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Schach, Jazz und Split-Screen

Beitrag von Wallnuss » 23.07.2021, 12:03

Thomas Crown ist nicht zu fassen

Beide setzen einen Läufer in die Mitte des Spielbretts. Jeder lässt abwechselnd einen Springer folgen. Sie sehen sich an, erlauben sich ein Schmunzeln. Dann aber: Herausfordernde Blicke. Er beginnt zu schwitzen, blick auf, sieht, wie sie mit ihren langen, lackierten Fingernägeln ihr Abendkleid ein wenig lockert. Wieder sucht er die Konzentration, vergeblich. Ratlos setzt er den König ein Feld nach rechts. Die Kamera zeigt die Gesichter in einer Großaufnahme. Dann nur die Augen. Dann ihre Lippen. Sie fasst an den Läufer, umspielt ihn mit den Fingern. Auf und ab. Während er sich auf seinen nächsten Zug konzentriert, schiebt sie unter dem Tisch ihr Bein vor, schmiegt ihr Knie an seinem Schoß. Schließlich sagt sie laut: „Schach.“ Er ist geschlagen, steht auf, scheint über das Spiel zu grübeln. Dann geht er zu ihr, hebt sie aus ihrem Stuhl, spricht: „Wir spielen etwas anderes.“ Ihre Lippen berühren sich, es folgen Küsse im Gegenlicht. Fünfundfünfzig Sekunden lang küssen sie sich, weiß der Filmexperte. Denn dieser Kuss war 1968 der bis dato längste Kuss in der Geschichte des Kinos – die Darsteller Steve McQueen und Faye Dunaway brauchten dafür acht Stunden, über drei Drehtage verteilt.

Famos ist, wie Regisseur Norman Jewison die Szene auflöst: Während sich die zwei Akteure ganz ineinander verlieren, ihre Küsse immer schneller, ihre Bewegungen wilder werden, verschwimmt die Szenerie in bunten Farben, bis auch McQueen und Dunaway in den Farben verschwinden, in einem psychedelischen Ornament, wie es damals parallel auf der Leinwand auch in „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick zu sehen war. Bei Kubrick symbolisierte der Rausch aus Licht und Kolorierung die Reise eines Astronauten über die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft hinaus, bei Jewison sind die verschmelzenden Farbtöne leichter zu begreifen: Sie simulieren den Orgasmus beim Liebesspiel. „In Filmen ist Stil der Inhalt“, definierte Jewison sein Credo, und mit der Kriminalkomödie „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte er dieses Prinzip zur obersten Maxime. Sein Klassiker, der unlängst als Prototyp eines ganzen Genres angesehen wird, ist aus moderner Sicht ganz als Zeitgeist-Wiedergabe zu verstehen. Er entführt in die Swinging Sixties, filmisch und modisch.

Für Letzteres reicht es, die Garderobe zu begutachten, mit der Faye Dunaway für den Film eingekleidet wurde. Erst ein Jahr zuvor war sie durch ihre Hauptrolle im Gangsterdrama „Bonnie und Clyde“ berühmt geworden, doch „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte sie zur Stilikone. Schick und vor allem sexy verkörpert sie eine Versicherungsdetektivin, die nach einem perfekt orchestrierten Banküberfall den Drahtzieher ermitteln soll. Ihr Verdacht führt sie zu Thomas Crown, einem angesehenen Millionär mit Gentleman-Attitüde. Und weil schon ihr erster Auftritt im Film an einem Flughafen, an dem sie den Kommissar der örtlichen Polizei von der ersten Sekunde an felsenfest im Griff hat, zeigt, wie selbstsicher und furchtlos diese brillante Ermittlerin sich durchzuschlagen weiß, konfrontiert sie Crown bei der ersten Gelegenheit mit ihrer Vermutung. Wie er darauf reagiert? Abstreiten tut er es nicht.

Norman Jewison hatte noch ein Jahr zuvor mit dem Rassismusdrama „In der Hitze der Nacht“ fünf Oscars gewonnen, u.a. in der Hauptkategorie als ‚Bester Film‘. Für sein nächstes Projekt engagierte er Alan Trustman, einen Quereinsteiger in der Filmwelt, um ein Drehbuch für ein Heist-Movie, einen Film mit einem Raubüberfall im Zentrum, zu schreiben, wie sie zu dieser Zeit besonders beliebt waren. Doch Trustmans Script unterscheidet sich stark von anderen Genre-Vertretern: Der große Banküberfall, der minutiös geplante und reibungslos durchgeführte Coup, ist an den Anfang gestellt. Fünf verschiedene Gauner werden von einem geheimnisvoll-unbekannten Auftraggeber instruiert, und begehen das perfekte Verbrechen, ohne sich vorher je begegnet zu sein.

Um das ideale Zusammenspiel der Kriminellen zu veranschaulichen, setzte Jewison auf die sogenannte Split-Screen-Technik. Soll heißen: Der Bildschirm teilt sich in verschiedene kastenförmige Segmente, in denen unterschiedliche Handlungen gezeigt werden. Die Virtuosität, mit der so eine der spannendsten Montage-Sequenzen des 60er-Jahre-Kinos erzeugt wurde, ist nahezu berauschend. Die Auftrennung der verschiedenen Aktionen auf Teileinheiten des Gesamtbildes entwickelt einen fulminanten Rhythmus, war ihrer Zeit voraus. Erst 2001 erlebte diese filmische Rhetorik ihre Renaissance, als sie durch die actionreiche TV-Serie „24“ zu neuer Berühmtheit kam.

Darauffolgend widmet sich „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ dem Beziehungsspiel seiner Protagonisten. Für den oft als ‚King of Cool‘ bezeichneten Steve McQueen wurde die Titelrolle zu einer seiner populärsten Darbietungen, und zurecht, denn mit seiner wunderbar sensiblen Performance spielt er kräftig gegen sein Image: Die eiskalte Coolness ist ihm natürlich ins Gesicht geschrieben, doch selten sieht man McQueen so oft sowohl grübelnd und nachdenklich als auch ausgelassen lachend wie in diesem Film. Ursprünglich hatte Trustman beim Schreiben noch Sean Connery für den Part vor Augen, schrieb manche Szenen später um, machte sie für McQueen passend. Besonders prägnant für die Zeichnung der Figur ist eine Szene nach dem geglückten Raubüberfall, als er sich breit grinsend im Spiegel selbst zuprostet. Der deutsche Verleih lag deshalb ganz richtig damit, den eher banalen Originaltitel „The Thomas Crown Affair“, also: „Die Thomas Crown Affäre“, durch den schwungvolleren „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ zu ersetzen.

So ganz greifen lässt sich die Crown-Figur nämlich nicht. Einem echten Motiv für den Banküberfall bleibt er schuldig. Purer Nervenkitzel treibt ihn an, er ist ein Mann, der von seinem Leben in Extravaganz und Wohlstand gelangweilt ist. Er fährt einen schmucken Rolls-Royce, trägt die teuersten Sonnenbrillen, raucht die luxuriösesten Zigaretten, doch es fehlt ihm Befriedigung. Einmal kreist er mit seinem Segelflugzeug ziellos durch die Lüfte. Ursprünglich sollte diese Szene mit „Strawberry Fields Forever“ von den Beatles unterlegt werden, erst spät entschied man sich für den eigens komponierten Song „Windmills of your Mind“, gesungen von Noel Harrison, der schon in der anfänglichen Titelsequenz zu hören war und einen Oscar für das ‚Beste Filmlied‘ erhielt. Der melancholische Text gibt die Leere in Thomas Crown hervorragend wieder: „Rund wie eine Uhr, deren Zeiger über die Minuten ihres Ziffernblatts fegen. Und die Welt ist wie ein Apfel, der lautlos im Raum wirbelt, wie die Kreise, die du in den Windmühlen deines Geistes findest!“

Wenn er und Faye Dunaway, deren gemeinsame Chemie vor sexueller Spannung geradezu prickelt, gemeinsam in einem Buggy über den Strand jagen, ergötzt und verliebt sich die formal exzellent geführte Kamera von Haskell Wexler in den zur Schau gestellten Luxus, so wie auch Dunaways Charakter sich von Crown mehr und mehr verführen lässt. Genial also die Besetzung der Frau, die durch „Bonnie und Clyde“ zu einer Identifikationsfigur der damals rebellierenden Jugend wurde: In „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ergibt sie sich nun dem Prunk des Establishments. Die soziale Realität wird ausgeblendet, der schnöde Alltag ist vergessen, und der Eskapismus formvollendet. Der Stil wird ganz zum Inhalt, wie Jewison es anstrebte.

Die zeitgenössische Kritik warf dem 102-minütigen Film wohl auch deshalb seine Oberflächlichkeit vor, seinen Hochglanz, aber aus einem Missverständnis heraus. Jewison drehte keinen Hochspannungsthriller, kein so gern herauf beschworenes fintenreiches Katz-und-Mausspiel. In Wahrheit gibt die lässige, Piano-lastige Filmmusik von Michel Legrand den Takt vor: „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ist kinematografischer Jazz. So mag es ungestüm, selbstzweckhaft erscheinen, wenn die Split-Screen-Technik in einer Szene bei einem Polospiel einzelne Aufnahmen verzigfacht, dasselbe Bild sechzigmal zugleich gezeigt wird, es ist jedoch Ursprung der filmisch gewünschten Attitüde: Dynamik wird wo immer möglich forciert, rasante, beinahe improvisiert-wirkende Tempiwechsel erzeugen Aufmerksamkeit, die Dialoge sind frivol, verwegen. Das Drehbuch sucht nicht immer nach der inneren Logik, dem tieferen Sinn. Dieser Film will erlebt und gefühlt werden. Ein intellektueller Zugang ist fehl am Platz, schließlich wird symbolträchtig selbst Schach, das edle Spiel der Könige, das Kräftemessen großer Denker und Strategen, zum erotischen Duell umfunktioniert.

Und wie so oft beim Jazz endet auch Jewisons Film auf einer bitteren letzten Note. Beim Versuch, dem von ihr mittlerweile verehrten Millionär eine Falle zu stellen, ist Dunaways Figur in seine getappt. Sie endet weinend, betrogen, ausgetrickst. Anders als in der ironischer angelegten Neuverfilmung von 1999, in den zentralen Rollen mit Pierce Brosnan und Rene Russo besetzt, wartet man dementsprechend vergeblich auf die glückliche Auflösung für das Filmpaar. „Die Thomas Crown Affäre“, eine Liaison mit dem Gentleman-Ganoven, davon durfte geträumt werden, der deutsche Filmtitel aber triumphiert, wie auch die Protagonistin einsehen muss: Dieser Mann ist wirklich nicht zu fassen.

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Ein Blechpirat sieht rot

Beitrag von Wallnuss » 11.10.2021, 11:19

Feuerstoß

Ein Anruf bringt den Arzt Dr. Tracer dazu, den geplanten gemeinsamen Abend mit seiner Frau abzusagen und stattdessen sofort zum College zu fahren, in welchem er unterrichtet. Eine seiner Schülerinnen ist bei einer Feier zusammengebrochen. Dort angekommen, holt er sofort Medizin aus seiner Tasche. In einer Nahaufnahme ist das Bild zweigeteilt: Die rechte Seite zeigt das nervöse Gesicht einer Lehrerin, mit großen Augen beobachtet sie wie in der linken Bildhälfte die Hand des Arztes das Medikament öffnet. Eine bizarre Einstellung, die später noch einmal wichtig wird. Diese Szene ereignet sich nämlich zu Beginn des italienisch-kanadischen Kriminalfilms „Feuerstoß“ und Dr. Tracer wird bald der Hauptverdächtige einer Mordermittlung sein.

Nachdem er der Studentin Louise nämlich das Mittel verabreicht hat, offenbart sich ihr Zusammenbruch als kleiner Scherz, mit welchem der Arzt auf die Studentenfeier gelockt werden sollte. Schon einmal dort, beschließt er, mitzufeiern – ehe kurz darauf Louise erneut zusammenbricht. Dieses Mal wirklich. Und tödlich. Die Obduktion ergibt: Sie wurde vergiftet. Sofort beginnt der Polizist Tony Saitta die Ermittlungen. Louise war nämlich niemand geringeres als seine eigene Schwester. Die wollte am Tag ihres Todes noch mit ihm telefonieren, doch er war gerade zu beschäftigt damit, fliehende Bankräuber zu verfolgen und ganz im Stil von „Dirty Harry“ über den Haufen zu schießen.

Nun also ermittelt Saitta gegen Dr. Tracer, dem eine Affäre mit Louise nachgesagt wird. Der filmkundige Cineast wird Dr. Tracer von Beginn an kritisch beäugen, spielt ihn doch Martin Landau, der sich einst als mörderischer Leonard in „Der unsichtbare Dritte“ von Alfred Hitchcock seinen Platz in den Annalen der Filmgeschichte sicherte. 1976 verschlug es ihn nach Montréal, in diesen Poliziottesco, der in Deutschland zuerst unter dem Titel „Tod im College“ erschien, mittlerweile aber „Feuerstoß“ genannt wird. Die Italiener kennen ihn unter „Una Magnum special per Tony Saitta“ (zu deutsch: „Eine spezielle Magnum für Tony Saitta“), ein Titel, der absichtlich nach einem Cop-Film mit Clint Eastwood klingt.

Statt dem übernimmt Stuart Whitman den Part des nach Rache düsternden Ermittlers. Seine Karriere lief der von Eastwood entgegengesetzt: Hatte der erst in Italowestern Fuß gefasst und dann in den USA eine große Karriere begonnen, war Whitman in den 1960ern noch in „Die Comanchen“ an der Seite von John Wayne und in der mit Stars gefüllten Komödie „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ zu sehen, verdingte sich aber ein Jahrzehnt später in Filmen der zweiten Liga. Ein Spezialist für solche war Regisseur Alberto De Martino. Als fleißiger Trash-Filmer drehte er legendäre Gurken wie „Der Puma Mann“, „Mord im schwarzen Cadillac“ sowie den skurrilen „Operation ‚Kleiner Bruder‘“, eine italienische Kopie der frühen „James Bond“-Filme, mit Sean Connerys Bruder Neil Connery als Superspion und anderen „originalen“ Mitgliedern der Bond-Reihe, darunter Lois Maxwell, Bernard Lee und Daniela Bianchi.

„Feuerstoß“ filmte er unter seinem Pseudonym Martin Herbert, ein Name, der für das US-amerikanische Publikum leichter auszusprechen war. Die Drehbuchautoren hießen laut Vorspann Vincent Mann und Frank Clark, dahinter verbergen sich jedoch Vincenzo Mannino und Gianfranco Clerici. Letzterer schrieb wenige Jahre später das Drehbuch zum berühmt-berüchtigten Exploitations-Schocker „Nackt und zerfleischt“, besser bekannt als „Cannibal Holocaust“. Sie trugen dazu bei, dass „Feuerstoß“ zurecht als der beste Film von Alberto De Martino gilt. Zahlreiche Szenen zeichnen sich durch schöne kleine Ideen aus, wie die beschriebene Einstellung, in der Dr. Tracer vor den Augen einer Kollegin seine Medikamente auspackt – die wieder aufgegriffen wird, als jene Kollegin bezeugen soll, dass die Packung des Medikaments noch ungeöffnet war, als Dr. Tracer es verwendete.

Schon gleich der anfängliche Banküberfall ist kompetent und spannend inszeniert, wenn auch ordentlich brutal. Das Lexikon des internationalen Films nennt dieses Werk deswegen gar „gewaltverherrlichend“, nicht unbedingt zurecht. Die Handlung hat nämlich einige Wendungen parat, die auch das Gebaren der Action betreffen. Je näher Saitta der Lösung des Falls kommt, umso klarer wird ihm, dass er den Fall deutlich schneller hätte aufklären können, hätte er seine harte Vorgehensweise ein wenig früher abgelegt.

So entstehen nahezu alle Actionszenen daraus, dass Saitta einen Verdächtigen aufsucht und dieser entweder flieht oder von Saitta so aggressiv angegangen wird, dass es zu einer Auseinandersetzung kommt. Einmal führt ihn etwa eine Spur an die Dachkante eines Hochhauses, wo er auf mehrere Transvestiten trifft – und sich sofort mit ihnen prügelt. Da fliegen Perücken durch die Luft, Blumenkübel werden geworfen, ein heißer Lockenstab sorgt für Bedrängnis, kurz hängt Saitta sogar in schwindelerregender Höhe, stürzt fast in die Tiefe. Außer einer nebensächlichen Information durch den eigentlichen Gesuchten bringt den Ermittler die Schlägerei kaum weiter.

„Feuerstoß“ setzt nicht ausschließlich auf aggressive Gefechte. In einigen Sequenzen gelingen De Martino schöne Spannungsmomente, wie eine effektive Szene mit Louises blinder Mitbewohnerin Julie. Sie wird allein in ihrer Wohnung gezeigt, spürt aber die Anwesenheit einer zweiten Person. Zaghaft sagt sie: „Ich weiß, dass hier noch jemand im Raum ist.“ Als keine Antwort kommt, geht sie vorsichtig jeden Meter ihrer Räumlichkeiten ab, ohne Ergebnis. Auch die Kamera zeigt uns nie den mutmaßlichen Einbrecher. Als aber plötzlich ihre Zimmertür laut knallt, haben wir und sie Gewissheit. Sie schreitet auf den Flur hinterher, unwissentlich, dass dort gebaut wird – und ein Teil der Außenfassade ohne Absperrung offensteht, auf den sie zuschreitet.

Solche Augenblicke der Antizipation nutzt De Martino für mehrere spekulativ inszenierte Mordszenen, die so effektiv sind, dass „Feuerstoß“ in einigen Nachschlagwerken gar als Giallo geführt wird – obwohl der Film sich im Vergleich zu den Werken anderer Gialli-Regisseure wie Sergio Martino, Mario Bava oder Dario Argento mit der Explizität der Tötungen stark zurückhält. Immerhin: Eine der Mordszenen fand später ihren Weg erneut auf die Leinwand, als Argento sie 2005 für seinen „Do You Like Hitchcock?“ beinahe Bild für Bild nachstellte. Die blinde Julie wird dem ein oder anderen Filmkenner übrigens bekannt vorkommen. Ihre Schauspielerin Tisa Farrow sieht ihrer Schwester Mia Farrow ziemlich ähnlich. Natürlich war Mia der größere Star, spätestens seit sie 1968 unter der Regie von Roman Polański „Rosemaries Baby“ bekam.

Der absolute Höhepunkt des Films ist derweil eine exzellente Autoverfolgungsjagd, die überdeutlich große und legendäre Vorbilder wie „Bullitt“, „Die Seven-Ups“ und „Die Blechpiraten“ zitiert, selbst aber ein Musterbeispiel für gelungene Stuntarbeit darstellt. Kein Wunder, war für sie doch der Franzose Rémy Julienne verantwortlich, der bei über 400 Kinofilmen an den Auto-Stunts mitwirkte. Sechsmal fuhr er für „James Bond“, legendär zudem seine Beteiligung an zahlreichen Filmen mit Louis de Funès, insbesondere „Fantomas“ und „Die Abenteuer des Rabbi Jacob“. In „Feuerstoß“ liefert er eine famose zehnminütige Blechschaden-Oper, in der ein Mustang und ein Buick ineinander krachen, in Zeitlupe über fahrende Züge springen und meterweit auf der Seite über den Asphalt schleifen. Eine beeindruckende Szene, für die De Martino und Julienne mehrere viel befahrene Straßen in Montréal sperren ließen.

Die kanadische Millionenstadt liefert eine prächtige Kulisse für die zwanghaft unmoralisch-nymphomanische Welt, in der alles einen doppelten Boden hat. Bald erfährt Saitta, dass seine Schwester keinesfalls ein Unschuldslamm war – in mehrfacher Hinsicht. Die eigentliche Auflösung des Mordfalls gerät sogar erstaunlich pfiffig und sorgt für einen rasanten Abschluss. Besonders rasant wirkt der Film auf das deutsche Publikum, denn es bekam nur 88 Minuten des Films zu sehen, zwölf Minuten wurden für die deutsche Fassung geschnitten. Dafür bietet die Synchronisation aus deutschen Landen einen unschätzbaren Vorteil: Der engagierte Einsatz von Sprecher Horst Schön weiß zu kaschieren, wie lustlos sich Stuart Whitman durch seine Hauptrolle langweilt. Außerdem ist die höchst eigenwillige Kombination, Martin Landau durch Synchron-Urgestein Lothar Blumhagen vertonen zu lassen ein Grund für sich, der deutschen Fassung eine Chance zu geben.

Unbedingt erwähnenswert ist noch die stimmungsvolle Filmmusik von Armando Trovajoli, dessen Jazz-Instrumentationen in Richtung des Soundtracks schielen, den Lalo Schifrin für „Dirty Harry“ komponierte, aber auch geprägt sind durch Trovajolis viele Arbeiten für Filme der Commedia all’italiana, einem Genre italienischer Filmkomödien, die mit satirischem Unterton die kleinbürgerliche Spießigkeit persiflierten. Durch seine rotzigen Melodien ist „Feuerstoß“ mit einem zwingenden, durchgängigen Augenzwinkern versehen, die ihm seine Durchschlagkraft sichern. Man könnte sagen: Wenn im bleihaltigen Finale der harte Hund Tony Saitta mit seiner „Magnum special“ aus dem Originaltitel einen Hubschrauber vom Himmel schießt, ist das bierernst gemeinte Ironie, für die ihn Genre-Fans lieben. Sein wohl berühmtester Bewunderer ist dabei kein Geringerer als der mehrfach mit dem Oscar prämierte Filmemacher Quentin Tarantino.

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Läuft der alte Ford fort …

Beitrag von Wallnuss » 14.11.2021, 14:57

Auf der Flucht

Wie gelingt es Geschichtenerzählern, einen fiktiven Charakter in Windeseile liebenswert zu konstruieren? Mit dieser Frage hat sich der Dramaturg Blake Snyder beschäftigt und 2015 ein Sachbuch darübergeschrieben. Seine Antwort steht im Titel: „Rette die Katze! Das ultimative Buch übers Drehbuchschreiben“. Aber was bedeutet es, die Katze zu retten? Snyder erklärt, der einfachste Weg, die Zuneigung des Publikums für eine Hauptfigur zu gewinnen, sähe wie folgt aus: Gleich beim ersten Auftritt müsse die Figur sich selbstlos verhalten und so einen besonders guten Eindruck erwecken – zum Beispiel durch die Rettung eines Kätzchens von einem Baum. Schon sei dem Protagonisten die Sympathie der Zuschauer gewiss. Ein besonders effektiver Einsatz eines „Rette die Katze!“-Szenarios eröffnet den Actionfilm „Auf der Flucht“. Nur ist „die Katze“ ein verletzter Gefängniswärter und „der Baum“ ein verunglückter Bus, der auf Zugschienen liegengeblieben ist.

Denn obwohl dieser Bus den zum Tode verurteilten Chirurgen Dr. Richard Kimble zu seinem Termin mit der Giftspritze bringen sollte, hat er Mitgefühl, als er sich in dem überschlagenen Fahrzeug wiederfindet und ein Zug auf das Bus-Wrack zusteuert. Er stemmt den Wärter über seine Schulter, wirft ihn in Sicherheit und kann in letzter Sekunde selbst dem drohenden Unfalltod entrinnen. Von hier an kann das Publikum gar nicht anders, als für ihn Respekt zu empfinden. Ein kurzer Prolog hatte bereits die missliche Lage von Kimble vorgestellt. Eines Abends fand er in seinem Haus seine Frau ermordet vor und wurde daraufhin von einem einarmigen Mann attackiert. Die Polizei glaubte ihm die Geschichte jedoch nicht, war sicher: Er ist auf die Lebensversicherung seiner noch vermögenderen Gattin aus. Die Todesstrafe war schneller gesprochen, als Kimble die Situation verstehen konnte. Doch obwohl ihm die Justiz so übel mitgespielt hatte, findet er, als es um Sekunden geht und ein dampfender Zug ihn auszulöschen gedenkt, in diesem Moment die Kraft, einen Mann zu schützen, der alles repräsentiert, was Kimbles Leben zerstört hat. Die Katze ist gerettet – und ein Held geboren.

Dieser Held stammt eigentlich aus dem TV-Bildschirm: In 120 Folgen war „Dr. Kimble auf der Flucht“. Zwischen 1963 und 1967 etablierte sich die Geschichte um den zu Unrecht des Mordes an seiner Frau verurteilten Arzt zu einem Straßenfeger. Jede Episode zeigte Kimble mit neu angenommener Identität, wie er vor dem Gesetz floh und den Einarmigen suchte, der ihn entlasten könnte. Die letzte Folge, in der Kimble schließlich seine Freiheit zurückerlangte, hatte am 29. August 1967 in den USA Einschaltquoten von 71 Prozent. Dreißig Jahre nach Beginn der Serie sollte die Flucht erneut beginnen – dieses Mal auf der großen Leinwand. Serienvorkenntnisse brauchte das Publikum für „Auf der Flucht“ allerdings nicht. Sogar Publikumsmagnet Harrison Ford, der für die Filmversion den Kimble mimte, hatte vor Drehbeginn nie eine Folge der Serie gesehen.

Fords Charme lag stets in seinem unerschöpflichen Charisma und seiner Person selbst, vereinte er doch den Glamour eines Hollywood-Stars mit der Bodenständigkeit des US-amerikanischen Jedermanns. Damit war er perfekt für Kimble: Durch ihn wird der Arzt zum Überlebenskämpfer, der dennoch glaubhaft in der Realität verankert bleibt und nie zum plumpen Actionhelden verkommt. Er kann sich nicht durch sein Geschick mit Schusswaffen oder seine übermenschliche Physis behaupten, sondern muss einzig auf seine Intelligenz und eine Portion Glück vertrauen. Seine Verwundbarkeit erzeugt seine Fallhöhe – und Kimble fällt tatsächlich, sogar aus beträchtlicher Höhe, als ihn seine Flucht auf einen Staudamm führt. Dort in die Enge getrieben, weiß der verzweifelte Mann keinen anderen Ausweg, als sich in die Tiefe zu stürzen. Hier flieht kein Alphamännchen, sondern ein gepeinigtes Individuum, das nichts anders will als Gerechtigkeit für sich und seine ermordete Frau. Sein charakteristisches Humpeln ist übrigens kein Regieeinfall: Ford verletzte sich zu Beginn der Dreharbeiten bei Aufnahmen im Wald, verzichtete aber auf eine Operation, um im restlichen Film glaubwürdig zu hinken.

Ein so einvernehmender Held braucht einen mindestens ebenso großen Widersacher – und hier trumpft „Auf der Flucht“ mit dem grandiosen Tommy Lee Jones auf. Er spielt den Chief Deputy Marshal Samuel Gerard als zielstrebigen, fast schon sturköpfigen Kapitän Ahab, der nicht ruhen kann und will, ehe er sein Ziel erjagt hat. Viele grandiose kleine Momente schreiben ihm die Autoren Jeb Stuart und David Twohy, die aus ihm eine der vielschichtigsten Figuren ihrer Art macht. Brillant eine Szene, in der er einen seiner Deputys vor einem bewaffneten Mann rettet, in dem er diesen einfach aus der Deckung heraus erschießt – ohne dabei richtig zu zielen. Als sein Partner sagt: „Du hättest mich treffen können. Du hättest verhandeln sollen“, meint Gerard nur: „Ich verhandele nie mit Kriminellen.“ Gänsehaut generiert die erste Begegnung zwischen ihm und Kimble: Der Marshal verliert seine Waffe, Kimble hebt sie auf, richtet sie auf seinen Verfolger. Er brüllt: „Ich habe meine Frau nicht umgebracht.“ Gerard antwortet: „Das ist mir scheißegal.“

„Auf der Flucht“ ist ein fantastischer Actionfilm, weil er in erster Linie als psychologisches Katz-und-Mausspiel funktioniert. Kimble muss achtsam vorgehen, will er unentdeckt von der Polizei genug Informationen sammeln, um den Mörder seiner Frau aufzuspüren. Gerard wiederrum durchforstet Kimbles Vergangenheit, um dessen Psyche zu verstehen – und obwohl er langsam Zweifel an Kimbles Schuld entwickelt, kann er nicht anders, als diesen Mann aus purem Pflichtgefühl weiter zu jagen. Beide sind getriebene Männer, die mehr verbindet als sie ahnen. Der Kriminalplot um den Mord an Kimbles Frau ist dabei kompetent konstruiert und hält sich seine besten Wendungen vorbildlich für den Schluss auf. Die Nebenfiguren sind mit Joe Pantoliano als schlagfertigen Deputy, Julianne Moore als misstrauische Ärztin und Jeroen Krabbé als Kimbles Freund und Kollege exzellent besetzt, doch es sind die Schultern von Harrison Ford und Tommy Lee Jones, die diesen 130-minütigen, meisterhaften Exkurs in Spannungsaufbau zur Gänze tragen.

