Filmtagebuch: Wallnuss

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Pretty in Plastic

Beitrag von Wallnuss » 21.07.2023, 17:51

Barbie

Als es hieß, dass ausgerechnet Greta Gerwig die Regisseurin für den ersten großen "Barbie"-Kinofilm werden wird, durfte man gespannt sein. Gerwig hat sich mit ihren ersten zwei Filmen einen Namen gemacht: Sowohl ihr offenherziges Teenie-Drama "Lady Bird" als auch ihre hintersinnige Literaturadaption "Little Women" waren ungewöhnliches, kluges Kino. Und tatsächlich beginnt ihr "Barbie"-Projekt auf eine Art und Weise, wie es nur Greta Gerwig einfallen kann – mit einer Parodie auf die Anfangsszene des legendären Sci-Fi-Kunstfilmklassikers "2001: Odyssee im Weltraum".

"2001" eröffnete mit einer Horde von Menschenaffen in der frühzeitlichen Savanne, die durch die Begegnung mit einem schwarzen, rechteckigen Monolithen ein erweitertes Bewusstsein erlangen – quasi der erste Schritt zur Menschwerdung. In "Barbie" sitzen zu Beginn kleine Mädchen in der Wüste und spielen mit Babypuppen. Helen Mirren erklärt als Stimme aus dem Off, dass in den 50ern Mädchenspielzeug nur dazu da war, die Kinder früh aufs Muttersein vorzubereiten. Dann erscheint ihnen kein Monolith, sondern eine riesige Margot Robbie im originalen Barbie-Outfit. Begeistert zerdeppern die Kids ihre Babypuppen auf den harten Steinen und sehen zu Barbie auf. Ein schräger, surrealer, grandioser Einstieg – doch Gerwig kann diesen Einfallsreichtum nicht lange aufrechterhalten.

Dabei ist "Barbie" unter einem Gesichtspunkt ein absoluter Kracher: das Setdesign sieht fantastisch aus. Gerwig, Produktionsdesignerin Sarah Greenwood und Kostümdesignerin Jacqueline Durran haben mit der pinken Fiebertraumwelt namens Barbieland ein Meisterstück abgeliefert. In dieser rosafarbenen Idylle leben alle Barbies (neben Margot Robbie noch u.a. Dua Lipa, Alexandra Shipp, Emma Mackey) in Traumhäusern ohne Wänden, sodass sie sich jeden Morgen ein beherztes "Hallo, Barbie!" zurufen können. Es finden sich quasi alle Barbie-Puppen, die Spielzeughersteller Mattel je auf den Markt brachte: Bauarbeiter-Barbie, Flugzeugpiloten-Barbie, Physiker-Barbie, Astronauten-Barbie und Oberster-Gerichtshof-Barbie, sie alle wuseln durch die aufwendig gestalteten Sets.

Barbieland ist eine weibliche Utopie in pastellfarbenem Plastik – und die erste halbe Stunde, die als Einführung in diese Welt dient, ein unerwarteter greller, alberner Spaß. Famos gelingt es Margot Robbie, eine Puppe zum Leben zu erwecken. Sie spielt – so nennt der Film sie – die "stereotypische Barbie". Jeden Morgen wacht sie unter ihrer glitzernden rosa Bettdecke auf, zieht sich ein Outfit aus ihrem riesigen Kleiderschrank an, und frühstückt – allerdings nicht wirklich, schließlich kann eine Barbie-Puppe ja nicht tatsächlich essen oder trinken. Wenn sie am Strand aus ihren High-Heels schlüpft, bleiben ihre Fersen auch barfuß in der Luft hängen – denn Puppen-Füße sind fest geformt. Bei all dem hat sie das breiteste Lächeln im Gesicht, dass sich nur je jemand vorstellen könnte. Keine Frage: Margot Robbie ist die perfekte Barbie.

Jede Barbie hat auch einen Ken. Doch die Kens (u.a. Kingsley Ben-Adir, John Cena und Simu Liu) haben nicht viel zu sagen. Dies gilt auch für den Freund der stereotypischen Barbie, "Beach Ken" (Ryan Gosling) – seine ganze Existenz dreht sich einzig und allein um Barbie. Gosling ist das schauspielerische Highlight des Films. Wann immer Robbie ihm in die Augen sieht, strahlt er sie mit so viel staunender Bewunderung an, und ist zugleich tief geknickt, wenn er jeden Abend von Barbie versetzt wird ("Jeder Abend ist Girls Night"), dass es zugleich rührend und brüllend komisch ist. Bei aller Albernheit: Greta Gerwig und ihrer Besetzung gelingt es fantastisch, filmisch nachzuahmen, wie kleine Mädchen mit "Barbie"-Puppen spielen. Grandiose pinke Bilder, herzlich verrückte Dialoge und sogar opulente Tanzszenen, die einen Gene Kelly beeindrucken würden, sorgen in Barbieworld für viele Lacher.

Leider aber bleibt "Barbie" nicht in Barbieland. Robbies Barbie wacht nämlich eines Morgens auf und stellt fest, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie muss ständig an den Tod denken, ihre perfekt gewölbten Füße sind plötzlich platt und an ihren Beinen hat sie Cellulite. Die "komische Barbie" (Kate McKinnon) verrät ihr, dass sie diese Probleme nur in der echten Welt lösen kann – und so macht sie sich, unfreiwillig von Goslings Ken begleitet, in die Realität auf. Dort erlebt sie einen Kulturschock: Männer glotzen ihr nach, betrachten sie nur als Objekt und beherrschen im Grunde die Welt, selbst im Vorstand ihres Herstellers Mattel sind der CEO (Will Ferrell) und der Rest des Vorstands nur alt und männlich. Während sie durch eine Mutter (America Ferrera) und deren Tochter (Ariana Greenblatt) ins wahre Leben und die vielen Probleme echter Frauen eingeführt wird, hat Ken das gegenteilige Erlebnis. Er erfährt vom Patriarchat, in dem Männer das Sagen haben und den Ton angeben – und bricht allein zurück nach Barbieland auf, um dort mit den anderen Kens die Macht an sich zu reißen.

Jetzt muss Barbie mit etwas Hilfe vom Mama-Tochter-Gespann also Barbieland vor dem Patriarchat retten – und ab hier fällt es dann schwer zu glauben, dass dieser konfuse Mischmasch aus "Verwünscht", "Pleasantville" und Kasperle-Theater wirklich von Greta Gerwig und ihrem Ehemann Noah Baumbach ("Marriage Story") geschrieben wurde. Von deren eigentlich subtilen Art, feministische und sozialkritische Themen zu verhandeln, ist nichts zu erkennen, wenn "Barbie" auf plakativste Weise vor sich her predigt. Negativ-Höhepunkt ist ein Monolog von America Ferrera, in dem sie in abgedroschenen Plattitüden von unfairen gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen redet – und die Barbies damit auf den Kampf gegen die Kens anstimmt. Aus "Barbie" eine Symbolfigur für weibliche Selbstermächtigung zu machen, ist im Kern eine gute Idee, doch dann sollte vom Skript mehr kommen als eine Aneinanderreihung von seichten Motivationsreden, die so eher bei Instagram-Influencern zu erwarten wären.

