilen Part die Model-Ikone Zouzou und den Österreicher Werner Pochath als Anführer der Terroristen zu sehen. Pochath war oft auf Bösewicht-Rollen abonniert (etwa im Western „Die rote Sonne der Rache“ oder in der Prügelkomödie „Plattfuß in Afrika“) und liefert auch hier in seinen wenigen Szenen ab. Eher unscheinbar als einer der Drachenflieger ist außerdem John Beck mit an Bord, der nur wenige Jahre später den Mark Graison im TV-Hit „Dallas“ spielte – und schon in „Auf der Fährte des Adlers“ seinen charakteristischen dicken Schnurrbart trägt.
Dank ihnen allen weht ein Eau de Fleur von Hollywood durch die mit einem Budget von 350.000 Dollar günstige Produktion, wobei noch insbesondere der großartige Komponist Lalo Schifrin („Dirty Harry“, „Bullitt“) mit seiner beschwingt-fröhlichen Titelmusik für Stimmung sorgt. Das eigentliche Interesse des Films liegt aber in seinen Bildern: Nicht nur dürfte Griechenland als Handlungsort bei den US-Zuschauern für einen Hauch von Exotik gesorgt haben, die Aufnahmen von Drachenfliegern sind schlicht und ergreifend spektakulär. Acht echte Hängegleiter-Piloten (Chris Wills, Bob Wills, Susie Wills, Kurt Kiefer, Dix Roper, Carol Price, Chris Price & Dean Tanji) flogen für die Produktion durch das enge griechische Metéora-Gebirge, gefilmt vom begnadeten Helikopterkameramann Greg MacGillivray.
Die Kamera hängt dabei teilweise mit den Piloten im Gleiter und sorgt für phänomenale Einstellungen. Als nach der Landung auf einem der vielen dort hochgelegenen Kloster gelandet und geballert wird, bietet Hickox eine Materialschlacht sondergleichen. Das aufwendige Feuergefecht, in dem sich noch die griechische Polizei und der besorgte Familienpapa Bracken mit Maschinengewehr einmischen, ist übersät mit Explosionen und endet mit einer waghalsigen letzten Jagd, in der die flüchtenden Drachenflieger von einem Helikopter verfolgt werden. An dessen Kufen hängt zu dem Zeitpunkt James Coburn höchstpersönlich und macht damit seinem Ruf als Actionheld alle Ehren. Die Aufnahmen dieser finalen halben Stunde sind so furios und mitreißend, dass sie kurz darauf wiederverwendet wurden: Im Intro der TV-Serie „Ein Colt für alle Fälle“ kann man unter anderem den am Helikopter hängenden Coburn erkennen.
Freilich nimmt es „Auf der Fährte des Adlers“ mit der Logik nicht allzu genau und ist einzig und allein als schnelles Spektakel konzipiert. Damit kann er aber auch als Wegbereiter gesehen werden: Im Rückblick wirkt Hickox runder Spaß wie ein Prolog auf das Actionkino der 80er Jahre, in dem Namen wie Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone den Ton angaben. Nicht bloß, weil die Action durch die absurden, körperlichen Höchstleistungen ihrer Akteure getragen wird, sondern auch weil McCabe als Hauptfigur selbst wie viele seiner Nachfolger als der personifizierte geheime Traum der vermeintlich spießigen Zivilgesellschaft auftritt: Er schreitet mit Waffe in der Hand und coolem Spruch auf den Lippen zur Tat, als der Staat gänzlich versagt. Ein weiterer Vergleich: Der zehn Jahre später erschienene 80s-Überhit „Top Gun“ tat letztlich auch nichts anderes, als seinen dünnen Plot um spektakuläre Flugsequenzen (dieses Mal im Kampfjet) herum zu konstruieren.
Man kann die unverhohlene Selbstjustiz-Geschichte negativ betrachten, und das wurde sie damals auch. Die Kritiken stürzten sich anno 1976 auf den kommerziell enttäuschenden Film. Das Lexikon des internationalen Films etwa urteilt: „Ganz nach Klischee inszeniert, nur mäßig spannend und von fragwürdiger ideologischer Tendenz.“ Dass wiederum „Auf der Fährte des Adlers“ auch seine Liebhaber fand und andere Filme inspirierte, lässt sich allzu leicht erkennen: Fünf Jahre später klauten der Produzent Albert R. Broccoli und der Regisseur John Glen bei dem Actionspektakel dreist für ihren „James Bond 007“-Film „In tödlicher Mission“. Auch dort muss Roger Moore im spannenden Finale unbemerkt die Festung der Bösewichte stürmen, die sich in einem Bergkloster im Metéora-Gebirge verstecken – allerdings nicht per Drachenflieger, sondern mit dem Kletterseil ausgerüstet.
Als launig-naiver und zügig erzählter Geheimtipp ist „Auf der Fährte des Adlers“ noch heute für einen gemütlichen Abend gut. Zumal dem Film ein ungewöhnliches Kompliment gemacht werden kann: Sein deutscher Titel ist international die tatsächlich beste Alternative. Im Original kennt man ihn unter dem banalen „Sky Riders“ (zu deutsch: „Himmelsreiter“), die Franzosen nennen ihn (übersetzt) „Die Delta-Intervention“, die Italiener „Die Falkenmänner“ und die Spanier gar „Der Angriff der Vogelmenschen“.
When You Wish Upon A Starship
Unheimliche Begegnung der dritten Art
Gab es für das Sci-Fi-Kino ein wichtigeres Jahr als 1977? George Lucas hatte gerade seinen Mega-Erfolg „Star Wars“ lanciert, da startete ein weiterer Film des Genres, der zum Meilenstein der Kinogeschichte werden sollte: „Unheimliche Begegnung der dritten Art“. Es war zwei Jahre nach „Der weiße Hai“ der nächste große Kinoerfolg von Steven Spielberg und zementierte den damals jungen Regisseur als neue tonangebende Stimme in Hollywood. Lichtschwerter gab es bei ihm aber keine. Stattdessen geht es um das Konzept der ersten Begegnung der Menschheit mit außerirdischen Lebewesen – besser gesagt darum, wie einzelne Menschen reagieren würden, sähen sie sich mit der Möglichkeit einer solchen Begegnung konfrontiert.
Erzählt wird dies in zwei Handlungssträngen, die erst im dritten Akt zusammenlaufen. Der Film beginnt in der Sonora-Wüste, in der über Nacht plötzlich verschwundene Kriegsflugzeuge von 1945 aufgetaucht sind – völlig unversehrt, nur die Besatzung fehlt. Der französische Wissenschaftler Lacombe beginnt mit seinem Team Nachforschungen, die ihn um die ganze Welt bis zu einer mysteriösen Fünf-Ton-Musik führen, welche laut einer Gruppe strenggläubiger Inder vom Himmel ertönte. Lacombe vermutet, dass die kurze Melodie die Grundlage dafür bilden könnte, Kontakt mit Außerirdischen aufzunehmen.
Parallel spielt „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ in Indiana. Dort ist es der gewöhnliche Familienvater und Elektriker Roy Neary, der eines Nachts während eines Stromausfalls plötzlichen Kontakt mit einem UFO hat. Gleich mehrere Flugobjekte zischen an ihm vorbei. Kurz nach dieser verhängnisvollen Begegnung erhält er rätselhafte Visionen, die ihn, seine Frau und die gemeinsamen drei Kinder in den Wahnsinn treiben. Er sieht immer wieder einen mysteriösen Berg vor seinem inneren Auge, der ihn magisch anzieht. Als er scheinbar vollends den Verstand verliert, wird es seiner Frau zu bunt: Sie verlässt ihn, und nimmt die Kinder mit.
Neary aber verbündet sich mit der aus der Nachbarschaft stammenden Jillian, einer alleinerziehenden Mutter, deren 3-jähriger Sohn nach einer wahrlich unheimlichen Begegnung mit Lichtern am Himmel spurlos verschwunden ist. Gemeinsam machen sie den Berg aus seinen Visionen ausfindig. Gerade rechtzeitig, um mitanzusehen, wie ein gigantisches UFO dort landet und Lacombe tatsächlich mittels der Musik Kontakt aufnimmt. Doch Neary ist damit nicht am Ziel angelangt. Nachdem die Außerirdischen all jene unbeschadet wieder zur Erde zurückbringen, die sie einst für Kontaktversuche entwendet haben (neben Jillians Sohn auch die Piloten der Flugzeuge), beschließt er, als Botschafter mit ihnen ins All zu fliegen.