Regisseur Andrew Davis hatte ein Jahr zuvor mit dem „Stirb langsam“-Duplikat „Alarmstufe: Rot“ einen Publikumshit gelandet, schon darin überzeugte Tommy Lee Jones als Widersacher. Der Film gefiel Harrison Ford so gut, dass er Davis für „Auf der Flucht“ dabeihaben wollte, nachdem der ursprünglich angedachte Walter Hill lieber den Western „Geronimo“ drehte. Davis inszeniert „Auf der Flucht“ bedacht, findet die richtige Tonalität zwischen intelligentem Thriller und emotionalem Drama. Für die großen Kino-Momente scheute er vor riskanten Improvisationen nicht zurück: Eine Verfolgungsjagd durch die Häuserschluchten von Chicago führt Kimble und Gerard auf eine Parade am Saint Patricks Day. Um die echten Feierlichkeiten zu nutzen, ließ Davis seine Stars einfach durch die Menschenmengen laufen, filmte sie mit versteckten Handkameras.

Trotz der unbestreitbaren Qualität dieses modernen Klassikers war es eine Überraschung, als „Auf der Flucht“ schließlich für sechs Oscars nominiert wurde – darunter sogar als ‚Bester Film‘. Erklären lässt sich dies u. a. über die sozialkritischen Töne, die der Film anschlägt: Die Kritik an der Todesstrafe ist überdeutlich, auch wird die gefährliche Schwarm-Mentalität der Polizei vorgeführt, als im letzten Drittel bei Kimbles erneutem Kampf mit dem Einarmigen ein Polizist den Tod findet und Kimble fürchten muss, nun als „Polizistenmörder“ von jedem beliebigen Ordnungshüter über den Haufen geschossen zu werden. Die fesselnden Kameraaufnahmen von Michael Chapman sowie die mysteriöse Filmmusik von James Newton Howard, die klassisches Orchester mit atmosphärisch-leidenden Synthesizer-Klängen mixt (ohne Zweifel eine der besten Arbeiten seiner beeindruckenden Karriere!), gingen bei den Oscars leider leer aus. Immerhin durfte sich Tommy Lee Jones als ‚Bester Nebendarsteller‘ verdient den Goldjungen abholen. Seine Leistung war so herausragend, dass er fünf Jahre später für die Fortsetzung „Auf der Jagd“ zurückgeholt und sein Gerard darin zur Hauptfigur befördert wurde.

Das Beste, was sich über „Auf der Flucht“ formulieren lässt, ist, dass es sich um einen der wenigen Actionfilme seiner Art handelt, bei denen das mitreißende Finale im und auf dem Dach des Chicago Hilton Hotels einen bis an den Rand des Sitzes treibt, vor Anspannung gar elektrisiert, es aber die ruhigen, menschlichen Momente sind, die über das Filmende hinaus nachwirken. Etwa eine Szene, in der Kimble sich als Reinigungskraft in einem Krankenhaus tarnt und einen kleinen, schwerkranken Jungen beobachtet, dessen Arzt nur oberflächlich seine Symptome begutachtet und eine Fehldiagnose stellt. Kurzerhand bringt Kimble den Jungen eigenhändig in den OP und rettet ihm so das Leben. Seine Tarnung fliegt dadurch auf, er muss erneut seine Identität wechseln und um sein Leben fürchten. Trotzdem weiß das Publikum: Er würde es immer wieder so machen. Weil er als Held nun einmal „die Katze retten“ muss.

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(K)Ein Mann für jede Jahreszeit

Beitrag von Wallnuss » 29.11.2021, 18:39

The November Man

Die Literaturgeschichte ist nicht arm an großen Autoren des Spionageromans. Jean Bruce erfand 1949 seinen französischen Spion OSS 117, vier Jahre später schuf Ian Fleming sein literarisches Alter Ego James Bond, Agent 007. John le Carré, für viele der große Meister dieser Romangattung, bot den genialen Geheimdienstbeamten George Smiley, später übernahmen Tom Clancy, der über den CIA-Analysten Jack Ryan schrieb, und Robert Ludlum, dessen Jason Bourne ein Agent ohne Erinnerung war, das Feld. Weniger bekannt ist dagegen der Autor Bill Granger, obwohl er über seinen Spion ganze dreizehn Romane verfasste. Der Name ist Devereaux. Peter Devereaux. Deckname: „The November Man“.

Grangers geringer internationaler Bekanntheit wegen dauerte es, bis sein 1979 geschaffener Devereaux den Sprung auf die große Leinwand schaffte. In Planung war ein Kinoauftritt des Novembermanns aber eine ganze Weile. Verantwortlich dafür war ein anderer Spion: James Bond, bzw. dessen fünfter Schauspieler: Pierce Brosnan. Als der irische Filmstar 2005 am Telefon erfuhr, dass sein Einsatz als 007 beendet ist, kaufte er gemeinsam mit seiner Business-Partnerin Beau St. Clair die Rechte an Grangers Buchreihe. „The November Man“ sollte sein Bond-Ersatz sein. Als Hauptquelle für den Film wurde Buch Nr. 7 ausgewählt: „There are no spies“ (zu deutsch: „Es gibt keine Spione“). Eine passende Vorlage für Brosnans Situation: Zu Beginn dieses Buchs befindet sich Devereaux bereits im Ruhestand – und wird von seinem alten Boss wieder in den Dienst gerufen.

2014 also, einige gescheiterte Anläufe später, zwei Jahre nach Grangers Tod, war es an der Zeit. Als Regisseur holte Brosnan seinen Freund Roger Donaldson an Bord, mit dem er 1997 den Katastrophenfilm „Dante’s Peak“ drehte. Die Drehbuchautoren Michael Finch und Karl Gajdusek verlegten den Romanplot vom Kalten Krieg ins 21. Jahrhundert. Neben Brosnan als Ex-Bond kehrte zudem auch Olga Kurylenko ins Agentengeschäft zurück, sie kämpfte 2008 im James-Bond-Film „Ein Quantum Trost“ an der Seite von Brosnans Nachfolger Daniel Craig. In derselben Größenordnung wie 007 konnte „The November Man“ aber von Anfang an nicht spielen: Kostengünstig drehte man in Belgrad und Montenegro, das ganze Projekt kostete nur 15 Millionen Dollar. Zum Vergleich: Der zwei Jahre zuvor erschienene Bond-Film „Skyfall“ hatte ein Budget von 200 Millionen Dollar.

Seine Sparsamkeit steht „The November Man“ allerdings nie im Weg. Die gesamten 108 Minuten packt Donaldson voll mit rasanten Verfolgungsjagden, harten Schusswechseln und auch der nötigen Menge Pyrotechnik, die das Publikum in so einem Film erwarten darf. Insbesondere sein Bildaufbau lässt den Film teuer und elegant wirken. Als Kameramann holte sich Donaldson den Genre-erfahrenen Romain Lacourbas dazu, der zuvor bei den harten Reißern „Colombiana“ und „96 Hours – Taken 2“ mitwirkte. Gemeinsam filmen sie ihre Actionszenen druckvoll, entscheiden sich aber auch, stets nah bei den Charakteren zu bleiben. Actionfilm-Standards, etwa ein Feuergefecht über zwei Etagen, machen so den Anschein eines eng getakteten und streng choreographierten Kammerspiels.

Diese intime Herangehensweise ist bereits in den Vorlagen so angelegt. Granger beschreibt Peter Devereaux als introvertierten, blitzschnellen Denker, der auf den ersten Blick sehr viel weltgewandter wirkt als auf den zweiten. In erster Linie ist er kein Gentleman-Spion oder kühler Schreibtischhengst, sondern ein grausamer, abgestumpfter Mann, dessen tödliche Effizienz ihn von sich selbst entfremdet hat. Er fühlt sich berufsbedingt wohl im Pragmatismus. Als er gefragt wird, wie es sich vermutlich anfühle, erschossen zu werden, antwortet er nur: „Eine Kugel fliegt 1.200 Meter in der Sekunde, viermal schneller als der Schall. Die Wirkung bei diesem Tempo ist absolut. Man hört einfach auf zu existieren.“

In „There are no spies“ und so auch in diesem Film wird er nach Moskau beordert, um seine Ex-Geliebte Natalia zu evakuieren, die dort Beweise gegen den russischen General Fedorow sammelte, der demnächst zum Präsidenten der Russischen Föderation ernannt werden soll. Bei der Evakuierung wird Natalia von einem Attentäter erschossen, der sich als David Mason herausstellt, einem jungen CIA-Agenten, den Devereaux vor seinem Ruhestand ausbildete und den er krachend durchfallen ließ, als dieser bei einer Mission die Nerven verlor und durch seinen nervösen Zeigefinger ein kleines Kind zu Tode kam.

Die Spur führt beide rivalisierenden Alphamännchen zur Asylbetreuerin Alice Fournier, die als letzte Kontakt zur untergetauchten Flüchtlingsfrau Mira Filipova hatte. Die wurde Zeugin von mehreren Menschenrechtsverletzungen, derer sich Fedorow schuldig gemacht hat und ist damit für alle Geheimdienste dieser Welt pures Gold. Was folgt ist eine Ansammlung vieler Gefechte zwischen Devereaux und Mason sowie mehrere der Wendungen und (Ver-)Wirrungen, die fest zur DNA der Spionagegeschichten gehören.

Dabei wird kaum jemand „The November Man“ sehen, ohne fortwährend mit Déjà-vu-Eindrücken zu kämpfen: Pierce Brosnan als alternder Geheimagent wird vom aufmerksamen Zuschauer natürlich umgehend mit seinen Auftritten als James Bond verglichen. Von Natur aus bringt der Schauspieler eine große Portion Charisma und Charme mit in die Rolle, trotz der vermehrten Falten klingt seine Stimme noch sowohl suave als auch gefährlich. Die Routine, die Devereaux bei seinen Einsätzen hat, braucht Brosnan nicht zu spielen, sie steht ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben.

Das Drehbuch gibt ihm hier jedoch Möglichkeiten, sich von seinen 007-Facetten zu lösen und neue Akzente zu setzen. Devereaux ist nicht der Typ, der nach einem überlebten Einsatz lockere Witze macht und eine schöne Frau verführt. Stattdessen lebt er nach der Devise, persönliche Beziehungen würden einen nur angreifbar machen und hätten in der Geheimdienstwelt keinen Platz. Seinem Schüler führt er diese Maxime in einer beklemmenden Szene vor. Mason erwacht nach einem One-Night-Stand mit seiner Nachbarin und findet diese verängstigt in der Küche als Geisel von Devereaux vor. Der sagt ihm: „Du kannst ein menschliches Wesen sein oder ein Killer von Menschen. Aber nicht beides.“

Um zu testen, was auf seinen ehemaligen Protegé zutrifft, trennt er der schönen Blondine die Oberschenkelschlagader durch und flieht. Mason hat die Wahl: Folgt er seiner Mission und lässt die Frau sterben oder missachtet er seine Befehle und zeigt Empathie. In dieser mehrminütigen Sequenz addiert Brosnan zu seiner Bond-Interpretation eine gewaltige Menge an grimmiger Kaltschnäuzigkeit. Sein Schauspiel erinnert an seinen denkwürdigen Auftritt als sadistischer Geiselnehmer in „Spiel mit der Angst“ von 2007. Donaldson und er riskieren mutwillig, hier die Sympathien des Publikums zum abgründigen Helden zu verlieren.

Solche Risiken hätte die Produktion gerne noch öfter eingehen können, statt gerade im Schlussakt auf ein konventionelles Standardmotiv zurückzugreifen. Der große Verschwörungsplot, der das Schicksal von Mira Filipova und die Gräueltaten von Fedorow um eine historische Dimension erweitert und mit dem Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs verknüpft, erzeugt genügend Spannung, spielt aber leider für das Finale keine allzu große Rolle mehr. Unglücklich auch, dass die Geschichte des Romans zwar in die Gegenwart versetzt wurde, aber viele Kalter-Krieg-Klischees immer noch allzu leicht auszumachen sind. Gemeint ist hierbei ganz besonders die Rolle einer stereotypen russischen Auftragskillerin, die inmitten des modernen Thrillertreibens reichlich angestaubt wirkt.

Das hohe Tempo und die angenehm intelligenten Schlagabtausche zwischen Brosnans Devereaux und dem von Luke Bracey gespielten Mason lenken dafür bis zuletzt von kleinen Unstimmigkeiten ab. Besonders schön fällt noch die Filmmusik auf, die der vielbeschäftigte Marco Beltrami komponierte. Beltrami, bekannt für seinen perkussiven Stil, vor allem für seinen regelmäßigen Einsatz von Bassdrums, verzichtet stilistisch gänzlich auf James-Bond-Assoziationen und mischt osteuropäische Klangteppiche mit westlichen Motiven. Das persuasive Ergebnis findet die passende Tonalität und macht selbst den Abspann hörenswert – nachdem dort der irritierend gut passende Soul-Rocksong „Ticking Bomb“ von Aloe Blacc verstummt ist.

Eine neue Filmreihe konnte „The November Man“ nicht lostreten, als Konkurrenz zu anderen Langzeitagenten erst recht nicht dienen. Dennoch gelingt Donaldson ein angenehmer, spannender Film, der sein Versprechen einlöst und langjährigen Fans des Hauptdarstellers selbigen wieder in seiner Paraderolle präsentiert und ihn dabei trotzdem frisch und anders wirken lässt. Bill Granger wäre mit dieser Interpretation seiner Romanreihe wahrscheinlich einverstanden gewesen, adaptiert sie doch nicht nur seine Figuren und Geschichten, sondern teils direkt sein geschriebenes Wort. So stammt eine Passage wörtlich aus der Vorlage, als dem Zuschauer der titelgebende Deckname von Devereaux erklärt wird: „Wir nannten dich Novembermann – denn wo du vorbeikamst, lebte nichts mehr.“

Als Geheimtipp mit Kultpotenzial dürfte „The November Man“ auch auf lange Sicht gute Chancen haben, wer Genre-affin ist, kann bedenkenlos einen Blick auf diese kleine Perle werfen. Wirklich gemacht ist der rasante Actionthriller aber für die Fans, die frei nach Andreas Möller auf folgende Frage immer so antworten würden: „Bond oder Bourne? Egal, Hauptsache Brosnan!“

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Das Trümmerfeld der Liebe

Beitrag von Wallnuss » 13.12.2021, 14:06

Niemandsland – The Aftermath

„Sie sind im Begriff, einem merkwürdigen Volk in einem merkwürdigen, feindlichen Land zu begegnen“, liest ein kleiner Junge laut im Zug. „Halten Sie sich unbedingt von den Deutschen fern. Jedes Fraternisieren ist unerwünscht.“ Die Britin Rachael Morgan sitzt dem Jungen gegenüber. Der Zug bringt sie im Winter 1945 in das zerbombte Hamburg, der Zweite Weltkrieg endete vor fünf Monaten. Ihr Gatte Lewis, ein hochrangiger Besatzungsoffizier, erwartet sie dort. Er soll die Entnazifizierung der Stadt beaufsichtigen und will mit seiner Frau in einer von den Alliierten beschlagnahmten Villa an der Elbe wohnen. Schon bei ihrer Ankunft ist Rachael verwundert, welche Töne ihr Mann gegenüber dem besiegten Feind anschlägt. „Auf Hamburg sind an einem Wochenende mehr Bomben gefallen als auf London im ganzen Krieg“, erklärt er ihr. Mitgefühl ist in seiner Stimme.

Sich von den Deutschen fernhalten wird schwierig für Rachael, als sie erfährt, dass der Architekt ihres neuen Hauses, der deutsche Stefan Lubert, und seine Tochter Freda von ihrem Mann eingeladen wurden, weiter auf dem Dachboden zu leben. Woher er wisse, bei beiden handle es sich nicht um ehemalige Mitglieder der Partei, fragt seine Frau. Immerhin hat Lubert bislang keinen Persilschein ausgestellt bekommen. „Ich bezweifle, dass man einen Menschen aufgrund eines Fragebogens beurteilen kann“, sagt er. Doch was macht man stattdessen? „Man sieht ihm in die Augen.“

Nun sieht Rachael genauer hin: In den Augen des Architekten, der um seine Frau trauert, die bei einem der Bombenabwürfe ums Leben kam, sieht sie Schmerz, denselben Schmerz, den sie in den Augen ihres eigenen Mannes nicht erkennen kann. Dabei verlor auch das Ehepaar Morgan ihren kleinen Sohn auf dieselbe Weise, als in London eine Bombe ihr Haus zerstörte. Der Schmerz entfremdet das eine Paar und bringt das andere zusammen. Aus der anfänglichen Ablehnung, die Stefan und Freda von Rachael zu spüren bekommen, wird seelische Verbundenheit. Als sie sich einen Ruck geben, der erste Kuss zwischen ihr und dem Deutschen fällt, stehen sie regelrecht in Flammen.

Von einer riskanten Affäre also erzählt „Niemandsland – The Aftermath“, basierend auf der gleichnamigen Buchvorlage des walisischen Autoren Rhidian Brook. Sein Roman landete eines Tages auf dem Schreibtisch von Regie-Gigant Ridley Scott. Der war sofort fasziniert: Scotts eigener Vater war britischer Offizier, der nach dem Krieg ebenfalls in Hamburg stationiert wurde. So lebte Scott als 10-Jähriger selbst in einem ganz ähnlichen Haus. Ursprünglich wollte er daher unbedingt persönlich „The Aftermath“ inszenieren, doch mit beiden Händen in andere Projekte eingebunden, fungierte er schlussendlich nur als Produzent, gab die Regie an den TV-erfahrenen James Kent ab. Klar ist: Hätte Scott inszeniert, wäre dies ein anderer, ein autobiografischerer Film geworden. Aber auch ein besserer?

Auf dieses Urteil mag man kommen, liest man die Kritiken, die 2019 kaum ein gutes Haar an der Romanverfilmung ließen. Nahezu jede Rezension nutzte das böse Schlagwort: „Kitsch“. Der Film sei plump inszeniert, drücke auf die Tränendrüse, ließe Subtilität vermissen. Die Affäre zwischen Stefan und Rachael wurde als „naiv“ empfunden, über die teils pompöse Bildsprache schrieb David Steinitz abfällig in der Süddeutschen Zeitung, der Film sähe aus „wie eine schicke Luxusuhrenwerbung, die aus unerfindlichen Gründen im Jahr 1946 spielt“. Patrick Seyboth von EPD Film fand, Regisseur Kent erzähle „kurzatmig und grob wie eine Vorabend-Soap“.

All das mögen in einem gewissen Rahmen zutreffende Beobachtungen sein, doch übersehen sie die Ambitionen dieser wunderbar sinnlichen Filmperle. Rhidian Brook hatte sich einen Namen als Autor rührender Melodramen gemacht. Er schrieb „The Aftermath“ als eine epische Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund, nach Vorbild des klassischen Hollywood-Kinos der 40er- und 50er-Jahre. James Kent hat das erkannt – so verzichtet seine 109 Minuten lange Adaption gänzlich auf die ironischen Metaebenen und den postmodernen Zynismus, mit dem sich Regisseure seit der Jahrtausendwende dem romantischen Genre meist nähern. In seinem Film wird noch mit großen Gesten geliebt, mit Dackelblick geschmachtet, und ohnehin darf kein einzelner Kuss ohne meterdickes Pathos auskommen.

Kaum zufällig hat er Rachael mit der großartigen Keira Knightley besetzt, die jahrelang durch Literaturverfilmungen wie „Stolz und Vorurteil“, „Anna Karenina“ oder „Abbitte“ zum letzten Gesicht des melodramatischen Kinos geworden ist. Ihr Charme ist klassisch, ihr Schauspiel überlebensgroß. Es ist keine Überraschung, zu sagen, dass „The Aftermath“ ganz und gar ihr gehört, von ihrer Ausstrahlung, ihrem Charisma lebt. Ergreifend, wie sie am Klavier einsam „Claire de Lune“ von Claude Debussy spielt und dabei in Erinnerung an ihren Sohn in Tränen ausbricht. Wiederrum köstlich mit anzusehen, wie sie sich im Prunk ihrer neuen Behausung unwohl fühlt und an einem ungewöhnlichen Sessel stört, ehe Stefan ihr fachmännisch erklärt, dass dieser von Ludwig Mies van der Rohe gestaltet wurde, dem berühmtesten Vertreter des Minimalismus in der Architektur, der die Formel prägte: „Weniger ist mehr.“

Für den Film gilt dieser Grundsatz nur selten, sehr wohl aber für Jason Clarke als Lewis und Alexander Skarsgård als Stefan. Sie überlassen die übersprudelnden Emotionen ganz Keira Knightley und erden den Film durch zurückgenommene Auftritte. Skarsgård legt seinen Bildungsbürger gar als lebende Chiffre an, als geheimnisvollen Kavalier, spielt seine Anziehung zu Knightley glaubhaft – nur wenn er im Originalton deutsch sprechen muss, wirkt der gebürtige Schwede ungemein weniger authentisch. Jason Clarke zeigt dafür sein ganzes Talent in einem schwierigen Part: Als altruistischer Militär will er aufrichtig dem leidgeplagten deutschen Volk helfen, muss aber in Gefahrensituationen und bei Verhören den starken Mann markieren. Die Liebesbeziehungen von Rachael mit beiden Männern haben dank dieser feinen Charakterisierungen die nötige emotionale Tiefe und Größe.

Groß ist vieles an diesem Film, vor allem, wie er das „Niemandsland“ des deutschen Titels illustriert. Die Trümmerhaufen des zerstörten Hamburgs musste die Produktion am Computer erstellen, die Außenaufnahmen fanden in Prag statt. In kalten, dunklen Farbtönen zeigt Kent eine schneebedeckte Welt, in der Hoffnung und Perspektive verloren sind. Mehrfach schwingt seine Kamera über die Gesichter der Hamburger, die vom Krieg gezeichnet, traumatisiert sind. Stefans Tochter Freda freundet sich mit Albert an, einem ehemaligen Hitlerjugendlichen, gespielt von Jannik Schümann. Dieser greift einmal vor ihren Augen auf den verschmutzten Boden, hält ihr seine mit Dreck beschmierte Hand entgegen, sagt: „Das ist der Staub unserer Stadt. Die Asche, die von den Menschen geblieben ist.“ In den Arm hat er sich eine „88“ gebrannt …

Als Gegengewicht zum vernichteten Hamburg fungiert die in warmen Farben gefilmte Villa der Morgans. Gedreht wurde dafür in Schleswig-Holstein im Schloss Tralau. Allzu leicht wäre es, die Arbeit des Kameramanns Franz Lustig als elegant und umwerfend zu beschreiben, weil die Kulisse, die er abfilmt, elegant und umwerfend ausschaut. Es ist aber erst seine wunderbare Bildgestaltung, seine einfallsreiche Kinematographie, die aus „The Aftermath“ ein solches Vergnügen macht – insbesondere im Zusammenspiel mit der dezenten, meist nur subliminal wahrzunehmenden Filmmusik von Martin Phipps.

Welch düstere Historie selbst die schönsten deutschen Gemäuer haben, vergessen weder Film noch Rachael: In jedem requirierten Haus, das sie besucht, bemerkt sie ein weißes Quadrat an der Wand. Es sind die Umrisse eines abgehängten Gemäldes. „Wer hat da gehangen?“, will Rachael wissen. „Der Führer“, antwortet ihr eine Freundin. „Der Schandfleck, der nicht verschwindet.“

Die Metaphern sind groß, das Szenenbild von Sonja Kraus theatralisch, die Dialoge schwülstig, das Schauspiel der Hauptdarstellerin gewaltig. Obwohl die Situation im Haus der Morgans auch die Situation des besetzten Deutschlands widerspiegelt, in dem einstige Feinde plötzlich nebeneinanderher leben müssen, ist James Kent mit seinem fantastischen Erotikdrama von einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit der politischen Situation der frühen Nachkriegszeit weit entfernt. Sein Film entstammt der Tradition des goldenen Zeitalters des Hollywood-Kinos, ist als würdiger Erbe von „Doktor Schiwago“ oder gar „Vom Winde verweht“ zu verstehen.

Mit Ridley Scott als Regisseur wäre dieser Film so wohl nicht entstanden. Gut also, dass er sich für eine Produzententätigkeit entschied. Schade nur, wie Großteile der internationalen Filmkritik auf das fertige Werk reagierten. Wieso sollte „Kitsch“ ein Vorwurf sein, wenn er doch so inspiriert umgesetzt wird? Die altmodischen US-Melodramen sind vielleicht zurecht aus der Kino-Gegenwart verschwunden, vielleicht hat das Publikum aber auch verlernt, sich auf offenherziges Überwältigungskino einzulassen. Mit dieser Gattung Film ist es wie mit dem ersten Kuss: Wer sich einen Ruck gibt, kann danach regelrecht in Flammen stehen. Aber man muss sich dafür fallen lassen können. „Niemandsland – The Aftermath“ ist perfekt für alle, die genau das wollen – oder es erst lernen möchten.

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Bis ihre Klapper schlapper klang

Beitrag von Wallnuss » 23.12.2021, 16:08

Die Klapperschlange

Deutsche Filmtitel sind eine Wissenschaft für sich. Oft entscheiden Verleihe, die Originaltitel eines Films zu ignorieren, um auf eingängigere Formulierungen zu setzen. Anstatt die Komödie „Stripes“ einfach „Offiziersstreifen“ zu nennen, heißt sie hierzulande: „Ich glaub‘ mich knutscht ein Elch!“. Der Italowestern „The Good, The Bad and the Ugly“ hat im Original drei Titelfiguren: den Guten, den Bösen, den Hässlichen. Doch im Deutschen werden nur „Zwei glorreiche Halunken“ erwähnt. Und für den Filmklassiker „North by Northwest“ von Alfred Hitchcock war dem Verleih die Übersetzung „Von Nord- nach Nordwesten“ vermutlich zu unspektakulär, man wählte stattdessen „Der unsichtbare Dritte“.

Über Geschmack lässt sich in diesen Fällen streiten. Aber keine Aufzählung peinlicher deutscher Titelentgleisungen ist je komplett, wenn sie nicht den dystopischen Actionreißer enthält, der 1981 unter der Regie von John Carpenter zum Kult wurde: „Die Klapperschlange“. Warum der Titel so daneben ist? Es kommt überhaupt keine Klapperschlange im Film vor. Die Hauptfigur, der kernige Ex-Elitesoldat und Outlaw S.D. Plissken, besteht zwar darauf, „Snake“, also „Schlange“, genannt zu werden. Gemeint hat der Verleih aber wohl eher sein auffälliges, tierisches Tattoo am Oberkörper. Dummerweise braucht es allerdings keinen Tierforscher, um zu erkennen: Das ist keine Klapperschlange, sondern eine Kobra.

Vielleicht wäre es doch besser gewesen, den perfekten Originaltitel zu bemühen: „Escape from New York“, zu deutsch „Flucht aus New York“. Denn Carpenter, der zuvor bereits die Horrorfilm-Meisterwerke „Halloween“ und „The Fog“ drehte, schuf hier einen Film, dessen Name zugleich sein Programm ist: Im Jahr 1997 steht die Welt kurz vor einem Atomkrieg. Die USA haben vor den Aufständen ihrer Bevölkerung kapituliert, den ganzen New Yorker Stadtteil Manhattan eingezäunt und in ein riesiges Inselgefängnis verwandelt, aus dem es kein Entkommen gibt – außer durch den Tod.

Dieses Schicksal droht auch dem US-amerikanischen Präsidenten selbst, als antiimperialistische Terroristen sein Privatflugzeug kapern und es mutwillig über Manhattan abstürzen lassen. Zwar überlebt das Staatsoberhaupt, ist aber fortan Geisel der Kriminellen. Gefängniswärter Bob Hauk will Feuer mit Feuer bekämpfen – und so kommt Snake Plissken ins Spiel. Er ist gerade frisch verhaftet worden, man bietet ihm vollen Straferlass, wenn er den Präsidenten binnen 24 Stunden aus New York und damit aus seiner Misere befreit.

„Amerikaner lieben Gesetzlose! Wir haben eine Schwäche für Bösewichte“, wird John Carpenter im Zusammenhang mit „Die Klapperschlange“ zitiert. Erklärt das die Faszination hinter Snake Plissken? Kurt Russell jedenfalls wurde durch diese Rolle über Nacht zum Actionstar. Verdientermaßen, denn er funktioniert hervorragend als mythisch überhöhte Einmannarmee: Längst gestorben soll er eigentlich sein, betont nahezu jeder Charakter, dem Snake im Verlauf des Films begegnet. Carpenter hatte das Drehbuch zur Klapperschlange schon 1973 geschrieben, seine düstere, pechschwarze Sicht auf die USA, die er hier als korrupten Polizeistaat inszeniert, war geprägt durch den Watergate-Skandal.