Für eine ernstzunehmende Satire zu aktuellen Gender-Diskussionen bleibt "Barbie" schlicht zu arg an der Oberfläche, hat kaum bis keinerlei Biss und findet auf seine angesprochenen Probleme immer nur banale Lösungen, die zudem mit überzogenem Slapstick präsentiert werden. Den Zeigefinger erhebt Gerwig mit diesem Film in große Höhen und lässt ihre Figuren viele Phrasen dreschen – aber wirklich etwas zu sagen hat sie leider nicht. Im hyperaktiven Finale, in dem der Geschlechterkampf dann eine nochmal besonders absurde und surreale "tanzende Wendung" nimmt, bleibt gänzlich unklar, worauf das alles hinauslaufen soll. Ist das als krudes Empowering-Statement gemeint, selbstironische Persiflage auf den eigenen Film oder nur ein alberner Ulk, über den man gar nicht allzu viel nachdenken sollte?

Eigentlich hat Greta Gerwig letztlich hinter der feministischen Fassade einen lupenreinen Werbefilm produziert. Die vielen kleinen Spitzen, die insbesondere gegen Mattel ausgeteilt werden, sind da Teil des Konzepts: Man gibt sich selbstkritisch und aufgeklärt, ohne dabei über Gesten hinauszukommen. Gleichzeitig macht Gerwig genau das, was sie Mattel "vorwirft": Im Film wird beispielsweise mehrfach darüber gewitzelt, dass Mattel einst eine schwangere Barbie namens Midge (im Film: Emerald Fennell) verkaufte, diese jedoch schnell wieder aus dem Sortiment nahm, weil eine schwangere Puppe aus Sicht einiger Eltern als "bedenklich für Kinder" bezeichnet wurde. Der Vorwurf ist klar: Mattel hatte oft genug nicht den Schneid, Barbie modern und divers erscheinen zu lassen. Nur: Hat Gerwig nicht gleichzeitig selbst einen Film gedreht, in dem mit Margot Robbie die klassische weiße, blonde "stereotypische" Barbie im Mittelpunkt steht und die vielen anderen diverser besetzten Barbies nur Nebenrollen haben? Eine Barbie etwa, die im Rollstuhl sitzt, ist nur in zwei Szenen ganz kurz zu sehen, bekommt aber gar keinen eigenen Charakter.

So ist der progressive, anarchische Wind, der durch "Barbie" wehen soll, die meiste Zeit leider nur ein laues Lüftchen. Am Ende ist im Barbieland natürlich alles wieder pink, grell und schön, alle haben sich wieder lieb und die anfangs noch Barbie-kritische Teenie-Tochter, die der stereotypischen Barbie sogar Faschismus vorgeworfen hat, hat ihre Liebe zu den Spielzeugen wieder entdeckt. Schade. Vom aufbegehrenden Geist der kleinen Mädchen aus der Anfangsszene, die ihre altbackenen Püppchen noch mit Herzenslust an Steinen zerschmetterten, ist nach zwei Stunden nicht viel übriggeblieben.

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How I Learned to Start Worrying and Hate the Bomb

Beitrag von Wallnuss » 24.07.2023, 15:51

Oppenheimer

Mit einer Texteinblendung beginnt Star-Regisseur Christopher Nolan ("The Dark Knight", "Inception", "Interstellar") seinen neuesten Film. Doch obwohl dieser "Oppenheimer" heißt und auch von jenem Physiker handelt, klärt der Text nicht über Oppenheimer auf, sondern über Prometheus. Prometheus war ein Titan der griechischen Mythologie, der dem Göttervater Zeus das Feuer aus dem Olymp stahl und es den Menschen schenkte. Dafür wurde er von den Göttern bestraft und gefoltert, erklärt der "Oppenheimer"-Film. Sofort ist klar: Die Geschichte dieses Mannes, dessen Spitzname "Vater der Atombombe" lautet, wird kein heroischer Film über einen Wissenschaftler, dessen Erfindung den Zweiten Weltkrieg beendete und die Welt veränderte. Es wird ein düsterer Film, eine echte Tragödie – über den Gott der Quantenphysik.

Zu Beginn seines Lebens deutet für J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) nur wenig daraufhin, dass er einst das menschliche Prometheus-Äquivalent werden wird. Als Student der damals noch jungen Quantenphysik pilgert er durch Europa und lernt einige der Koryphäen der Physik kennen, darunter den dänischen Niels Bohr (Kenneth Branagh) und den deutschen Werner Heisenberg (Matthias Schweighöfer). Wieder in den USA wird er selbst zum Lehrer an einer Universität, freundet sich mit dem gleichgesinnten Ernest Lawrence (Josh Hartnett) an und etabliert die Quantenphysik in Amerika – bis ihn am 1. September 1939 dieselbe Nachricht in seinen Grundfesten erschüttert wie auch den Rest der Welt: Adolf Hitler ist mit Nazi-Deutschland in Polen einmarschiert.

Als die Nazis in Dänemark einfallen, verbreiten sich Gerüchte: Angeblich arbeiten Heisenberg und Bohr für Hitler am Bau eines nuklearen Sprengkörpers. Damit wären die Deutschen nicht mehr aufzuhalten. Da wird Oppenheimer vom US-Militär in Gestalt von Leslie Groves (Matt Damon) aufgesucht. Er bietet dem Wissenschaftler einen Job an: Oppenheimer soll mit den besten Physikern der USA ebenfalls an einer Atombombe bauen, einer Bombe, die "alle Kriege beenden" soll. In der Wüste von Los Alamos entsteht eine ganze Kleinstadt: Damit die vielen Genies, darunter Richard Feynman (Jack Quaid), Kenneth Bainbridge (Josh Peck), Edward Teller (Benny Safdie) und Enrico Fermi (Danny Deferrari), anreisen und über Monate am sogenannten Manhattan-Projekt mitwirken, wird die Stadt so gebaut, dass sie alle ihre Frauen und Kinder mitbringen können. Auch Oppenheimer bringt seine Gattin Kitty (Emily Blunt) mit in die Wüste, wo nach langer Arbeit der Bau der Bombe wirklich gelingt und beim legendären Trinity-Test erfolgreich gezündet wird.

Was danach geschah, ist Geschichte: Noch vor dem erfolgreichen Trinity-Test verliert Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg, Hitler erschießt sich im Führerbunker. Aber die Japaner kämpfen weiter. US-Präsident Harry S. Truman (Gary Oldman) zwingt sie in die Knie, in dem er je eine Atombombe auf die Städte Hiroshima und Nagasaki abwerfen lässt. Es sind zivile Ziele. In den Folgemonaten und Jahren wird Oppenheimer von schweren Schuldgefühlen geplagt und tritt zunehmend als politischer Gegner auf, als die USA an einer noch verheerenderen Bombe, der Wasserstoffbombe, forschen.

Das Leben des J. Robert Oppenheimer ist groß, so groß, dass Christopher Nolan für seinen Film eine Länge von 181 Minuten benötigt und dennoch nur so durch die Szenen hetzt. In seinem biografischen Epos sind gar mehr Schnitte als in vielen neumodischen Actionfilmen zu finden. Oppenheimers Zeit in Europa, sein Leben als Lehrer in Berkeley, seine Rekrutierung durch Groves, seine Planung des Manhattan-Projekts, der Bau der Bombe, die vielen (auch moralischen) Diskussionen unter den Physikern – durch all diese Ereignisse hastet Nolan mit einem überfordernden Tempo, in dem nie die Zeit bleibt, zu reflektieren und diesen Mann kennenzulernen. Nolan hakt die biografischen Stationen des Physikers detailgetreu und mit höchster Akribie ab, doch dieser Person näher auf den Zahn zu fühlen, dem man da immerhin drei Stunden zuschauen soll, will nicht gelingen.