„Unheimliche Begegnung der dritten Art“ ist ein sensationeller, ein großartiger Film. Obwohl es erst Spielbergs dritter Kinofilm war, inszeniert er ihn mit dem Können eines langerfahrenen Künstlers. Phänomenal wird der erste Kontakt von Neary mit einem Raumschiff in Szene gesetzt: Er sitzt in seinem Auto auf einer dunklen Landstraße, hinter ihm rasen zwei Lichter heran. Ein Auto, so denkt er, doch als er sich auf den Stadtplan vor sich konzentriert, zeigt die Kamera, wie diese Lichter im Hintergrund plötzlich abheben, davonschweben. Neary bemerkt die fliegenden Untertassen und jagt ihnen mit seinem Auto nach. Verblüfft, erschrocken, verzaubert – ein Gefühlschaos, das Hauptdarsteller Richard Dreyfuss eindringlich darzustellen weiß.
Keine Frage: Spielberg ist schon hier auf dem Höhepunkt seines Könnens. Mühelos navigiert er durch beide Handlungsstränge, verliert nie Tempo und Dramaturgie aus den Augen. Zudem gelingen ihm fantastische Spannungsmomente: Die „Entführung“ des kleinen Sohns von Jillian etwa ist astreines Horrorfilm-Material. Mitten in der Nacht ist das gemütliche Landhaus plötzlich von allen Seiten grell durchleuchtet, elektronische Geräte springen von selbst an, wie bei einem Erdbeben wird sämtliches Mobiliar durchgeschüttelt.
Besonders das letzte Drittel ist voll von kinematografischer Brillanz. Die Effekte, die der „2001: Odyssee im Weltraum“-Veteran Douglas Trumbull für das Erscheinen der Raumschiffe nutzt, suchen noch Jahrzehnte nach Veröffentlichung ihresgleichen. Kameramann Vilmos Zsigmond gewann für seine bemerkenswerten Aufnahmen von oft schlichter Schönheit einen Oscar. Die Filmmusik, die John Willams für „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ schrieb, gehört zum besten Material seiner Karriere – erst recht, da durch die melodische Kommunikation mit den Besuchern aus dem All seine Musik sogar Teil der Handlung wird.
Spielberg ist ein Film gelungen, der über die vollen 134 Minuten seine Talente als Geschichtenerzähler unter Beweis stellt. Es geht ihm nicht um Paranoia oder einen möglichen Schrecken aus dem All, wie ihn das B-Kino der 50er zelebrierte, sondern um friedliche Kommunikation, Neugierde und Offenheit für das Neue. Die Außerirdischen kommen in friedlicher Absicht und wollen sich mit uns verständigen. „Wenn wir in ‚Unheimliche Begegnung der dritten Art‘ mit Aliens reden können, warum nicht mit den Roten im Kalten Krieg?“, erklärte er seine Motive.
„Unheimliche Begegnung der dritten Art“ ist einer von Spielbergs persönlichsten Filmen – und das nicht nur, weil er mit dem französischen Regisseur François Truffaut eines seiner großen Idole in der Rolle des Wissenschaftlers Lacombe besetzte. Inspiriert zu einer UFO-Geschichte wurde er durch seinen Vater, der ihn als Kind häufig mitnahm, um sich Meteoritenschauer anzusehen. Man kann den Film als eine Auseinandersetzung Spielbergs mit seiner Kindheit interpretieren: Seine Eltern ließen sich scheiden, ein Ereignis, das ihn eigenen Aussagen nach nie losließ.
Umso erstaunlicher also, wie er Roy Neary portraitiert: Der Film zeigt Verständnis für diesen vom Alltagsleben gelangweilten Mann, der durch eine quasi-religiöse Erfahrung seine Berufung findet, die er um jeden Preis erfüllen will – selbst wenn er dafür seine Familie verlassen muss. Gleich seine erste Szene etabliert ihn als Träumer: Er spielt mit einer Modelleisenbahn, während dazu aus einer Spieluhr das Lied „When You Wish Upon A Star“ aus dem Disney-Zeichentrickfilm „Pinocchio“ ertönt. Bald schon wird er sogar ganz wörtlich von einem Stern träumen, von einem Raumschiff – und sein Traum wird in Erfüllung gehen.
Er durchleidet keine Midlife-Crisis, sondern findet seine wahre Bestimmung. Nicht umsonst läuft in Nearys Arbeitszimmer in einer Szene der Film „Die zehn Gebote“ im Fernsehen: Der Berg, den Neary erklimmen muss, um die Botschaft der Außerirdischen aus dem Himmel zu erfahren, ist der metaphorische Berg Sinai, auf den Moses im Alten Testament stieg, um Gottes Wort verbreiten zu können. Als Neary seinen Berg schließlich besteigt und seine Bestimmung erfüllt, spielt Williams für all die, die ganz genau hinhören, kurz die ersten Töne von „When You Wish Upon A Star“.
Der berührende Kern von „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ liegt nicht in der Idee, dass es friedliche Lebewesen aus fernen Welten geben könnte. Er liegt in der Vorstellung, dass sogar das Verlassen des eigenen Vaters aus einem höheren Grund geschehen könnte. Scheidungskind Spielberg drehte diesen Sci-Fi-Film als großen Versuch der Versöhnung mit seinen Eltern. Seine Mutter war eine leidenschaftliche Klavierspielerin, sein Vater ein analytischer Computeringenieur. In diesem Film werden ihre Professionen zur Symbiose, denn ausgerechnet von Computern gespielte Musik wird das Mittel zur Kommunikation mit den extraterrestrischen Lebensformen.
Zu Motiven aus „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ kehrte Steven Spielberg in seiner Karriere mehrfach zurück. Aliens gab es bei ihm häufiger zu sehen, ob sie nun gutmütig waren wie „E.T. – Der Außerirdische“ oder einen „Krieg der Welten“ begannen. Abwesende Väter, zerrüttete Familiendynamiken und die Suche nach Bestimmung blieben seine zentralen Themen, etwa in „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“, „Hook“ oder „Catch Me If You Can“. Die Pinocchio-Analogie nahm er 2001 in „A.I. – Künstliche Intelligenz“ noch einmal auf. Genau 45 Jahre nach seinem UFO-Film wurde er dann erneut ganz persönlich – und verfilmte 2022 seine eigene Kindheit im semi-autobiografischen Drama „Die Fabelmans“.
Über die Jahre ließ Spielberg noch zwei weitere Schnittfassungen von „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ anfertigen, die sich im Großen und Ganzen kaum unterscheiden. Einzelne verworfene Szenen wurden wieder eingefügt, andere dafür geschnitten, und für eine der drei Fassungen drehte er nochmal ein erweitertes Ende, in dem das Innere des Mutterschiffs gezeigt wird. Letztlich aber ist es die Kinofassung, die Filmgeschichte schrieb.
„Unheimliche Begegnung der dritten Art“ fällt auch aufgrund seiner majestätischen Ruhe und Geduld in genau jene Kategorie der Filmklassiker, über die man später gerne sagt: „So etwas wird heute nicht mehr gedreht“. Zumindest in diesem Fall ist allerdings Fakt: Steven Spielberg würde den Film in der Form heute tatsächlich nicht mehr drehen. 2005 sagte er in einem Interview, als er am Sci-Fi-Drama arbeitete sei er selbst noch Junggeselle gewesen und habe das Drehbuch daher „unbekümmert“ schreiben können. Doch mittlerweile war er bereits mehrfacher Vater und empfand: „Heute würde ich niemals zulassen, dass der Mann seine Familie verlässt und auf das Mutterschiff geht.“
Gab es für das Sci-Fi-Kino ein wichtigeres Jahr als 1977? George Lucas hatte gerade seinen Mega-Erfolg „Star Wars“ lanciert, da startete ein weiterer Film des Genres, der zum Meilenstein der Kinogeschichte werden sollte: „Unheimliche Begegnung der dritten Art“. Es war zwei Jahre nach „Der weiße Hai“ der nächste große Kinoerfolg von Steven Spielberg und zementierte den damals jungen Regisseur als neue tonangebende Stimme in Hollywood. Lichtschwerter gab es bei ihm aber keine. Stattdessen geht es um das Konzept der ersten Begegnung der Menschheit mit außerirdischen Lebewesen – besser gesagt darum, wie einzelne Menschen reagieren würden, sähen sie sich mit der Möglichkeit einer solchen Begegnung konfrontiert.
Erzählt wird dies in zwei Handlungssträngen, die erst im dritten Akt zusammenlaufen. Der Film beginnt in der Sonora-Wüste, in der über Nacht plötzlich verschwundene Kriegsflugzeuge von 1945 aufgetaucht sind – völlig unversehrt, nur die Besatzung fehlt. Der französische Wissenschaftler Lacombe beginnt mit seinem Team Nachforschungen, die ihn um die ganze Welt bis zu einer mysteriösen Fünf-Ton-Musik führen, welche laut einer Gruppe strenggläubiger Inder vom Himmel ertönte. Lacombe vermutet, dass die kurze Melodie die Grundlage dafür bilden könnte, Kontakt mit Außerirdischen aufzunehmen.