Einen desillusionierten Söldner auf eine patriotische Mission zu schicken, war dabei der Kerngedanke für den Plot. Carpenter sagt von sich selbst: „Ich habe ein ernsthaftes Problem mit Autoritäten. Immer wenn ich mich ihnen widersetzen kann, mache ich das mit Freude.“ So ist es nicht schwierig, Snake Plissken als Alter Ego seines Schöpfers zu sehen. Der muskulöse Waffenexperte mit der charakteristischen Augenklappe ist wortkarg, lässt jedoch keine Chance ungenutzt, seine tiefe Verachtung für Staat und System durch einen zynischen Spruch auszudrücken. Als Hauk ihn über die Lage aufklärt, schlägt er nur lakonisch vor: „Besorgen Sie sich einen neuen Präsidenten.“ In Carpenters Filmwelt, in der jeder Funke des Widerstands sofort mit harter Hand von Oben unterdrückt wird, ist Plissken der letzte Rebell.

Wer den Film im englischen Original sieht, wird bemerken, dass Kurt Russell den ganzen Film hindurch klingt, als sei er insgeheim als Imitator von Filmstar Clint Eastwood engagiert worden. Das ist kein Zufall: Plissken basierte auf dessen berühmtesten Rollen, auf dem pessimistischen Polizisten „Dirty Harry“ und auf dem Revolverhelden aus dem Western „Für eine Handvoll Dollar“. Carpenter träumte seit Anbeginn seiner Karriere davon, einen Western zu drehen, und Snake Plissken wurde sein Pistolero: Ein einsamer Wolf, ein Gesetzloser, der nur den eigenen Ehrenkodex verfolgt. Mehr als nur eine kleine Genre-Hommage ist daher die Besetzung des Gefängnisdirektors mit Lee Van Cleef, der zu den populärsten Italowestern-Stars der Geschichte zählt.

Carpenters intelligente Zukunftsvision begeistert schon im Intro. Die dort zu hörende, bedrohliche Synthesizer-Musik, die er und Alan Howarth komponierten, stimmt auf die apokalyptische Endzeit-Atmosphäre ein. Die Produktion drehte in Missouri in der Stadt St. Louis, in der 1976 ein Brand ganze Häuserblöcke entstellte, die nicht wieder aufgebaut wurden. Sie ermöglichen bedrückende, klaustrophobische Bilder einer heruntergekommenen Zivilisation. Überall liegt Müll, Autos stehen kopfüber, Tonnen brennen vielerorts, ständig huschen Schatten vorbei. Die Gefahr scheint allgegenwärtig. In langen, konzentrierten Aufnahmen schafft Carpenter eine phänomenale, nachdenkliche Daueranspannung. Gleichzeitig bleibt er in den eruptiven Actionszenen dicht bei den Figuren, zeigt heftige, barbarische, maßlose Gewalt.

Sensationell gelingt es so in nur 99 Minuten, das fragile Gebilde des gesitteten menschlichen Miteinanders vorzuführen. Inmitten der Anarchie bilden sich neue Kleinstgruppen. Eine davon, die „Crazys“, so erfahren wir, wildern so umher, dass ihnen am Monatsende meist das Essen ausgeht – ihnen bleibt dann nur der Kannibalismus. Sex-Soulprotz Isaac Hayes spielt den Ghettomonarch Duke, der das archaische Recht des Stärkeren durch absurde Gladiatorenkämpfe durchzusetzen versucht. Edelmime Ernest Borgnine wiederum ist als Cabbie zu sehen, der weiter seiner Beteiligung als Taxifahrer nachgeht, ganz so, als hätte sich in New York nichts geändert. Naja, fast! Aufdringliche Passagiere wehrt er schon mal gutgelaunt mit einem Molotow-Cocktail ab.

Die handwerkliche Qualität dieses Genre-Meilensteins ist unbestritten. Ein Großteil des Films wurde in der Nacht gedreht, weshalb das Filmteam jeden Morgen eilig die Kulissen von den Straßen räumen musste. Für eine spektakuläre Sequenz, in der Snake mit einem Segelflugzeug auf dem World Trade Center landet, wurde das Dach des Nordturms aufwendig nachgebaut. Um das abgestürzte Flugzeug des Präsidenten zu zeigen, kaufte das Filmteam unter der Leitung von Ward Welton auf einem Schrottplatz eine Douglas DC-8, schnitt sie in drei Teile und legte sie brennend in St. Louis auf einer Kreuzung ab – ohne Genehmigung der Stadt. Angeblich behaupteten noch Wochen lang Anwohner, den nie stattgefundenen Absturz der Maschine mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Trotz der verblüffenden Anzahl spektakulärer Spezialeffekte, für die Roy Arbogast zuständig war, der zuvor an „Der weiße Hai“ und „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ arbeitete, verloren Carpenter und sein Co-Autor Nick Castle nie die Geschichte aus den Augen. Produzentin Debra Hill verstand „Die Klapperschlange“ gar als politischen Film, als Mahnung, stets den Schutz der Bürgerrechte zu wahren. Durchaus geschickt jonglierten die Macher mit realen Zukunftsängsten: 1981 war die weltweite Panik vor einem Atomkrieg allgegenwärtig, kurz zuvor hatten thematisch ähnliche Filme wie „Mad Max“ und „Stalker“ bereits große Erfolge gefeiert.

Dementsprechend ging „Die Klapperschlange“ nahtlos in die Popkultur ein. Der japanische Spieleentwickler Hideo Kojima war so nachhaltig vom Film beeindruckt, dass der ihn 1998 zur Videospielreihe „Metal Gear Solid“ inspirierte. Der Protagonist darin hat nicht nur eine Augenklappe, sondern heißt auch direkt Snake. Andere Figuren des Films waren ebenfalls Vorlagen für Charaktere der Spielreihe, wie Donald Pleasance als weinerlicher Präsident, Harry Dean Stanton als verbrecherischer Intellektueller und Adrienne Barbeau als waffenstarke Antiheldin. Ursprünglich wollte der französische Bezahlfernsehsender Canal+ als Mitbesitzer der „Die Klapperschlange“-Rechte deswegen gegen Kojima klagen, doch Carpenter verhinderte dies aus Sympathie zu dem Entwickler.

Noch eine unübersehbare Spur hinterließ die bleihaltige Flucht aus New York: Früh zu Beginn des Films lässt Bob Hauk dem miesgelaunten Snake zwei Sprengladungen in die Halsschlagader setzen, die ihm den Kopf sprengen sollen, falls er desertiert. Dieses Element faszinierte den Comicautoren John Ostrander so sehr, dass er es zur zentralen Prämisse für seine Comicreihe „Suicide Squad“ erklärte, in der ebenfalls Kriminelle mit Sprengstoff im Nacken im Gegenzug für Straferlass Aufträge für die Regierung ausführen. 2016 schaffte es die Selbstmordtruppe erstmals selbst auf die große Leinwand.

Kurt Russell war so in Snake Plissken und „Die Klapperschlange“ vernarrt, dass er Carpenter immer wieder zu einer Fortsetzung überreden wollte. 1996 gab der schließlich nach und drehte „Escape from L.A.“, der sich mehr als Neuverfilmung denn als echte Weiterführung entpuppte, auf das Klapperschlangen-Budget von 6 Millionen US-Dollar nochmal 43 Millionen drauflegte, aber Fans und Kritiker enttäuschte. Nur Titel-Fetischisten wurden endlich befriedigt: Im Deutschen hieß die Fortsetzung weder „Die Kreuzotter“ noch „Die Ringelnatter“, sondern schlicht „Flucht aus L.A.“.

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Der Bestechliche

Beitrag von Wallnuss » 24.01.2022, 16:39

Frost/Nixon

Als 1974 der Watergate-Skandal den ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon zu Fall brachte, war das ein Medienereignis: 400 Millionen Zuschauer sahen seine letzte Präsidentschaftsrede live im Fernsehen. Einer von ihnen war der Talkshow-Moderator David Frost, dessen Karriere zu dem Zeitpunkt stagnierte. Doch die Quoten von Nixons Abgang brachten ihn auf eine Idee: Ein Interview mit diesem Mann könnte seine Chance auf Nobilitierung bedeuten. Dafür riskierte er alles: Da kein TV-Sender ihn finanziell unterstützen wollte, bot er Richard Nixon stolze 600.000 Dollar, um ihn aus seinem Domizil an der Westküste zu locken. Der nahm an. Er wollte sich mitteilen, seine politische Reputation wiederherstellen.

Seine Berater fanden, Frost sei dafür der ideale Mann. Sie nahmen den übertrieben schick gekleideten Ausländer, dessen bis dato größtes Interview er mit den Bee Gees führte, nicht für voll, erachteten ihn bloß als Stichwortgeber, den das rhetorische Genie Richard Nixon leicht austricksen könne. Sie sollten sich irren. Gewaltig. Das Interview, aufgeteilt auf 12 Tage, mit einer Gesamtlänge von 28 Stunden, wurde für Nixon zum Desaster. Frost nagelte ihn beim Thema Watergate fest und bot ihm den Prozess, dem er zuvor entkommen war, weil – zum Ärger eines Großteils des US-amerikanischen Volkes – sein Präsidentschaftsnachfolger Gerald Ford ihn für sämtliche Vergehen vollständig begnadigte. Das Gespräch mit Nixon, das in vier 90-minütigen Sendungen ausgestrahlt wurde, schrieb TV-Geschichte. Die letzte Ausgabe zog 45 Millionen US-Zuschauer vor die Flimmerkisten – bis heute ein Talkshow-Rekord. Frost gewann das Interview, das längst ein Duell geworden war.

Ein Duell, welches den gefeierten britischen Autoren Peter Morgan drei Jahrzehnte später zu einem Theaterstück inspirierte. 2006 wurde die Geschichte um die Vorbereitung des Interviews und die schicksalsträchtige TV-Aufzeichnung in London uraufgeführt, so erfolgreich, dass es kurz darauf auch am Broadway gespielt wurde. Doch eine Geschichte, die ihren Ursprung auf den Bildschirmen nahm, findet wohl unweigerlich dorthin zurück – so erschien bereits 2008 die verfilmte Version in den Kinos. Das Drehbuch dafür schrieb Peter Morgan gleich selbst, als Regisseur kam Ron Howard an Bord. Er hatte schon zuvor biografische Geschichten angenommen und sie in Filmen wie „Apollo 13“ und „A Beautiful Mind“ zu glossigen, rührseligen Hollywood-Melodramen umfunktioniert.

Bei „Frost/Nixon“ ist davon keine Spur mehr: Er geht das intellektuelle Sujet ernst an, widersteht jedem Versuch, sich mit kitschigen oder sentimentalen Elementen dem Massenpublikum anzubiedern. Bravourös und raffiniert gelingt es ihm, die kammerspielhafte Spannung des Bühnenstücks auf die Leinwand zu transportieren. Dabei machen er und sein Kameramann Salvatore Totino übermäßig Gebrauch von dem filmischen Stilmittel, welches bereits beim Theaterstück Verwendung fand: die Nahaufnahme. Dank Kameras auf der Bühne konnten die Zuschauer über Monitore direkt in die Gesichter der Schauspieler gucken. Schon für das Theater war dies ein brillanter Einfall, denn Morgans Stück ist als große Medienkritik zu verstehen: Wie Politik zu einer einzigen Inszenierung wird, zur Show, in der die Akteure nur an Optik und Auftreten gemessen werden, ist das substanzielle Futter dieser Interview-Adaption.

Frost etwa versprüht stets einen ungeheuren Charme, das Scheinwerferlicht schmeichelt ihm. Nixon wiederum taugt nicht zum Charismatiker, die Fernsehkameras sind ihm nicht gnädig. Experten gehen davon aus, dass er die Präsidentschaftswahl 1960 gegen John F. Kennedy deshalb verlor, weil im TV-Duell die Schweißperlen auf seinem Gesicht in den Nahaufnahmen deutlich zu erkennen waren und er so auf das TV-Publikum unprofessionell wirkte. Am Ende des Films sinniert der Republikaner, beide hätten das falsche Leben gewählt: Er wäre als unbequemer Fragesteller ideal gewesen, Frost hätte es dagegen als Politiker weit gebracht.

Die Umsetzung als 122-minütiger Kinofilm rechtfertigen allein schon das Dekor, die Frisuren, die authentischen 70s-Klamotten sowie das detailverliebte Produktionsdesign: Gedreht wurde an Originalschauplätzen, in Nixons Haus in San Clemente sowie in Frosts Hotel-Suite. Hans Zimmer steuerte die Filmmusik bei und verzichtete auf seine bekannte Bombast-Untermalung, stattdessen bietet er herausragende leise Zwischentöne. Die Bühnenversion aber liefert die wichtigsten Ideen zur Inszenierung: Im Theater wendeten sich die Berater der beiden Widersacher direkt mit ihren Kommentaren an das Publikum. Howard behält dies bei, indem er wiederholt Szenen einschiebt, in denen die Charaktere aus dem Rückblick berichtend in die Kamera erzählen, so als sei „Frost/Nixon“ kein Spiel-, sondern ein Dokumentarfilm – womit er Morgans medienkritischem Ansatz eine zusätzliche Metaebene überstülpt.

Zu einem so delikaten Vergnügen wird „Frost/Nixon“ aber erst durch seine Besetzung. Für die Hauptrollen wurden die Bühnenstars der Erstbesetzung zurückgeholt. Michael Sheen spielt somit David Frost. Brillant verkörpert er den Moderator als Karrieristen, der die Herausforderung sucht und dabei kein Scheitern kennt. Zur Zeit der Interviews war Frost mit der Britin Caroline Cushing zusammen, und Morgan nutzt diese Beziehung, um Frost als Playboy zu zeigen, der sich nimmt, was er will: Im Flugzeug lernt er Cushing kennen, bezaubernd von Rebecca Hall gespielt. Mit selbstsicherem Perlweiß-Grinsen erobert er in Windeseile ihr Herz.

Frank Langella, der für seine Bühnen-Performance als Richard Nixon mit einem Tony-Award geehrt wurde, steht dem in Nichts nach. Weniger machiavellistisch als 1995 noch Anthony Hopkins in „Nixon“ von Oliver Stone, verkörpert er den Staatsmann als intelligenten, widerstandsfähigen Kämpfer, der sich mit dem Ruhestand nicht zufriedengibt – und dabei eine fatalistische Selbstsicherheit ausstrahlt. Das Skript verharmlost Nixons Charakter nicht: Sein Gesicht drückt Ekel aus, als er davon hört, Frost sei einmal mit einer schwarzen Frau, der Schauspielerin Diahann Carroll, verlobt gewesen. Doch Morgan ist bemüht, Nixon als Menschen zu zeigen und Langella spielt auch auf der Leinwand so phänomenal, dass er zurecht bei den Oscars als ‚Bester Hauptdarsteller‘ nominiert wurde (vier weitere Nominierungen gab es in den Kategorien ‚Bester Film‘, ‚Beste Regie‘, ‚Bestes adaptiertes Drehbuch‘ und ‚Bester Schnitt‘, doch der Film ging leer aus).

Auch die restlichen Schauspieler sind grandios: Kevin Bacon ist als loyalster Vertrauter von Nixon sensationell, übertroffen wird er nur von Sam Rockwell, der als idealistischer Liberaler mit dem nach Ruhm gierenden Frost, für den er zu Watergate recherchiert, in Konflikt gerät. Er ist fassungslos, als Nixon sich in den Interviews aufgrund von Frosts Unachtsamkeit leicht aus jeder Misere reden kann. Auf die peinlich-provokante Einstiegsfrage, warum er die Tonbandmitschnitte aus dem Oval Office, die gegen ihn verwendet wurden, nicht einfach verbrannt habe, antwortet Nixon mit einer erschlagenden 23-minütigen Rede, welche der Frage ultimativ ausweicht. Später gesteht er ein, den Vietnamkrieg nach Kambodscha ausgeweitet zu haben, aber doch nur, um damit Waffenlager der Kommunisten zu vernichten – womit er vielen US-Soldaten das Leben gerettet hätte. Gegen diese rasiermesserscharfe Artikulationswucht kommt Frost lange nicht an.

Ihr verbales Kräftemessen ist psychologisch dermaßen eindringlich geschrieben und so dicht an der Wirklichkeit, dass die Versuchung groß ist, sich zu der Phrase „Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst“ hinreißen zu lassen. Die beste Szene dieses Films aber schrieb das Leben nicht, sie ist gänzlich fiktiv. Wenige Nächte vor dem letzten Interview ruft ein betrunkener Richard Nixon seinen Gegenspieler in dessen Hotelzimmer an. Er erklärt Frost in einem geradezu gespenstischen Monolog, wie viel sie verbinde: Sie beide stammen aus der Arbeiterklasse, haben sich in die elitären Kreise hocharbeiten müssen, sich jede Schwäche, jede Verletzlichkeit abtrainiert. „Haben die Snobs auch auf Sie herabgeblickt?“, fragt er. Seine Stimme bricht.

Kein noch so meisterhafter Watergate-Film kann gedreht werden, ohne Assoziationen mit „Die Unbestechlichen“ zu wecken, jenem grandiosen Journalismus-Thriller, der schon 1976 von den Mitarbeitern der Washington Post erzählte, deren Recherche-Arbeit erst das ganze Ausmaß des Skandals aufdeckte und Nixon das Amt kostete. Doch an noch einen anderen Film aus demselben Jahr erinnert „Frost/Nixon“. Wie er die Geschichte der Interviews als Underdog-Fabel verpackt, um einen David, der einen übermächtigen Goliath zu Fall bringt, ähnelt dem wohl größten Aufsteigermärchen des US-Kinos: „Rocky“. Kein Zufall! Als Morgan die Arbeit am Theaterstück begann, stellte er sich zuallererst tatsächlich die Frage: „Wie erzähle ich einen Boxkampf nur durch Dialoge?“

Folgerichtig entscheidet in „Frost/Nixon“ am Ende ein einziger vernichtender Fausthieb das Duell: Habe er das Volk nicht mit seinem Handeln im Watergate-Skandal verraten, fragt Frost sein Gegenüber. Könne er wenigstens diesen einen Fehler, diese Straftat eingestehen? „Nein“, entfährt es Nixon. „Wenn der Präsident etwas tut, bedeutet das, dass es nicht illegal ist.“ Ein Satz, der – wie ein zeitgenössischer Spiegel-Artikel schrieb – so klingt wie: „Der Führer hat immer recht.“ Dieser eine Satz offenbarte die ungeheuerliche Hybris Nixons. Er brachte einer ganzen Nation die bitternötige Katharsis, und ließ Frost triumphierend aus dem Ring gehen. Sieg durch Knockout.

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Alice im Zombieland

Beitrag von Wallnuss » 14.02.2022, 18:44

Resident Evil

Ein direkter deutscher Ausdruck für den Begriff „Guilty Pleasure“ findet sich nicht. Die wörtliche Übersetzung wäre: „Schuldiges Vergnügen“. Gemeint sind damit u. a. Filme, die man gerne sieht, obwohl man sie eigentlich als schlecht empfindet, die einem also ein wenig peinlich sind. Fast jeder Filmfan wird seinen obskuren Favoriten haben, für manche sind „Guily Pleasures“ so definierend wie ihre großen Lieblingsfilme. Kein Problem damit, sein „schuldiges Vergnügen“ mit der Welt zu teilen, hatte Star-Regisseur James Cameron. Im Jahr 2014 beantwortete das „Titanic“-Mastermind auf der Online-Plattform Reddit Fragen seiner Fans – und wurde nach seinem „Guilty Pleasure“ gefragt. Seine Antwort: „Resident Evil“.

Was macht „Resident Evil“ zu einem „Guilty Pleasure“, nicht nur für Cameron, sondern für viele Filmfans, die auf Reddit dem Regisseur schnell beipflichteten? Zuerst stellt sich die Frage nach dem Schuldgefühl: Der Zombiehorrorthriller sammelte schon bei seinem Kinostart 2002 massenweise schlechte Kritiken ein. Viele davon kamen von enttäuschten Fans, denn der Film basierte auf einer gleichnamigen japanischen Videospielreihe des Unternehmens Capcom, die seit ihrem Start 1996 die Erzählweise des Game-Mediums revolutionierte. Dennoch sollte der „Resident Evil“-Film nicht als Adaption bezeichnet werden. Abgesehen von Genre, Titel, zwei Monstern und wenigen Namen blieb aus den Spielen nichts für die Leinwandversion übrig.

Natürlich erzürnte das die Fans – erst recht als bekannt wurde, dass Produzent Bernd Eichinger vorab ein Drehbuch ablehnte, das einerseits nahe am Plot der ersten zwei Spiele liegen sollte und andererseits von George A. Romero, dem Meister des Zombiefilmgenres, verfasst wurde. Statt ihm wurde Paul W. S. Anderson für Drehbuch und Regie rekrutiert. Er hatte zuvor bereits mit „Mortal Kombat“ die bis dato erfolgreichste Videospielverfilmung verantwortet, aber schon da die Vorlagen weitgehend ignoriert.

Sein „Resident Evil“ spielt größtenteils im unterirdischen Forschungslabor der sogenannten Umbrella Corporation, die heimlich Biowaffen entwickelt. Dort gab es einen Ausbruch eines T-Virus, welches in der Lage ist, tote Zellen wiederzubeleben – und damit jeden Infizierten zum Untoten werden lässt (das Wort „Zombie“ vermeidet der Film im Originalton gänzlich). Eine noch unwissende Eliteeinheit soll im Labor den Zentralcomputer, eine Künstliche Intelligenz namens „Red Queen“, abschalten und den Tod sämtlicher Mitarbeiter untersuchen. Mit im Schlepptau haben sie eine schöne Frau ohne jede Erinnerung, die oberhalb der Anlage als Sicherheitskraft wohnte. Als im Labor das Virus ausbrach, versuchte die „Red Queen“, den Ausbruch einzudämmen. Zu den Sicherheitsvorkehrungen gehörte auch, in der oberen Anlage ein Nervengas zu versprühen, zu dessen Nebenwirkungen Gedächtnisverlust zählt.

Wozu so ein Nervengas gut sein soll? Diese Frage darf besser nicht gestellt werden und wird auch vom Film nie beantwortet. In erster Linie bietet das Gas Anderson einfach viele Gelegenheiten, Exposition unterzubringen. Da die Amnesiegeplagte sich an nichts erinnert, müssen ihr die Elitesoldaten sämtliche Vorgänge minutiös erklären. Ähnlich subtil erzählt Anderson den ganzen Film: Nahezu alle Dialoge bestehen aus militärischen Kommandos, die durchgängig die Handlung verbalisieren. Auf Charakterzeichnung legt das Drehbuch die vollen 100 Minuten keinen Wert. Selbst den Namen der Protagonistin erfährt das Publikum nur im Abspann: Als Rollenname wird für die Heldin Alice angegeben.

Anderson meint diesen Namen als Anspielung auf „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll und streut wahllos ein paar Referenzen an den Romanklassiker ein. Ein weißes Kaninchen hat kurz Relevanz und der Geheimeingang zur unterirdischen Welt findet sich „hinter den Spiegeln“. Diese Meta-Spielerei bietet keinen Mehrwert, den fand der Regisseur dafür hinter der Kamera. Hauptdarstellerin Milla Jovovich und er wurden nach dem Dreh ein Paar, heirateten im Jahr 2009 und arbeiteten weiter zusammen: Bis 2016 wurden ganze fünf „Resident Evil“-Fortsetzungen produziert. Anderson schrieb alle davon und inszenierte drei der Filme, Jovovich spielte ihre Alice bis zum Schluss.

Der durchaus beachtliche finanzielle Erfolg des Films ermöglichte den Ausbau zur Franchise, doch erlaubt dieser keinen Rückschluss auf die Qualität. „Resident Evil“ fiel bei der Fachpresse durch. Filmkritiker und Pulitzer-Preisträger Roger Ebert nannte den Film und die erste Fortsetzung „Resident Evil: Apocalypse“ sogar auf der Liste seiner meistgehassten Filme. Hier liegt James Cameron mit dem „Guilty Pleasure“-Begriff richtig: Wenn „Resident Evil“ gefällt, dann als absurdes Trash-Vergnügen. Ernstnehmen lässt sich das formelhafte Script nicht, das sämtliche Klischeeszenarien des Zombiehorrors in Windeseile abspult und spätestens im stümperhaft getricksten Finale jeden Versuch aufgibt, mit überzeugenden Schockmomenten aufzuwarten.

Dennoch hat das Untotengemetzel einen Reiz, der sich nur schwerlich leugnen lässt. Die Action, größtenteils Dauergeballer auf schlurfende Mutanten, inszeniert Anderson bestenfalls routiniert, schlimmstenfalls uninspiriert, einen gewissen Stil kann man seiner Regie aber nicht absprechen. Seine Faszination für die alten Meisterwerke von John Carpenter ist sofort erkennbar, nicht nur an der bläulich-kühlen, distanzierten Bildsprache, sondern auch anhand der Filmmusik, für die er einmal den durch die „Scream“-Reihe horrorerprobten Marco Beltrami und zusätzlich den Skandal-Musiker Marilyn Manson verpflichtete. Beide verpassen den untoten Gegenspielern gar eine Rock’n’Roll-Attitüde: Wo immer ein Zombie im Bild erscheint, ertönen rotzige Gitarrenriffs.

Pulp ist das durch und durch, mit gutem Willen lässt sich auch leichte Selbstironie erkennen. Als direktes Überbleibsel der Vorlagen aus Bits und Bytes haben es beispielsweise ein paar untote Dobermänner, Zombiehunde also, in den Film geschafft. Grandios lachhaft übersteuert ist ihr Angriff auf Alice, bei dem Jovovich erst als abgebrühte Amazone fleißig Kopfschüsse verteilt und in Reminiszenz an „Matrix“ schließlich an der Wand hochrennt und per Sprungtritt den letzten Vierbeiner ins Nirvana befördert. Ein echter Stunt, für den die engagierte Schauspielerin über drei Monate trainierte.

Eingebrannt hat sich im kollektiven Gedächtnis der Filmgeschichte zudem eine tatsächlich großartige Szene, in der mehrere der bewaffneten Soldaten in einen Gang geraten, der sich als perfide Falle entpuppt. Hier rasen plötzlich Laserstrahlen vertikal durch den Raum und schneiden die Soldaten in zwei Teile. Einzig der Anführer, gespielt von Colin Salmon, der in mehreren „James Bond“-Filmen als Kollege von 007-Darsteller Pierce Brosnan auftrat, kann den Lasern ausweichen – ehe diese plötzlich ein dichtes Gitternetz bilden und ihn in kleine Würfel schneiden. Die vom Horrorhit „Cube“ inspirierte Szene war derartig gelungen, dass selbst die Programmierer bei Capcom ihr Tribut zollten und einen ähnlichen Level als Hommage in ihrem Videospiel „Resident Evil 4“ einbauten.

Für deutsche Zuschauer dürfte noch interessant sein, dass größtenteils in Berlin gedreht wurde. Viele Aufnahmen entstanden im Studio Berlin Adlershof, eine längere Szene rund um einen unterirdischen Zug wurde am damals noch unfertigen U-Bahnhof ‚Bundestag‘ der Berliner Linie U5 gedreht – für Ortskundige leicht an den charakteristischen Säulen des U-Bahnhofs zu erkennen. Das Schloss Lindstedt in Potsdam diente für die Villa, in der Alice oberhalb des Laborkomplexes lebt. Zudem finden sich unter der Besetzung als Söldner der Schweizer Musiker Pasquale Aleardi sowie die deutsche Schauspielerin und Moderatorin Heike Makatsch als Laborantin. So viel sei zu ihren Rollen gesagt: Beide machen auch als Zombie eine gute Figur.

Großer, gedankenloser Quatsch ist „Resident Evil“ zweifelsohne, doch so ganz wundert es nicht, dass der Film in James Cameron einen Bewunderer fand. Vor allem der Nebenhandlungsstrang um die „Red Queen“, den Zentralcomputer des Labors, der, um das Virus im Labor zu halten, alle Mitarbeiter einschloss und zum Tode verdammte, dürfte sein Interesse geweckt haben. Die Konstellation erinnert direkt an die großen antagonistischen Künstlichen Intelligenzen der Filmgeschichte, etwa HAL-9000 aus „2001: Odyssee im Weltraum“ oder natürlich an den tödlichen „Terminator“, den James Cameron selbst erfand.

Doch Anderson verfällt nicht in das bekannte binäre Gut-gegen-Böse-Schema im Kampf zwischen Mensch und Maschine. Statt eines Muskelpakets oder einer bedrohlichen tiefen Stimme wird die „Red Queen“ durch das Hologramm eines kleinen Mädchens dargestellt. Und das sagt dann zwar die obligatorischen Hiobsbotschaften à la „Ihr werdet alle sterben“, ist aber keine ausschließlich gegnerische Kraft: Die Überlebenden und die „Red Queen“ sind für die Erfüllung ihrer Ziele voneinander abhängig und arbeiten streckenweise zusammen.