Zumal Nolan es bei Oppenheimer als Physiker nicht belässt. Auch dessen Privatleben soll abgehandelt werden. Sein Bruder Frank (Dylan Arnold) war Mitglied der kommunistischen Partei, und obwohl Oppenheimer nie selbst überzeugter Kommunist war, so hatte er kommunistische Freunde wie Haakon Chevalier (Jefferson Hall) und ein Parteimitglied namens Jean Tatlock (Florence Pugh) als Geliebte. All das also quetscht Nolan in einem irren Erzähltempo in seinen Film – und wer nicht bereits kräftig viel Mitwissen über diese wahre Geschichte mitbringt, wird gewaltige Probleme bekommen, dem Film vollends zu folgen. "Oppenheimer" erzählt ein großes Leben, übernimmt sich aber in den Details. Was vor allem Oppenheimers Liebesleben im Film zu suchen hat, bleibt unklar. Florence Pugh ist nur in drei kurzen Szenen zu sehen und darf dabei wenig mehr tun, als sich oben ohne zu zeigen. Emily Blunt wird als besorgte, dem Alkohol zugetane Hausfrau verschenkt. Oppenheimers zwei Kinder sind so gut wie nie zu sehen. Ob ihre Namen überhaupt fallen, geht unter.

Und obwohl all das nicht kompliziert genug wäre, setzt Christopher Nolan noch eines drauf, denn "Oppenheimer" ist nicht chronologisch erzählt. Der Film hat gleich zwei Klammern: Die eine zeigt Oppenheimer im Jahr 1954, wie er sich in einem geheimen und inoffiziellen Hinterzimmer-Verfahren gegen die Entziehung seiner Sicherheitsfreigabe wehren muss, und dabei vom unerbittlichen Politiker Roger Robb (Jason Clarke) ins Kreuzverhör genommen wird. Dort versucht man, ihn als Kommunisten zu brandmarken, wirft ihm die politischen Ambitionen seines Bruders und seiner Ex-Geliebten vor. Einige Jahre später, in einer Handlung, die nur in Schwarz-Weiß gefilmt wird, bewirbt sich der Selfmade-Millionär Lewis Strauss (Robert Downey Jr.) vor dem US-Senat als Handelsminister im Kabinett von US-Präsident Dwight D. Eisenhower. Dabei geht es in einer öffentlichen Anhörung auch um Oppenheimer, denn Strauss war bei der politischen Diskussion um den Bau einer Wasserstoffbombe Oppenheimers schärfster Gegner.

Verworrener hätte Christopher Nolan seinen Film kaum aufbauen können. So gerät der Kinobesuch zum anstrengenden Parforceritt, es wirkt gar, als würde man sich ein Hörbuch über Oppenheimer versehentlich im Shuffle-Modus anhören. Nolan schaltet zwar alle Register, um den trockenen Stoff zum visuellen Erlebnis zu machen: Er filmt in großen, bedeutungsgeladenen Bildern, unterlegt nahezu die kompletten drei Stunden mit einem wummernden, die Ohren betäubenden Soundtrack von Ludwig Göransson ("The Mandalorian"), zeigt Oppenheimers Obsession mit Quantenphysik und Atomen in abstrakten epischen Partikel-Visionen, doch der Eindruck bleibt. "Oppenheimer" ist ein aufdringlicher, überfordernder Film, der unbedingt ein Event sein möchte, aber unter all seinem Getöse und seiner absichtlich komplizierten Form erschreckend hohl wirkt.

Dennoch muss man diesen Film im Kino gesehen haben, man könnte gar schreiben: Wenn man diesen Film überhaupt sehen muss, dann auf der größtmöglichen Leinwand. Denn trotz aller dramaturgischen Schwächen, trotz vieler der wenig überzeugenden Ideen und der wichtigtuerischen Gestaltung blitzt in einer Sequenz das Genie des Mannes auf, der mit "The Dark Knight" oder "Inception" zwei moderne Klassiker der Filmgeschichte schuf. Nach etwa zwei Stunden nämlich nähert sich "Oppenheimer" dem Trinity-Test und wie Nolan in einer gar zwanzigminütigen Montage sich dieser ersten Atombombenexplosion der Menschheit annähert, wie er dieses weltverändernde Ereignis aufbaut, zuspitzt und letztlich eine der lautesten Explosionen, die je in einem Film zu sehen und hören war, zündet – das ist ganz große Kinomagie und sollte jeder Filmfan mindestens einmal erlebt haben.

In dieser bildgewaltigen, erhabenen Sequenz findet Nolans Film eine Größe und Würde, die seinem Werk sonst abgeht – trotz einer hochkarätigen Besetzung, bei der Weltstarts teils Auftritte von unter zwei Minuten zugestanden bekommen. Selbst Hauptdarsteller Cillian Murphy kann nie wirklich auftrumpfen, zu wenig Futter bekommt er vom Drehbuch, um die Zerrissenheit, die schweren Selbstzweifel und die Ohnmacht gegenüber der eigenen Schöpfung zu verkörpern. Das legendäre TV-Interview von 1965, in dem ein weinender Oppenheimer vor Livekameras die Worte "Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten" spricht, zeigt Nolan nicht. Stattdessen liest Oppenheimer im Film diese Worte beim Sex mit seiner Geliebten vor. Sensationell spielt nur einer: Robert Downey Jr.! Dem "Iron Man"-Star in "Oppenheimer" zuzugucken, ist ein Gedicht. In der Rolle des intriganten Lewis Strauss geht er so auf, wie nie zuvor in seiner Karriere – und ihm dürfte 2023 jeder Schauspielpreis sicher sein. Auch für ihn lohnt sich der Kinobesuch.

Es ist schade, dass Christopher Nolan aus diesem brillanten Stoff selten je mehr rausholen kann als die Wiedergabe eines Wikipedia-Artikels, dass er den Zugang zum Menschen, der immerhin seinen Filmtitel schmückt, nicht findet. "Oppenheimer" hätte ein ganz großer Film werden können – das zeigt eine kurze, gänzlich fiktive Szene, die Nolan mehrfach wieder aufgreift, immer aus Sicht einer anderen Figur. 1947 nämlich trifft sich Oppenheimer an einem kleinen See mit seinem großen Idol Albert Einstein – worüber genau sie sprachen, enthüllt der Film erst ganz am Schluss. Es ist eine ganz kleine Szene in dem sonst so großen Film.

Albert Einstein wird vom 81-jährigen Schotten Tom Conti verkörpert – und sowohl Nolan als auch Conti zeigen Einstein ganz anders, als man es erwarten würde. Er ist hier nicht der überragende Physik-Genius, als das er so oft gezeigt wird, sondern ein kleiner, alter, bescheidener Mann, der das Wissen des ganzen Universums in seinem Kopf sortieren kann, dem bei starkem Wind aber auch schnell der Hut wegfliegt. In diesem kurzen Moment, als Einstein ganz beiläufig seinem davon wehenden Hut nachschaut, liegt der Film, der "Oppenheimer" hätte werden können. Ein Film, nicht über die Götter der Quantenphysik, sondern über die Menschen hinter der Wissenschaft.