Parallel spielt „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ in Indiana. Dort ist es der gewöhnliche Familienvater und Elektriker Roy Neary, der eines Nachts während eines Stromausfalls plötzlichen Kontakt mit einem UFO hat. Gleich mehrere Flugobjekte zischen an ihm vorbei. Kurz nach dieser verhängnisvollen Begegnung erhält er rätselhafte Visionen, die ihn, seine Frau und die gemeinsamen drei Kinder in den Wahnsinn treiben. Er sieht immer wieder einen mysteriösen Berg vor seinem inneren Auge, der ihn magisch anzieht. Als er scheinbar vollends den Verstand verliert, wird es seiner Frau zu bunt: Sie verlässt ihn, und nimmt die Kinder mit.
Neary aber verbündet sich mit der aus der Nachbarschaft stammenden Jillian, einer alleinerziehenden Mutter, deren 3-jähriger Sohn nach einer wahrlich unheimlichen Begegnung mit Lichtern am Himmel spurlos verschwunden ist. Gemeinsam machen sie den Berg aus seinen Visionen ausfindig. Gerade rechtzeitig, um mitanzusehen, wie ein gigantisches UFO dort landet und Lacombe tatsächlich mittels der Musik Kontakt aufnimmt. Doch Neary ist damit nicht am Ziel angelangt. Nachdem die Außerirdischen all jene unbeschadet wieder zur Erde zurückbringen, die sie einst für Kontaktversuche entwendet haben (neben Jillians Sohn auch die Piloten der Flugzeuge), beschließt er, als Botschafter mit ihnen ins All zu fliegen.
„Unheimliche Begegnung der dritten Art“ ist ein sensationeller, ein großartiger Film. Obwohl es erst Spielbergs dritter Kinofilm war, inszeniert er ihn mit dem Können eines langerfahrenen Künstlers. Phänomenal wird der erste Kontakt von Neary mit einem Raumschiff in Szene gesetzt: Er sitzt in seinem Auto auf einer dunklen Landstraße, hinter ihm rasen zwei Lichter heran. Ein Auto, so denkt er, doch als er sich auf den Stadtplan vor sich konzentriert, zeigt die Kamera, wie diese Lichter im Hintergrund plötzlich abheben, davonschweben. Neary bemerkt die fliegenden Untertassen und jagt ihnen mit seinem Auto nach. Verblüfft, erschrocken, verzaubert – ein Gefühlschaos, das Hauptdarsteller Richard Dreyfuss eindringlich darzustellen weiß.
Keine Frage: Spielberg ist schon hier auf dem Höhepunkt seines Könnens. Mühelos navigiert er durch beide Handlungsstränge, verliert nie Tempo und Dramaturgie aus den Augen. Zudem gelingen ihm fantastische Spannungsmomente: Die „Entführung“ des kleinen Sohns von Jillian etwa ist astreines Horrorfilm-Material. Mitten in der Nacht ist das gemütliche Landhaus plötzlich von allen Seiten grell durchleuchtet, elektronische Geräte springen von selbst an, wie bei einem Erdbeben wird sämtliches Mobiliar durchgeschüttelt.
Besonders das letzte Drittel ist voll von kinematografischer Brillanz. Die Effekte, die der „2001: Odyssee im Weltraum“-Veteran Douglas Trumbull für das Erscheinen der Raumschiffe nutzt, suchen noch Jahrzehnte nach Veröffentlichung ihresgleichen. Kameramann Vilmos Zsigmond gewann für seine bemerkenswerten Aufnahmen von oft schlichter Schönheit einen Oscar. Die Filmmusik, die John Willams für „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ schrieb, gehört zum besten Material seiner Karriere – erst recht, da durch die melodische Kommunikation mit den Besuchern aus dem All seine Musik sogar Teil der Handlung wird.
Spielberg ist ein Film gelungen, der über die vollen 134 Minuten seine Talente als Geschichtenerzähler unter Beweis stellt. Es geht ihm nicht um Paranoia oder einen möglichen Schrecken aus dem All, wie ihn das B-Kino der 50er zelebrierte, sondern um friedliche Kommunikation, Neugierde und Offenheit für das Neue. Die Außerirdischen kommen in friedlicher Absicht und wollen sich mit uns verständigen. „Wenn wir in ‚Unheimliche Begegnung der dritten Art‘ mit Aliens reden können, warum nicht mit den Roten im Kalten Krieg?“, erklärte er seine Motive.
„Unheimliche Begegnung der dritten Art“ ist einer von Spielbergs persönlichsten Filmen – und das nicht nur, weil er mit dem französischen Regisseur François Truffaut eines seiner großen Idole in der Rolle des Wissenschaftlers Lacombe besetzte. Inspiriert zu einer UFO-Geschichte wurde er durch seinen Vater, der ihn als Kind häufig mitnahm, um sich Meteoritenschauer anzusehen. Man kann den Film als eine Auseinandersetzung Spielbergs mit seiner Kindheit interpretieren: Seine Eltern ließen sich scheiden, ein Ereignis, das ihn eigenen Aussagen nach nie losließ.
Umso erstaunlicher also, wie er Roy Neary portraitiert: Der Film zeigt Verständnis für diesen vom Alltagsleben gelangweilten Mann, der durch eine quasi-religiöse Erfahrung seine Berufung findet, die er um jeden Preis erfüllen will – selbst wenn er dafür seine Familie verlassen muss. Gleich seine erste Szene etabliert ihn als Träumer: Er spielt mit einer Modelleisenbahn, während dazu aus einer Spieluhr das Lied „When You Wish Upon A Star“ aus dem Disney-Zeichentrickfilm „Pinocchio“ ertönt. Bald schon wird er sogar ganz wörtlich von einem Stern träumen, von einem Raumschiff – und sein Traum wird in Erfüllung gehen.
Er durchleidet keine Midlife-Crisis, sondern findet seine wahre Bestimmung. Nicht umsonst läuft in Nearys Arbeitszimmer in einer Szene der Film „Die zehn Gebote“ im Fernsehen: Der Berg, den Neary erklimmen muss, um die Botschaft der Außerirdischen aus dem Himmel zu erfahren, ist der metaphorische Berg Sinai, auf den Moses im Alten Testament stieg, um Gottes Wort verbreiten zu können. Als Neary seinen Berg schließlich besteigt und seine Bestimmung erfüllt, spielt Williams für all die, die ganz genau hinhören, kurz die ersten Töne von „When You Wish Upon A Star“.
Der berührende Kern von „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ liegt nicht in der Idee, dass es friedliche Lebewesen aus fernen Welten geben könnte. Er liegt in der Vorstellung, dass sogar das Verlassen des eigenen Vaters aus einem höheren Grund geschehen könnte. Scheidungskind Spielberg drehte diesen Sci-Fi-Film als großen Versuch der Versöhnung mit seinen Eltern. Seine Mutter war eine leidenschaftliche Klavierspielerin, sein Vater ein analytischer Computeringenieur. In diesem Film werden ihre Professionen zur Symbiose, denn ausgerechnet von Computern gespielte Musik wird das Mittel zur Kommunikation mit den extraterrestrischen Lebensformen.
Zu Motiven aus „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ kehrte Steven Spielberg in seiner Karriere mehrfach zurück. Aliens gab es bei ihm häufiger zu sehen, ob sie nun gutmütig waren wie „E.T. – Der Außerirdische“ oder einen „Krieg der Welten“ begannen. Abwesende Väter, zerrüttete Familiendynamiken und die Suche nach Bestimmung blieben seine zentralen Themen, etwa in „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“, „Hook“ oder „Catch Me If You Can“. Die Pinocchio-Analogie nahm er 2001 in „A.I. – Künstliche Intelligenz“ noch einmal auf. Genau 45 Jahre nach seinem UFO-Film wurde er dann erneut ganz persönlich – und verfilmte 2022 seine eigene Kindheit im semi-autobiografischen Drama „Die Fabelmans“.
Über die Jahre ließ Spielberg noch zwei weitere Schnittfassungen von „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ anfertigen, die sich im Großen und Ganzen kaum unterscheiden. Einzelne verworfene Szenen wurden wieder eingefügt, andere dafür geschnitten, und für eine der drei Fassungen drehte er nochmal ein erweitertes Ende, in dem das Innere des Mutterschiffs gezeigt wird. Letztlich aber ist es die Kinofassung, die Filmgeschichte schrieb.