Außerdem dürfte es dem erklärten Feministen Cameron gefallen haben, dass sich hier gleich zwei Frauen als Actionheldinnen empfehlen. Neben Milla Jovovich ist noch Michelle Rodriguez dabei, bekannt aus „The Fast and the Furious“. Als Söldnerin mit losem Mundwerk könnte sie direkt aus Camerons „Aliens – Die Rückkehr“ entnommen sein. Einige Jahre später fand daher zusammen, was zusammengehört: Cameron besetzte Rodriguez in nahezu identischer Rolle 2009 für sein erfolgreiches Kino-Epos „Avater – Aufbruch nach Pandora“.

Aber wie erklärt sich James Cameron selbst, dass „Resident Evil“ sein größtes „Guilty Pleasure“ ist? Gar nicht. Auf Nachfrage verriet der Filmemacher bei Reddit bloß: „Ich mag den Film einfach! Ein ‚Guilty Pleasure‘ muss man nicht verteidigen.“

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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von Cinefreak » 14.02.2022, 18:49

Ist ja witzig, dass du das Thema Guilty Pleasures ansprichst - das ist nämlich genau unser Thema in der diesmonatigen Podcast-Folge von unserem D.A.S.- Podcast. ;) U. a. besprechen wir ARMAGEDDON, das CATS-Remake, Con air, Speed 2 und einiges mehr :cool:

"Resident Evil" fand ich beim ersten ansehen sehr spannend, ich mag aber - vermutlich auch als einer der wenigen hier im Forum - den zweiten, actiongeladeneren Teil ne Ecke lieber ;)
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von deBohli » 14.02.2022, 19:26

Für mich war die Reihe auch immer ein Vergnügen, aber nur wegen Milla Jovovich. Am besten fand ich aber den dritten Teil, da stimmt das Setting und die Inszenierung. Danach ging es rapide bergab.
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Apocalypse Mau

Beitrag von Wallnuss » 21.02.2022, 16:53

Resident Evil: Apocalypse

Bei TV-Serien ist es gängige Praxis, einzelne Episoden mit einem kurzen „Was bisher geschah“-Segment beginnen zu lassen, in dem die wichtigsten vorangegangenen Ereignisse noch einmal nacherzählt werden – falls jemand die Woche zuvor nicht einschalten konnte. Der zweite Teil der sehr losen Videospieladaption „Resident Evil“, Zusatztitel: „Apocalypse“, eröffnet mit einem ebensolchen Segment. Actionheldin Milla Jovovich berichtet in ihrer Rolle der Alice, wie sie als ehemalige Sicherheitsangestellte der Umbrella Corporation in einem unterirdischen Labor gegen Zombies kämpfen musste, die durch den Ausbruch eines sogenannten T-Virus entstanden. Wieder an der Oberfläche musste sie, als eine von nur zwei Überlebenden, mit Schrecken feststellen, dass das Virus auch in der fiktiven Metropole Raccoon City ausgebrochen ist.

Als Paul W. S. Anderson seinen B-Horrorfilm im Jahr 2002 so endete, zitierte er nicht nur die deprimierenden Enden des 70er-Jahre-Kinos, er schielte bereits in Richtung Fortsetzung. Obwohl „Resident Evil“ mit seinen Gaming-Vorlagen so wenig gemein hatte, dass er von Fans nahezu einstimmig Schelte erhielt, spielte der Film bei 33 Millionen US-Dollar Kosten über das Dreifache wieder ein. Sofort begann Anderson mit dem Drehbuch für das Sequel und er gelobte den Anhängern Besserung: Für den Plot orientierte er sich am dritten Teil der Videospielreihe, baute bekannte Charaktere ein wie die Polizistin Jill Valentine, den Söldner Carlos Olivera und Nemesis, einen Zombie-Monster-Hybrid in Lederklamotten.

Nur die Regie gab er schweren Herzens ab: Als großer Fan der „Alien“- und „Predator“-Filme, konnte er nicht widerstehen, das Crossover „Alien vs. Predator“ zu inszenieren. Sein Regie-Nachfolger wurde Alexander Witt, der zuvor als Leiter der zweiten Staffel bei Filmen wie „Gladiator“, „Die Bourne Identität“ oder „Fluch der Karibik“ Erfahrungen mit Actionszenen sammelte. Mehr Vorwissen brauchte er für „Resident Evil: Apocalypse“ nicht, denn mit dem Horrorkino hat die Fortsetzung nichts mehr zu tun. Stattdessen ist der Minimal-Plot die Vorlage für eine 93-minütige Ballerorgie.

Die Umbrella Corporation hat ganz Raccoon City abgeriegelt, nun rennen hunderttausende Untote durch die Straßen. Alice und einige andere Überlebende schießen sich die ganze Nacht in endlosen Gefechten den Weg frei und haben dabei Zeitdruck, denn am nächsten Morgen soll eine Atombombe die Stadt vernichten. Immerhin: Dieses Mal standen gar 45 Millionen US-Dollar zur Verfügung, von denen gar die Hälfte die Pyrotechnik verschlungen haben dürfte.

War der Vorgänger als knackiges Pulp-Remmidemmi noch eingeschränkt vergnüglich, ist Andersons Drehbuch für die Fortsetzung dramaturgisch eine Frechheit. Die ersten zwanzig Minuten verbringt „Apocalypse“ damit, haufenweise unsympathische Stereotypen einzuführen, darunter die egozentrische Reporterin, der raubeinige Söldner mit dem großen Herzen und das rassistische Paradebeispiel des dauerquasselnden Afroamerikaners. Sie alle erleben von da an bleihaltige Mini-Abenteuer, ehe sie im noch bleihaltigeren Finale einander begegnen.

Zocker werden nur wenig Freude daran haben, in den vielen Schusswechseln ihre einst spielbaren Figuren wieder zu entdecken. Die britische Schauspielerin Sienna Guillory etwa ist als Jill Valentine zwar optisch ideal besetzt, tut aber nicht mehr, als mit steifem Gesichtsausdruck fürchterlich peinliche Actionfilm-Sprüche aufzusagen. Ihr aus den Spielen entnommener blauer Minirock kann kein bisschen darüber hinwegtäuschen, dass ihre filmische Charakterzeichnung der ihres virtuellen Pendants meilenweit unterlegen ist.

Um aufzuzeigen, wie stupide und hohl sich dieser Film entwickelt, reicht es, wenige Szenen genauer zu beschreiben: In einer beispielsweise verstecken Jill und weitere Überlebende sich in einer Kirche, als sie von mutierten Zombieviechern attackiert werden. Als ihnen die Munition ausgeht, kracht aus dem Nichts plötzlich Alice auf einem Motorrad durchs Kirchenfenster. Per Rückwärtssalto springt sie von ihrem Gefährt ab, dieses kracht in eines der Monster. Mit zwei Pistolen schießt sie dem Fahrzeug nach. In Zeitlupe treffen die Patronen den Gastank des Motorrads und lösen eine gewaltige Explosion aus. Woher Alice wusste, dass sich in der Kirche andere Überlebende in Gefahr befinden? Nicht fragen! Stil triumphiert hier grundsätzlich über Substanz, so fragwürdig er auch sein mag.

Zweites Beispiel gefällig? Kurz darauf flieht die Gruppe um Alice und Jill über einen Friedhof, als dort vielzählig Untote aus ihren Gräbern aufsteigen und sich von Milla Jovovich und Co. eine volle Ladung an Roundhouse-Kicks abholen. Eine klassische Zombiefilmszene, mag man argumentieren, doch leider wurde die Funktionsweise des T-Virus noch im Vorgänger explizit so erklärt, dass längst Verstorbene nicht zu Zombies werden dürften. Wohl absichtlich wurde diese Erklärung im anfänglichen „Was bisher geschah“-Segment nicht wiederholt. Wer sich erinnert, ist selbst schuld.

Anderson und Witt wussten vermutlich selbst, auf welch dünnem Eis sich ihr Film bewegt. Daher bedienen sie sich für „Resident Evil: Apocalypse“ großzügig bei anderen Filmen. Das Szenario der hermetisch abgeriegelten Stadt Raccoon City (die in Panorama-Aufnahmen schnell als ihr Drehort Toronto zu erkennen ist), aus der die Hauptfiguren in einer Nacht flüchten müssen, ist dreist bei „Die Klapperschlange“ von John Carpenter entnommen. Als sie ein Wissenschaftler (ausdruckslos gespielt von Jared Harris) kontaktiert, der ihnen von außerhalb helfen will, sollten sie seine kleine Tochter aus der Stadt eskortieren, lässt „Aliens – Die Rückkehr“ grüßen, da Alice für das junge Mädchen eine Art Ersatzmami mit Maschinengewehr wird.

Dass sich Witt bei den Aufnahmen der Zombiescharen an „Dawn of the Dead“ orientiert, dem Überklassiker von George A. Romero, ist naheliegend, weniger aber seine anderen Inspirationsquellen. Ein kurzer Ausflug in eine Schule, inklusive Zombie-Grundschüler, soll an den japanischen Horrorhit „Ring“ erinnern. Eine im Anschluss von den Kameramännern Christian Sebaldt und Derek Rogers grauenhaft unübersichtlich gefilmte Flucht vor zwei Zombiehunden durch die Schulküche imitiert unfreiwillig komisch die ikonische Küchenszene aus „Jurassic Park“.

Da Alice dank Experimenten der Umbrella Corporation jetzt nie näher erklärte Superkräfte wie übermenschliche Stärke, erhöhte Wahrnehmung und Telekinese hat, verkommt jede überstilisierte Kampfeinlage von ihr zur obskur-vergurkten Mixtur aus vergleichbaren Sequenzen in „Blade“ oder „Matrix“. Selbst der menschliche Antagonist ist uninspiriert abgekupfert: Der deutsche Thomas Kretschmann spielt seinen Umbrella-Befehlshaber unverhohlen als biederen Nazi-Verschnitt – wenig überraschend, da sich Kretschmann nach Filmen wie „Stalingrad“, „U-571“ oder „Der Pianist“ längst als Hollywoods Favorit für Faschisten etabliert hatte. Kaum erwähnenswert: Selbst die Filmmusik von Jeff Danna leistet nicht mehr, als die Soundtracks der Videospiele nachzuahmen.

In Summe ist diese lärmende Action-Collage eher ermüdend denn spannend, der hölzernen Milla Jovovich fehlt das Charisma, um diese Chose zu tragen und die Kampfszenen müssen so mies choreographiert gewesen sein, dass der verantwortliche Editor Eddie Hamilton keine andere Wahl hatte, als sie in einer irren Frequenz zu zerschneiden. Leider lassen sich die Bewegungsabläufe unter diesen Stakkatoschnitten und rasanten Verwisch-Effekten jetzt nur noch erahnen. Selbst das Sounddesign ist dilettantisch: Wann immer Alice einem Menschen, Zombie oder dem – nach Videospiel-Logik – „Endgegner“ Nemesis ins Gesicht tritt oder schlägt, ertönt das immer gleiche Geräusch, das verdächtig an die Peitsche von Indiana Jones erinnert.

Aber steckt hinter all dem vielleicht doch mehr als gedacht? Schon in seiner Kritik zum ersten „Resident Evil“ prophezeite Hans Schifferle von der Süddeutschen Zeitung eine Wiederentdeckung des Zombiegenres unter den Vorzeichen des 21. Jahrhunderts und begründete dies mit der Verunsicherung „einer losgelösten Welt nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs“. Eine treffende Beobachtung: Anders als in klassischen Zombiefilmen dienen die Untoten bei „Resident Evil“ nicht als Gesellschafts- und Konsumkritik an einer gedankenlosen Masse, sondern zeigen eine globalisierte Gesellschaft, in der politische Institutionen machtlos gegen Konzerne wie Umbrella sind, für die Menschen nur noch im machiavellistischen Sinne „Mittel zum Zweck“ darstellen.

Dass dies intendiert sein könnte, darauf verweist das Ende des Films. Im letzten Kampf zwischen Alice und Nemesis erkennt sie, dass sich unter dem Zombiekoloß der andere Überlebende des Vorgänger-Films verbirgt, jetzt als Zombie-Cyborg ferngesteuert von Umbrella. Der Mensch verkommt in der Welt der Konzerne also zur Maschine, zum „Terminator“. Alice verschont Nemesis daraufhin, der sich von seiner Programmierung losreißt und seine Peiniger attackiert. Nach getaner Arbeit will Alice ihren Umbrella-Gegenspieler den Untoten überlassen. „Durch meinen Tod würde sich nichts ändern“, fleht Kretschmanns Charakter. „Nein“, sagt Alice und opfert ihn dennoch dem hirntoten Kollektiv: „Aber es ist ein Anfang.“

Man kann diese Schlichtheit des B-Kinos bewundern oder sich von ihr kopfschüttelnd abwenden. „Resident Evil: Apocalypse“ lässt sich als Zeitgeist-Dokument oder als gewaltverherrlichender Nonsens begreifen. Wahr ist aber auch: Erneut pokerten die Macher mit einem offenen Ende auf Fortsetzungen und behielten recht. 129,3 Millionen US-Dollar spielte der Film im Jahr 2004 ein. Bis 2016 folgten noch vier weitere Teile. Immerhin: So wenig, wie in „Apocalypse“ passiert, konnte sich der direkte Nachfolger „Resident Evil: Extinction“ wenigstens die anfängliche Erzählzeit für ein weiteres „Was bisher geschah“-Segment sparen.

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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von Cinefreak » 21.02.2022, 17:04

Der zweite Teil der RE-Reihe kam hier im Forum teilweise nicth gut weg. Ich schwimme da gerne gegen den Strom, empfinde ihn als straight und rund und schaue ihn immer mal wieder gerne, was wohl auch daran liegt, weil ich dem Genre Action-Horror recht zugetan bin und Horrorfilme oft eher feiere, wenn sie mit ein wenig Action gewürzt sind. Der erste war da eher auf Spannung gemacht, der zweite vereinigte beides, und wie gesagt, ich mochte den immer ganz gerne.
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Aller guten Dinge sind frei

Beitrag von Wallnuss » 10.03.2022, 20:11

Toy Story 3

„Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter!“ – Das Lebensmotto des Spielzeug-Sternenkriegers Buzz Lightyear könnte auch als die Maxime seiner Schöpfer, den Animationsfilmkünstlern von Pixar, verstanden werden. 1995 waren sie noch eine kleine Gruppe Verrückter, die in Hollywood ein ganzes Filmsegment neu definierten: „Toy Story“, der erste vollständig am Computer animierte Spielfilm, veränderte die technischen Möglichkeiten des Mediums. Buzz, einer der Helden dieses bemerkenswerten Films, wurde schlagartig fester Bestandteil der Popkultur. Vier Jahre später glückte Regisseur John Lasseter der Geniestreich ein zweites Mal, er schuf mit „Toy Story 2“ eine der wenigen Fortsetzungen der Filmgeschichte, die als ebenbürtig mit ihrem Vorgänger angesehen wird. Von hier an ging eine Dekade ins Jahr. Pixar zementierte seinen Ruf als kreativstes Studio des US-Kinos mit famosen Mega-Hits wie „Ratatouille“, „Findet Nemo“ oder dem Superheldenspektakel „Die Unglaublichen“. Doch 2010 ging es noch einmal ins Kinderzimmer … und noch viel weiter, versteht sich.

„Toy Story 2“ endete mit einer sentimentalen Liebeserklärung an die unschuldige Zeit der Kindheit. Mit dem Problem konfrontiert, dass „sein“ Kind Andy einmal erwachsen werden und nicht mehr mit ihm spielen wird, antwortete Cowboypuppe Woody: „Ich werd’s genießen, solange es dauert.“ In „Toy Story 3“ hat das Genießen ein Ende. Andy ist, wie alle Kinder, die in den 90ern mit den ersten Filmen aufwuchsen, erwachsen geworden, bereitet sich auf die Universität vor. Was wird nun aus seinem Spielzeug? Zur Erinnerung: In den „Toy Story“-Filmen erwachen die Spielzeuge zum Leben, sobald wir Menschen wegschauen. Sie haben Sorgen und Ängste, sie halten Konferenzen ab, helfen sich gegenseitig und behandeln es wie ihren Beruf, ihr Kind glücklich zu machen. Nicht mehr von Nutzen zu sein, lässt sie zu dem werden, was sie in unserer Realität sind: Objekte, Gebrauchsgegenstände. Die Trilogie handelte stets von einem tiefschürfenden Perspektivwechsel, der hier auf die Spitze getrieben wird: Die kleinen Plastik-Philosophen müssen den Sinn ihres Lebens neu ermitteln.

Schwere Kost, harter Tobak! Lee Unkrich, der sich bei „Toy Story 3“ zum Regisseur hochgearbeitet hat, steht bei diesem Film vor der bis dato schwersten Aufgabe in der Geschichte von Pixar: Das neue Abenteuer von Woody und Buzz ist strenggenommen ein Alterswerk, ein zutiefst nachdenkliches, melancholisches Epos um das Streben nach Bedeutung. Es kommt einer Offenbarung gleich, wie leichtfüßig die Erzählung eine emotionale Achterbahnfahrt mit den höchsten vorstellbaren Höhen und tiefsten vertretbaren Tiefen ausbalanciert bekommt – ohne jedoch in Schwermut zu geraten. Stattdessen entpuppt sich „Toy Story 3“ als rasanter Actionthriller, in dem sich die Ereignisse regelmäßig überschlagen und der in seinen 103 Minuten trotzdem stets die Zeit findet, das Seelenleben seiner Figuren zu erkunden. Davon können sich viele Hollywood-Blockbuster mehrere Scheiben abschneiden.

Die Animationsfilmkunst hat sich dermaßen weiterentwickelt, dass die dritte „Toy Story“ für eine Einstellung so viel Datenmenge aufbringen muss, wie einst der gesamte Originalfilm verbrauchte. Nirgends lässt Pixar so die Muskeln spielen wie im primären Handlungsort des meisterhaften 3D-Abenteuers: Woody, Buzz und die restliche Gang landen im metaphorischen „Spielzeug-Altersheim“, der Kindertagesstätte Sunnyside. Hier quillt jedes Bild, jede Kameraperspektive über vor liebevoll animierten Details. Hunderte Spielzeuge bevölkern parallel die Leinwand, alle sind bis ins letzte Detail ausgeklügelt. Paradoxerweise eröffnete sich durch den enormen technischen Fortschritt ein kurioses Problem: Um einen einheitlichen Stil zu den Vorgängern zu kreieren, nutzte Unkrichs Team bewusst vereinfachte Formen, setzte auf Cartoon-Physik. War das einstige Ziel der originalen „Toy Story“, so realistisch wie möglich die Welt zu illusionieren, mussten nun Abstriche gemacht werden, um nicht zu realistisch zu wirken.

Unter den vielen tollen neuen Figuren befindet sich in Sunnyside der lilafarbene Plüschbär Lotso, für dessen Fell mehrere hunderttausende Haare einzeln animiert wurden. Sein äußerer Schein trügt jedoch: Lotso entpuppt sich in einer erstaunlichen Wendung als tyrannischer Despot, der in der Kita mit eiserner Faust regiert. Neue Spielzeuge verdammt er in den Raupenraum, wo die kleinsten Kinder in hyperaktiver Manier die Spielzeuge abnutzen, sprich: verstümmeln und misshandeln. Bei Wiedersetzung drohen Gefangennahme, Folter oder der Müllverbrennungsofen. In einem wagemutigen Coup zitieren die Filmemacher bei der Darstellung von Lotsos Schreckensherrschaft Gefängnisdramen wie „Der Unbeugsame“, „Papillon“ oder „Gesprengte Ketten“. Ganze Einstellungen lehnen sich schockierend nah an die NS-Ästhetik an. Einen Kindergarten als Metapher für Konzentrationslager zu denken, dürfte einer der kühnsten Stunts sein, die sich je ein sogenannter „Kinderfilm“ erlaubt hat. Selbst Komponist Randy Newman, der die Vorgänger mit rotzigem Pop-Jazz unterlegte, spielt in mehreren Szenen düstere Marschmusik – mit erkennbar-historischen Vorbildern. Sogar die ganz Kleinen verstehen: In Sunnyside sind alle Spielzeuge gleich, aber manche sind gleicher.

Die meisterhafte Gradwanderung gelingt durch ihr exzellentes Timing: In der genau richtigen Dosierung wechseln sich bedrohliche Gefahrensituationen mit humorvollem Slapstick ab. Als brillant erweist sich der Einfall, erneut mit dem Bewusstsein von Buzz Lightyear herumzuspielen. Auf Werkseinstellungen zurückgesetzt wird er erst wider Willen zum Feind für seine Freunde, ehe er plötzlich nur noch spanisch spricht und die Finger nicht vom Tangotanz lassen kann. Tim Allen meistert alle Facetten der Plastikfigur mit Bravour, doch die ganze Besetzungsliste ist ein Segen. Nahezu alle etablierten Sprecher sind zurück, die Western-Spielzeuge Woody und Jesse sprechen erneut mit den Stimmen der Charakterdarsteller Tom Hanks und Joan Cusack. Als Lotso ist Hollywood-Legende Ned Beatty zu hören, in kleinen Parts geben sich Timothy Dalton, Whoopie Goldberg oder Michael Keaton die Ehre. Letzterer ist ein heimliches Highlight: Er spricht Ken, den Gefährten von Barbie, dessen Männlichkeit von den anderen „Gefängniswärter-Spielzeugen“ regelmäßig in Frage gestellt wird. Immerhin ist er nur eine Puppe für kleine Mädchen …

Klischees stehen also auf dem Prüfstand, Erwartungshaltungen werden gebrochen oder minutiös unterwandert. Gleich die Eröffnungsszene, eine phänomenale Verfolgungsjagd durch den Wilden Westen, entpuppt sich als verspielte Fantasie von Andy. Selbst Lotso ist kein einfacher Bilderbuch-Bösewicht, sondern bekommt eine umfangreiche Hintergrundgeschichte – die nicht von ungefähr stark an Jesses Rückblenden-Montage aus „Toy Story 2“ erinnert, welche einst durch den Song „Als mich jemand liebte“ zum emotionalen Aushängeschild der Reihe wurde. Lotso wurde traumatisiert, vergessen und von seiner ehemaligen Besitzerin ersetzt. Er wurde damit konfrontiert, nicht einzigartig zu sein. Dieses Thema greift Unkrich an mehreren Stellen auf: Woody kann sich nicht von seiner Beziehung zu Andy lösen, will kein anderes Kind in seinem Herzen akzeptieren. Als Ken an einer Stelle zwischen Lotso und Barbie entscheiden muss, sagt ihm der Plüschdespot: „Barbie-Puppen gibt es Hundert Millionen auf der Welt.“ Ken jedoch antwortet mit Pathos: „Für mich gibt’s nur die eine.“

Da es sich im Gefängnis nicht lange aushalten lässt, planen Woody und Co. in bester Genre-Manier den Ausbruch. Wie phänomenal wendungsreich die Geschichte von hier an verläuft, ohne das große Ziel je aus den Augen zu verlieren, mag dem Entstehungsprozess des Films zu verdanken sein: Entworfen wurde die Handlung an einem Wochenende von den vier Pixar-Chefautoren John Lasseter, Lee Unkrich, Andrew Stanton und Pete Docter. Für die Verschriftlichung des eigentlichen Drehbuchs wurde dann Oscar-Preisträger Michael Arndt beauftragt. Arndt arbeitete viele Jahre bei verschiedenen Filmprojekten als Script-Doktor, überarbeitete Drehbücher, bügelte logische Schwächen aus. Für „Toy Story 3“ beweist er sich als begnadeter Dramaturg: Er erntet kompromisslos die Saat der Vorgänger, lässt sogar den Exitus sämtlicher Spielzeugfiguren unvermeidbar wirken. Selbst Erwachsene dürfen kurz zweifeln, das Gefühl von Sicherheit vergessen, ein Animationsfilm würde wohl kaum so drastisch enden. Die letzte große emotionale Szene konfrontiert Woody, Buzz, Jesse, Mr. und Mrs. Potato Head sowie die anderen mit einem Blick ins Höllenfeuer, die opulente Bildgestaltung scheint einem spätgotischen Gemälde von Hieronymus Bosch entnommen.

Natürlich gibt es den Ausweg in letzter Sekunde. „Toy Story 3“ will nicht schocken, sondern berühren und erarbeitet sich nach all der Action und dem Horror ein zärtliches, kluges Schlusskapitel im Zeichen des Abschieds. Pixars bis dato bester und reifster Film endet, wie ihr allererster Film einst begann: Damals sah der Zuschauer zum Auftakt weiße Wolken vor blauem Himmel. Es handelte sich um die Tapete von Andys Kinderzimmer, welches symbolisch die ganze Welt von Woody, Buzz und den anderen war. „Toy Story 3“ endet mit denselben Wolken, doch dieses Mal ist es der echte Himmel, der zu sehen ist. Die Spielzeuge sind ihrer Welt abhandengekommen. Vielleicht sind sie genau wie Andy, wie die Verrückten von Pixar und wie ihre Fans einfach erwachsen geworden.

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Beitrag von Wallnuss » 13.04.2022, 15:41

Was vom Tage übrigblieb

„Ein guter Butler verfügt über Würde im Einklang mit seiner Position“, heißt es in einer Schlüsselszene von „Was vom Tage übrigblieb“. In diesem Moment, irgendwann in den 1930er Jahren, sitzt das Personal des Landsitzes Darlington Hall zusammen bei Tisch. Am Kopfende spricht der den Ton angebende Butler James Stevens. Sein ganzes Lebensziel, so wird in dieser Szene sehr deutlich, ist die des Dieners. Alles was er tut, verfolgt die Ambition, seinem Arbeitgeber, den angesehen Lord Darlington nach besten Kräften zu versorgen. Mit am Tisch sitzt sein Vater Stevens Senior, der ebenfalls sein ganzes Leben lang gedient hat und seinem Sohn – ihre Dynamik zeigt es – nur diesen Wert vermitteln konnte: Immer die Würde wahren. Um jeden Preis.

Als später der Senior sehr krank wird und schließlich verstirbt, findet in Darlington Hall gerade eine wichtige politische Konferenz statt. Die Haushälterin Miss Kenton zieht Stevens zur Seite: „Es tut mir sehr leid. Ihr Vater ist vor vier Minuten von uns gegangen“, sagt sie mitfühlend. „Ich verstehe“, antwortet Stevens. Auf die Frage, ob er seinen toten Vater sehen möchte, meint er nur: „Ich habe im Moment sehr viel zu tun“ und „Mein Vater würde wünschen, dass ich mit meiner Arbeit fortfahre“. Die ganze Szene ist er nur im Dunkeln oder von hinten zu sehen. Selbst wenn Mr. Stevens hier für eine Sekunde eine Gefühlsregung gezeigt haben sollte: Die Kamera wahrt für ihn sein Gesicht.

Die vielfach preisgekrönte, gleichnamige Romanvorlage des japanisch-britischen Autoren Kazuo Ishiguro ist ein Werk der Introspektive. Alle Erkenntnisse, alle Gedanken formulieren sich aus dem Inneren der Figuren heraus. Deswegen galt das Buch gleich bei seiner Veröffentlichung als „unverfilmbar“. Um das Gegenteil zu beweisen, trat das Triumvirat der Produktionsstätte „Merchant Ivory Productions“ an: Regisseur James Ivory, sein Lebensgefährte und Produzent Ismail Merchant sowie die Drehbuchautorin Ruth Prawer Jhabvala. Zusammen hatten sie zwischen 1961 und 2005 über zwanzig Produktionen verwirklicht, viele davon urbritische Kostümfilme, zumeist Literaturadaptionen.

Doch obwohl viele ihrer Arbeiten, darunter Hits wie „Die Damen aus Boston“ und „Zimmer mit Aussicht“ sowohl Publikum als auch Kritiker begeistern konnten, sollte erst „Was vom Tage übrigblieb“ ihr Magnum opus werden, ein Film von so meisterlicher Eleganz, dass er wie seine Vorlage als brillant einzustufen ist, diese in Teilen gar übertrifft. Erst wollte Mike Nichols das Projekt übernehmen und die Protagonisten, Butler Stevens und Haushälterin Kenton, mit Jeremy Irons und Meryl Streep besetzen. Als Ivory an Bord kam, vereinte er stattdessen wieder das Traumpaar seines vorherigen Films „Wiedersehen in Howards End“: Anthony Hopkins und Emma Thompson.

Der Film beginnt 1956: Nach dem Tod von Lord Darlington wird sein Anwesen an den US-amerikanischen Ex-Politiker Jack Lewis versteigert. Er übernimmt die gesamte Belegschaft, darunter den treuen Stevens. Durch einen Briefwechsel mit Miss Kenton, die Darlington Hall vor langer Zeit den Rücken kehrte, erinnert sich Stevens an ihre gemeinsame Zeit. Er beschließt, nach Südwestengland zu fahren und sie nach Jahren wiederzusehen – vorgeblich, weil er sie erneut als Haushälterin anwerben will.