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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von SFI » 24.07.2023, 16:18

Klingt ja ernüchternd, vor allem im Kontext zur derzeitigen imdb-Note. Naja, im Kino werde ich mir den Streifen eh nicht angucken, ist schon thematisch nicht meine Baustelle.
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„Fate: Protects fools, little children and ships named Enterprise.“

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Der rote Faden eines Lebenswerks

Beitrag von Wallnuss » 02.03.2024, 18:02

Vier im roten Kreis

Wann immer Cineasten sich über „Vier im roten Kreis“ austauschen, so wird vor allem eine Szene hervorgehoben: der legendäre Einbruch in einen Juwelier, auf den die Handlung die längste Zeit zugesteuert ist. Von diesem Job hat der inhaftierte Corey am Tag seiner Freilassung von einem Gefängniswächter erfahren, und als er kurz darauf unter ungewöhnlichen Umständen den Kriminellen Vogel kennenlernt, der seinerseits erst wenige Stunden zuvor den Fängen des Kommissars Mattel entwischt ist, hat er diesen direkt in sein Vorhaben eingeweiht. Zu Dritt müssen sie für die Durchführung ihres Plans aber sein, also heuern beide noch einen Scharfschützen an, den Ex-Polizisten Jansen.

Bis es zum großen Coup kommt, ist ein Großteil der 140-minütigen Erzählzeit schon verstrichen. Jean-Pierre Melville, einer der größten Autorenfilmer in der Geschichte Frankreichs, war nie dafür bekannt, seine Figuren zu hetzen. Er führt sie in „Vier im roten Kreis“ langsam ein und zueinander. So flüchtet Italowestern-Star Gian Maria Volonté erstmal eine ganze Weile vor der Polizei quer durch den Wald, ehe er bei seiner Flucht in einem willkürlich gewählten Kofferraum auf dem Parkplatz einer Raststätte Zuflucht sucht. Es handelt sich um den Wagen, den Corey an eben jenem Tag gerade erst gekauft hat. Zuvor hat er seinen ehemaligen Verbrecher-Boss, der mittlerweile mit Coreys Ex-Freundin schläft, um einige große Scheinchen erleichtert und bei einer Konfrontation mit zwei Schlägertypen einen der beiden versehentlich getötet.

Corey weiß von dem Mann in seinem Kofferraum und lässt ihn auf einem Feld aussteigen. Ohne große Worte erkennen die beiden Gangster im jeweils anderen einen Gleichgesinnten. Corey wirft Vogel seine Zigarettenschachtel zu, gemeinsam rauchen sie. Die Kamera schaut mit distanziertem Blick auf diese frisch entstandene Verbindung. Melvilles Kino zeichnete sich schon in seinen früheren Gangsterfilmen, darunter Klassiker wie „Der Teufel mit der weißen Weste“ und „Der zweite Atem“, durch einen unterkühlten, präzise-nüchternen Stil aus, in dem stoische Charaktere stattfinden. Er perfektionierte seine Ambitionen, den Fatalismus des US-amerikanischen Film noir mit der Sensibilität des französischen Kunstkinos der Nouvelle Vague zu verbinden, als er 1967 „Der eiskalte Engel“ drehte. Dort hatte er den unbeschreiblich coolen Alain Delon als professionellen Auftragsmörder gezeigt, lebend und tötend in einer obskuren Trenchcoat-Parallelwelt.

Gemeinsam mit Delon kehrte er drei Jahre später in diesen streng stilisierten Filmkosmos zurück. „Vier im roten Kreis“ war Melvilles Herausforderung an sich selbst. Wie er 1972 in einem Interview verriet, das in „Les cahiers de la Cinémathèque No 25“ veröffentlicht wurde, wollte er sich seinen wichtigsten Grundsatz beweisen, dass es „sehr wohl die Art den Film zu bearbeiten ist, die in einem Krimi zählt“. Er habe sich „dazu gezwungen, einen Film zu machen, der zu Beginn und am Ende einige absolut konventionelle Situationen beinhaltet“. Nicht mehr der Inhalt der Szenen war für ihn die Essenz, viel mehr deren Gestaltung. Und hier war alles erlaubt: „Ich mache nie Realismus“, lässt er sich zitieren.

Nichts zeigt das besser als die Einführung des Scharfschützen Jansen. Der wälzt sich bei seinem ersten Erscheinen im Bett, als ein Wandschrank sich mysteriöserweise öffnet. Heraus kommen unnatürlich große Spinnen. Kurz darauf folgen ihnen Eidechsen, Schlangen und Mäuse. Nur einen Schnitt später wuseln die Tiere auf dem Bett und auf Jansen, erst als sein Telefon ertönt, springt er auf. Die vielen leeren Alkoholflaschen neben seinem Bett verraten die Herkunft des gerade Gesehenen: Delirium tremens. Yves Montand spielt Jansen trotzdem nie als das Klischee eines Alkoholikers. Subtil fällt aber auf, wann immer er die Szene mit Delon oder Volonté teilt, dass er selbst neben den Stoikern noch emotionslos wirkt, wie ein menschlicher Zombie durch den Tag wandelt.

Schon immer ging es in Melvilles Filmen wortkarg zu, doch dieses Trio Infernal scheint nahezu ausschließlich über Blicke zu kommunizieren. Meisterlich erzählt Melville in konzentrierten Bildern ihre Geschichten, und überlässt das Reden ihrem Gegenspieler, dem Kommissar Mattei, den André Bourvil als gebrochenen, verbissenen Jäger spielt, der auch vor Einschüchterung potenzieller Informanten nicht zurückschreckt. Dabei ist Mattei auf seiner Wache noch jener Strafverfolger, der sich am ehesten moralischen und humanistischen Werten verschreibt. Sein Vorgesetzter hält Grenzen und Skrupel für überflüssig und hält sich an eine pessimistisch-pragmatische Weltanschauung: „Alle Menschen sind schuldig“, erklärt er seinem Untergebenen mehrfach – und Mattei ahnt, dass er recht haben könnte.

Mit solchen getriebenen Verfolgern konnte sich Melville schon immer inspirieren – nicht umsonst nahm der gebürtige Jean-Pierre Grumbach für seine Regie-Karriere den Nachnamen des „Moby Dick“-Autoren Herman Melville an. Eine Nähe zu Kapitän Ahab lässt sich sowohl Mattei als auch Melville nachsagen. Was für den einen der weiße Wal ist für den anderen das verbrecherische Dreiergespann und für den nächsten die makellose Szenenmontage. Melville soll seinen Wal hier erlegen, denn die viel besprochene Einbruchsszene ist eben deshalb dieser meist diskutierte Moment aus „Vier im roten Kreis“, weil er den unbestreitbaren Höhepunkt einer an Höhepunkten nicht gerade armen Filmografie darstellt.

Bei aller Sorgfalt, die er bis dahin hat walten lassen, um seine Figuren in Position zu bringen, so hat er doch penibel mit einer Tradition des Heist-Films gebrochen: den Plan, den die Drei verfolgen, um den Juwelier auszurauben, erfährt der Zuschauer nicht. Stattdessen ist man in Echtzeit Zeuge der exakten Ausführung dieses Einbruchs. Ganze siebenundzwanzig Minuten dauert die Sequenz, gesprochen wird in dieser langen Zeit nur ein einziges Wort. Selbst die lässige Jazz-Musik des Komponisten Éric Demarsan, die zuvor noch kongenial entscheidende Momente akzentuierte, weiß, dass sie nun schweigen muss.