„Unheimliche Begegnung der dritten Art“ fällt auch aufgrund seiner majestätischen Ruhe und Geduld in genau jene Kategorie der Filmklassiker, über die man später gerne sagt: „So etwas wird heute nicht mehr gedreht“. Zumindest in diesem Fall ist allerdings Fakt: Steven Spielberg würde den Film in der Form heute tatsächlich nicht mehr drehen. 2005 sagte er in einem Interview, als er am Sci-Fi-Drama arbeitete sei er selbst noch Junggeselle gewesen und habe das Drehbuch daher „unbekümmert“ schreiben können. Doch mittlerweile war er bereits mehrfacher Vater und empfand: „Heute würde ich niemals zulassen, dass der Mann seine Familie verlässt und auf das Mutterschiff geht.“
Gladiateen
Die Tribute von Panem – The Hunger Games
Historiker vermuten den römischen Satiredichter Juvenal hinter dem bekannten Ausdruck „Brot und Spiele“. Er soll in der Zeit nach dem Machtantritt Kaiser Augustus mit diesen Worten das Desinteresse der Bevölkerung Roms an der Politik ihres Imperiums kritisiert haben. Solange das Volk ausreichend zu essen hatte – für die (oft kostenlose) Getreideversorgung sorgte der Senat stets – und durch unterhaltsame Zirkus- und Gladiatorenspiele oder spannende Wagenrennen begeistert wurde, ließ es die Machthaber schalten und walten. In der Welt aus „Die Tribute von Panem“ läuft dies ähnlich ab. Die Romantrilogie der US-amerikanischen Autorin Suzanne Collins zeigt einen dystopisch-futuristischen Staat mit strengem Klassensystem: Das Land ist in zwölf Distrikte und den Regierungssitz, das "Kapitol" unterteilt.
Im Kapitol leben die Menschen wie im biblischen Land Kanaan, und genießen enormen Wohlstand, doch in den äußeren Distrikten kämpfen die Menschen ums Überleben. Seinen Distrikt zu verlassen ist strengstens untersagt. Einmal im Jahr kommt es dann zum modernen Gladiatorenkampf: Zwei Teilnehmer aus jedem Distrikt, einer männlich, einer weiblich, werden ausgelost, um im Kapitol in einer Arena als Tribute bei den sogenannten Hungerspielen teilzunehmen. Darin müssen dann alle 24 vor einem TV-Livepublikum auf Leben und Tod kämpfen, bis nur eine Person übrigbleibt. Mediales Opium fürs Volk. Besonders perfide: Die Tribute sind alle zwischen 12 und 18 Jahren alt.
Dass Suzanne Collins „Die Tribute von Panem“ als Rom-Allegorie gemeint hat, ist nicht allzu versteckt. Wer es nicht gleich versteht, stolpert spätestens im Kapitol über verschiedene Charaktere, die kaum zufällig Vornamen wie Seneca, Claudius oder Caesar tragen. Der größte Wink mit dem Zaunpfahl ist aber der Name des fiktiven Zukunftsstaates selbst: Panem. Schließlich ist „Brot und Spiele“ die Übersetzung des lateinischen Ausdrucks „panem et circenses“.
Die Idee, Menschen in einer Fernsehsendung tödlich aufeinander losgehen zu lassen, mag nicht neu sein. Schon der Roman „Menschenjagd“ von Stephen King nimmt dieses Thema in den Fokus, genau wie die Verfilmung „The Running Man“ mit Arnold Schwarzenegger. Der ultrabrutale japanische Horrorschocker „Battle Royale“ zeigte zudem im Jahr 2000 bereits Grundschulkinder, die sich blutig gegenseitig massakrieren. Doch Collins traf einen Nerv: Als ihr erster Roman im September 2008 erschien, saß die Enttäuschung über die Lügen der US-Regierung bezüglich des dritten Golfkriegs im Irak noch tief. Dass eine Regierung junge Menschen medienwirksam opfern könnte, wirkte auf grausige Art gegenwärtig.
Dem Erfolg geschuldet wurde Hollywood auf die Panem-Welt aufmerksam. Das finanziell lukrative „Harry Potter“-Franchise neigte sich seinem natürlichen Ende entgegen, mit der Vampir-Romanze „Twilight“ war gerade ein neuer Teen-Hit auf der großen Leinwand geboren. Man sucht einen Nachfolger und fand ihn in Collins Büchern. „Die Tribute von Panem“ fürs Kino zu adaptieren war jedoch eine ungemein schwere Aufgabe – steht im Zentrum doch vor allem ein Akt der Gewalt, ein Morden von Jugendlichen an Gleichaltrigen, welches bei zu expliziter Darstellung die wichtige Altersfreigabe für junge Erwachsene gefährden könnte.
Wenn in der Kinoversion von „Die Tribute von Panem – The Hunger Games“ das blutige Spiel also losgeht, löst der gefeierte Filmemacher Gary Ross diese Aufgabe so, dass er nie zu lange auf einzelne Brutalitäten draufhält, sondern vor allem die Ohnmacht des Szenarios porträtiert. Als erstmals Kinder Kinder töten, werden Impressionen der Taten schnell aneinandergeschnitten, gerade lang genug, um mitzubekommen, was vor sich geht. Die Handkamera wackelt hektisch, statt ausgefeilter Musik hört man nur wenige langgezogene, delirierende Töne. Ross setzt auf Desorientierung. Es bleiben Eindrücke von Gewalt, an ihnen weiden kann man sich jedoch kaum.
In seiner Adaption gelingen ihm immer wieder unerwartete Momente von gespenstischer Intensität. Wenn für die Auslosung der Tribute aus Distrikt 12 zu Beginn die Jugendlichen auf einem grauen Marktplatz in Reih und Glied gestellt werden, evoziert der Setdesigner Philip Messina bewusst Assoziationen mit Konzentrationslagern. Ross treibt dies auf die Spitze, als er die Selektoren von Panem einen Indoktrinationsclip abspielen lässt, der in vielen Einstellungen ganz direkt die Nazi-Propagandafilme „Triumph des Willens“ und „Olympia“ zitiert, inszeniert von Leni Riefenstahl, beauftragt von Joseph Goebbels.
Der Schwere dieser Themen wird die „Panem“-Verfilmung allerdings zu selten gerecht. Sobald es für die beiden Tribute aus dem Elendsdistrikt ins Kapitol geht, ergötzt sich die Kamera doch zu sehr an den farbenprächtigen Kostümen und knallig bunten Interieurs, die karge NS-Ästhetik weicht einer neoklassizistischen Überwältigungsoptik. Eine inhaltliche Vertiefung jener gesellschaftlich-politisch Strukturen, aus denen die Hungerspiele als Konzept entwachsen sind, bleibt Ross schuldig. Stattdessen bietet er dem potenziell anvisierten Zielpublikum junger Frauen im Teenageralter eine grotesk überdrehte Welt, die mehr mit einem Kostümball als mit einer Dystopie gemein hat.
Genauso verliert sich auch die Geschichte mit zunehmender Laufzeit von immerhin insgesamt 142 Minuten verstärkt in Wiederholungen. Beeindruckt die erste Gewalteskalation zu Beginn der Hungerspiele noch in ihrer Direktheit, funktionieren spätere Todesfälle meist über plump-spekulative Bilder, und kurzzeitige Allianzen der Tribute werden vom Drehbuch eher behauptet als emotional vernünftig begründet und herausgearbeitet.
Insbesondere der reißerisch explizit gefilmte Tod der jüngsten Hungerspiel-Teilnehmerin gerät ärgerlich, bedient er sich doch genau der manipulativen und gefühlsheischenden Methoden, die eingangs noch gekonnt vermieden wurden. Fraglich ist auch, ob die bis zum einfältig konstruierten Actionfinale durchgezogene Handkamera-Optik wirklich bis zuletzt einen Zweck erfüllt oder Ross etwas unbeholfen dem damaligen Genrestil nacheifert, den die ursprünglichen Trendsetter „Die Bourne Verschwörung“ und „96 Hours“ um einiges überlegter einzusetzen wussten.
Es mag der Vorlage geschuldet sein, dass insbesondere die Protagonistin Katniss Everdeen, die sich freiwillig als Tribut meldet, als ihre jüngere Schwester für die Hungerspiele ausgelost wird, erstaunlich blass bleibt. Das liegt nicht an Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence, für die „Die Tribute von Panem“ der internationale Durchbruch bedeutete. Sie findet in ihren besten Momenten eine überzeugende Melange aus kalkulierter Stärke und panischen Überlebensinstinkten. Ihre Besetzung lag nahe, zeigte sie 2010 doch schon in der White-Trash-Milieustudie „Winter’s Bone“ ihre Affinität für Kämpfernaturen.