Ein Großteil des Films spielt nun in den Erinnerungen von Mr. Stevens. James Ivory zeichnet anhand des übertrieben aufopferungsvollen Butlers ein bestechendes Porträt der englischen Aristokratie und erzählt vom Klassensystem des imperialen Zeitalters: Stevens hat in Darlington Hall einen festen Platz, ein klar definiertes Schicksal. Sein einziger Traum darf darin bestehen, diese Rolle so perfekt wie möglich auszufüllen. Seinem Herrn vertraut er blind. Die Überzeugungen des Mannes spielen dafür keine Rolle, entscheidend ist allein das gesellschaftlich eindeutige Verhältnis zueinander. Großbritannien vor dem Zweiten Weltkrieg, zeigt Ivory auf, atmete die letzten Züge des Neo-Feudalismus.

Dabei legt er seine Finger in eine Wunde, mit der das Vereinigte Königreich nur ungerne konfrontiert wird: Die historische Rolle, die der englische Adel beim Aufstieg des deutschen Faschismus spielte. Darlington, piekfein von James Fox verkörpert, ist treuer Anhänger der Appeasement-Politik von Neville Chamberlain. Er empfand den Versailler Vertrag als Verrat am deutschen Volk. Seine Sympathien für das im Ersten Weltkrieg besiegte Deutschland verpflichten ihn, so glaubt er, in Friedensgesprächen zwischen Großbritannien und den Nationalsozialisten zu vermitteln. Über die Jahre gehen viele Herrschaften in Darlington Hall ein und aus, darunter fanatische Anhänger der Schwarzhemden-Organisation, die offen von einem faschistischen Putsch träumen, und Botschafter des Deutschen Reichs.

Obwohl Ivory auch Idealisten zeigt, darunter des Lords Patenkind, der Journalist Reginald Cardinal, oder jener Jack Lewis, der später in Darlington Hall wohnen wird, ist sein politisches Drama von einer lustvollen Janusköpfigkeit durchzogen: Zum einen ist seine makellose, durchweg inspirierte Regie von einer nostalgischen Sehnsucht geprägt, die jede Möglichkeit erlaubt, sich in der sentimental-verklärten Bourgeoisie zu suhlen. Zum anderen genießt er es, diese Idylle des Upper Class Großbritanniens aufzubrechen, sie einzureißen. Mag der Film anfangs noch Bewunderung für Mr. Stevens auslösen, der beharrlich sein ganzes Dasein dem Dienen widmet, schlägt es in Frustration um, als klar wird, wie fehlgeleitet seine Loyalität Darlington gegenüber ist.

In einer phänomenal deprimierenden Szene etwa zitiert der Lord seinen Butler zu sich, um über die deutschen Flüchtlingsmädchen Elsa und Irma zu sprechen, die unter Mr. Stevens als Dienstmädchen arbeiten. Der Lord wünscht, dass die Mädchen entlassen werden. Als Stevens Bedenken äußert, platzt es aus Darlington heraus: „Sie sind Juden.“ Miss Kenton ist schockiert. Sie droht mit Kündigung. Und auch Stevens ist dabei nicht wohl. Dennoch führt er den Befehl aus. Sein Herr und er sind gar nicht so verschieden: Sie beide sind vor lauter Prinzipientreue zu blind, um zu sehen, auf welche Irrwege sie geführt werden.

Miss Kenton macht ihr Vorhaben nicht wahr. Sie bleibt, und es wird mit jeder Szene klarer, wieso. Sie entwickelt Gefühle für den ihr so rätselhaften Mr. Stevens. Wiederholt drängt sie nun um seine Zuneigung, doch er flieht davor. Er kann und will sie nicht an sich heranlassen – dabei ist längst klar, dass auch er etwas fühlt. Kein Wunder also, dass Ivory für diesen enorm schwierigen Part unbedingt Anthony Hopkins wollte. Er liefert ab: Der Jahrhundertschauspieler war nie besser, seine Leistung ist nuanciert, grandios, wahrhaftig. Dasselbe gilt für Emma Thompson, die die aufkeimende Liebe und ihre verwirrende Faszination für den Butler hervorragend spielt und einem gar das Herz bricht, als sich bei ihr die Erkenntnis breit macht, dass diese Gefühle nie eine Zukunft haben werden.

Die restliche Besetzung ist nicht weniger großartig. Als verliebtes Hausmädchen ist Lena Headey in einer ihrer ersten Rollen zu sehen, sie wurde zwanzig Jahre später durch die Fantasyserie „Game of Thrones“ zum Star. Charakterdarsteller Michael Lonsdale mimt grandios einen französischen Abgesandten, der – statt über Politik zu diskutieren – ausschließlich über seine geschwollenen Füße lamentiert. „Superman“-Ikone Christopher Reeve repräsentiert in der Rolle des Lewis die Stimme der Vernunft, als er seiner Lordschaft vorwirft, er sei ein Amateur und ihn vor „Frieden um jeden Preis“ warnt. Der integre Reginald Cardinal wird zudem exzellent vom jungen Hugh Grant verkörpert, der erst ein Jahr später durch „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ zum englischen Superstar avancierte.

Nicht genug Lob lässt sich über die Ausstattung verlieren: Die Kostüme allein sind über jeden Zweifel erhaben und geprägt von einem weitreichenden Verständnis für die traditionsreiche britische Hochkultur. Mehrere englische Landhäuser zum Einsatz für die edlen Aufnahmen des Kameramanns Tony Pierce-Roberts. Über die vollen 134 Minuten begeistert außerdem die gefühlvolle Musik des Pianisten Richard Robbins, der regelmäßig an Merchant Ivory Produktionen mitwirkte. Dennoch ging Ivorys Romanadaption bei den großen Preisverleihungen 1993 leer aus. Zu in sich gekehrt, zu ruhig, konzentriert, langsam und introvertiert war sie, als dass sie gegen andere, in ihrer Absicht direktere Werke wie das Holocaustdrama „Schindlers Liste“ oder den Liebesfilm „Das Piano“ eine Chance gehabt hätte.

Ivorys Herzschmerzkino ist ein großer Abgesang auf vertane Lebenschancen. Der finale Geniestreich erschließt sich aber erst im Vergleich zur Romanvorlage. Dort erlebt Mr. Stevens auf den letzten Seiten als alter, gebrochener Mann ein Umdenken. Er beschließt, die alte steife Butler-Ideologie loszulassen und seine letzten Lebensjahre zu genießen. Der Film jedoch endet fatalistisch, tragisch und tieftraurig. Stevens beharrt auf seiner Würde, wählt seine Pflichten und damit die Einsamkeit. „Es hat keinen Sinn, über vergossene Milch zu klagen“, sagt er einmal. Und so verbleibt er in Darlington Hall, wahrt vermeintlich den längst vergangenen Stolz der britischen Aristokratie, und bleibt allein mit der Frage, was vom Tage übrigblieb.

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Drachenfliegen leicht gemacht

Beitrag von Wallnuss » 24.07.2022, 17:58

Auf der Fährte des Adlers

Wer an die 1970er denkt, denkt an Clogs, Schlaghosen, Lavalampen, die Bee Gees und … Drachenflieger? Na klar! Der Luftsport, bei dem ein Pilot unter einem Hängegleiter, auch Deltasegler oder Drachen genannt, mit etwa elf Metern Spannweite hängt und durch die Lüfte segelt, war im Disco-Jahrzehnt – wie man damals sagte – „hipp“. Die Erfindung des gefährlichen Freizeitvertriebs geht auf den Aerodynamiker Francis Rogallo zurück. Er erschuf im Auftrag der NASA nach dem Zweiten Weltkrieg einen zusammenklappbaren, flexiblen Flügel, der für die Rückkehr von ausgebrannten Raketenstufen zur Erde dienen sollte. Mitte der 60er wurden die Geräte als Rogallo-Gleitschirme bekannt, doch die NASA verzichtete letztlich auf ihren Einsatz. Seine Erfindung machte dennoch Schule und inmitten der Flower-Power-Bewegung etablierte sich das Drachenfliegen in den Küstenregionen der USA.

Auch in Deutschland löste der Sport einen Medienrummel aus, als 1973 der junge Kalifornier Mike Harker mit einem Gleiter von der Zugspitze abflog. Drachenfliegen war damit in Europa angekommen – und wenig verwunderlich griff es kurz darauf die Filmwelt auf. Noch im selben Jahr sah man Roger Moore in seinem ersten Einsatz als „James Bond 007“ im Film „Leben und sterben lassen“ unter einem Hängegleiter, ein paar Jahre später griff die Reihe den Sport in „Moonraker“ erneut auf. Der kultige satirische Actionkracher „The Man from Hong Kong“ warb 1975 ebenfalls groß mit seinen spektakulären Drachenflieger-Szenen. Das kinematografische Potenzial der motorlosen Fluggeräte erkannte auch der Produzent Sandy Howard und beschloss, einen ganzen Film um das Drachenfliegen herum zu konstruieren: „Auf der Fährte des Adlers“.

Worum es in diesem Film abseits vom Luftsport geht, ist flott erklärt: In Athen überfallen bewaffnete Männer mit Eishockeymasken das Haus des Millionärs Jonas Bracken. Seine Frau Ellen und ihre zwei Kinder werden entführt, sämtliche Hausangestellte erschossen. Bracken selbst ist zu dem Zeitpunkt bei einem Geschäftstermin. Nun soll er sich über Funk bereithalten, und ein saftiges Lösegeld an die Entführer zahlen. Die Polizei aber bittet ihn, auf Zeit zu spielen, um die Terroristen in die Finger zu bekommen, die sich als anti-imperialistische Revoluzzer zu erkennen geben. Doch die Polizei erweist sich als unfähig: Bei einem ersten Versuch, die Terroristen zu orten, geraten sie in eine Falle, bei der drei blaue Engel ihr Leben lassen, darunter der Neffe des leitenden Inspektors Nikolidis.

Welch Glück für Jonas Bracken, dass Ellens Ex-Mann Jim McCabe ein echtes Raubein ist! Sobald der Gelegenheitskriminelle von der Entführung seiner ehemaligen Gattin hört, beschließt er, auf eigene Faust die Gangster ausfindig zu machen. Tatsächlich findet er heraus, dass Ellen und die Kinder auf einem abgelegenen Bergkloster festgehalten werden. Nur: Wie kommt man da jetzt rauf, um die Geiseln freizuschießen? Kurzerhand heuert McCabe professionelle Drachenflieger an und macht einen Hängegleiter-Schnellkurs. Kann doch so schwer nicht sein. Und schon finden er und seine neuen Freunde sich in einer Nacht- und Nebelaktion erst in luftiger Höhe und dann im Kugelhagel wieder …

Da wirklich einzig und allein die Luftszenen der Grund sind, warum „Auf der Fährte des Adlers“ je gedreht wurde, versucht Regisseur Douglas Hickox möglichst schnell zum Punkt zu kommen. Nur 91 Minuten kurz ist sein Actionfilm, wobei die große Rettungsmission in Minute 54 beginnt. Dementsprechend hoch ist das Tempo: Keine fünf Minuten dauert es, ehe die mit Sturmgewehren bewaffneten Terroristen die Familie entführen, danach werden rasch alle Figuren in Stellung gebracht. Den knallharten Haudegen McCabe mit James Coburn zu besetzen, kann gar als Abkürzung betrachtet werden, denn der Western-Star aus „Die glorreichen Sieben“ und „Pat Garrett jagt Billy the Kid“ spielt hier von der ersten Sekunde erkennbar schlicht seine bekannte Leinwand-Persona: Immer Herr der Lage, unbestreitbar cool und verwegen, ein Macher eben.

Die illustre Besetzung kann sich auch abseits von ihm sehen lassen: Die entführte Gattin gibt Susannah York, die damals spätestens dank des Tanzfilms „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“ zur A-Liga im europäischen Kino gehörte, ihren besorgten Mann spielt Robert Culp, berühmt als Serienstar neben Bill Cosby in „Tennisschläger und Kanonen“. Wirklich köstlich ist der bewusst diktatorisch angelegte Auftritt des armenisch-französischen Komponisten und Schauspielers Charles Aznavour als Inspektor der Polizei von Athen, der im Originalton übrigens gar nicht erst versucht, einen griechischen Akzent zu behaupten.

Auf Seiten der aalglatten Schurken gibt es in einem skurrilen Part die Model-Ikone Zouzou und den Österreicher Werner Pochath als Anführer der Terroristen zu sehen. Pochath war oft auf Bösewicht-Rollen abonniert (etwa im Western „Die rote Sonne der Rache“ oder in der Prügelkomödie „Plattfuß in Afrika“) und liefert auch hier in seinen wenigen Szenen ab. Eher unscheinbar als einer der Drachenflieger ist außerdem John Beck mit an Bord, der nur wenige Jahre später den Mark Graison im TV-Hit „Dallas“ spielte – und schon in „Auf der Fährte des Adlers“ seinen charakteristischen dicken Schnurrbart trägt.

Dank ihnen allen weht ein Eau de Fleur von Hollywood durch die mit einem Budget von 350.000 Dollar günstige Produktion, wobei noch insbesondere der großartige Komponist Lalo Schifrin („Dirty Harry“, „Bullitt“) mit seiner beschwingt-fröhlichen Titelmusik für Stimmung sorgt. Das eigentliche Interesse des Films liegt aber in seinen Bildern: Nicht nur dürfte Griechenland als Handlungsort bei den US-Zuschauern für einen Hauch von Exotik gesorgt haben, die Aufnahmen von Drachenfliegern sind schlicht und ergreifend spektakulär. Acht echte Hängegleiter-Piloten (Chris Wills, Bob Wills, Susie Wills, Kurt Kiefer, Dix Roper, Carol Price, Chris Price & Dean Tanji) flogen für die Produktion durch das enge griechische Metéora-Gebirge, gefilmt vom begnadeten Helikopterkameramann Greg MacGillivray.

Die Kamera hängt dabei teilweise mit den Piloten im Gleiter und sorgt für phänomenale Einstellungen. Als nach der Landung auf einem der vielen dort hochgelegenen Kloster gelandet und geballert wird, bietet Hickox eine Materialschlacht sondergleichen. Das aufwendige Feuergefecht, in dem sich noch die griechische Polizei und der besorgte Familienpapa Bracken mit Maschinengewehr einmischen, ist übersät mit Explosionen und endet mit einer waghalsigen letzten Jagd, in der die flüchtenden Drachenflieger von einem Helikopter verfolgt werden. An dessen Kufen hängt zu dem Zeitpunkt James Coburn höchstpersönlich und macht damit seinem Ruf als Actionheld alle Ehren. Die Aufnahmen dieser finalen halben Stunde sind so furios und mitreißend, dass sie kurz darauf wiederverwendet wurden: Im Intro der TV-Serie „Ein Colt für alle Fälle“ kann man unter anderem den am Helikopter hängenden Coburn erkennen.

Freilich nimmt es „Auf der Fährte des Adlers“ mit der Logik nicht allzu genau und ist einzig und allein als schnelles Spektakel konzipiert. Damit kann er aber auch als Wegbereiter gesehen werden: Im Rückblick wirkt Hickox runder Spaß wie ein Prolog auf das Actionkino der 80er Jahre, in dem Namen wie Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone den Ton angaben. Nicht bloß, weil die Action durch die absurden, körperlichen Höchstleistungen ihrer Akteure getragen wird, sondern auch weil McCabe als Hauptfigur selbst wie viele seiner Nachfolger als der personifizierte geheime Traum der vermeintlich spießigen Zivilgesellschaft auftritt: Er schreitet mit Waffe in der Hand und coolem Spruch auf den Lippen zur Tat, als der Staat gänzlich versagt. Ein weiterer Vergleich: Der zehn Jahre später erschienene 80s-Überhit „Top Gun“ tat letztlich auch nichts anderes, als seinen dünnen Plot um spektakuläre Flugsequenzen (dieses Mal im Kampfjet) herum zu konstruieren.

Man kann die unverhohlene Selbstjustiz-Geschichte negativ betrachten, und das wurde sie damals auch. Die Kritiken stürzten sich anno 1976 auf den kommerziell enttäuschenden Film. Das Lexikon des internationalen Films etwa urteilt: „Ganz nach Klischee inszeniert, nur mäßig spannend und von fragwürdiger ideologischer Tendenz.“ Dass wiederum „Auf der Fährte des Adlers“ auch seine Liebhaber fand und andere Filme inspirierte, lässt sich allzu leicht erkennen: Fünf Jahre später klauten der Produzent Albert R. Broccoli und der Regisseur John Glen bei dem Actionspektakel dreist für ihren „James Bond 007“-Film „In tödlicher Mission“. Auch dort muss Roger Moore im spannenden Finale unbemerkt die Festung der Bösewichte stürmen, die sich in einem Bergkloster im Metéora-Gebirge verstecken – allerdings nicht per Drachenflieger, sondern mit dem Kletterseil ausgerüstet.

Als launig-naiver und zügig erzählter Geheimtipp ist „Auf der Fährte des Adlers“ noch heute für einen gemütlichen Abend gut. Zumal dem Film ein ungewöhnliches Kompliment gemacht werden kann: Sein deutscher Titel ist international die tatsächlich beste Alternative. Im Original kennt man ihn unter dem banalen „Sky Riders“ (zu deutsch: „Himmelsreiter“), die Franzosen nennen ihn (übersetzt) „Die Delta-Intervention“, die Italiener „Die Falkenmänner“ und die Spanier gar „Der Angriff der Vogelmenschen“.

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When You Wish Upon A Starship

Beitrag von Wallnuss » 01.02.2023, 19:31

Unheimliche Begegnung der dritten Art

Gab es für das Sci-Fi-Kino ein wichtigeres Jahr als 1977? George Lucas hatte gerade seinen Mega-Erfolg „Star Wars“ lanciert, da startete ein weiterer Film des Genres, der zum Meilenstein der Kinogeschichte werden sollte: „Unheimliche Begegnung der dritten Art“. Es war zwei Jahre nach „Der weiße Hai“ der nächste große Kinoerfolg von Steven Spielberg und zementierte den damals jungen Regisseur als neue tonangebende Stimme in Hollywood. Lichtschwerter gab es bei ihm aber keine. Stattdessen geht es um das Konzept der ersten Begegnung der Menschheit mit außerirdischen Lebewesen – besser gesagt darum, wie einzelne Menschen reagieren würden, sähen sie sich mit der Möglichkeit einer solchen Begegnung konfrontiert.

Erzählt wird dies in zwei Handlungssträngen, die erst im dritten Akt zusammenlaufen. Der Film beginnt in der Sonora-Wüste, in der über Nacht plötzlich verschwundene Kriegsflugzeuge von 1945 aufgetaucht sind – völlig unversehrt, nur die Besatzung fehlt. Der französische Wissenschaftler Lacombe beginnt mit seinem Team Nachforschungen, die ihn um die ganze Welt bis zu einer mysteriösen Fünf-Ton-Musik führen, welche laut einer Gruppe strenggläubiger Inder vom Himmel ertönte. Lacombe vermutet, dass die kurze Melodie die Grundlage dafür bilden könnte, Kontakt mit Außerirdischen aufzunehmen.

Parallel spielt „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ in Indiana. Dort ist es der gewöhnliche Familienvater und Elektriker Roy Neary, der eines Nachts während eines Stromausfalls plötzlichen Kontakt mit einem UFO hat. Gleich mehrere Flugobjekte zischen an ihm vorbei. Kurz nach dieser verhängnisvollen Begegnung erhält er rätselhafte Visionen, die ihn, seine Frau und die gemeinsamen drei Kinder in den Wahnsinn treiben. Er sieht immer wieder einen mysteriösen Berg vor seinem inneren Auge, der ihn magisch anzieht. Als er scheinbar vollends den Verstand verliert, wird es seiner Frau zu bunt: Sie verlässt ihn, und nimmt die Kinder mit.

Neary aber verbündet sich mit der aus der Nachbarschaft stammenden Jillian, einer alleinerziehenden Mutter, deren 3-jähriger Sohn nach einer wahrlich unheimlichen Begegnung mit Lichtern am Himmel spurlos verschwunden ist. Gemeinsam machen sie den Berg aus seinen Visionen ausfindig. Gerade rechtzeitig, um mitanzusehen, wie ein gigantisches UFO dort landet und Lacombe tatsächlich mittels der Musik Kontakt aufnimmt. Doch Neary ist damit nicht am Ziel angelangt. Nachdem die Außerirdischen all jene unbeschadet wieder zur Erde zurückbringen, die sie einst für Kontaktversuche entwendet haben (neben Jillians Sohn auch die Piloten der Flugzeuge), beschließt er, als Botschafter mit ihnen ins All zu fliegen.

„Unheimliche Begegnung der dritten Art“ ist ein sensationeller, ein großartiger Film. Obwohl es erst Spielbergs dritter Kinofilm war, inszeniert er ihn mit dem Können eines langerfahrenen Künstlers. Phänomenal wird der erste Kontakt von Neary mit einem Raumschiff in Szene gesetzt: Er sitzt in seinem Auto auf einer dunklen Landstraße, hinter ihm rasen zwei Lichter heran. Ein Auto, so denkt er, doch als er sich auf den Stadtplan vor sich konzentriert, zeigt die Kamera, wie diese Lichter im Hintergrund plötzlich abheben, davonschweben. Neary bemerkt die fliegenden Untertassen und jagt ihnen mit seinem Auto nach. Verblüfft, erschrocken, verzaubert – ein Gefühlschaos, das Hauptdarsteller Richard Dreyfuss eindringlich darzustellen weiß.

Keine Frage: Spielberg ist schon hier auf dem Höhepunkt seines Könnens. Mühelos navigiert er durch beide Handlungsstränge, verliert nie Tempo und Dramaturgie aus den Augen. Zudem gelingen ihm fantastische Spannungsmomente: Die „Entführung“ des kleinen Sohns von Jillian etwa ist astreines Horrorfilm-Material. Mitten in der Nacht ist das gemütliche Landhaus plötzlich von allen Seiten grell durchleuchtet, elektronische Geräte springen von selbst an, wie bei einem Erdbeben wird sämtliches Mobiliar durchgeschüttelt.

Besonders das letzte Drittel ist voll von kinematografischer Brillanz. Die Effekte, die der „2001: Odyssee im Weltraum“-Veteran Douglas Trumbull für das Erscheinen der Raumschiffe nutzt, suchen noch Jahrzehnte nach Veröffentlichung ihresgleichen. Kameramann Vilmos Zsigmond gewann für seine bemerkenswerten Aufnahmen von oft schlichter Schönheit einen Oscar. Die Filmmusik, die John Willams für „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ schrieb, gehört zum besten Material seiner Karriere – erst recht, da durch die melodische Kommunikation mit den Besuchern aus dem All seine Musik sogar Teil der Handlung wird.

Spielberg ist ein Film gelungen, der über die vollen 134 Minuten seine Talente als Geschichtenerzähler unter Beweis stellt. Es geht ihm nicht um Paranoia oder einen möglichen Schrecken aus dem All, wie ihn das B-Kino der 50er zelebrierte, sondern um friedliche Kommunikation, Neugierde und Offenheit für das Neue. Die Außerirdischen kommen in friedlicher Absicht und wollen sich mit uns verständigen. „Wenn wir in ‚Unheimliche Begegnung der dritten Art‘ mit Aliens reden können, warum nicht mit den Roten im Kalten Krieg?“, erklärte er seine Motive.

„Unheimliche Begegnung der dritten Art“ ist einer von Spielbergs persönlichsten Filmen – und das nicht nur, weil er mit dem französischen Regisseur François Truffaut eines seiner großen Idole in der Rolle des Wissenschaftlers Lacombe besetzte. Inspiriert zu einer UFO-Geschichte wurde er durch seinen Vater, der ihn als Kind häufig mitnahm, um sich Meteoritenschauer anzusehen. Man kann den Film als eine Auseinandersetzung Spielbergs mit seiner Kindheit interpretieren: Seine Eltern ließen sich scheiden, ein Ereignis, das ihn eigenen Aussagen nach nie losließ.

Umso erstaunlicher also, wie er Roy Neary portraitiert: Der Film zeigt Verständnis für diesen vom Alltagsleben gelangweilten Mann, der durch eine quasi-religiöse Erfahrung seine Berufung findet, die er um jeden Preis erfüllen will – selbst wenn er dafür seine Familie verlassen muss. Gleich seine erste Szene etabliert ihn als Träumer: Er spielt mit einer Modelleisenbahn, während dazu aus einer Spieluhr das Lied „When You Wish Upon A Star“ aus dem Disney-Zeichentrickfilm „Pinocchio“ ertönt. Bald schon wird er sogar ganz wörtlich von einem Stern träumen, von einem Raumschiff – und sein Traum wird in Erfüllung gehen.

Er durchleidet keine Midlife-Crisis, sondern findet seine wahre Bestimmung. Nicht umsonst läuft in Nearys Arbeitszimmer in einer Szene der Film „Die zehn Gebote“ im Fernsehen: Der Berg, den Neary erklimmen muss, um die Botschaft der Außerirdischen aus dem Himmel zu erfahren, ist der metaphorische Berg Sinai, auf den Moses im Alten Testament stieg, um Gottes Wort verbreiten zu können. Als Neary seinen Berg schließlich besteigt und seine Bestimmung erfüllt, spielt Williams für all die, die ganz genau hinhören, kurz die ersten Töne von „When You Wish Upon A Star“.

Der berührende Kern von „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ liegt nicht in der Idee, dass es friedliche Lebewesen aus fernen Welten geben könnte. Er liegt in der Vorstellung, dass sogar das Verlassen des eigenen Vaters aus einem höheren Grund geschehen könnte. Scheidungskind Spielberg drehte diesen Sci-Fi-Film als großen Versuch der Versöhnung mit seinen Eltern. Seine Mutter war eine leidenschaftliche Klavierspielerin, sein Vater ein analytischer Computeringenieur. In diesem Film werden ihre Professionen zur Symbiose, denn ausgerechnet von Computern gespielte Musik wird das Mittel zur Kommunikation mit den extraterrestrischen Lebensformen.

Zu Motiven aus „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ kehrte Steven Spielberg in seiner Karriere mehrfach zurück. Aliens gab es bei ihm häufiger zu sehen, ob sie nun gutmütig waren wie „E.T. – Der Außerirdische“ oder einen „Krieg der Welten“ begannen. Abwesende Väter, zerrüttete Familiendynamiken und die Suche nach Bestimmung blieben seine zentralen Themen, etwa in „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“, „Hook“ oder „Catch Me If You Can“. Die Pinocchio-Analogie nahm er 2001 in „A.I. – Künstliche Intelligenz“ noch einmal auf. Genau 45 Jahre nach seinem UFO-Film wurde er dann erneut ganz persönlich – und verfilmte 2022 seine eigene Kindheit im semi-autobiografischen Drama „Die Fabelmans“.

Über die Jahre ließ Spielberg noch zwei weitere Schnittfassungen von „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ anfertigen, die sich im Großen und Ganzen kaum unterscheiden. Einzelne verworfene Szenen wurden wieder eingefügt, andere dafür geschnitten, und für eine der drei Fassungen drehte er nochmal ein erweitertes Ende, in dem das Innere des Mutterschiffs gezeigt wird. Letztlich aber ist es die Kinofassung, die Filmgeschichte schrieb.

„Unheimliche Begegnung der dritten Art“ fällt auch aufgrund seiner majestätischen Ruhe und Geduld in genau jene Kategorie der Filmklassiker, über die man später gerne sagt: „So etwas wird heute nicht mehr gedreht“. Zumindest in diesem Fall ist allerdings Fakt: Steven Spielberg würde den Film in der Form heute tatsächlich nicht mehr drehen. 2005 sagte er in einem Interview, als er am Sci-Fi-Drama arbeitete sei er selbst noch Junggeselle gewesen und habe das Drehbuch daher „unbekümmert“ schreiben können. Doch mittlerweile war er bereits mehrfacher Vater und empfand: „Heute würde ich niemals zulassen, dass der Mann seine Familie verlässt und auf das Mutterschiff geht.“

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Gladiateen

Beitrag von Wallnuss » 12.02.2023, 22:38

Die Tribute von Panem – The Hunger Games

Historiker vermuten den römischen Satiredichter Juvenal hinter dem bekannten Ausdruck „Brot und Spiele“. Er soll in der Zeit nach dem Machtantritt Kaiser Augustus mit diesen Worten das Desinteresse der Bevölkerung Roms an der Politik ihres Imperiums kritisiert haben. Solange das Volk ausreichend zu essen hatte – für die (oft kostenlose) Getreideversorgung sorgte der Senat stets – und durch unterhaltsame Zirkus- und Gladiatorenspiele oder spannende Wagenrennen begeistert wurde, ließ es die Machthaber schalten und walten. In der Welt aus „Die Tribute von Panem“ läuft dies ähnlich ab. Die Romantrilogie der US-amerikanischen Autorin Suzanne Collins zeigt einen dystopisch-futuristischen Staat mit strengem Klassensystem: Das Land ist in zwölf Distrikte und den Regierungssitz, das "Kapitol" unterteilt.