Wie Melville auf der Klaviatur der Erwartungen spielt und jedes Detail der Durchführung regelrecht auskostet, ist beispiellos. Nur wenige Filmemacher sind dazu fähig, die Spannung so lange konstant so hochzuhalten. Famos sind die Momente, in denen Corey und Vogel ein Fenster möglichst lautlos aufbrechen müssen oder Jansen für seinen Meisterschuss erst ein präzise justiertes Stativ aufstellt, um dann doch aus freier Hand zu zielen und abzudrücken. Regelrecht schelmisch baut Melville zudem eine kurze Situation ein, in der Jansen inmitten des Geschehens einen Flachmann auspackt und am Alkohol riecht, ihn dann jedoch wieder wegsteckt. Kurz keimt die Befürchtung auf, er könne durch seine Sucht das Unternehmen gefährden. So kommt es nicht.

Ein positives Ende erfährt die Gangsterfabel dennoch nicht. Melville sah den modernen Polizeifilm als logischen zeitgemäßen Nachfolger der antiken Tragödie. Seine Vorwerke schrammten nicht selten nah am alles verneinenden Nihilismus vorbei. Dass „Vier im roten Kreis“ mit einem Showdown der vier zentralen Charaktere enden wird, ist vom ersten Augenblick klar. Bevor der Film nämlich eröffnet, ist ihm ein Zitat vorangestellt: „Siddharta Gautama, der Buddha, zeichnete mit roter Kreide einen Kreis und sagte: Wenn es vorherbestimmt ist, dass Menschen einander wiedersehen sollen, was auch immer ihnen geschieht, auf welchen Wegen sie auch wandeln, am gegebenen Tag werden sie einander unvermeidlich im roten Kreis begegnen.“

Keine dieser Figuren kann ihrem Schicksal also je entkommen. Ihr Gelingen und Scheitern ist längst vorherbestimmt. Mehrfach taucht der titelgebende rote Kreis im Film auf: Gleich in der ersten Szene ist eine rote Ampel zu sehen, die Mattei überfährt, um Vogel rechtzeitig an Bord eines Nachtzuges zu bringen, der ihn ins Gefängnis fahren soll und aus dem er ausbrechen wird. Hätte das Auto hier gestoppt, wären Vogel und Corey sich wohl nie begegnet. Corey zeichnet später einen roten Kreis auf einen Billardqueue, kurz bevor er erstmals von Berufsmördern ausgemacht wird. Ob es der Zufall oder wirklich schicksalshafte Bestimmung ist, was aus diesen Männern wird, lässt der Film offen. Doch folgt man dem Glauben des Polizeipräsidenten, alle Menschen seien schuldig, so kann es am Ende ohnehin nicht die Falschen treffen.

Nun mag alles, was Figuren in Filmen passiert, letztlich deterministisch sein, schließlich bestimmen der Autor und der Regisseur den Ausgang der Geschichte. Die Kunst des Erzählens liegt darin, die Illusion zu erzeugen, die handelnden Charaktere seien zu eigenen Entscheidungen fähig. In diesem Fall ist sich Jean-Pierre Melville seiner Rolle mehr als bewusst: das einleitende Zitat, welches in der Texteinblendung dem hinduistischen Mystiker Rama Krishna zugeschrieben wird, ist in Wahrheit frei erfunden.

Seine Filme waren alle Ausdruck seiner Persönlichkeit. Aus den schweigsamen Trenchcoat-Ganoven in modischen US-Autos spricht seine große, aufrichtige Liebe zum Kino von Übersee. Als ehemaliger Résistance-Kämpfer im Zweiten Weltkrieg spielen die Themen Loyalität und Verrat eine entscheidende Rolle in seinem Werk, so auch in diesem – seinem größten – Meisterwerk. Sein kontemplativer Formalismus findet bis heute Anklang. Zu seinen glühenden Verehrern zählen Quentin Tarantino, John Woo, Aki Kaurismäki und Michael Mann.

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Stoppen kann ihn nur ein Begrenzungspfahl

Beitrag von Wallnuss » 21.05.2024, 15:41

Mad Max

Als habe „Sam Peckinpah die Absicht, seinen Helden die letzten Tötungshemmungen auszutreiben“ – mit diesem Fazit urteilte im März 1980 der Filmkritiker Norbert Jochum in der Zeit über einen Film, der gerade dabei war, für lange Zeit (insgesamt zwanzig Jahre) zur profitabelsten Filmproduktion überhaupt zu werden. Ein australischer, postapokalyptischer Copfilm namens „Mad Max“ hatte es geschafft, bei einem Budget von weniger als 400.000 Dollar insgesamt über 100 Millionen Dollar einzunehmen.

Wie kostengünstig „Mad Max“ entstand, lässt sich anhand von Anekdoten erzählen. So eröffnet der 93-minütige Film mit einer spektakulären Autoverfolgungsjagd. Ein Gangster, der sich selbst Nightrider nennt, hat einen Polizisten ermordet und fährt jetzt mit seiner Freundin dessen Karre durchs australische Outback spazieren. Ein paar Bullen rasen ihm nach. Die Folge sind mehrere Zusammenstöße, Beinahe-Unfälle und ein atemberaubender Stunt, in dem ein Auto mit voller Wucht durch einen Campingwagen kracht und dieser mit einem großen Loch in der Mitte zurückbleibt. Wie sang später die Band „Torfrock“ in ihrem Song zum Film „Werner – Beinhart!“: „Stell den Campingwagen nicht dahin oder du hast einen Tunnel drin“. Die irrsinnige Szene verlangte von Regisseur George Miller einen besonderen Einsatz: Da das Budget zu dem Zeitpunkt des Drehs bereits aufgebraucht war, ließ er vor der Kamera seinen eigenen Camper zerstören.

Miller hatte lange als Arzt in einem Krankenhaus in Sydney gearbeitet und dort Unfallpatienten behandelt. Ein Anliegen, das ihm eine Herzensangelegenheit war: in seiner Jugend im ländlichen Queensland hatte er gleich drei enge Freunde bei Autounfällen verloren. „Mad Max“ war sein erster Spielfilm und ist voll von solchen Unfällen. 1971 hatte Miller im Krankenhaus den Amateur-Filmemacher Byron Kennedy kennengelernt, und mit ihm an ein paar Kurzfilmen gearbeitet. Als sie „Mad Max“ in Angriff nahmen, hatten sie zwar Erfahrung, wussten aber in vielen Fällen noch lange nicht, was sie taten. Sie drehten mit beschränktesten Mitteln, sperrten ohne Genehmigung Straßen ab, filmten dort ihre Unfälle und räumten die Straße danach selbst wieder auf. Walkie-Talkies, die sie für den Dreh kauften, konnten sie schnell wieder in den Müll werfen: die Frequenz der Dinge behinderte den Polizeifunk. „Guerilla-Filmemachen“ der besten Sorte also.