Doch Katniss ist als Figur nahe an einem Harry Potter, an einer vergleichsweise leeren Hülle, in die das jugendliche Publikum sich selbst projizieren soll, während die wahren Stars die skurrilen Nebenfiguren sind. Besonders heraus stechen Woody Harrelson als alkoholkranker Mentor, Stanley Tucci als grelle Karikatur eines Talkshow-Masters und Wes Bentley in der Rolle des Spielleiters, der hinter den TV-Kulissen bei der Übertragung der Hungerspiele buchstäblich Regie führt.
Große Namen wie Donald Sutherland, Elizabeth Banks und Lenny Kravitz treten zudem in kleineren Rollen auf, die erst in den Fortsetzungen relevant werden. Der Fokus liegt ganz auf den jugendlichen Protagonisten – und aus der Beziehung zwischen der mit Pfeil und Bogen erprobten Jägerin Katniss und dem schüchternen Bäckersjungen Peeta (stark gespielt von Josh Hutcherson) schöpft „Die Tribute von Panem“ eine überraschende inhaltliche Energie, unterwandert der Film doch mehrfach die Erwartungen des Publikums.
So ist die Gegenüberstellung einer emotional abgehärteten Teenie-Frau gegenüber einem ängstlichen Teenie-Jungen bereits ein Bruch mit Geschlechterkonventionen. Spannend wird es aber vor allem, wenn es zur unvermeidbaren romantischen Annäherung zwischen den beiden kommt. Natürlich kann kein Buch für junge Erwachsene ohne Liebeleien. In „Die Tribute von Panem“ ist die Romanze aber nur vorgespielt: In der Welt von Panem buhlen die Tribute um die Zuneigung wohlhabender Sponsoren, die einen in der Kampfarena mit Medizin und Ausrüstung versorgen.
Das Fernsehen verlangt eine gute Show, und so spielen Katniss und Peeta die Affäre mit, inszenieren sich als tragisches Liebespaar. Nicht von ungefähr zitiert der herausragende Soundtrack des Komponisten James Newton Howard mehrfach das musikalische Leitmotiv einer „Romeo und Julia“-Verfilmung von 1968. Wie es wirklich um die Gefühle der beiden Helden steht, bleibt aber ungewiss. Die Mechanismen von Young-Adult-Geschichten werden so kongenial als anbiedernde Mittel entlarvt.
Die Mischung von Oberflächlichkeit und Sozialkritik der dystopischen Panem-Welt mag erwachsene Zuschauer irritieren – und nimmt man den Schockeffekt um sich gegenseitig meuchelnde Minderjährige weg, bleibt eine zugegeben eher dünne Rom-Parabel, die zwar kurzweilig unterhält, die interessantesten Implikationen ihrer Welt aber kaum thematisiert. Erst die Fortsetzungen sollten mehr über Panem abseits der Hungerspiele enthüllen und so die nötige Tiefe nachliefern, die dem Erstling konzeptionell noch zu oft abgeht.
Seinen klügsten und hintergründigsten Moment hat der erste „Die Tribute von Panem“-Film dafür schon in den anfänglichen zehn Minuten. Da sitzt Katniss mit einem Freund aus ihrem Distrikt zusammen, der sich fragt: „Was wäre, wenn keiner mehr zusehen würde?“. Dann hätten sie keine Spiele mehr, mutmaßt er. Ginge es also auch ohne? Ausgerechnet Hauptfigur Katniss aber, schon bald ein Spielball dieses Systems, glaubt nicht daran, und entgegnet zynisch: „Das wird nie passieren.“
Historiker vermuten den römischen Satiredichter Juvenal hinter dem bekannten Ausdruck „Brot und Spiele“. Er soll in der Zeit nach dem Machtantritt Kaiser Augustus mit diesen Worten das Desinteresse der Bevölkerung Roms an der Politik ihres Imperiums kritisiert haben. Solange das Volk ausreichend zu essen hatte – für die (oft kostenlose) Getreideversorgung sorgte der Senat stets – und durch unterhaltsame Zirkus- und Gladiatorenspiele oder spannende Wagenrennen begeistert wurde, ließ es die Machthaber schalten und walten. In der Welt aus „Die Tribute von Panem“ läuft dies ähnlich ab. Die Romantrilogie der US-amerikanischen Autorin Suzanne Collins zeigt einen dystopisch-futuristischen Staat mit strengem Klassensystem: Das Land ist in zwölf Distrikte und den Regierungssitz, das "Kapitol" unterteilt.
Im Kapitol leben die Menschen wie im biblischen Land Kanaan, und genießen enormen Wohlstand, doch in den äußeren Distrikten kämpfen die Menschen ums Überleben. Seinen Distrikt zu verlassen ist strengstens untersagt. Einmal im Jahr kommt es dann zum modernen Gladiatorenkampf: Zwei Teilnehmer aus jedem Distrikt, einer männlich, einer weiblich, werden ausgelost, um im Kapitol in einer Arena als Tribute bei den sogenannten Hungerspielen teilzunehmen. Darin müssen dann alle 24 vor einem TV-Livepublikum auf Leben und Tod kämpfen, bis nur eine Person übrigbleibt. Mediales Opium fürs Volk. Besonders perfide: Die Tribute sind alle zwischen 12 und 18 Jahren alt.
Dass Suzanne Collins „Die Tribute von Panem“ als Rom-Allegorie gemeint hat, ist nicht allzu versteckt. Wer es nicht gleich versteht, stolpert spätestens im Kapitol über verschiedene Charaktere, die kaum zufällig Vornamen wie Seneca, Claudius oder Caesar tragen. Der größte Wink mit dem Zaunpfahl ist aber der Name des fiktiven Zukunftsstaates selbst: Panem. Schließlich ist „Brot und Spiele“ die Übersetzung des lateinischen Ausdrucks „panem et circenses“.
Die Idee, Menschen in einer Fernsehsendung tödlich aufeinander losgehen zu lassen, mag nicht neu sein. Schon der Roman „Menschenjagd“ von Stephen King nimmt dieses Thema in den Fokus, genau wie die Verfilmung „The Running Man“ mit Arnold Schwarzenegger. Der ultrabrutale japanische Horrorschocker „Battle Royale“ zeigte zudem im Jahr 2000 bereits Grundschulkinder, die sich blutig gegenseitig massakrieren. Doch Collins traf einen Nerv: Als ihr erster Roman im September 2008 erschien, saß die Enttäuschung über die Lügen der US-Regierung bezüglich des dritten Golfkriegs im Irak noch tief. Dass eine Regierung junge Menschen medienwirksam opfern könnte, wirkte auf grausige Art gegenwärtig.
Dem Erfolg geschuldet wurde Hollywood auf die Panem-Welt aufmerksam. Das finanziell lukrative „Harry Potter“-Franchise neigte sich seinem natürlichen Ende entgegen, mit der Vampir-Romanze „Twilight“ war gerade ein neuer Teen-Hit auf der großen Leinwand geboren. Man sucht einen Nachfolger und fand ihn in Collins Büchern. „Die Tribute von Panem“ fürs Kino zu adaptieren war jedoch eine ungemein schwere Aufgabe – steht im Zentrum doch vor allem ein Akt der Gewalt, ein Morden von Jugendlichen an Gleichaltrigen, welches bei zu expliziter Darstellung die wichtige Altersfreigabe für junge Erwachsene gefährden könnte.
Wenn in der Kinoversion von „Die Tribute von Panem – The Hunger Games“ das blutige Spiel also losgeht, löst der gefeierte Filmemacher Gary Ross diese Aufgabe so, dass er nie zu lange auf einzelne Brutalitäten draufhält, sondern vor allem die Ohnmacht des Szenarios porträtiert. Als erstmals Kinder Kinder töten, werden Impressionen der Taten schnell aneinandergeschnitten, gerade lang genug, um mitzubekommen, was vor sich geht. Die Handkamera wackelt hektisch, statt ausgefeilter Musik hört man nur wenige langgezogene, delirierende Töne. Ross setzt auf Desorientierung. Es bleiben Eindrücke von Gewalt, an ihnen weiden kann man sich jedoch kaum.
In seiner Adaption gelingen ihm immer wieder unerwartete Momente von gespenstischer Intensität. Wenn für die Auslosung der Tribute aus Distrikt 12 zu Beginn die Jugendlichen auf einem grauen Marktplatz in Reih und Glied gestellt werden, evoziert der Setdesigner Philip Messina bewusst Assoziationen mit Konzentrationslagern. Ross treibt dies auf die Spitze, als er die Selektoren von Panem einen Indoktrinationsclip abspielen lässt, der in vielen Einstellungen ganz direkt die Nazi-Propagandafilme „Triumph des Willens“ und „Olympia“ zitiert, inszeniert von Leni Riefenstahl, beauftragt von Joseph Goebbels.