Im Kapitol leben die Menschen wie im biblischen Land Kanaan, und genießen enormen Wohlstand, doch in den äußeren Distrikten kämpfen die Menschen ums Überleben. Seinen Distrikt zu verlassen ist strengstens untersagt. Einmal im Jahr kommt es dann zum modernen Gladiatorenkampf: Zwei Teilnehmer aus jedem Distrikt, einer männlich, einer weiblich, werden ausgelost, um im Kapitol in einer Arena als Tribute bei den sogenannten Hungerspielen teilzunehmen. Darin müssen dann alle 24 vor einem TV-Livepublikum auf Leben und Tod kämpfen, bis nur eine Person übrigbleibt. Mediales Opium fürs Volk. Besonders perfide: Die Tribute sind alle zwischen 12 und 18 Jahren alt.

Dass Suzanne Collins „Die Tribute von Panem“ als Rom-Allegorie gemeint hat, ist nicht allzu versteckt. Wer es nicht gleich versteht, stolpert spätestens im Kapitol über verschiedene Charaktere, die kaum zufällig Vornamen wie Seneca, Claudius oder Caesar tragen. Der größte Wink mit dem Zaunpfahl ist aber der Name des fiktiven Zukunftsstaates selbst: Panem. Schließlich ist „Brot und Spiele“ die Übersetzung des lateinischen Ausdrucks „panem et circenses“.

Die Idee, Menschen in einer Fernsehsendung tödlich aufeinander losgehen zu lassen, mag nicht neu sein. Schon der Roman „Menschenjagd“ von Stephen King nimmt dieses Thema in den Fokus, genau wie die Verfilmung „The Running Man“ mit Arnold Schwarzenegger. Der ultrabrutale japanische Horrorschocker „Battle Royale“ zeigte zudem im Jahr 2000 bereits Grundschulkinder, die sich blutig gegenseitig massakrieren. Doch Collins traf einen Nerv: Als ihr erster Roman im September 2008 erschien, saß die Enttäuschung über die Lügen der US-Regierung bezüglich des dritten Golfkriegs im Irak noch tief. Dass eine Regierung junge Menschen medienwirksam opfern könnte, wirkte auf grausige Art gegenwärtig.

Dem Erfolg geschuldet wurde Hollywood auf die Panem-Welt aufmerksam. Das finanziell lukrative „Harry Potter“-Franchise neigte sich seinem natürlichen Ende entgegen, mit der Vampir-Romanze „Twilight“ war gerade ein neuer Teen-Hit auf der großen Leinwand geboren. Man sucht einen Nachfolger und fand ihn in Collins Büchern. „Die Tribute von Panem“ fürs Kino zu adaptieren war jedoch eine ungemein schwere Aufgabe – steht im Zentrum doch vor allem ein Akt der Gewalt, ein Morden von Jugendlichen an Gleichaltrigen, welches bei zu expliziter Darstellung die wichtige Altersfreigabe für junge Erwachsene gefährden könnte.

Wenn in der Kinoversion von „Die Tribute von Panem – The Hunger Games“ das blutige Spiel also losgeht, löst der gefeierte Filmemacher Gary Ross diese Aufgabe so, dass er nie zu lange auf einzelne Brutalitäten draufhält, sondern vor allem die Ohnmacht des Szenarios porträtiert. Als erstmals Kinder Kinder töten, werden Impressionen der Taten schnell aneinandergeschnitten, gerade lang genug, um mitzubekommen, was vor sich geht. Die Handkamera wackelt hektisch, statt ausgefeilter Musik hört man nur wenige langgezogene, delirierende Töne. Ross setzt auf Desorientierung. Es bleiben Eindrücke von Gewalt, an ihnen weiden kann man sich jedoch kaum.

In seiner Adaption gelingen ihm immer wieder unerwartete Momente von gespenstischer Intensität. Wenn für die Auslosung der Tribute aus Distrikt 12 zu Beginn die Jugendlichen auf einem grauen Marktplatz in Reih und Glied gestellt werden, evoziert der Setdesigner Philip Messina bewusst Assoziationen mit Konzentrationslagern. Ross treibt dies auf die Spitze, als er die Selektoren von Panem einen Indoktrinationsclip abspielen lässt, der in vielen Einstellungen ganz direkt die Nazi-Propagandafilme „Triumph des Willens“ und „Olympia“ zitiert, inszeniert von Leni Riefenstahl, beauftragt von Joseph Goebbels.

Der Schwere dieser Themen wird die „Panem“-Verfilmung allerdings zu selten gerecht. Sobald es für die beiden Tribute aus dem Elendsdistrikt ins Kapitol geht, ergötzt sich die Kamera doch zu sehr an den farbenprächtigen Kostümen und knallig bunten Interieurs, die karge NS-Ästhetik weicht einer neoklassizistischen Überwältigungsoptik. Eine inhaltliche Vertiefung jener gesellschaftlich-politisch Strukturen, aus denen die Hungerspiele als Konzept entwachsen sind, bleibt Ross schuldig. Stattdessen bietet er dem potenziell anvisierten Zielpublikum junger Frauen im Teenageralter eine grotesk überdrehte Welt, die mehr mit einem Kostümball als mit einer Dystopie gemein hat.

Genauso verliert sich auch die Geschichte mit zunehmender Laufzeit von immerhin insgesamt 142 Minuten verstärkt in Wiederholungen. Beeindruckt die erste Gewalteskalation zu Beginn der Hungerspiele noch in ihrer Direktheit, funktionieren spätere Todesfälle meist über plump-spekulative Bilder, und kurzzeitige Allianzen der Tribute werden vom Drehbuch eher behauptet als emotional vernünftig begründet und herausgearbeitet.

Insbesondere der reißerisch explizit gefilmte Tod der jüngsten Hungerspiel-Teilnehmerin gerät ärgerlich, bedient er sich doch genau der manipulativen und gefühlsheischenden Methoden, die eingangs noch gekonnt vermieden wurden. Fraglich ist auch, ob die bis zum einfältig konstruierten Actionfinale durchgezogene Handkamera-Optik wirklich bis zuletzt einen Zweck erfüllt oder Ross etwas unbeholfen dem damaligen Genrestil nacheifert, den die ursprünglichen Trendsetter „Die Bourne Verschwörung“ und „96 Hours“ um einiges überlegter einzusetzen wussten.

Es mag der Vorlage geschuldet sein, dass insbesondere die Protagonistin Katniss Everdeen, die sich freiwillig als Tribut meldet, als ihre jüngere Schwester für die Hungerspiele ausgelost wird, erstaunlich blass bleibt. Das liegt nicht an Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence, für die „Die Tribute von Panem“ der internationale Durchbruch bedeutete. Sie findet in ihren besten Momenten eine überzeugende Melange aus kalkulierter Stärke und panischen Überlebensinstinkten. Ihre Besetzung lag nahe, zeigte sie 2010 doch schon in der White-Trash-Milieustudie „Winter’s Bone“ ihre Affinität für Kämpfernaturen.

Doch Katniss ist als Figur nahe an einem Harry Potter, an einer vergleichsweise leeren Hülle, in die das jugendliche Publikum sich selbst projizieren soll, während die wahren Stars die skurrilen Nebenfiguren sind. Besonders heraus stechen Woody Harrelson als alkoholkranker Mentor, Stanley Tucci als grelle Karikatur eines Talkshow-Masters und Wes Bentley in der Rolle des Spielleiters, der hinter den TV-Kulissen bei der Übertragung der Hungerspiele buchstäblich Regie führt.

Große Namen wie Donald Sutherland, Elizabeth Banks und Lenny Kravitz treten zudem in kleineren Rollen auf, die erst in den Fortsetzungen relevant werden. Der Fokus liegt ganz auf den jugendlichen Protagonisten – und aus der Beziehung zwischen der mit Pfeil und Bogen erprobten Jägerin Katniss und dem schüchternen Bäckersjungen Peeta (stark gespielt von Josh Hutcherson) schöpft „Die Tribute von Panem“ eine überraschende inhaltliche Energie, unterwandert der Film doch mehrfach die Erwartungen des Publikums.

So ist die Gegenüberstellung einer emotional abgehärteten Teenie-Frau gegenüber einem ängstlichen Teenie-Jungen bereits ein Bruch mit Geschlechterkonventionen. Spannend wird es aber vor allem, wenn es zur unvermeidbaren romantischen Annäherung zwischen den beiden kommt. Natürlich kann kein Buch für junge Erwachsene ohne Liebeleien. In „Die Tribute von Panem“ ist die Romanze aber nur vorgespielt: In der Welt von Panem buhlen die Tribute um die Zuneigung wohlhabender Sponsoren, die einen in der Kampfarena mit Medizin und Ausrüstung versorgen.

Das Fernsehen verlangt eine gute Show, und so spielen Katniss und Peeta die Affäre mit, inszenieren sich als tragisches Liebespaar. Nicht von ungefähr zitiert der herausragende Soundtrack des Komponisten James Newton Howard mehrfach das musikalische Leitmotiv einer „Romeo und Julia“-Verfilmung von 1968. Wie es wirklich um die Gefühle der beiden Helden steht, bleibt aber ungewiss. Die Mechanismen von Young-Adult-Geschichten werden so kongenial als anbiedernde Mittel entlarvt.

Die Mischung von Oberflächlichkeit und Sozialkritik der dystopischen Panem-Welt mag erwachsene Zuschauer irritieren – und nimmt man den Schockeffekt um sich gegenseitig meuchelnde Minderjährige weg, bleibt eine zugegeben eher dünne Rom-Parabel, die zwar kurzweilig unterhält, die interessantesten Implikationen ihrer Welt aber kaum thematisiert. Erst die Fortsetzungen sollten mehr über Panem abseits der Hungerspiele enthüllen und so die nötige Tiefe nachliefern, die dem Erstling konzeptionell noch zu oft abgeht.

Seinen klügsten und hintergründigsten Moment hat der erste „Die Tribute von Panem“-Film dafür schon in den anfänglichen zehn Minuten. Da sitzt Katniss mit einem Freund aus ihrem Distrikt zusammen, der sich fragt: „Was wäre, wenn keiner mehr zusehen würde?“. Dann hätten sie keine Spiele mehr, mutmaßt er. Ginge es also auch ohne? Ausgerechnet Hauptfigur Katniss aber, schon bald ein Spielball dieses Systems, glaubt nicht daran, und entgegnet zynisch: „Das wird nie passieren.“

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Pretty in Plastic

Beitrag von Wallnuss » 21.07.2023, 17:51

Barbie

Als es hieß, dass ausgerechnet Greta Gerwig die Regisseurin für den ersten großen "Barbie"-Kinofilm werden wird, durfte man gespannt sein. Gerwig hat sich mit ihren ersten zwei Filmen einen Namen gemacht: Sowohl ihr offenherziges Teenie-Drama "Lady Bird" als auch ihre hintersinnige Literaturadaption "Little Women" waren ungewöhnliches, kluges Kino. Und tatsächlich beginnt ihr "Barbie"-Projekt auf eine Art und Weise, wie es nur Greta Gerwig einfallen kann – mit einer Parodie auf die Anfangsszene des legendären Sci-Fi-Kunstfilmklassikers "2001: Odyssee im Weltraum".

"2001" eröffnete mit einer Horde von Menschenaffen in der frühzeitlichen Savanne, die durch die Begegnung mit einem schwarzen, rechteckigen Monolithen ein erweitertes Bewusstsein erlangen – quasi der erste Schritt zur Menschwerdung. In "Barbie" sitzen zu Beginn kleine Mädchen in der Wüste und spielen mit Babypuppen. Helen Mirren erklärt als Stimme aus dem Off, dass in den 50ern Mädchenspielzeug nur dazu da war, die Kinder früh aufs Muttersein vorzubereiten. Dann erscheint ihnen kein Monolith, sondern eine riesige Margot Robbie im originalen Barbie-Outfit. Begeistert zerdeppern die Kids ihre Babypuppen auf den harten Steinen und sehen zu Barbie auf. Ein schräger, surrealer, grandioser Einstieg – doch Gerwig kann diesen Einfallsreichtum nicht lange aufrechterhalten.

Dabei ist "Barbie" unter einem Gesichtspunkt ein absoluter Kracher: das Setdesign sieht fantastisch aus. Gerwig, Produktionsdesignerin Sarah Greenwood und Kostümdesignerin Jacqueline Durran haben mit der pinken Fiebertraumwelt namens Barbieland ein Meisterstück abgeliefert. In dieser rosafarbenen Idylle leben alle Barbies (neben Margot Robbie noch u.a. Dua Lipa, Alexandra Shipp, Emma Mackey) in Traumhäusern ohne Wänden, sodass sie sich jeden Morgen ein beherztes "Hallo, Barbie!" zurufen können. Es finden sich quasi alle Barbie-Puppen, die Spielzeughersteller Mattel je auf den Markt brachte: Bauarbeiter-Barbie, Flugzeugpiloten-Barbie, Physiker-Barbie, Astronauten-Barbie und Oberster-Gerichtshof-Barbie, sie alle wuseln durch die aufwendig gestalteten Sets.

Barbieland ist eine weibliche Utopie in pastellfarbenem Plastik – und die erste halbe Stunde, die als Einführung in diese Welt dient, ein unerwarteter greller, alberner Spaß. Famos gelingt es Margot Robbie, eine Puppe zum Leben zu erwecken. Sie spielt – so nennt der Film sie – die "stereotypische Barbie". Jeden Morgen wacht sie unter ihrer glitzernden rosa Bettdecke auf, zieht sich ein Outfit aus ihrem riesigen Kleiderschrank an, und frühstückt – allerdings nicht wirklich, schließlich kann eine Barbie-Puppe ja nicht tatsächlich essen oder trinken. Wenn sie am Strand aus ihren High-Heels schlüpft, bleiben ihre Fersen auch barfuß in der Luft hängen – denn Puppen-Füße sind fest geformt. Bei all dem hat sie das breiteste Lächeln im Gesicht, dass sich nur je jemand vorstellen könnte. Keine Frage: Margot Robbie ist die perfekte Barbie.

Jede Barbie hat auch einen Ken. Doch die Kens (u.a. Kingsley Ben-Adir, John Cena und Simu Liu) haben nicht viel zu sagen. Dies gilt auch für den Freund der stereotypischen Barbie, "Beach Ken" (Ryan Gosling) – seine ganze Existenz dreht sich einzig und allein um Barbie. Gosling ist das schauspielerische Highlight des Films. Wann immer Robbie ihm in die Augen sieht, strahlt er sie mit so viel staunender Bewunderung an, und ist zugleich tief geknickt, wenn er jeden Abend von Barbie versetzt wird ("Jeder Abend ist Girls Night"), dass es zugleich rührend und brüllend komisch ist. Bei aller Albernheit: Greta Gerwig und ihrer Besetzung gelingt es fantastisch, filmisch nachzuahmen, wie kleine Mädchen mit "Barbie"-Puppen spielen. Grandiose pinke Bilder, herzlich verrückte Dialoge und sogar opulente Tanzszenen, die einen Gene Kelly beeindrucken würden, sorgen in Barbieworld für viele Lacher.

Leider aber bleibt "Barbie" nicht in Barbieland. Robbies Barbie wacht nämlich eines Morgens auf und stellt fest, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie muss ständig an den Tod denken, ihre perfekt gewölbten Füße sind plötzlich platt und an ihren Beinen hat sie Cellulite. Die "komische Barbie" (Kate McKinnon) verrät ihr, dass sie diese Probleme nur in der echten Welt lösen kann – und so macht sie sich, unfreiwillig von Goslings Ken begleitet, in die Realität auf. Dort erlebt sie einen Kulturschock: Männer glotzen ihr nach, betrachten sie nur als Objekt und beherrschen im Grunde die Welt, selbst im Vorstand ihres Herstellers Mattel sind der CEO (Will Ferrell) und der Rest des Vorstands nur alt und männlich. Während sie durch eine Mutter (America Ferrera) und deren Tochter (Ariana Greenblatt) ins wahre Leben und die vielen Probleme echter Frauen eingeführt wird, hat Ken das gegenteilige Erlebnis. Er erfährt vom Patriarchat, in dem Männer das Sagen haben und den Ton angeben – und bricht allein zurück nach Barbieland auf, um dort mit den anderen Kens die Macht an sich zu reißen.

Jetzt muss Barbie mit etwas Hilfe vom Mama-Tochter-Gespann also Barbieland vor dem Patriarchat retten – und ab hier fällt es dann schwer zu glauben, dass dieser konfuse Mischmasch aus "Verwünscht", "Pleasantville" und Kasperle-Theater wirklich von Greta Gerwig und ihrem Ehemann Noah Baumbach ("Marriage Story") geschrieben wurde. Von deren eigentlich subtilen Art, feministische und sozialkritische Themen zu verhandeln, ist nichts zu erkennen, wenn "Barbie" auf plakativste Weise vor sich her predigt. Negativ-Höhepunkt ist ein Monolog von America Ferrera, in dem sie in abgedroschenen Plattitüden von unfairen gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen redet – und die Barbies damit auf den Kampf gegen die Kens anstimmt. Aus "Barbie" eine Symbolfigur für weibliche Selbstermächtigung zu machen, ist im Kern eine gute Idee, doch dann sollte vom Skript mehr kommen als eine Aneinanderreihung von seichten Motivationsreden, die so eher bei Instagram-Influencern zu erwarten wären.

Für eine ernstzunehmende Satire zu aktuellen Gender-Diskussionen bleibt "Barbie" schlicht zu arg an der Oberfläche, hat kaum bis keinerlei Biss und findet auf seine angesprochenen Probleme immer nur banale Lösungen, die zudem mit überzogenem Slapstick präsentiert werden. Den Zeigefinger erhebt Gerwig mit diesem Film in große Höhen und lässt ihre Figuren viele Phrasen dreschen – aber wirklich etwas zu sagen hat sie leider nicht. Im hyperaktiven Finale, in dem der Geschlechterkampf dann eine nochmal besonders absurde und surreale "tanzende Wendung" nimmt, bleibt gänzlich unklar, worauf das alles hinauslaufen soll. Ist das als krudes Empowering-Statement gemeint, selbstironische Persiflage auf den eigenen Film oder nur ein alberner Ulk, über den man gar nicht allzu viel nachdenken sollte?

Eigentlich hat Greta Gerwig letztlich hinter der feministischen Fassade einen lupenreinen Werbefilm produziert. Die vielen kleinen Spitzen, die insbesondere gegen Mattel ausgeteilt werden, sind da Teil des Konzepts: Man gibt sich selbstkritisch und aufgeklärt, ohne dabei über Gesten hinauszukommen. Gleichzeitig macht Gerwig genau das, was sie Mattel "vorwirft": Im Film wird beispielsweise mehrfach darüber gewitzelt, dass Mattel einst eine schwangere Barbie namens Midge (im Film: Emerald Fennell) verkaufte, diese jedoch schnell wieder aus dem Sortiment nahm, weil eine schwangere Puppe aus Sicht einiger Eltern als "bedenklich für Kinder" bezeichnet wurde. Der Vorwurf ist klar: Mattel hatte oft genug nicht den Schneid, Barbie modern und divers erscheinen zu lassen. Nur: Hat Gerwig nicht gleichzeitig selbst einen Film gedreht, in dem mit Margot Robbie die klassische weiße, blonde "stereotypische" Barbie im Mittelpunkt steht und die vielen anderen diverser besetzten Barbies nur Nebenrollen haben? Eine Barbie etwa, die im Rollstuhl sitzt, ist nur in zwei Szenen ganz kurz zu sehen, bekommt aber gar keinen eigenen Charakter.

So ist der progressive, anarchische Wind, der durch "Barbie" wehen soll, die meiste Zeit leider nur ein laues Lüftchen. Am Ende ist im Barbieland natürlich alles wieder pink, grell und schön, alle haben sich wieder lieb und die anfangs noch Barbie-kritische Teenie-Tochter, die der stereotypischen Barbie sogar Faschismus vorgeworfen hat, hat ihre Liebe zu den Spielzeugen wieder entdeckt. Schade. Vom aufbegehrenden Geist der kleinen Mädchen aus der Anfangsszene, die ihre altbackenen Püppchen noch mit Herzenslust an Steinen zerschmetterten, ist nach zwei Stunden nicht viel übriggeblieben.

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How I Learned to Start Worrying and Hate the Bomb

Beitrag von Wallnuss » 24.07.2023, 15:51

Oppenheimer

Mit einer Texteinblendung beginnt Star-Regisseur Christopher Nolan ("The Dark Knight", "Inception", "Interstellar") seinen neuesten Film. Doch obwohl dieser "Oppenheimer" heißt und auch von jenem Physiker handelt, klärt der Text nicht über Oppenheimer auf, sondern über Prometheus. Prometheus war ein Titan der griechischen Mythologie, der dem Göttervater Zeus das Feuer aus dem Olymp stahl und es den Menschen schenkte. Dafür wurde er von den Göttern bestraft und gefoltert, erklärt der "Oppenheimer"-Film. Sofort ist klar: Die Geschichte dieses Mannes, dessen Spitzname "Vater der Atombombe" lautet, wird kein heroischer Film über einen Wissenschaftler, dessen Erfindung den Zweiten Weltkrieg beendete und die Welt veränderte. Es wird ein düsterer Film, eine echte Tragödie – über den Gott der Quantenphysik.

Zu Beginn seines Lebens deutet für J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) nur wenig daraufhin, dass er einst das menschliche Prometheus-Äquivalent werden wird. Als Student der damals noch jungen Quantenphysik pilgert er durch Europa und lernt einige der Koryphäen der Physik kennen, darunter den dänischen Niels Bohr (Kenneth Branagh) und den deutschen Werner Heisenberg (Matthias Schweighöfer). Wieder in den USA wird er selbst zum Lehrer an einer Universität, freundet sich mit dem gleichgesinnten Ernest Lawrence (Josh Hartnett) an und etabliert die Quantenphysik in Amerika – bis ihn am 1. September 1939 dieselbe Nachricht in seinen Grundfesten erschüttert wie auch den Rest der Welt: Adolf Hitler ist mit Nazi-Deutschland in Polen einmarschiert.

Als die Nazis in Dänemark einfallen, verbreiten sich Gerüchte: Angeblich arbeiten Heisenberg und Bohr für Hitler am Bau eines nuklearen Sprengkörpers. Damit wären die Deutschen nicht mehr aufzuhalten. Da wird Oppenheimer vom US-Militär in Gestalt von Leslie Groves (Matt Damon) aufgesucht. Er bietet dem Wissenschaftler einen Job an: Oppenheimer soll mit den besten Physikern der USA ebenfalls an einer Atombombe bauen, einer Bombe, die "alle Kriege beenden" soll. In der Wüste von Los Alamos entsteht eine ganze Kleinstadt: Damit die vielen Genies, darunter Richard Feynman (Jack Quaid), Kenneth Bainbridge (Josh Peck), Edward Teller (Benny Safdie) und Enrico Fermi (Danny Deferrari), anreisen und über Monate am sogenannten Manhattan-Projekt mitwirken, wird die Stadt so gebaut, dass sie alle ihre Frauen und Kinder mitbringen können. Auch Oppenheimer bringt seine Gattin Kitty (Emily Blunt) mit in die Wüste, wo nach langer Arbeit der Bau der Bombe wirklich gelingt und beim legendären Trinity-Test erfolgreich gezündet wird.

Was danach geschah, ist Geschichte: Noch vor dem erfolgreichen Trinity-Test verliert Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg, Hitler erschießt sich im Führerbunker. Aber die Japaner kämpfen weiter. US-Präsident Harry S. Truman (Gary Oldman) zwingt sie in die Knie, in dem er je eine Atombombe auf die Städte Hiroshima und Nagasaki abwerfen lässt. Es sind zivile Ziele. In den Folgemonaten und Jahren wird Oppenheimer von schweren Schuldgefühlen geplagt und tritt zunehmend als politischer Gegner auf, als die USA an einer noch verheerenderen Bombe, der Wasserstoffbombe, forschen.

Das Leben des J. Robert Oppenheimer ist groß, so groß, dass Christopher Nolan für seinen Film eine Länge von 181 Minuten benötigt und dennoch nur so durch die Szenen hetzt. In seinem biografischen Epos sind gar mehr Schnitte als in vielen neumodischen Actionfilmen zu finden. Oppenheimers Zeit in Europa, sein Leben als Lehrer in Berkeley, seine Rekrutierung durch Groves, seine Planung des Manhattan-Projekts, der Bau der Bombe, die vielen (auch moralischen) Diskussionen unter den Physikern – durch all diese Ereignisse hastet Nolan mit einem überfordernden Tempo, in dem nie die Zeit bleibt, zu reflektieren und diesen Mann kennenzulernen. Nolan hakt die biografischen Stationen des Physikers detailgetreu und mit höchster Akribie ab, doch dieser Person näher auf den Zahn zu fühlen, dem man da immerhin drei Stunden zuschauen soll, will nicht gelingen.

Zumal Nolan es bei Oppenheimer als Physiker nicht belässt. Auch dessen Privatleben soll abgehandelt werden. Sein Bruder Frank (Dylan Arnold) war Mitglied der kommunistischen Partei, und obwohl Oppenheimer nie selbst überzeugter Kommunist war, so hatte er kommunistische Freunde wie Haakon Chevalier (Jefferson Hall) und ein Parteimitglied namens Jean Tatlock (Florence Pugh) als Geliebte. All das also quetscht Nolan in einem irren Erzähltempo in seinen Film – und wer nicht bereits kräftig viel Mitwissen über diese wahre Geschichte mitbringt, wird gewaltige Probleme bekommen, dem Film vollends zu folgen. "Oppenheimer" erzählt ein großes Leben, übernimmt sich aber in den Details. Was vor allem Oppenheimers Liebesleben im Film zu suchen hat, bleibt unklar. Florence Pugh ist nur in drei kurzen Szenen zu sehen und darf dabei wenig mehr tun, als sich oben ohne zu zeigen. Emily Blunt wird als besorgte, dem Alkohol zugetane Hausfrau verschenkt. Oppenheimers zwei Kinder sind so gut wie nie zu sehen. Ob ihre Namen überhaupt fallen, geht unter.

Und obwohl all das nicht kompliziert genug wäre, setzt Christopher Nolan noch eines drauf, denn "Oppenheimer" ist nicht chronologisch erzählt. Der Film hat gleich zwei Klammern: Die eine zeigt Oppenheimer im Jahr 1954, wie er sich in einem geheimen und inoffiziellen Hinterzimmer-Verfahren gegen die Entziehung seiner Sicherheitsfreigabe wehren muss, und dabei vom unerbittlichen Politiker Roger Robb (Jason Clarke) ins Kreuzverhör genommen wird. Dort versucht man, ihn als Kommunisten zu brandmarken, wirft ihm die politischen Ambitionen seines Bruders und seiner Ex-Geliebten vor. Einige Jahre später, in einer Handlung, die nur in Schwarz-Weiß gefilmt wird, bewirbt sich der Selfmade-Millionär Lewis Strauss (Robert Downey Jr.) vor dem US-Senat als Handelsminister im Kabinett von US-Präsident Dwight D. Eisenhower. Dabei geht es in einer öffentlichen Anhörung auch um Oppenheimer, denn Strauss war bei der politischen Diskussion um den Bau einer Wasserstoffbombe Oppenheimers schärfster Gegner.

Verworrener hätte Christopher Nolan seinen Film kaum aufbauen können. So gerät der Kinobesuch zum anstrengenden Parforceritt, es wirkt gar, als würde man sich ein Hörbuch über Oppenheimer versehentlich im Shuffle-Modus anhören. Nolan schaltet zwar alle Register, um den trockenen Stoff zum visuellen Erlebnis zu machen: Er filmt in großen, bedeutungsgeladenen Bildern, unterlegt nahezu die kompletten drei Stunden mit einem wummernden, die Ohren betäubenden Soundtrack von Ludwig Göransson ("The Mandalorian"), zeigt Oppenheimers Obsession mit Quantenphysik und Atomen in abstrakten epischen Partikel-Visionen, doch der Eindruck bleibt. "Oppenheimer" ist ein aufdringlicher, überfordernder Film, der unbedingt ein Event sein möchte, aber unter all seinem Getöse und seiner absichtlich komplizierten Form erschreckend hohl wirkt.

Dennoch muss man diesen Film im Kino gesehen haben, man könnte gar schreiben: Wenn man diesen Film überhaupt sehen muss, dann auf der größtmöglichen Leinwand. Denn trotz aller dramaturgischen Schwächen, trotz vieler der wenig überzeugenden Ideen und der wichtigtuerischen Gestaltung blitzt in einer Sequenz das Genie des Mannes auf, der mit "The Dark Knight" oder "Inception" zwei moderne Klassiker der Filmgeschichte schuf. Nach etwa zwei Stunden nämlich nähert sich "Oppenheimer" dem Trinity-Test und wie Nolan in einer gar zwanzigminütigen Montage sich dieser ersten Atombombenexplosion der Menschheit annähert, wie er dieses weltverändernde Ereignis aufbaut, zuspitzt und letztlich eine der lautesten Explosionen, die je in einem Film zu sehen und hören war, zündet – das ist ganz große Kinomagie und sollte jeder Filmfan mindestens einmal erlebt haben.