Wer so viel auf sich nimmt, muss doch eine besondere Geschichte zu erzählen haben – könnte man meinen. Tatsächlich wirkt das im ersten Drittel von „Mad Max“ nicht so. Eigentlich gibt es hier nur absurd aufwendige Autostunts zu begutachten, die ein jähes Ende finden, als der beste Fahrer der australischen Polizei, ein gewisser Max Rockatansky, sich einschaltet. Kaum nimmt er die Verfolgung auf, finden der Nightrider und seine Gespielin den Tod. Einen Großteil seines Geldes hat Miller also schon verballert, bevor er überhaupt ins Erzählen gekommen ist. Oder würde er das anders sehen?

Eigenen Aussagen zufolge schwebte ihm damals ein „Stummfilm mit Ton“ vor, sein großes Vorbild sei Buster Keaton gewesen. Dessen „The General“ von 1926, in dem ein Lokführer seiner geklauten Eisenbahn nachjagt, wird gemeinhin als Triumph cineastischer Kinetik gefeiert. Um eine konventionelle Erzählung geht es nicht, eher um ein Kino der Bewegungen. Miller addiert diesem radikal-entschlackten Ansatz in „Mad Max“ noch eine Ebene hinzu, die er sich u.a. bei den Italowestern eines Sergio Leone abguckte: sein Erzählen, sein Zeigen von Figuren, gerät mythologisch. Max Rockatansky wird von der Kamera über mehrere Minuten „eingeführt“, erst sieht man seine Schuhe, dann seine Lederjacke, sein Auto, seine Sonnenbrille und erst nach langer Antizipation kommt das Gesicht vom damals gänzlich unbekannten Hauptdarsteller Mel Gibson ins Bild, den diese Rolle zum Weltstar machte.

Max ist nicht bloß eine Figur, verdeutlicht diese Inszenierung, er ist ein Archetyp, er ist der letzte gerechte Vollstrecker des Rechts in einer kaputten, desolaten Welt. „Mad Max“ ist eine Dystopie, die sich selbst weder erklärt noch begründet. Von der Texteinblendung, er spiele „in der nahen Zukunft“ abgesehen, gibt es keine Kontextualisierung für das, was Miller zeigt. Aus den Bildern ergibt sich, dass in Australien Straßenbanden, darunter die psychopathischen Höllenjockeys, für Terror sorgen und das Land terrorisieren, und es der Polizei, die vom heruntergekommenen Justizpalast aus walten, die Lage kaum noch unter Kontrolle haben.

Der Tod des Nightriders, einem Mitglied der Höllenjockeys, ruft diese für eine Vergeltungsaktion auf den Plan. In einer Szene, die direkt aus Western entnommen ist, plündern sie einen kleinen Ort, brandschatzen und vergewaltigen. Kurz darauf wird Max‘ Partner Goose bei lebendigem Leib von ihnen verbrannt. Herausragend zeigt Gibsons Gesicht, dass dies der erste Schritt der Desillusionierung ist. Er kündigt seinen Job. Sein Chef ruft ihm nach: „Die meisten Menschen, die glauben nicht, dass es noch Helden gibt heutzutage. Drauf geschissen! Du und ich, Max, wir werden ihnen beweisen, dass noch nicht alle Helden tot sind.“

In US-Filmen wäre das der Moment, in dem der Held sich vom Pathos umstimmen lässt. Sieben Jahre später wiederholt sich diese Szene fast exakt in „Top Gun“ von Tony Scott. Auch hier hat es den Partner des Helden, der ebenfalls Goose heißt, erwischt. Auch hier will der Held seinen Dienst quittieren. Er lässt sich umstimmen. Max aber nicht. Er lacht nur über die Ansprache seines Chefs und glaubt, würde er nur noch einen Tag länger auf den Straßen verbringen, er wäre bald genauso verrückt wie Höllenjockeys. Die Subtilität, mit der Miller seine dystopische Version eines anarchischen Australiens zeichnet, allein über die Montage der Actionmodule einer damals zeitgemäßen B-Film-Ästhetik, ist auch nach vielen Jahren noch bemerkenswert. Max wird mit simpelsten Mitteln als letztes Bollwerk gegen das Chaos gezeichnet, nur um ihn dann kapitulieren und mit Frau und Kind in die Natur flüchten zu lassen. Nicht wenige Konkurrenzfilme könnten sich eine Scheibe hiervon abschneiden.

„Mad Max“ inspirierte durch seine trostlose, pessimistische Endzeit-Stimmung ein ganzes Subgenre, prägte popkulturelle Ikonen wie die Comicfigur Judge Dredd oder das satirische Wüsten-Ödland der Videospiel-Reihe „Fallout“. Gerade die sparsame Inszenierung, die beispielsweise Stunts immer nur aus einer Kamerasicht zeigt – man hatte nicht das Geld, Auto-Zusammenstöße mehrfach zu filmen – sorgt für eine harte und unwirkliche Atmosphäre, genau wie die Musik von Brian May (nicht zu verwechseln mit dem Mitglied der Band „Queen“) schräge und surreale Töne anschlägt.

Es ist aber erst das letzte Drittel, welches „Mad Max“ wirklich zum Kult werden ließ, in denen Miller seinem Helden, wie Jochum schrieb, die „letzten Tötungshemmungen“ nimmt. In einer langen Sequenz spüren die Höllenjockeys Max‘ Frau auf, jagen sie durch den Wald – was dank Millers Einsatz einer subjektivierenden Kamera für zusätzliche Beklommenheit und Unbehagen sorgt. Sie schnappt sich den Nachwuchs, flieht mit ihrem Kleinkind auf den Arm – aber sie kann den Gangstern nicht entkommen. Als sie ihr mit den Motorrädern nachjagen, filmt die Kamera plötzlich nur noch den Asphalt und ein Kinderschuh fliegt ins Bild. Suggestiver kann man eine solche Gräueltat nicht inszenieren.

Jetzt zeigt Mel Gibson seine schauspielerische Klasse. Kalt, trostlos und verbissen will Max Vergeltung. Einige spektakuläre Autostunts später ist nur noch einer der Höllenjockeys über. Max kettet ihn mit seinem Fußknochen per Handschelle an einen Unfallwagen aus dem Benzin tropft, improvisiert einen Zeitzünder. Dann schmeißt er ihm eine Säge hin: „Du brauchst etwa zehn Minuten, um sie durchzusägen, aber wenn du Glück hast, schaffst du es in fünf Minuten, deinen Knöchel durchzusägen.“ Sprachs und ging, fuhr in das Nichts hinaus. Die Rache bringt Max keine Katharsis, keine Befreiung. Er verbleibt, Mel Gibsons Augen sprechen Bände, als ein Getriebener, der in die verlorene Welt hinausfährt. Was er hinterlässt, ist eine Schneise der Verwüstung und Gewalt. Die Szene mit der Säge inspirierte 2004 allzu offensichtlich den Horrorschocker „Saw“.

Millers betont schräg-entrückte Sinfonie aus Gewalt, Blechschäden und Männlichkeit traf offenkundig einen Nerv, kann als Nachfolger zu anderen Rachefilmen der 70er wie „Dirty Harry“ mit Clint Eastwood, „Ein Mann sieht rot“ mit Charles Bronson oder „Ich spuck auf dein Grab“ mit Camille Keaton gesehen werden und ist selbst der Vorgänger immer nihilistischerer Zukunftsvisionen, die das Kino in den Folgejahren präsentierte, etwa John Carpenters „Die Klapperschlange“ oder James Camerons „Terminator“.