Der Schwere dieser Themen wird die „Panem“-Verfilmung allerdings zu selten gerecht. Sobald es für die beiden Tribute aus dem Elendsdistrikt ins Kapitol geht, ergötzt sich die Kamera doch zu sehr an den farbenprächtigen Kostümen und knallig bunten Interieurs, die karge NS-Ästhetik weicht einer neoklassizistischen Überwältigungsoptik. Eine inhaltliche Vertiefung jener gesellschaftlich-politisch Strukturen, aus denen die Hungerspiele als Konzept entwachsen sind, bleibt Ross schuldig. Stattdessen bietet er dem potenziell anvisierten Zielpublikum junger Frauen im Teenageralter eine grotesk überdrehte Welt, die mehr mit einem Kostümball als mit einer Dystopie gemein hat.
Genauso verliert sich auch die Geschichte mit zunehmender Laufzeit von immerhin insgesamt 142 Minuten verstärkt in Wiederholungen. Beeindruckt die erste Gewalteskalation zu Beginn der Hungerspiele noch in ihrer Direktheit, funktionieren spätere Todesfälle meist über plump-spekulative Bilder, und kurzzeitige Allianzen der Tribute werden vom Drehbuch eher behauptet als emotional vernünftig begründet und herausgearbeitet.
Insbesondere der reißerisch explizit gefilmte Tod der jüngsten Hungerspiel-Teilnehmerin gerät ärgerlich, bedient er sich doch genau der manipulativen und gefühlsheischenden Methoden, die eingangs noch gekonnt vermieden wurden. Fraglich ist auch, ob die bis zum einfältig konstruierten Actionfinale durchgezogene Handkamera-Optik wirklich bis zuletzt einen Zweck erfüllt oder Ross etwas unbeholfen dem damaligen Genrestil nacheifert, den die ursprünglichen Trendsetter „Die Bourne Verschwörung“ und „96 Hours“ um einiges überlegter einzusetzen wussten.
Es mag der Vorlage geschuldet sein, dass insbesondere die Protagonistin Katniss Everdeen, die sich freiwillig als Tribut meldet, als ihre jüngere Schwester für die Hungerspiele ausgelost wird, erstaunlich blass bleibt. Das liegt nicht an Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence, für die „Die Tribute von Panem“ der internationale Durchbruch bedeutete. Sie findet in ihren besten Momenten eine überzeugende Melange aus kalkulierter Stärke und panischen Überlebensinstinkten. Ihre Besetzung lag nahe, zeigte sie 2010 doch schon in der White-Trash-Milieustudie „Winter’s Bone“ ihre Affinität für Kämpfernaturen.
Doch Katniss ist als Figur nahe an einem Harry Potter, an einer vergleichsweise leeren Hülle, in die das jugendliche Publikum sich selbst projizieren soll, während die wahren Stars die skurrilen Nebenfiguren sind. Besonders heraus stechen Woody Harrelson als alkoholkranker Mentor, Stanley Tucci als grelle Karikatur eines Talkshow-Masters und Wes Bentley in der Rolle des Spielleiters, der hinter den TV-Kulissen bei der Übertragung der Hungerspiele buchstäblich Regie führt.
Große Namen wie Donald Sutherland, Elizabeth Banks und Lenny Kravitz treten zudem in kleineren Rollen auf, die erst in den Fortsetzungen relevant werden. Der Fokus liegt ganz auf den jugendlichen Protagonisten – und aus der Beziehung zwischen der mit Pfeil und Bogen erprobten Jägerin Katniss und dem schüchternen Bäckersjungen Peeta (stark gespielt von Josh Hutcherson) schöpft „Die Tribute von Panem“ eine überraschende inhaltliche Energie, unterwandert der Film doch mehrfach die Erwartungen des Publikums.
So ist die Gegenüberstellung einer emotional abgehärteten Teenie-Frau gegenüber einem ängstlichen Teenie-Jungen bereits ein Bruch mit Geschlechterkonventionen. Spannend wird es aber vor allem, wenn es zur unvermeidbaren romantischen Annäherung zwischen den beiden kommt. Natürlich kann kein Buch für junge Erwachsene ohne Liebeleien. In „Die Tribute von Panem“ ist die Romanze aber nur vorgespielt: In der Welt von Panem buhlen die Tribute um die Zuneigung wohlhabender Sponsoren, die einen in der Kampfarena mit Medizin und Ausrüstung versorgen.
Das Fernsehen verlangt eine gute Show, und so spielen Katniss und Peeta die Affäre mit, inszenieren sich als tragisches Liebespaar. Nicht von ungefähr zitiert der herausragende Soundtrack des Komponisten James Newton Howard mehrfach das musikalische Leitmotiv einer „Romeo und Julia“-Verfilmung von 1968. Wie es wirklich um die Gefühle der beiden Helden steht, bleibt aber ungewiss. Die Mechanismen von Young-Adult-Geschichten werden so kongenial als anbiedernde Mittel entlarvt.
Die Mischung von Oberflächlichkeit und Sozialkritik der dystopischen Panem-Welt mag erwachsene Zuschauer irritieren – und nimmt man den Schockeffekt um sich gegenseitig meuchelnde Minderjährige weg, bleibt eine zugegeben eher dünne Rom-Parabel, die zwar kurzweilig unterhält, die interessantesten Implikationen ihrer Welt aber kaum thematisiert. Erst die Fortsetzungen sollten mehr über Panem abseits der Hungerspiele enthüllen und so die nötige Tiefe nachliefern, die dem Erstling konzeptionell noch zu oft abgeht.
Seinen klügsten und hintergründigsten Moment hat der erste „Die Tribute von Panem“-Film dafür schon in den anfänglichen zehn Minuten. Da sitzt Katniss mit einem Freund aus ihrem Distrikt zusammen, der sich fragt: „Was wäre, wenn keiner mehr zusehen würde?“. Dann hätten sie keine Spiele mehr, mutmaßt er. Ginge es also auch ohne? Ausgerechnet Hauptfigur Katniss aber, schon bald ein Spielball dieses Systems, glaubt nicht daran, und entgegnet zynisch: „Das wird nie passieren.“
Pretty in Plastic
Barbie
Als es hieß, dass ausgerechnet Greta Gerwig die Regisseurin für den ersten großen "Barbie"-Kinofilm werden wird, durfte man gespannt sein. Gerwig hat sich mit ihren ersten zwei Filmen einen Namen gemacht: Sowohl ihr offenherziges Teenie-Drama "Lady Bird" als auch ihre hintersinnige Literaturadaption "Little Women" waren ungewöhnliches, kluges Kino. Und tatsächlich beginnt ihr "Barbie"-Projekt auf eine Art und Weise, wie es nur Greta Gerwig einfallen kann – mit einer Parodie auf die Anfangsszene des legendären Sci-Fi-Kunstfilmklassikers "2001: Odyssee im Weltraum".
"2001" eröffnete mit einer Horde von Menschenaffen in der frühzeitlichen Savanne, die durch die Begegnung mit einem schwarzen, rechteckigen Monolithen ein erweitertes Bewusstsein erlangen – quasi der erste Schritt zur Menschwerdung. In "Barbie" sitzen zu Beginn kleine Mädchen in der Wüste und spielen mit Babypuppen. Helen Mirren erklärt als Stimme aus dem Off, dass in den 50ern Mädchenspielzeug nur dazu da war, die Kinder früh aufs Muttersein vorzubereiten. Dann erscheint ihnen kein Monolith, sondern eine riesige Margot Robbie im originalen Barbie-Outfit. Begeistert zerdeppern die Kids ihre Babypuppen auf den harten Steinen und sehen zu Barbie auf. Ein schräger, surrealer, grandioser Einstieg – doch Gerwig kann diesen Einfallsreichtum nicht lange aufrechterhalten.
Dabei ist "Barbie" unter einem Gesichtspunkt ein absoluter Kracher: das Setdesign sieht fantastisch aus. Gerwig, Produktionsdesignerin Sarah Greenwood und Kostümdesignerin Jacqueline Durran haben mit der pinken Fiebertraumwelt namens Barbieland ein Meisterstück abgeliefert. In dieser rosafarbenen Idylle leben alle Barbies (neben Margot Robbie noch u.a. Dua Lipa, Alexandra Shipp, Emma Mackey) in Traumhäusern ohne Wänden, sodass sie sich jeden Morgen ein beherztes "Hallo, Barbie!" zurufen können. Es finden sich quasi alle Barbie-Puppen, die Spielzeughersteller Mattel je auf den Markt brachte: Bauarbeiter-Barbie, Flugzeugpiloten-Barbie, Physiker-Barbie, Astronauten-Barbie und Oberster-Gerichtshof-Barbie, sie alle wuseln durch die aufwendig gestalteten Sets.