In dieser bildgewaltigen, erhabenen Sequenz findet Nolans Film eine Größe und Würde, die seinem Werk sonst abgeht – trotz einer hochkarätigen Besetzung, bei der Weltstarts teils Auftritte von unter zwei Minuten zugestanden bekommen. Selbst Hauptdarsteller Cillian Murphy kann nie wirklich auftrumpfen, zu wenig Futter bekommt er vom Drehbuch, um die Zerrissenheit, die schweren Selbstzweifel und die Ohnmacht gegenüber der eigenen Schöpfung zu verkörpern. Das legendäre TV-Interview von 1965, in dem ein weinender Oppenheimer vor Livekameras die Worte "Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten" spricht, zeigt Nolan nicht. Stattdessen liest Oppenheimer im Film diese Worte beim Sex mit seiner Geliebten vor. Sensationell spielt nur einer: Robert Downey Jr.! Dem "Iron Man"-Star in "Oppenheimer" zuzugucken, ist ein Gedicht. In der Rolle des intriganten Lewis Strauss geht er so auf, wie nie zuvor in seiner Karriere – und ihm dürfte 2023 jeder Schauspielpreis sicher sein. Auch für ihn lohnt sich der Kinobesuch.

Es ist schade, dass Christopher Nolan aus diesem brillanten Stoff selten je mehr rausholen kann als die Wiedergabe eines Wikipedia-Artikels, dass er den Zugang zum Menschen, der immerhin seinen Filmtitel schmückt, nicht findet. "Oppenheimer" hätte ein ganz großer Film werden können – das zeigt eine kurze, gänzlich fiktive Szene, die Nolan mehrfach wieder aufgreift, immer aus Sicht einer anderen Figur. 1947 nämlich trifft sich Oppenheimer an einem kleinen See mit seinem großen Idol Albert Einstein – worüber genau sie sprachen, enthüllt der Film erst ganz am Schluss. Es ist eine ganz kleine Szene in dem sonst so großen Film.

Albert Einstein wird vom 81-jährigen Schotten Tom Conti verkörpert – und sowohl Nolan als auch Conti zeigen Einstein ganz anders, als man es erwarten würde. Er ist hier nicht der überragende Physik-Genius, als das er so oft gezeigt wird, sondern ein kleiner, alter, bescheidener Mann, der das Wissen des ganzen Universums in seinem Kopf sortieren kann, dem bei starkem Wind aber auch schnell der Hut wegfliegt. In diesem kurzen Moment, als Einstein ganz beiläufig seinem davon wehenden Hut nachschaut, liegt der Film, der "Oppenheimer" hätte werden können. Ein Film, nicht über die Götter der Quantenphysik, sondern über die Menschen hinter der Wissenschaft.

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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von SFI » 24.07.2023, 16:18

Klingt ja ernüchternd, vor allem im Kontext zur derzeitigen imdb-Note. Naja, im Kino werde ich mir den Streifen eh nicht angucken, ist schon thematisch nicht meine Baustelle.
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Der rote Faden eines Lebenswerks

Beitrag von Wallnuss » 02.03.2024, 18:02

Vier im roten Kreis

Wann immer Cineasten sich über „Vier im roten Kreis“ austauschen, so wird vor allem eine Szene hervorgehoben: der legendäre Einbruch in einen Juwelier, auf den die Handlung die längste Zeit zugesteuert ist. Von diesem Job hat der inhaftierte Corey am Tag seiner Freilassung von einem Gefängniswächter erfahren, und als er kurz darauf unter ungewöhnlichen Umständen den Kriminellen Vogel kennenlernt, der seinerseits erst wenige Stunden zuvor den Fängen des Kommissars Mattel entwischt ist, hat er diesen direkt in sein Vorhaben eingeweiht. Zu Dritt müssen sie für die Durchführung ihres Plans aber sein, also heuern beide noch einen Scharfschützen an, den Ex-Polizisten Jansen.

Bis es zum großen Coup kommt, ist ein Großteil der 140-minütigen Erzählzeit schon verstrichen. Jean-Pierre Melville, einer der größten Autorenfilmer in der Geschichte Frankreichs, war nie dafür bekannt, seine Figuren zu hetzen. Er führt sie in „Vier im roten Kreis“ langsam ein und zueinander. So flüchtet Italowestern-Star Gian Maria Volonté erstmal eine ganze Weile vor der Polizei quer durch den Wald, ehe er bei seiner Flucht in einem willkürlich gewählten Kofferraum auf dem Parkplatz einer Raststätte Zuflucht sucht. Es handelt sich um den Wagen, den Corey an eben jenem Tag gerade erst gekauft hat. Zuvor hat er seinen ehemaligen Verbrecher-Boss, der mittlerweile mit Coreys Ex-Freundin schläft, um einige große Scheinchen erleichtert und bei einer Konfrontation mit zwei Schlägertypen einen der beiden versehentlich getötet.

Corey weiß von dem Mann in seinem Kofferraum und lässt ihn auf einem Feld aussteigen. Ohne große Worte erkennen die beiden Gangster im jeweils anderen einen Gleichgesinnten. Corey wirft Vogel seine Zigarettenschachtel zu, gemeinsam rauchen sie. Die Kamera schaut mit distanziertem Blick auf diese frisch entstandene Verbindung. Melvilles Kino zeichnete sich schon in seinen früheren Gangsterfilmen, darunter Klassiker wie „Der Teufel mit der weißen Weste“ und „Der zweite Atem“, durch einen unterkühlten, präzise-nüchternen Stil aus, in dem stoische Charaktere stattfinden. Er perfektionierte seine Ambitionen, den Fatalismus des US-amerikanischen Film noir mit der Sensibilität des französischen Kunstkinos der Nouvelle Vague zu verbinden, als er 1967 „Der eiskalte Engel“ drehte. Dort hatte er den unbeschreiblich coolen Alain Delon als professionellen Auftragsmörder gezeigt, lebend und tötend in einer obskuren Trenchcoat-Parallelwelt.

Gemeinsam mit Delon kehrte er drei Jahre später in diesen streng stilisierten Filmkosmos zurück. „Vier im roten Kreis“ war Melvilles Herausforderung an sich selbst. Wie er 1972 in einem Interview verriet, das in „Les cahiers de la Cinémathèque No 25“ veröffentlicht wurde, wollte er sich seinen wichtigsten Grundsatz beweisen, dass es „sehr wohl die Art den Film zu bearbeiten ist, die in einem Krimi zählt“. Er habe sich „dazu gezwungen, einen Film zu machen, der zu Beginn und am Ende einige absolut konventionelle Situationen beinhaltet“. Nicht mehr der Inhalt der Szenen war für ihn die Essenz, viel mehr deren Gestaltung. Und hier war alles erlaubt: „Ich mache nie Realismus“, lässt er sich zitieren.

Nichts zeigt das besser als die Einführung des Scharfschützen Jansen. Der wälzt sich bei seinem ersten Erscheinen im Bett, als ein Wandschrank sich mysteriöserweise öffnet. Heraus kommen unnatürlich große Spinnen. Kurz darauf folgen ihnen Eidechsen, Schlangen und Mäuse. Nur einen Schnitt später wuseln die Tiere auf dem Bett und auf Jansen, erst als sein Telefon ertönt, springt er auf. Die vielen leeren Alkoholflaschen neben seinem Bett verraten die Herkunft des gerade Gesehenen: Delirium tremens. Yves Montand spielt Jansen trotzdem nie als das Klischee eines Alkoholikers. Subtil fällt aber auf, wann immer er die Szene mit Delon oder Volonté teilt, dass er selbst neben den Stoikern noch emotionslos wirkt, wie ein menschlicher Zombie durch den Tag wandelt.

Schon immer ging es in Melvilles Filmen wortkarg zu, doch dieses Trio Infernal scheint nahezu ausschließlich über Blicke zu kommunizieren. Meisterlich erzählt Melville in konzentrierten Bildern ihre Geschichten, und überlässt das Reden ihrem Gegenspieler, dem Kommissar Mattei, den André Bourvil als gebrochenen, verbissenen Jäger spielt, der auch vor Einschüchterung potenzieller Informanten nicht zurückschreckt. Dabei ist Mattei auf seiner Wache noch jener Strafverfolger, der sich am ehesten moralischen und humanistischen Werten verschreibt. Sein Vorgesetzter hält Grenzen und Skrupel für überflüssig und hält sich an eine pessimistisch-pragmatische Weltanschauung: „Alle Menschen sind schuldig“, erklärt er seinem Untergebenen mehrfach – und Mattei ahnt, dass er recht haben könnte.

Mit solchen getriebenen Verfolgern konnte sich Melville schon immer inspirieren – nicht umsonst nahm der gebürtige Jean-Pierre Grumbach für seine Regie-Karriere den Nachnamen des „Moby Dick“-Autoren Herman Melville an. Eine Nähe zu Kapitän Ahab lässt sich sowohl Mattei als auch Melville nachsagen. Was für den einen der weiße Wal ist für den anderen das verbrecherische Dreiergespann und für den nächsten die makellose Szenenmontage. Melville soll seinen Wal hier erlegen, denn die viel besprochene Einbruchsszene ist eben deshalb dieser meist diskutierte Moment aus „Vier im roten Kreis“, weil er den unbestreitbaren Höhepunkt einer an Höhepunkten nicht gerade armen Filmografie darstellt.

Bei aller Sorgfalt, die er bis dahin hat walten lassen, um seine Figuren in Position zu bringen, so hat er doch penibel mit einer Tradition des Heist-Films gebrochen: den Plan, den die Drei verfolgen, um den Juwelier auszurauben, erfährt der Zuschauer nicht. Stattdessen ist man in Echtzeit Zeuge der exakten Ausführung dieses Einbruchs. Ganze siebenundzwanzig Minuten dauert die Sequenz, gesprochen wird in dieser langen Zeit nur ein einziges Wort. Selbst die lässige Jazz-Musik des Komponisten Éric Demarsan, die zuvor noch kongenial entscheidende Momente akzentuierte, weiß, dass sie nun schweigen muss.

Wie Melville auf der Klaviatur der Erwartungen spielt und jedes Detail der Durchführung regelrecht auskostet, ist beispiellos. Nur wenige Filmemacher sind dazu fähig, die Spannung so lange konstant so hochzuhalten. Famos sind die Momente, in denen Corey und Vogel ein Fenster möglichst lautlos aufbrechen müssen oder Jansen für seinen Meisterschuss erst ein präzise justiertes Stativ aufstellt, um dann doch aus freier Hand zu zielen und abzudrücken. Regelrecht schelmisch baut Melville zudem eine kurze Situation ein, in der Jansen inmitten des Geschehens einen Flachmann auspackt und am Alkohol riecht, ihn dann jedoch wieder wegsteckt. Kurz keimt die Befürchtung auf, er könne durch seine Sucht das Unternehmen gefährden. So kommt es nicht.

Ein positives Ende erfährt die Gangsterfabel dennoch nicht. Melville sah den modernen Polizeifilm als logischen zeitgemäßen Nachfolger der antiken Tragödie. Seine Vorwerke schrammten nicht selten nah am alles verneinenden Nihilismus vorbei. Dass „Vier im roten Kreis“ mit einem Showdown der vier zentralen Charaktere enden wird, ist vom ersten Augenblick klar. Bevor der Film nämlich eröffnet, ist ihm ein Zitat vorangestellt: „Siddharta Gautama, der Buddha, zeichnete mit roter Kreide einen Kreis und sagte: Wenn es vorherbestimmt ist, dass Menschen einander wiedersehen sollen, was auch immer ihnen geschieht, auf welchen Wegen sie auch wandeln, am gegebenen Tag werden sie einander unvermeidlich im roten Kreis begegnen.“

Keine dieser Figuren kann ihrem Schicksal also je entkommen. Ihr Gelingen und Scheitern ist längst vorherbestimmt. Mehrfach taucht der titelgebende rote Kreis im Film auf: Gleich in der ersten Szene ist eine rote Ampel zu sehen, die Mattei überfährt, um Vogel rechtzeitig an Bord eines Nachtzuges zu bringen, der ihn ins Gefängnis fahren soll und aus dem er ausbrechen wird. Hätte das Auto hier gestoppt, wären Vogel und Corey sich wohl nie begegnet. Corey zeichnet später einen roten Kreis auf einen Billardqueue, kurz bevor er erstmals von Berufsmördern ausgemacht wird. Ob es der Zufall oder wirklich schicksalshafte Bestimmung ist, was aus diesen Männern wird, lässt der Film offen. Doch folgt man dem Glauben des Polizeipräsidenten, alle Menschen seien schuldig, so kann es am Ende ohnehin nicht die Falschen treffen.

Nun mag alles, was Figuren in Filmen passiert, letztlich deterministisch sein, schließlich bestimmen der Autor und der Regisseur den Ausgang der Geschichte. Die Kunst des Erzählens liegt darin, die Illusion zu erzeugen, die handelnden Charaktere seien zu eigenen Entscheidungen fähig. In diesem Fall ist sich Jean-Pierre Melville seiner Rolle mehr als bewusst: das einleitende Zitat, welches in der Texteinblendung dem hinduistischen Mystiker Rama Krishna zugeschrieben wird, ist in Wahrheit frei erfunden.

Seine Filme waren alle Ausdruck seiner Persönlichkeit. Aus den schweigsamen Trenchcoat-Ganoven in modischen US-Autos spricht seine große, aufrichtige Liebe zum Kino von Übersee. Als ehemaliger Résistance-Kämpfer im Zweiten Weltkrieg spielen die Themen Loyalität und Verrat eine entscheidende Rolle in seinem Werk, so auch in diesem – seinem größten – Meisterwerk. Sein kontemplativer Formalismus findet bis heute Anklang. Zu seinen glühenden Verehrern zählen Quentin Tarantino, John Woo, Aki Kaurismäki und Michael Mann.

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Stoppen kann ihn nur ein Begrenzungspfahl

Beitrag von Wallnuss » 21.05.2024, 15:41

Mad Max

Als habe „Sam Peckinpah die Absicht, seinen Helden die letzten Tötungshemmungen auszutreiben“ – mit diesem Fazit urteilte im März 1980 der Filmkritiker Norbert Jochum in der Zeit über einen Film, der gerade dabei war, für lange Zeit (insgesamt zwanzig Jahre) zur profitabelsten Filmproduktion überhaupt zu werden. Ein australischer, postapokalyptischer Copfilm namens „Mad Max“ hatte es geschafft, bei einem Budget von weniger als 400.000 Dollar insgesamt über 100 Millionen Dollar einzunehmen.

Wie kostengünstig „Mad Max“ entstand, lässt sich anhand von Anekdoten erzählen. So eröffnet der 93-minütige Film mit einer spektakulären Autoverfolgungsjagd. Ein Gangster, der sich selbst Nightrider nennt, hat einen Polizisten ermordet und fährt jetzt mit seiner Freundin dessen Karre durchs australische Outback spazieren. Ein paar Bullen rasen ihm nach. Die Folge sind mehrere Zusammenstöße, Beinahe-Unfälle und ein atemberaubender Stunt, in dem ein Auto mit voller Wucht durch einen Campingwagen kracht und dieser mit einem großen Loch in der Mitte zurückbleibt. Wie sang später die Band „Torfrock“ in ihrem Song zum Film „Werner – Beinhart!“: „Stell den Campingwagen nicht dahin oder du hast einen Tunnel drin“. Die irrsinnige Szene verlangte von Regisseur George Miller einen besonderen Einsatz: Da das Budget zu dem Zeitpunkt des Drehs bereits aufgebraucht war, ließ er vor der Kamera seinen eigenen Camper zerstören.

Miller hatte lange als Arzt in einem Krankenhaus in Sydney gearbeitet und dort Unfallpatienten behandelt. Ein Anliegen, das ihm eine Herzensangelegenheit war: in seiner Jugend im ländlichen Queensland hatte er gleich drei enge Freunde bei Autounfällen verloren. „Mad Max“ war sein erster Spielfilm und ist voll von solchen Unfällen. 1971 hatte Miller im Krankenhaus den Amateur-Filmemacher Byron Kennedy kennengelernt, und mit ihm an ein paar Kurzfilmen gearbeitet. Als sie „Mad Max“ in Angriff nahmen, hatten sie zwar Erfahrung, wussten aber in vielen Fällen noch lange nicht, was sie taten. Sie drehten mit beschränktesten Mitteln, sperrten ohne Genehmigung Straßen ab, filmten dort ihre Unfälle und räumten die Straße danach selbst wieder auf. Walkie-Talkies, die sie für den Dreh kauften, konnten sie schnell wieder in den Müll werfen: die Frequenz der Dinge behinderte den Polizeifunk. „Guerilla-Filmemachen“ der besten Sorte also.

Wer so viel auf sich nimmt, muss doch eine besondere Geschichte zu erzählen haben – könnte man meinen. Tatsächlich wirkt das im ersten Drittel von „Mad Max“ nicht so. Eigentlich gibt es hier nur absurd aufwendige Autostunts zu begutachten, die ein jähes Ende finden, als der beste Fahrer der australischen Polizei, ein gewisser Max Rockatansky, sich einschaltet. Kaum nimmt er die Verfolgung auf, finden der Nightrider und seine Gespielin den Tod. Einen Großteil seines Geldes hat Miller also schon verballert, bevor er überhaupt ins Erzählen gekommen ist. Oder würde er das anders sehen?

Eigenen Aussagen zufolge schwebte ihm damals ein „Stummfilm mit Ton“ vor, sein großes Vorbild sei Buster Keaton gewesen. Dessen „The General“ von 1926, in dem ein Lokführer seiner geklauten Eisenbahn nachjagt, wird gemeinhin als Triumph cineastischer Kinetik gefeiert. Um eine konventionelle Erzählung geht es nicht, eher um ein Kino der Bewegungen. Miller addiert diesem radikal-entschlackten Ansatz in „Mad Max“ noch eine Ebene hinzu, die er sich u.a. bei den Italowestern eines Sergio Leone abguckte: sein Erzählen, sein Zeigen von Figuren, gerät mythologisch. Max Rockatansky wird von der Kamera über mehrere Minuten „eingeführt“, erst sieht man seine Schuhe, dann seine Lederjacke, sein Auto, seine Sonnenbrille und erst nach langer Antizipation kommt das Gesicht vom damals gänzlich unbekannten Hauptdarsteller Mel Gibson ins Bild, den diese Rolle zum Weltstar machte.

Max ist nicht bloß eine Figur, verdeutlicht diese Inszenierung, er ist ein Archetyp, er ist der letzte gerechte Vollstrecker des Rechts in einer kaputten, desolaten Welt. „Mad Max“ ist eine Dystopie, die sich selbst weder erklärt noch begründet. Von der Texteinblendung, er spiele „in der nahen Zukunft“ abgesehen, gibt es keine Kontextualisierung für das, was Miller zeigt. Aus den Bildern ergibt sich, dass in Australien Straßenbanden, darunter die psychopathischen Höllenjockeys, für Terror sorgen und das Land terrorisieren, und es der Polizei, die vom heruntergekommenen Justizpalast aus walten, die Lage kaum noch unter Kontrolle haben.

Der Tod des Nightriders, einem Mitglied der Höllenjockeys, ruft diese für eine Vergeltungsaktion auf den Plan. In einer Szene, die direkt aus Western entnommen ist, plündern sie einen kleinen Ort, brandschatzen und vergewaltigen. Kurz darauf wird Max‘ Partner Goose bei lebendigem Leib von ihnen verbrannt. Herausragend zeigt Gibsons Gesicht, dass dies der erste Schritt der Desillusionierung ist. Er kündigt seinen Job. Sein Chef ruft ihm nach: „Die meisten Menschen, die glauben nicht, dass es noch Helden gibt heutzutage. Drauf geschissen! Du und ich, Max, wir werden ihnen beweisen, dass noch nicht alle Helden tot sind.“

In US-Filmen wäre das der Moment, in dem der Held sich vom Pathos umstimmen lässt. Sieben Jahre später wiederholt sich diese Szene fast exakt in „Top Gun“ von Tony Scott. Auch hier hat es den Partner des Helden, der ebenfalls Goose heißt, erwischt. Auch hier will der Held seinen Dienst quittieren. Er lässt sich umstimmen. Max aber nicht. Er lacht nur über die Ansprache seines Chefs und glaubt, würde er nur noch einen Tag länger auf den Straßen verbringen, er wäre bald genauso verrückt wie Höllenjockeys. Die Subtilität, mit der Miller seine dystopische Version eines anarchischen Australiens zeichnet, allein über die Montage der Actionmodule einer damals zeitgemäßen B-Film-Ästhetik, ist auch nach vielen Jahren noch bemerkenswert. Max wird mit simpelsten Mitteln als letztes Bollwerk gegen das Chaos gezeichnet, nur um ihn dann kapitulieren und mit Frau und Kind in die Natur flüchten zu lassen. Nicht wenige Konkurrenzfilme könnten sich eine Scheibe hiervon abschneiden.

„Mad Max“ inspirierte durch seine trostlose, pessimistische Endzeit-Stimmung ein ganzes Subgenre, prägte popkulturelle Ikonen wie die Comicfigur Judge Dredd oder das satirische Wüsten-Ödland der Videospiel-Reihe „Fallout“. Gerade die sparsame Inszenierung, die beispielsweise Stunts immer nur aus einer Kamerasicht zeigt – man hatte nicht das Geld, Auto-Zusammenstöße mehrfach zu filmen – sorgt für eine harte und unwirkliche Atmosphäre, genau wie die Musik von Brian May (nicht zu verwechseln mit dem Mitglied der Band „Queen“) schräge und surreale Töne anschlägt.

Es ist aber erst das letzte Drittel, welches „Mad Max“ wirklich zum Kult werden ließ, in denen Miller seinem Helden, wie Jochum schrieb, die „letzten Tötungshemmungen“ nimmt. In einer langen Sequenz spüren die Höllenjockeys Max‘ Frau auf, jagen sie durch den Wald – was dank Millers Einsatz einer subjektivierenden Kamera für zusätzliche Beklommenheit und Unbehagen sorgt. Sie schnappt sich den Nachwuchs, flieht mit ihrem Kleinkind auf den Arm – aber sie kann den Gangstern nicht entkommen. Als sie ihr mit den Motorrädern nachjagen, filmt die Kamera plötzlich nur noch den Asphalt und ein Kinderschuh fliegt ins Bild. Suggestiver kann man eine solche Gräueltat nicht inszenieren.

Jetzt zeigt Mel Gibson seine schauspielerische Klasse. Kalt, trostlos und verbissen will Max Vergeltung. Einige spektakuläre Autostunts später ist nur noch einer der Höllenjockeys über. Max kettet ihn mit seinem Fußknochen per Handschelle an einen Unfallwagen aus dem Benzin tropft, improvisiert einen Zeitzünder. Dann schmeißt er ihm eine Säge hin: „Du brauchst etwa zehn Minuten, um sie durchzusägen, aber wenn du Glück hast, schaffst du es in fünf Minuten, deinen Knöchel durchzusägen.“ Sprachs und ging, fuhr in das Nichts hinaus. Die Rache bringt Max keine Katharsis, keine Befreiung. Er verbleibt, Mel Gibsons Augen sprechen Bände, als ein Getriebener, der in die verlorene Welt hinausfährt. Was er hinterlässt, ist eine Schneise der Verwüstung und Gewalt. Die Szene mit der Säge inspirierte 2004 allzu offensichtlich den Horrorschocker „Saw“.

Millers betont schräg-entrückte Sinfonie aus Gewalt, Blechschäden und Männlichkeit traf offenkundig einen Nerv, kann als Nachfolger zu anderen Rachefilmen der 70er wie „Dirty Harry“ mit Clint Eastwood, „Ein Mann sieht rot“ mit Charles Bronson oder „Ich spuck auf dein Grab“ mit Camille Keaton gesehen werden und ist selbst der Vorgänger immer nihilistischerer Zukunftsvisionen, die das Kino in den Folgejahren präsentierte, etwa John Carpenters „Die Klapperschlange“ oder James Camerons „Terminator“.

Von der Fachpresse für Gewaltverherrlichung und Menschenverachtung abgestraft, vom Publikum zum stilprägenden Klassiker erkoren. Der Ansatz eines „Stummfilms mit Ton“ machte sich für Miller mehr als bezahlt – das 285-fache seines Budgets spielte „Mad Max“ ein. Wohl auch, weil er überall auf der Welt verstanden wurde. Miller verriet Jahre später: „In Japan hielt man Max für einen Samurai, in Frankreich für einen Westernhelden auf Rädern, in Skandinavien nannten sie ihn einen Wikinger.“

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London ist immer einen Abstecher wert

Beitrag von Wallnuss » 23.05.2024, 17:13

From Hell

Wann immer es um die besten Comicautoren des 20. Jahrhunderts geht, kommt man an Alan Moore nicht vorbei. Der bekennende britische Anarchist schrieb sich mit illustrierten Strips, die er an Zeitungen verkaufte, selbst aus der Arbeitslosigkeit heraus und wurde 1983 bei DC Comics angestellt. Zu seinen größten und prägendsten Werken zählen die alternative Superheldenreihe „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“, die Widerstandsfabel „V wie Vendetta“ oder die Graphic Novel „Watchmen“, eine satirische Superheldengeschichte, die zu den bedeutendsten englischsprachigen Literaturwerken seiner Zeit zählt. Für viele seiner treuen Anhänger gilt neben „Watchmen“ aber noch eine andere seiner Arbeiten als sein Magnum opus: „From Hell“.

Dieses innovative Mammutwerk spielt im Jahr 1888 in Whitechapel, London, und handelt von den fünf Morden an Prostituierten, die Jack The Ripper beging. Dafür haben Moore und sein Zeichner Eddie Campbell über zehn Jahre recherchiert, nicht nur sämtliche historischen Details zu den Ripper-Morden, sondern auch zum damaligen Stadtbild, zu den politischen Umständen der Zeit und zu den zahlreichen Legenden und Verschwörungstheorien, die es rund um den nie gefassten Serienmörder gibt. Von 1991 bis 1996 erschien die ganze Reihe. Aufgrund des großen Erfolgs der Vorlage dauerte es nur wenige Jahre, ehe 2001 eine Filmadaption auf der großen Leinwand erschien. Inszeniert von den mit Vorschusslorbeeren übersäten Zwillingen Albert und Allen Hughes, besetzt mit Stars wie Johnny Depp, Robbie Coltrane, Heather Graham und Ian Holm. Was soll da schon schiefgehen?

Nun: eine ganze Menge. Als „From Hell“ den Sprung auf die Leinwand schaffte, waren die Kritiken bestenfalls mittelprächtig. Kinogänger störten sich an der steifen Inszenierung, für Comicleser war die Adaption größtenteils gar ein Desaster. Dabei ist der Begriff Adaption in diesem Fall eher lose gedacht zu verstehen. Natürlich haben Filmemacher jedes Recht, eine Vorlage abzuwandeln und sie neu zu interpretieren – man denke nur daran, wie genial Robert Altman 1973 für seinen „Der Tod kennt keine Wiederkehr“ den Roman „Der lange Abschied“ von Raymond Chandler abwandelte. Doch wenn eine Verfilmung wie „From Hell“ so offensichtlich verkennt, was am Ausgangsmaterial eigentlich so brillant gewesen ist, dann muss man es den Beteiligten vorhalten dürfen.

Moores Herangehensweise an Genre ist immer eine entlarvende, eine modernistische. In seinen Superheldencomics zeigte er sich zumeist daran interessiert, wie ein Genre, das zu Beginn des Zweiten Weltkriegs weitgehend von jüdischen Künstlern als Ventil für ihre Abscheu vor dem Antisemitismus der Nazis entstanden ist, Helden hervorzubringen, deren Ikonographie selbst faschistische Züge trägt. Schon seine „Batman“-Arbeiten (u.a. „The Killing Joke“) sind da eindeutig. „Der Superhelden-Traum ist im Wesentlichen Faschismus“, lässt er sich zitieren. „From Hell“ spinnt diese thematische Analyse weiter.

Moore und Campbell greifen darin eine gängige Verschwörungstheorie auf, nach der die Königsfamilie in die Ripper-Morde involviert war. Früh in ihrer Graphic Novel verraten sie, dass es sich beim Ripper um William Gull, den Leibarzt der Königin Victoria handelte. Der Sohn der Königin, Prinz Albert, hatte eine Prostituierte geheiratet und geschwängert. Die fünf ermordeten Frauen waren Freundinnen dieser Dame, wussten von der Heirat und dem Kind und erpressten das Königshaus. Gull beseitigte sie.