Von der Fachpresse für Gewaltverherrlichung und Menschenverachtung abgestraft, vom Publikum zum stilprägenden Klassiker erkoren. Der Ansatz eines „Stummfilms mit Ton“ machte sich für Miller mehr als bezahlt – das 285-fache seines Budgets spielte „Mad Max“ ein. Wohl auch, weil er überall auf der Welt verstanden wurde. Miller verriet Jahre später: „In Japan hielt man Max für einen Samurai, in Frankreich für einen Westernhelden auf Rädern, in Skandinavien nannten sie ihn einen Wikinger.“

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London ist immer einen Abstecher wert

Beitrag von Wallnuss » 23.05.2024, 17:13

From Hell

Wann immer es um die besten Comicautoren des 20. Jahrhunderts geht, kommt man an Alan Moore nicht vorbei. Der bekennende britische Anarchist schrieb sich mit illustrierten Strips, die er an Zeitungen verkaufte, selbst aus der Arbeitslosigkeit heraus und wurde 1983 bei DC Comics angestellt. Zu seinen größten und prägendsten Werken zählen die alternative Superheldenreihe „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“, die Widerstandsfabel „V wie Vendetta“ oder die Graphic Novel „Watchmen“, eine satirische Superheldengeschichte, die zu den bedeutendsten englischsprachigen Literaturwerken seiner Zeit zählt. Für viele seiner treuen Anhänger gilt neben „Watchmen“ aber noch eine andere seiner Arbeiten als sein Magnum opus: „From Hell“.

Dieses innovative Mammutwerk spielt im Jahr 1888 in Whitechapel, London, und handelt von den fünf Morden an Prostituierten, die Jack The Ripper beging. Dafür haben Moore und sein Zeichner Eddie Campbell über zehn Jahre recherchiert, nicht nur sämtliche historischen Details zu den Ripper-Morden, sondern auch zum damaligen Stadtbild, zu den politischen Umständen der Zeit und zu den zahlreichen Legenden und Verschwörungstheorien, die es rund um den nie gefassten Serienmörder gibt. Von 1991 bis 1996 erschien die ganze Reihe. Aufgrund des großen Erfolgs der Vorlage dauerte es nur wenige Jahre, ehe 2001 eine Filmadaption auf der großen Leinwand erschien. Inszeniert von den mit Vorschusslorbeeren übersäten Zwillingen Albert und Allen Hughes, besetzt mit Stars wie Johnny Depp, Robbie Coltrane, Heather Graham und Ian Holm. Was soll da schon schiefgehen?

Nun: eine ganze Menge. Als „From Hell“ den Sprung auf die Leinwand schaffte, waren die Kritiken bestenfalls mittelprächtig. Kinogänger störten sich an der steifen Inszenierung, für Comicleser war die Adaption größtenteils gar ein Desaster. Dabei ist der Begriff Adaption in diesem Fall eher lose gedacht zu verstehen. Natürlich haben Filmemacher jedes Recht, eine Vorlage abzuwandeln und sie neu zu interpretieren – man denke nur daran, wie genial Robert Altman 1973 für seinen „Der Tod kennt keine Wiederkehr“ den Roman „Der lange Abschied“ von Raymond Chandler abwandelte. Doch wenn eine Verfilmung wie „From Hell“ so offensichtlich verkennt, was am Ausgangsmaterial eigentlich so brillant gewesen ist, dann muss man es den Beteiligten vorhalten dürfen.

Moores Herangehensweise an Genre ist immer eine entlarvende, eine modernistische. In seinen Superheldencomics zeigte er sich zumeist daran interessiert, wie ein Genre, das zu Beginn des Zweiten Weltkriegs weitgehend von jüdischen Künstlern als Ventil für ihre Abscheu vor dem Antisemitismus der Nazis entstanden ist, Helden hervorzubringen, deren Ikonographie selbst faschistische Züge trägt. Schon seine „Batman“-Arbeiten (u.a. „The Killing Joke“) sind da eindeutig. „Der Superhelden-Traum ist im Wesentlichen Faschismus“, lässt er sich zitieren. „From Hell“ spinnt diese thematische Analyse weiter.

Moore und Campbell greifen darin eine gängige Verschwörungstheorie auf, nach der die Königsfamilie in die Ripper-Morde involviert war. Früh in ihrer Graphic Novel verraten sie, dass es sich beim Ripper um William Gull, den Leibarzt der Königin Victoria handelte. Der Sohn der Königin, Prinz Albert, hatte eine Prostituierte geheiratet und geschwängert. Die fünf ermordeten Frauen waren Freundinnen dieser Dame, wussten von der Heirat und dem Kind und erpressten das Königshaus. Gull beseitigte sie.

Man muss diese Auflösung verraten, da es eigentlich überhaupt keine sein sollte. „From Hell“ macht anders als zahlreiche Geschichten kein Geheimnis um die Identität des Rippers. Moore und Campbell ging es nicht darum, eine vermeintliche Version einer möglichen Wahrheit zu imaginieren. Ihr Werk ist ein dezidiert feministisches. Die Morde des Rippers sind in ihrer Erzählung nur eine logische Konsequenz der sexuellen Unterdrückung im patriarchalen viktorianischen England. Der Mörder Gull inszeniert die Morde sogar im Arrangement eines heidnischen Rituals, mit welchem er glaubt, das 20. Jahrhundert einzuläuten. Die Botschaft ist klar: Das frauenfeindliche Spektakel, als dass die Ripper-Morde in die Mediengeschichte eingingen – und bis heute als solches behandelt werden – ist laut „From Hell“ eine zentrale Wurzel der narrativen modernen Popkultur.

Von all dem ist in der „From Hell“-Verfilmung keine Spur. Das beginnt schon damit, dass der Film aus der Identität des Rippers doch wieder ein Geheimnis macht – wenn auch vergeblich, da es mangels möglicher Kandidaten und angesichts der hochkarätigen Besetzung Gulls durch Ian Holm schon früh für erfahrene Zuschauer klar sein muss, was später eine Überraschung sein soll. Während die Vorlage multiperspektivisch erzählt, bauen die Hughes-Brüder einen konventionellen Whodunnit in Tradition klassischer Krimis à la Agatha Christie. Depp spielt den britischen Inspektor Frederick Abberline, der damals wirklich am Ripper-Fall arbeitete, verhört Sex-Arbeiterinnen, verliebt sich in eine von ihnen und hat im Opium-Rausch Visionen der Morde.

Eine komplexe Figur ist er nicht, eher der typische postmoderne ‚Bad Boy‘-Cop, der mit verhuschter Frisur und grimmigem Blick ermittelt, jedoch das Herz am rechten Fleck trägt. So abgeschmackt wie sein Charakter auftritt, gestaltet sich die ganze Inszenierung. Der Film setzt auf schwarze Wolken, schmutzige Kopfsteinpflaster, flackerndes Gaslicht und viel Nebel, in kurz: er weidet sich in Horrorfilm-Klischees, erinnert mehrfach an die Hammer-Studios-Produktionen der 50er wie „Frankensteins Fluch“ oder „Die Rache der Pharaonen“. Diese Zitate sind aber offensichtlich als solche erkennbar, und die meiste Zeit verhält sich „From Hell“ wie ein verfilmtes Ausstellungsstück, wie eine leer abgefilmte Kulisse. Dazu trägt auch bei, dass Depp als Drogensüchtiger und Graham als Bordsteinschwalbe beide in stets sauber gewaschener Kleidung, mit frisch geföhnten und frisierten Haaren und makellosen Fingernägeln durch die Szenerie wanken.