Barbieland ist eine weibliche Utopie in pastellfarbenem Plastik – und die erste halbe Stunde, die als Einführung in diese Welt dient, ein unerwarteter greller, alberner Spaß. Famos gelingt es Margot Robbie, eine Puppe zum Leben zu erwecken. Sie spielt – so nennt der Film sie – die "stereotypische Barbie". Jeden Morgen wacht sie unter ihrer glitzernden rosa Bettdecke auf, zieht sich ein Outfit aus ihrem riesigen Kleiderschrank an, und frühstückt – allerdings nicht wirklich, schließlich kann eine Barbie-Puppe ja nicht tatsächlich essen oder trinken. Wenn sie am Strand aus ihren High-Heels schlüpft, bleiben ihre Fersen auch barfuß in der Luft hängen – denn Puppen-Füße sind fest geformt. Bei all dem hat sie das breiteste Lächeln im Gesicht, dass sich nur je jemand vorstellen könnte. Keine Frage: Margot Robbie ist die perfekte Barbie.
Jede Barbie hat auch einen Ken. Doch die Kens (u.a. Kingsley Ben-Adir, John Cena und Simu Liu) haben nicht viel zu sagen. Dies gilt auch für den Freund der stereotypischen Barbie, "Beach Ken" (Ryan Gosling) – seine ganze Existenz dreht sich einzig und allein um Barbie. Gosling ist das schauspielerische Highlight des Films. Wann immer Robbie ihm in die Augen sieht, strahlt er sie mit so viel staunender Bewunderung an, und ist zugleich tief geknickt, wenn er jeden Abend von Barbie versetzt wird ("Jeder Abend ist Girls Night"), dass es zugleich rührend und brüllend komisch ist. Bei aller Albernheit: Greta Gerwig und ihrer Besetzung gelingt es fantastisch, filmisch nachzuahmen, wie kleine Mädchen mit "Barbie"-Puppen spielen. Grandiose pinke Bilder, herzlich verrückte Dialoge und sogar opulente Tanzszenen, die einen Gene Kelly beeindrucken würden, sorgen in Barbieworld für viele Lacher.
Leider aber bleibt "Barbie" nicht in Barbieland. Robbies Barbie wacht nämlich eines Morgens auf und stellt fest, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie muss ständig an den Tod denken, ihre perfekt gewölbten Füße sind plötzlich platt und an ihren Beinen hat sie Cellulite. Die "komische Barbie" (Kate McKinnon) verrät ihr, dass sie diese Probleme nur in der echten Welt lösen kann – und so macht sie sich, unfreiwillig von Goslings Ken begleitet, in die Realität auf. Dort erlebt sie einen Kulturschock: Männer glotzen ihr nach, betrachten sie nur als Objekt und beherrschen im Grunde die Welt, selbst im Vorstand ihres Herstellers Mattel sind der CEO (Will Ferrell) und der Rest des Vorstands nur alt und männlich. Während sie durch eine Mutter (America Ferrera) und deren Tochter (Ariana Greenblatt) ins wahre Leben und die vielen Probleme echter Frauen eingeführt wird, hat Ken das gegenteilige Erlebnis. Er erfährt vom Patriarchat, in dem Männer das Sagen haben und den Ton angeben – und bricht allein zurück nach Barbieland auf, um dort mit den anderen Kens die Macht an sich zu reißen.
Jetzt muss Barbie mit etwas Hilfe vom Mama-Tochter-Gespann also Barbieland vor dem Patriarchat retten – und ab hier fällt es dann schwer zu glauben, dass dieser konfuse Mischmasch aus "Verwünscht", "Pleasantville" und Kasperle-Theater wirklich von Greta Gerwig und ihrem Ehemann Noah Baumbach ("Marriage Story") geschrieben wurde. Von deren eigentlich subtilen Art, feministische und sozialkritische Themen zu verhandeln, ist nichts zu erkennen, wenn "Barbie" auf plakativste Weise vor sich her predigt. Negativ-Höhepunkt ist ein Monolog von America Ferrera, in dem sie in abgedroschenen Plattitüden von unfairen gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen redet – und die Barbies damit auf den Kampf gegen die Kens anstimmt. Aus "Barbie" eine Symbolfigur für weibliche Selbstermächtigung zu machen, ist im Kern eine gute Idee, doch dann sollte vom Skript mehr kommen als eine Aneinanderreihung von seichten Motivationsreden, die so eher bei Instagram-Influencern zu erwarten wären.
Für eine ernstzunehmende Satire zu aktuellen Gender-Diskussionen bleibt "Barbie" schlicht zu arg an der Oberfläche, hat kaum bis keinerlei Biss und findet auf seine angesprochenen Probleme immer nur banale Lösungen, die zudem mit überzogenem Slapstick präsentiert werden. Den Zeigefinger erhebt Gerwig mit diesem Film in große Höhen und lässt ihre Figuren viele Phrasen dreschen – aber wirklich etwas zu sagen hat sie leider nicht. Im hyperaktiven Finale, in dem der Geschlechterkampf dann eine nochmal besonders absurde und surreale "tanzende Wendung" nimmt, bleibt gänzlich unklar, worauf das alles hinauslaufen soll. Ist das als krudes Empowering-Statement gemeint, selbstironische Persiflage auf den eigenen Film oder nur ein alberner Ulk, über den man gar nicht allzu viel nachdenken sollte?
Eigentlich hat Greta Gerwig letztlich hinter der feministischen Fassade einen lupenreinen Werbefilm produziert. Die vielen kleinen Spitzen, die insbesondere gegen Mattel ausgeteilt werden, sind da Teil des Konzepts: Man gibt sich selbstkritisch und aufgeklärt, ohne dabei über Gesten hinauszukommen. Gleichzeitig macht Gerwig genau das, was sie Mattel "vorwirft": Im Film wird beispielsweise mehrfach darüber gewitzelt, dass Mattel einst eine schwangere Barbie namens Midge (im Film: Emerald Fennell) verkaufte, diese jedoch schnell wieder aus dem Sortiment nahm, weil eine schwangere Puppe aus Sicht einiger Eltern als "bedenklich für Kinder" bezeichnet wurde. Der Vorwurf ist klar: Mattel hatte oft genug nicht den Schneid, Barbie modern und divers erscheinen zu lassen. Nur: Hat Gerwig nicht gleichzeitig selbst einen Film gedreht, in dem mit Margot Robbie die klassische weiße, blonde "stereotypische" Barbie im Mittelpunkt steht und die vielen anderen diverser besetzten Barbies nur Nebenrollen haben? Eine Barbie etwa, die im Rollstuhl sitzt, ist nur in zwei Szenen ganz kurz zu sehen, bekommt aber gar keinen eigenen Charakter.
So ist der progressive, anarchische Wind, der durch "Barbie" wehen soll, die meiste Zeit leider nur ein laues Lüftchen. Am Ende ist im Barbieland natürlich alles wieder pink, grell und schön, alle haben sich wieder lieb und die anfangs noch Barbie-kritische Teenie-Tochter, die der stereotypischen Barbie sogar Faschismus vorgeworfen hat, hat ihre Liebe zu den Spielzeugen wieder entdeckt. Schade. Vom aufbegehrenden Geist der kleinen Mädchen aus der Anfangsszene, die ihre altbackenen Püppchen noch mit Herzenslust an Steinen zerschmetterten, ist nach zwei Stunden nicht viel übriggeblieben.
Als es hieß, dass ausgerechnet Greta Gerwig die Regisseurin für den ersten großen "Barbie"-Kinofilm werden wird, durfte man gespannt sein. Gerwig hat sich mit ihren ersten zwei Filmen einen Namen gemacht: Sowohl ihr offenherziges Teenie-Drama "Lady Bird" als auch ihre hintersinnige Literaturadaption "Little Women" waren ungewöhnliches, kluges Kino. Und tatsächlich beginnt ihr "Barbie"-Projekt auf eine Art und Weise, wie es nur Greta Gerwig einfallen kann – mit einer Parodie auf die Anfangsszene des legendären Sci-Fi-Kunstfilmklassikers "2001: Odyssee im Weltraum".
"2001" eröffnete mit einer Horde von Menschenaffen in der frühzeitlichen Savanne, die durch die Begegnung mit einem schwarzen, rechteckigen Monolithen ein erweitertes Bewusstsein erlangen – quasi der erste Schritt zur Menschwerdung. In "Barbie" sitzen zu Beginn kleine Mädchen in der Wüste und spielen mit Babypuppen. Helen Mirren erklärt als Stimme aus dem Off, dass in den 50ern Mädchenspielzeug nur dazu da war, die Kinder früh aufs Muttersein vorzubereiten. Dann erscheint ihnen kein Monolith, sondern eine riesige Margot Robbie im originalen Barbie-Outfit. Begeistert zerdeppern die Kids ihre Babypuppen auf den harten Steinen und sehen zu Barbie auf. Ein schräger, surrealer, grandioser Einstieg – doch Gerwig kann diesen Einfallsreichtum nicht lange aufrechterhalten.