Man muss diese Auflösung verraten, da es eigentlich überhaupt keine sein sollte. „From Hell“ macht anders als zahlreiche Geschichten kein Geheimnis um die Identität des Rippers. Moore und Campbell ging es nicht darum, eine vermeintliche Version einer möglichen Wahrheit zu imaginieren. Ihr Werk ist ein dezidiert feministisches. Die Morde des Rippers sind in ihrer Erzählung nur eine logische Konsequenz der sexuellen Unterdrückung im patriarchalen viktorianischen England. Der Mörder Gull inszeniert die Morde sogar im Arrangement eines heidnischen Rituals, mit welchem er glaubt, das 20. Jahrhundert einzuläuten. Die Botschaft ist klar: Das frauenfeindliche Spektakel, als dass die Ripper-Morde in die Mediengeschichte eingingen – und bis heute als solches behandelt werden – ist laut „From Hell“ eine zentrale Wurzel der narrativen modernen Popkultur.

Von all dem ist in der „From Hell“-Verfilmung keine Spur. Das beginnt schon damit, dass der Film aus der Identität des Rippers doch wieder ein Geheimnis macht – wenn auch vergeblich, da es mangels möglicher Kandidaten und angesichts der hochkarätigen Besetzung Gulls durch Ian Holm schon früh für erfahrene Zuschauer klar sein muss, was später eine Überraschung sein soll. Während die Vorlage multiperspektivisch erzählt, bauen die Hughes-Brüder einen konventionellen Whodunnit in Tradition klassischer Krimis à la Agatha Christie. Depp spielt den britischen Inspektor Frederick Abberline, der damals wirklich am Ripper-Fall arbeitete, verhört Sex-Arbeiterinnen, verliebt sich in eine von ihnen und hat im Opium-Rausch Visionen der Morde.

Eine komplexe Figur ist er nicht, eher der typische postmoderne ‚Bad Boy‘-Cop, der mit verhuschter Frisur und grimmigem Blick ermittelt, jedoch das Herz am rechten Fleck trägt. So abgeschmackt wie sein Charakter auftritt, gestaltet sich die ganze Inszenierung. Der Film setzt auf schwarze Wolken, schmutzige Kopfsteinpflaster, flackerndes Gaslicht und viel Nebel, in kurz: er weidet sich in Horrorfilm-Klischees, erinnert mehrfach an die Hammer-Studios-Produktionen der 50er wie „Frankensteins Fluch“ oder „Die Rache der Pharaonen“. Diese Zitate sind aber offensichtlich als solche erkennbar, und die meiste Zeit verhält sich „From Hell“ wie ein verfilmtes Ausstellungsstück, wie eine leer abgefilmte Kulisse. Dazu trägt auch bei, dass Depp als Drogensüchtiger und Graham als Bordsteinschwalbe beide in stets sauber gewaschener Kleidung, mit frisch geföhnten und frisierten Haaren und makellosen Fingernägeln durch die Szenerie wanken.

Als „From Hell“ im Kino erschien, war der Gothic Horror längst im Mainstream-Kino angekommen. 1992 ließ Francis Ford Coppola „Bram Stoker’s Dracula“ auf die Leinwände los, und schon 1999 ermittelte Johnny Depp als schräger Schnüffler, damals noch in „Sleepy Hollow“ unter der Regie von Tim Burton. „From Hell“ setzt anders als diese künstlerisch recht ambitionierten Werke eher auf den Charme des B- und Pulp-Kinos. In den Mordszenen geht es zwar inszenatorisch wenig raffiniert, dafür aber umso brutaler und blutiger zu – einerseits stimmig angesichts dessen, dass Jack The Ripper seine Opfer mit anatomischer Präzision schlachtete und ihnen Organe entnahm, andererseits offenbart auch diese Überstilisierung der Frauenmorde ein fundamentales Missverständnis der Vorlage. Man könnte böse sagen, dass die Hughes‘ in diesen Szenen genau jener morbiden Faszination erliegen, die Moore und Campbell in ihrem Vorwerk als misogyne Problematik herausarbeiten.

Somit ist das Endresultat leider weder Fisch noch Fleisch. Für einen tatsächlichen Horrorfilm fehlt es „From Hell“ an waschechten Schockmomenten oder Situationen, die ein Gefühl der Beklommenheit aufkommen lassen. Trotz der Brutalitäten dürften auch Gore-Fans eher außenvor bleiben. Wer atmosphärische Krimis schätzt, der bekommt hier die x-te Nacherzählung um Jack The Ripper geboten und muss sich fragen, warum selbst erwiesene Schauspielkönner wie Robbie Coltrane und Ian Holm so steif wirken. Gerade Johnny Depp ist in der Hauptrolle eine Enttäuschung, spielt den Ermittler ohne viel Energie oder Charisma. Vielleicht sind da die Fußstapfen zu groß, immerhin verkörperte 1988 niemand geringeres als Michael Caine den Inspektor Abberline in der großartigen TV-Miniserie „Jack the Ripper“ als einen alkoholkranken Hardliner mit schweren Aggressionsproblemen.

Bei „From Hell“ blieb es in den 2000ern nicht. 2003 versuchte Hollywood sich an Moores „Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“, 2005 an seinem DC-Helden „Constantine“, 2006 nahmen die Wachowski-Geschwister – immerhin die „Matrix“-Regisseure – es mit „V wie Vendetta“ auf, 2009 kamen die „Watchmen“ in die Kinos und für „Batman – The Killing Joke“ reichte es 2016 nur noch als Zeichentrickprojekt. Keiner dieser Filme konnte Kritik oder Publikum in Summe so richtig überzeugen – und sie alle wurden von Alan Moore persönlich buchstäblich zerfetzt. Mittlerweile will er seinen Namen mit solchen Adaptionen nicht mehr in Verbindung gebracht sehen, verzichtet im Gegenzug auf sämtliche Einnahmen. Allerdings: Immerhin schafften es „Constantine“ und „Watchmen“ in den Folgejahren nach ihrer Veröffentlichung zu modernen Kultfilmen.

Dieses Schicksal einer späteren Re-Evaluierung blieb „From Hell“ verwehrt. In Erinnerung bleibt er vor allem als ein besonders bemerkenswertes Negativ-Beispiel für die gnadenlose Banalisierung intellektueller Literaturstoffe durch die Werkeleien der Hollywood-Maschinerie. Die Aufarbeitung der Morde von Jack The Ripper in ihrem Einfluss auf die moderne Popkultur hingegen wurde weiter vertieft. 2019 veröffentlichte die Historikerin Hallie Rubenhold ihr Buch „The Five: The Untold Lives of the Women Killed by Jack the Ripper”, in dem es ausschließlich um die fünf weiblichen Opfer und ihre Geschichten geht.

Dem „From Hell“-Film könnten diese Frauenfiguren nicht egaler sein. Wichtig ist nur das Mysterium um den geheimnisvollen Mörder. Dabei sagte Moore über seine Vorlage: „Ich habe keine Geschichte über Jack the Ripper geschrieben, ich habe über unsere Besessenheit von Jack the Ripper geschrieben.“ Wie sehr diese Besessenheit nach wie vor dominiert, zeigt die Adaption seines Werks dann in der Tat wirklich eindrucksvoll.

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Was Mäxchen nicht fährt ...

Beitrag von Wallnuss » 04.06.2024, 01:06

Mad Max: Der Vollstrecker

„Auf diese Art geht die Welt zugrunde. Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer“, schrieb T. S. Eliot in seinem berühmten Gedicht „Die hohlen Männer“. Doch wie klang dieses Gewimmer, als die Welt von „Mad Max“ unterging? Eine hörbar alte Erzählerstimme aus dem Off versucht zu Beginn der Fortsetzung „Der Vollstrecker“ davon zu berichten. Doch er selbst hat den Zerfall der alten Welt nicht miterlebt. Er weiß nur, dass es einen Krieg gab, der wegen des immer knapper werdenden Öls geführt wurde, und dass „die Politiker“ sich zusammensetzten „und redeten und redeten“. Vielleicht wimmerten sie auch.

Der Australier George Miller hatte sich 1979 mit wenig Budget und noch weniger Erfahrung an einer Endzeitvision versucht, und in „Mad Max“ eine Welt gezeichnet, deren Gesetze nur noch von psychopathischen Bikern und ein paar wenigen, nicht minder psychopathischen Cops auf den Straßen verhandelt wurden. Nach dem Erfolg dieses Films über einen Mann, der durch ein Trauma – den Verlust seiner Familie – zum Mythos wurde, kamen Angebote aus Hollywood rein. Den ersten Teil dessen, was später die „Rambo“-Filmreihe wurde, bot man ihn an, ein Rock’n’Roll-Drama namens „Roxanne“ hatte er bereits in Arbeit. Doch die Verlockung war zu groß, zurückzukehren in die kahle und raue Welt von „Mad Max“.

Da insbesondere dieser zweite Teil die Blaupause für Jahrzehnte des Dystopie-Kinos wurde, ist es mittlerweile leicht zu übersehen, wie persönlich die Vision dieses zerstörten Australiens für Miller war. Er hatte nicht nur ein ambivalentes Verhältnis zu Fahrzeugen, nachdem gleich drei seiner engsten Freunde in jungen Jahren bei Autounfällen verstarben, sondern hatte 1973 auch die Ölpreiskrise miterlebt und kannte persönlich einige Familien, die im Zuge der daraus resultierenden Inflation ihre Existenz verloren. Seine „Mad Max“-Reihe reflektiert die Angst vor einer globalen Öl-Knappheit und treibt auf die Spitze, wie abhängig sämtliche moderne zivilisatorische Errungenschaften vom sprichwörtlichen schwarzen Gold sind.

So berichtet der Mann aus dem Off also, dass die Welt unterging, zur Wüste wurde, in der die Anarchie gilt, in der jeder jeden für einen Liter Benzin töten würde. Und er erzählt von einem, den er in dieser Einöde kennenlernte, der über die Straßen zog und als der titelgebende Vollstrecker sein einsames Dasein fristete: Max Rockatansky, erneut gespielt vom ultracoolen Mel Gibson, der mit diesem Sequel endgültig zum Superstar avancierte. Wer den Vorgänger nicht gesehen hat: Kein Problem, die eröffnende Montage erklärt nochmal kurz, was geschehen ist. Sie könnte genauso gut aber auch weggelassen werden. Max mag im Vorgänger noch den Anschein eines Charakters erwecken, doch jetzt wird er nur noch als Mythos behandelt, als Idee eines Heldentypus, von dem andere in Sagen berichten.

Wer in der Wüste dreht und von wortkargen, ewig getriebenen Helden ohne Heimat erzählt, der weiß, dass sein Setting schnell in den Hintergrund rückt und beim Zuschauer Gedanken an einen Western evoziert werden. Miller versucht gar nicht, diese Inspirationen zu verheimlichen. Neben den Samurai-Filmen eines Akira Kurosawa waren die Italowestern des Sergio Leone eine wichtige Inspirationsquelle für ihn. Wortkarg ist Max noch mehr als seine Inspirationsquellen: Nur 16 Sätze spricht er im Verlauf des Films, zwei davon lauten: „Ich bin nur wegen des Benzins gekommen.“

Der Plot könnte für einen Western kaum klassischer sein: Nach einer kurzen, effektiven und vor allem explosiven Einführungsszene, die Max bei der täglichen Jagd nach Sprit zeigt, stößt der ehemalige Polizist, der seine einstige Lederuniform noch immer wie eine Rüstung trägt, auf einen Siedlertreck, der von Outlaws bedroht wird. Statt mit Pferden und Postkutschen voller Gold, sitzt diese verzweifelte Gruppe in futuristischen Quads und auf einem großen Tankwagen voller Öl, der irgendwie über die Frontier, die Grenze, ins gelobte Land gebracht werden soll, von dem in Erzählungen zu hören ist.

Dumm nur, dass der maskierte Muskelberg Hummungus, gekleidet wie ein BDSM-Sklave, und seine motorisierten Punk-Psychos die Siedler aus ihrer Festung nicht entkommen lassen, sondern sie rund um die Uhr belagern. Max, kein Held im klassischen Sinne (mehr), kann einem der Siedler retten und sie zu einem Deal überreden: Sie geben ihm literweise Öl, dafür hilft er ihnen, den tonnenschweren Tanker an Hummungus‘ Schergen vorbeizukriegen. Der Loner, mag er noch so profitgierig und kalt wirken, lässt hinter seiner harten Schale ein Herz erahnen und hilft den Verzweifelten in Not. Mel Gibson als filmischer Erbe von Clint Eastwood.

Man kann dieses narrative Konstrukt simpel nennen, aber Miller denkt als Regisseur vor allem in Bildern, die bei ihm eine eigene cineastische Grammatik entwickeln. Motorengeräusche, Menschengeschrei, Lederuniformen und Explosionen formen eine innovative, komplexe Syntax. Die inszenatorischen Einfälle sind charakteristisch und teils brillant: Als Max zum Beispiel einmal, er hatte sich gerade eigensinnig aus dem Staub gemacht und war von ein paar Raudis überfallen und beinahe getötet worden, von einem Gyrocopter-Piloten – köstlich-humorvoll gespielt von Bruce Spence als degenerierte Grimassen-Version eines James-Coburn-Archetypen – gerettet wird, filmt Miller den zugerichteten Gibson frei in der Luft schwebend, während unter ihm die Erde vorbeizieht.

Visuell ist „Mad Max: Der Vollstrecker“ ein großes Vergnügen. Die Wüstenlandschaften werden von Kamera-Ass Dean Semler ebenso spektakulär in Szene gesetzt, wie die Designs für die „Wasteland“-genannte Postapokalypse vielseitig ausfallen. Die Kostüme und Karosserien der Schurken sind auf maximale Einprägsamkeit hingedacht, über achtzig Autos wurden umgebaut, über die Hälfte von ihnen beim Dreh der Actionszenen zerstört. Ebendiese sind nicht nur rasant, sondern auch durchtränkt von schwarzem Humor, und so erinnert die insgesamt schräg-gezeichnete Welt mitunter an die Logik alter Comic-Strips. Als Max etwa einmal mit einem Truck-Vorderbau durch das Lager von Hummungus brettert, reißt er dabei eines der vielen Zelte um und darunter zum Vorschein kommt ein Pärchen, das gerade dem Liebesspiel nachgeht und verdutzt dreinblickt.

So humorvoll angereichert es also zugeht, ist „Der Vollstrecker“ dennoch ein überaus gewaltvoller Film. Einmal schneidet ein kleiner stummer Junge per Bumerang-Wurf einem Schurken den Kopf auf, in mehreren anderen Szenen hat Hummungus zwei gefangene Siedler vorne an seinen Wagen gebunden, als seien sie lebendige Schutzschilde. Max hat in seinem ikonischen Auto, dem V8 Interceptor, auch einen Hund bei sich, der für ein paar erheiternde Momente sorgt, aber – man ahnt es in diesem Genre – den Film nicht überlebt.

Das große Crescendo ist dann jener Moment, der diese Fortsetzung zu einem Genre-Primus werden ließ – so wählten ihn beispielsweise die Leser des Rolling Stone im Jahr 2015 zum besten Actionfilm aller Zeiten. Kein Wunder, ging doch die finale dreizehnminütige Verfolgungsjagd, bei der Hummungus und Co. dem Tankwagen – gefahren von Max – nachjagen, in die Annalen der Filmgeschichte ein, gilt neben den berühmten Autojagden aus „Bullitt“, „Ronin“ und „Die Blechpiraten“ als eine der besten, die je gedreht wurden. Über 200 Stunts flossen in die wahnwitzige Sequenz ein, mehrere davon waren so gefährlich, dass die involvierten Fahrer ungewöhnlicherweise gebeten wurden, zwölf Stunden vor Dreh nichts mehr zu essen – falls sie im Nachgang sofort operiert werden müssten.

Dieser, einer der größten Autoschrottplätze der Kinowelt, ist in seiner virtuosen choreographischen Dynamik, in seinen wahnwitzigen Bewegungsrhythmen, nicht zu übertreffen. Autos krachen bei voller Geschwindigkeit ineinander, Männer und Frauen turnen auf, am und unter dem Tankwagen, ein finaler Zusammenstoß zerfetzt den Wagen des Gegners in tausende Teile. Brian May, der schon beim ersten Teil komponierte, liefert dazu eine ungeheuer treibende, Bass-lastige Filmmusik, die ihn zur tragenden musikalischen Gestalt des Australian New Wave machte und stark an den ersten Satz aus der Orchestersuite „Die Planeten“ von Gustav Holst angelehnt ist, Titel: „Mars, der Kriegsbringer“.

Einen Kracher bewahrt sich George Miller für die Schlussszene auf: Die halsbrecherischen Manöver und pointierten Überdrehungen, die diesen Kino-Auftritt des Vollstreckers als überaus grimmigen Realfilm-Cartoon ausweisen, entpuppen sich als die Nacherzählung des kleinen stummen Jungen mit dem tödlichen Bumerang. Er ist der Off-Erzähler vom Anfang und bezeugt, er habe seinen Helden nach diesem Abenteuer nie wieder gesehen. Nicht nur nährt dies den Max-Mythos, es erklärt die stilistischen Eigenarten des Films – können diese doch nun als kindliche Ausschmückung verstanden werden.

„Mad Max“ war die Einleitung, die Fortsetzung lieferte den Popkultur-Kult. Regisseure wie Guillermo del Toro, Robert Rodriguez und Zack Snyder geben den zweiten „Mad Max“ als ihren Lieblingsfilm an. Eine Welle an hingeschluderten „Mad Max“-Imitationsprojekten – größtenteils in Italien gedreht – prägten das Trash-Kino der 80er. Später waren Blockbuster wie „Waterworld“ und „Mortal Engines“ sichtbar vom irren Max inspiriert, ebenso die Spielreihe „Fallout“ und ihre Serienadaption. Dank George Miller und Mel Gibson glauben wir daher mittlerweile fest zu wissen: Wenn die Welt einmal untergeht, dann wird das Wimmern gehörig knallen.

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Wenn die Postapokalypse dreimal klingelt

Beitrag von Wallnuss » 23.07.2024, 23:42

Mad Max: Jenseits der Donnerkuppel

„Zwei Mann gehen rein, ein Mann geht raus“, brüllt die Menschenmasse ekstatisch, während sie einem Käfigkampf der etwas anderen Art beiwohnen. In einer großen vergitterten halbkugelförmigen Arena stehen sich zwei Kontrahenten gegenüber. Sie sind an Gummiseilen befestigt, durch die sie den ganzen Raum der sogenannten Donnerkuppel nutzen können. Die Menge reicht den beiden Gladiatoren durch das Gitter martialische Hilfsmittel: Kettensäge, Speer und Riesenhammer.

Das Erstaunliche an dieser Actionszene ist, dass sie Mittel der filmischen Illusion ins Zentrum der Publikumsaufmerksamkeit rückt. Bei Kampfszenen, gerade bei Martial-Arts-Filmen aus dem ostasiatischen Raum, ist es Usus, die Darsteller an Drähten zu befestigen, sodass sie kontrollierte und übermenschliche Sprünge durch den Raum vollführen können oder ein Tritt in die Magengegend den Gegner mehrere Meter bis zur Wand fliegen lässt.

Normalerweise sind diese Drähte Hilfsmittel des Regisseurs, die den Zuschauern nach Möglichkeit nicht auffallen sollen. In der Donnerkuppel sind diese ‚Drähte‘ Teil des Kampfes und bedeuten somit auch, dass die beiden Krieger sie strategisch einsetzen können. Die bekannte Actionästhetik wird dadurch zum konkreten Handlungsgegenstand. Pulitzer-Preisträger Roger Ebert schrieb über diese atemberaubende Sequenz: „Die Donnerkuppel ist die erste wirklich originelle Filmidee für die Inszenierung eines Kampfes seit den ersten Karatefilmen“, und: „Die Donnerkuppel verhält sich zum Zweikampf wie 3D-Schach zu einem flachen Brett.“

George Miller musste nach seinen ersten beiden „Mad Max“-Filmen sicher nicht mehr beweisen, dass er virtuose Action kann. Der zweite Teil der Reihe, „Der Vollstrecker“, endete mit einer dreizehnminütigen Verfolgungsjagd mit dutzenden Fahrzeugen, die in die Filmgeschichte einging. Doch man tut Miller unrecht, wenn man seine dystopischen Endzeitfantasien als puristische Stunt-Show abtut. Seine große erzählerische Fähigkeit liegt darin, komplett über Bilder erzählen zu können, und sein daraus resultierendes großes Interesse, kinetisches Kino zu machen. Er arbeitet mit vertrauten Versatzstücken und Archetypen aus Western und Eastern, aus Horror- und Drama-Filmen; wichtig ist bloß: Alles muss immer in Bewegung bleiben.

An einer weiteren Rückkehr in die Welt von Mad Max hatte Miller jedoch zunächst das Interesse verloren, als 1983 sein enger Freund und Produzent Bryon Kennedy bei einem Helikopterabsturz starb. Zu dem Zeitpunkt stellte Miller gerade, in Kooperation mit anderen Regisseuren und Autoren, die australische TV-Miniserie „The Dismissal“ fertig – sie wurde Publikumshit und Kritikerliebling. Im Rückblick darauf, warum es schließlich doch zum dritten „Mad Max“ kam, erklärte er: „Ich hatte das Bedürfnis, etwas zu tun, um den Schock und die Trauer zu überwinden.“ Er erinnere sich kaum an die Entstehungsgeschichte, es sei eine Filmproduktion als Trauerbewältigungsmaßnahme gewesen.

Vermutlich deshalb halste er sich eines der bis dato teuersten Kinoprojekte in der Geschichte Australiens nicht allein auf, sondern holte sich George Ogilvie, einen seiner „The Dismissal“-Ko-Regisseure, dazu. Die Gerüchte, Miller habe die Actionszenen inszeniert und Ogilvie den Rest, wie sie nach Veröffentlichung des Films 1985 durch die Presse geisterten, treffen dabei nicht zu. Tatsächlich gab es nur wenige Tage, an denen nicht beide gemeinsam am Set waren.

Der Erfolg der Vorgänger in Übersee hatte die Reihe mittlerweile in die Popkultur befördert. Mit dem sparsamen, gar spartanischen Ursprungsfilm hat der dritte Teil nur noch wenig gemein. Ein Budget von 10 Millionen Dollar ermöglichte es dem Regie-Duo, aus den Vollen zu schöpfen. Zu hören ist das schon, wenn im Vorspann noch die Namen durchlaufen, denn niemand geringeres als Rock-Queen Tina Turner steuerte gleich zwei Songs zum Film bei („One of the Living“ & „We Don’t Need Another Hero“), mehr noch: Sie spielt als die mysteriöse Aunty die zweite Hauptfigur neben Mel Gibson.

Auch den Kulissen sieht man die erhöhten Kosten an. Nach einer kurzen Einführung landet Max in der vom Handel dominierten Kleinstadt Bartertown, einer Art post-zivilisatorischen Höllenadaption von Las Vegas, in der Tina Turners skurril-überzeichnete Aunty von einem mechatronischen Vogelnest aus den Ton angibt – zumindest scheint es so. In Wahrheit ist die Stadt horizontal geteilt. Aunty regiert als Gesetzgeberin die Oberwelt, doch ist sie abhängig von der nicht nur sprichwörtlichen Unterwelt. Dort, in einem abscheulichen Set, das Terry Gilliam zu Ehren gereicht, wird die Energiegewinnung der Siedlung geleistet – gewonnen aus Schweinekot. Tausende Schweine werden von einem bizarren Duo überwacht; einem kleinwüchsigen Tyrannen namens Master, der auf dem Rücken eines vermummten Hünen namens Blaster hockt und – nach Lust und Laune – der Oberwelt mit einem Embargo droht. Jener Blaster ist es, dem Max sich später, in Auntys Auftrag stehend, in der Donnerkuppel stellen muss.

Es sind herrlich kreative und kultige Konzepte, die Miller und Ogilvie auftischen und ihre postnukleare Welt der Warlords mit Leben füllen. Tonal fällt aber von der ersten Sekunde an auf, dass durch den dritten „Mad Max“-Film ein anderer Wind weht. Statt düster-atmosphärischer Experimentalmusik von Brian May durfte jetzt Komponist Maurice Jarre ran, der großzügig seine Arbeit für „Lawrence von Arabien“ zitiert und ansonsten auf dickes Pathos setzt. Statt harter und rasanter Fahrzeugaction zieht Max sein motorisiertes Vehikel jetzt mit Kamelen durch die Wüste – und es wird ihm direkt in der Auftaktszene gestohlen.

Die Brutalität wurde ohnehin stark zurückgefahren. Der Kampf in der Donnerkuppel verläuft unblutig und als Max seinem Kontrahenten Blaster final die Maske vom Kopf schlägt und erkennt, dass es sich um jemanden mit psychischer Behinderung handelt, weigert er sich, diesen zu töten. Dem Publikum des Kampfes gefällt diese Gnade nicht. Sie fordern weiter: „Zwei Mann gehen rein, ein Mann kommt raus.“

Das Publikum des Films tut es ihnen gleich: Unter Fans gilt dieser als der schwächste Teil der Reihe, sogar als schwarzes Schaf. Die Vorwürfe, Miller habe seine einstige Vision weichgespült, sind erst recht nicht mehr von der Hand zu weisen, als Max von Aunty in die Wüste verbannt wird und dort auf einen Klan Kinder trifft, die nach einem Flugzeugabsturz zu Überlebenskämpfern geworden sind. Tatsächlich plante Miller 1982 mal, eine eigene Version des Romanklassikers „Der Herr der Fliegen“ in Angriff zu nehmen, und nutzte einige seiner Ideen für diesen Handlungsstrang. Die Kinder erkennen in Max ihren Retter, und widerwillig wird der einstige Polizist so zur Messias-Figur für eine Rasselbande, die nicht wenige wahlweise an „Die Goonies“ oder die Lost Boys aus „Peter Pan“ erinnert.

Leider verdammt dieser Bruch der Handlung ihren Protagonisten zur passiven Figur. Max lässt sich von den Kindern in aller Ruhe erklären, wer sie sind, woher sie kommen und plant dann sogar, erstmal einfach an ihrer Seite zu bleiben. Er übernimmt erst wieder die Führung, als ein paar Kids blindlings in die Wüste davonrennen und er eine Rettungsmission starten muss. Überhaupt steht Mel Gibson in diesem Film oft im Raum und lässt sich von anderen Figuren die Handlung erklären. Selbst im großen Finale, in dem Miller und Ogilvie die famose Schlussjagd aus „Der Vollstrecker“ beinahe plagiieren, fragt Max andere Figuren, wie eigentlich der Plan lautet. „Es gibt keinen“, lautet die Antwort.

Gerade besagte Schlussaction – Max und die Kinder fliehen mit einem Zug vor Auntys Gefolgsmännern – ist eine besonders schwerwiegende Enttäuschung. Nachdem das Drehbuch eher unbeholfen den Kinder-Plot mit der Bartertown-Handlung zusammengeführt hat, wandelt sich die bisher etablierte Comic-Strip-Logik der „Mad Max“-Filme vollständig zum Cartoon-Spektakel: Kinder schlagen mit Bratwannen auf Erwachsene ein. Max kapert inmitten der Verfolgungsjagd ein schwarz-weiß geflecktes „Kuh-Mobil“. Einmal explodiert das Vehikel eines Gegenspielers, nur damit dieser danach komplett schwarz angemalt wieder im Geschehen mitmischt – ganz so, als wäre er der Koyote aus den Looney Tunes.

Tolle PS-Action sucht man vergeblich: Die gewohnt beachtliche Stunt-Arbeit wird an ein eher unbeholfenes, peinliches Slapstick-Spektakel verschwendet, in dem der sonst so coole Mel Gibson ganz schön verloren aussieht. Vor allem das Ende verärgert: Wenn die Kinder dank Max das „gelobte Land“ erreichen, dient der barocke „Mad Max“-Stil weniger noch als unterhaltsamer Selbstzweck und mehr als Mittel zur Aufblähung simpler, sentimentaler Noten. Es mag auf dem Papier eine interessante Idee gewesen sein, den mythischen, vigilanten Punk-Rächer zur Moses-Gestalt zu stilisieren, doch im Streben nach Bedeutung und einem moralisierenden Abschluss der Trilogie weicht Millers überbordender Gestaltungswille sowie sein kinetisches Talent einem klumpigen Didaktizismus.

Vielleicht war es der Trauer um Byron Kennedy geschuldet, dass das frenetische Gewaltkino einer massentauglichen Abenteuerromantik, die Düsternis der Endzeit-Wüsten einer heiter-flachen Erlöser-Metaphorik geopfert wurde. Es sollte dreißig Jahre dauern, ehe Miller seine Lust am bildgewaltigen, kinetischen Erzählen wiederfand und – allerdings ohne Gibson – zu „Mad Max“ zurückkehrte. In der Zwischenzeit drehte er seichte Familienfilme wie „Ein Schweinchen namens Babe“ und „Happy Feet“. Womöglich die richtige Entscheidung, denn „Mad Max: Jenseits der Donnerkuppel“ hat jenseits dieser Titel-Kulisse nur wenig zu bieten.

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