Dabei ist "Barbie" unter einem Gesichtspunkt ein absoluter Kracher: das Setdesign sieht fantastisch aus. Gerwig, Produktionsdesignerin Sarah Greenwood und Kostümdesignerin Jacqueline Durran haben mit der pinken Fiebertraumwelt namens Barbieland ein Meisterstück abgeliefert. In dieser rosafarbenen Idylle leben alle Barbies (neben Margot Robbie noch u.a. Dua Lipa, Alexandra Shipp, Emma Mackey) in Traumhäusern ohne Wänden, sodass sie sich jeden Morgen ein beherztes "Hallo, Barbie!" zurufen können. Es finden sich quasi alle Barbie-Puppen, die Spielzeughersteller Mattel je auf den Markt brachte: Bauarbeiter-Barbie, Flugzeugpiloten-Barbie, Physiker-Barbie, Astronauten-Barbie und Oberster-Gerichtshof-Barbie, sie alle wuseln durch die aufwendig gestalteten Sets.
Barbieland ist eine weibliche Utopie in pastellfarbenem Plastik – und die erste halbe Stunde, die als Einführung in diese Welt dient, ein unerwarteter greller, alberner Spaß. Famos gelingt es Margot Robbie, eine Puppe zum Leben zu erwecken. Sie spielt – so nennt der Film sie – die "stereotypische Barbie". Jeden Morgen wacht sie unter ihrer glitzernden rosa Bettdecke auf, zieht sich ein Outfit aus ihrem riesigen Kleiderschrank an, und frühstückt – allerdings nicht wirklich, schließlich kann eine Barbie-Puppe ja nicht tatsächlich essen oder trinken. Wenn sie am Strand aus ihren High-Heels schlüpft, bleiben ihre Fersen auch barfuß in der Luft hängen – denn Puppen-Füße sind fest geformt. Bei all dem hat sie das breiteste Lächeln im Gesicht, dass sich nur je jemand vorstellen könnte. Keine Frage: Margot Robbie ist die perfekte Barbie.
Jede Barbie hat auch einen Ken. Doch die Kens (u.a. Kingsley Ben-Adir, John Cena und Simu Liu) haben nicht viel zu sagen. Dies gilt auch für den Freund der stereotypischen Barbie, "Beach Ken" (Ryan Gosling) – seine ganze Existenz dreht sich einzig und allein um Barbie. Gosling ist das schauspielerische Highlight des Films. Wann immer Robbie ihm in die Augen sieht, strahlt er sie mit so viel staunender Bewunderung an, und ist zugleich tief geknickt, wenn er jeden Abend von Barbie versetzt wird ("Jeder Abend ist Girls Night"), dass es zugleich rührend und brüllend komisch ist. Bei aller Albernheit: Greta Gerwig und ihrer Besetzung gelingt es fantastisch, filmisch nachzuahmen, wie kleine Mädchen mit "Barbie"-Puppen spielen. Grandiose pinke Bilder, herzlich verrückte Dialoge und sogar opulente Tanzszenen, die einen Gene Kelly beeindrucken würden, sorgen in Barbieworld für viele Lacher.
Leider aber bleibt "Barbie" nicht in Barbieland. Robbies Barbie wacht nämlich eines Morgens auf und stellt fest, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie muss ständig an den Tod denken, ihre perfekt gewölbten Füße sind plötzlich platt und an ihren Beinen hat sie Cellulite. Die "komische Barbie" (Kate McKinnon) verrät ihr, dass sie diese Probleme nur in der echten Welt lösen kann – und so macht sie sich, unfreiwillig von Goslings Ken begleitet, in die Realität auf. Dort erlebt sie einen Kulturschock: Männer glotzen ihr nach, betrachten sie nur als Objekt und beherrschen im Grunde die Welt, selbst im Vorstand ihres Herstellers Mattel sind der CEO (Will Ferrell) und der Rest des Vorstands nur alt und männlich. Während sie durch eine Mutter (America Ferrera) und deren Tochter (Ariana Greenblatt) ins wahre Leben und die vielen Probleme echter Frauen eingeführt wird, hat Ken das gegenteilige Erlebnis. Er erfährt vom Patriarchat, in dem Männer das Sagen haben und den Ton angeben – und bricht allein zurück nach Barbieland auf, um dort mit den anderen Kens die Macht an sich zu reißen.
Jetzt muss Barbie mit etwas Hilfe vom Mama-Tochter-Gespann also Barbieland vor dem Patriarchat retten – und ab hier fällt es dann schwer zu glauben, dass dieser konfuse Mischmasch aus "Verwünscht", "Pleasantville" und Kasperle-Theater wirklich von Greta Gerwig und ihrem Ehemann Noah Baumbach ("Marriage Story") geschrieben wurde. Von deren eigentlich subtilen Art, feministische und sozialkritische Themen zu verhandeln, ist nichts zu erkennen, wenn "Barbie" auf plakativste Weise vor sich her predigt. Negativ-Höhepunkt ist ein Monolog von America Ferrera, in dem sie in abgedroschenen Plattitüden von unfairen gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen redet – und die Barbies damit auf den Kampf gegen die Kens anstimmt. Aus "Barbie" eine Symbolfigur für weibliche Selbstermächtigung zu machen, ist im Kern eine gute Idee, doch dann sollte vom Skript mehr kommen als eine Aneinanderreihung von seichten Motivationsreden, die so eher bei Instagram-Influencern zu erwarten wären.
Für eine ernstzunehmende Satire zu aktuellen Gender-Diskussionen bleibt "Barbie" schlicht zu arg an der Oberfläche, hat kaum bis keinerlei Biss und findet auf seine angesprochenen Probleme immer nur banale Lösungen, die zudem mit überzogenem Slapstick präsentiert werden. Den Zeigefinger erhebt Gerwig mit diesem Film in große Höhen und lässt ihre Figuren viele Phrasen dreschen – aber wirklich etwas zu sagen hat sie leider nicht. Im hyperaktiven Finale, in dem der Geschlechterkampf dann eine nochmal besonders absurde und surreale "tanzende Wendung" nimmt, bleibt gänzlich unklar, worauf das alles hinauslaufen soll. Ist das als krudes Empowering-Statement gemeint, selbstironische Persiflage auf den eigenen Film oder nur ein alberner Ulk, über den man gar nicht allzu viel nachdenken sollte?
Eigentlich hat Greta Gerwig letztlich hinter der feministischen Fassade einen lupenreinen Werbefilm produziert. Die vielen kleinen Spitzen, die insbesondere gegen Mattel ausgeteilt werden, sind da Teil des Konzepts: Man gibt sich selbstkritisch und aufgeklärt, ohne dabei über Gesten hinauszukommen. Gleichzeitig macht Gerwig genau das, was sie Mattel "vorwirft": Im Film wird beispielsweise mehrfach darüber gewitzelt, dass Mattel einst eine schwangere Barbie namens Midge (im Film: Emerald Fennell) verkaufte, diese jedoch schnell wieder aus dem Sortiment nahm, weil eine schwangere Puppe aus Sicht einiger Eltern als "bedenklich für Kinder" bezeichnet wurde. Der Vorwurf ist klar: Mattel hatte oft genug nicht den Schneid, Barbie modern und divers erscheinen zu lassen. Nur: Hat Gerwig nicht gleichzeitig selbst einen Film gedreht, in dem mit Margot Robbie die klassische weiße, blonde "stereotypische" Barbie im Mittelpunkt steht und die vielen anderen diverser besetzten Barbies nur Nebenrollen haben? Eine Barbie etwa, die im Rollstuhl sitzt, ist nur in zwei Szenen ganz kurz zu sehen, bekommt aber gar keinen eigenen Charakter.
So ist der progressive, anarchische Wind, der durch "Barbie" wehen soll, die meiste Zeit leider nur ein laues Lüftchen. Am Ende ist im Barbieland natürlich alles wieder pink, grell und schön, alle haben sich wieder lieb und die anfangs noch Barbie-kritische Teenie-Tochter, die der stereotypischen Barbie sogar Faschismus vorgeworfen hat, hat ihre Liebe zu den Spielzeugen wieder entdeckt. Schade. Vom aufbegehrenden Geist der kleinen Mädchen aus der Anfangsszene, die ihre altbackenen Püppchen noch mit Herzenslust an Steinen zerschmetterten, ist nach zwei Stunden nicht viel übriggeblieben.
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