Als „From Hell“ im Kino erschien, war der Gothic Horror längst im Mainstream-Kino angekommen. 1992 ließ Francis Ford Coppola „Bram Stoker’s Dracula“ auf die Leinwände los, und schon 1999 ermittelte Johnny Depp als schräger Schnüffler, damals noch in „Sleepy Hollow“ unter der Regie von Tim Burton. „From Hell“ setzt anders als diese künstlerisch recht ambitionierten Werke eher auf den Charme des B- und Pulp-Kinos. In den Mordszenen geht es zwar inszenatorisch wenig raffiniert, dafür aber umso brutaler und blutiger zu – einerseits stimmig angesichts dessen, dass Jack The Ripper seine Opfer mit anatomischer Präzision schlachtete und ihnen Organe entnahm, andererseits offenbart auch diese Überstilisierung der Frauenmorde ein fundamentales Missverständnis der Vorlage. Man könnte böse sagen, dass die Hughes‘ in diesen Szenen genau jener morbiden Faszination erliegen, die Moore und Campbell in ihrem Vorwerk als misogyne Problematik herausarbeiten.

Somit ist das Endresultat leider weder Fisch noch Fleisch. Für einen tatsächlichen Horrorfilm fehlt es „From Hell“ an waschechten Schockmomenten oder Situationen, die ein Gefühl der Beklommenheit aufkommen lassen. Trotz der Brutalitäten dürften auch Gore-Fans eher außenvor bleiben. Wer atmosphärische Krimis schätzt, der bekommt hier die x-te Nacherzählung um Jack The Ripper geboten und muss sich fragen, warum selbst erwiesene Schauspielkönner wie Robbie Coltrane und Ian Holm so steif wirken. Gerade Johnny Depp ist in der Hauptrolle eine Enttäuschung, spielt den Ermittler ohne viel Energie oder Charisma. Vielleicht sind da die Fußstapfen zu groß, immerhin verkörperte 1988 niemand geringeres als Michael Caine den Inspektor Abberline in der großartigen TV-Miniserie „Jack the Ripper“ als einen alkoholkranken Hardliner mit schweren Aggressionsproblemen.

Bei „From Hell“ blieb es in den 2000ern nicht. 2003 versuchte Hollywood sich an Moores „Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“, 2005 an seinem DC-Helden „Constantine“, 2006 nahmen die Wachowski-Geschwister – immerhin die „Matrix“-Regisseure – es mit „V wie Vendetta“ auf, 2009 kamen die „Watchmen“ in die Kinos und für „Batman – The Killing Joke“ reichte es 2016 nur noch als Zeichentrickprojekt. Keiner dieser Filme konnte Kritik oder Publikum in Summe so richtig überzeugen – und sie alle wurden von Alan Moore persönlich buchstäblich zerfetzt. Mittlerweile will er seinen Namen mit solchen Adaptionen nicht mehr in Verbindung gebracht sehen, verzichtet im Gegenzug auf sämtliche Einnahmen. Allerdings: Immerhin schafften es „Constantine“ und „Watchmen“ in den Folgejahren nach ihrer Veröffentlichung zu modernen Kultfilmen.

Dieses Schicksal einer späteren Re-Evaluierung blieb „From Hell“ verwehrt. In Erinnerung bleibt er vor allem als ein besonders bemerkenswertes Negativ-Beispiel für die gnadenlose Banalisierung intellektueller Literaturstoffe durch die Werkeleien der Hollywood-Maschinerie. Die Aufarbeitung der Morde von Jack The Ripper in ihrem Einfluss auf die moderne Popkultur hingegen wurde weiter vertieft. 2019 veröffentlichte die Historikerin Hallie Rubenhold ihr Buch „The Five: The Untold Lives of the Women Killed by Jack the Ripper”, in dem es ausschließlich um die fünf weiblichen Opfer und ihre Geschichten geht.

Dem „From Hell“-Film könnten diese Frauenfiguren nicht egaler sein. Wichtig ist nur das Mysterium um den geheimnisvollen Mörder. Dabei sagte Moore über seine Vorlage: „Ich habe keine Geschichte über Jack the Ripper geschrieben, ich habe über unsere Besessenheit von Jack the Ripper geschrieben.“ Wie sehr diese Besessenheit nach wie vor dominiert, zeigt die Adaption seines Werks dann in der Tat wirklich eindrucksvoll.

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Was Mäxchen nicht fährt ...

Beitrag von Wallnuss » 04.06.2024, 01:06

Mad Max: Der Vollstrecker

„Auf diese Art geht die Welt zugrunde. Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer“, schrieb T. S. Eliot in seinem berühmten Gedicht „Die hohlen Männer“. Doch wie klang dieses Gewimmer, als die Welt von „Mad Max“ unterging? Eine hörbar alte Erzählerstimme aus dem Off versucht zu Beginn der Fortsetzung „Der Vollstrecker“ davon zu berichten. Doch er selbst hat den Zerfall der alten Welt nicht miterlebt. Er weiß nur, dass es einen Krieg gab, der wegen des immer knapper werdenden Öls geführt wurde, und dass „die Politiker“ sich zusammensetzten „und redeten und redeten“. Vielleicht wimmerten sie auch.

Der Australier George Miller hatte sich 1979 mit wenig Budget und noch weniger Erfahrung an einer Endzeitvision versucht, und in „Mad Max“ eine Welt gezeichnet, deren Gesetze nur noch von psychopathischen Bikern und ein paar wenigen, nicht minder psychopathischen Cops auf den Straßen verhandelt wurden. Nach dem Erfolg dieses Films über einen Mann, der durch ein Trauma – den Verlust seiner Familie – zum Mythos wurde, kamen Angebote aus Hollywood rein. Den ersten Teil dessen, was später die „Rambo“-Filmreihe wurde, bot man ihn an, ein Rock’n’Roll-Drama namens „Roxanne“ hatte er bereits in Arbeit. Doch die Verlockung war zu groß, zurückzukehren in die kahle und raue Welt von „Mad Max“.

Da insbesondere dieser zweite Teil die Blaupause für Jahrzehnte des Dystopie-Kinos wurde, ist es mittlerweile leicht zu übersehen, wie persönlich die Vision dieses zerstörten Australiens für Miller war. Er hatte nicht nur ein ambivalentes Verhältnis zu Fahrzeugen, nachdem gleich drei seiner engsten Freunde in jungen Jahren bei Autounfällen verstarben, sondern hatte 1973 auch die Ölpreiskrise miterlebt und kannte persönlich einige Familien, die im Zuge der daraus resultierenden Inflation ihre Existenz verloren. Seine „Mad Max“-Reihe reflektiert die Angst vor einer globalen Öl-Knappheit und treibt auf die Spitze, wie abhängig sämtliche moderne zivilisatorische Errungenschaften vom sprichwörtlichen schwarzen Gold sind.

So berichtet der Mann aus dem Off also, dass die Welt unterging, zur Wüste wurde, in der die Anarchie gilt, in der jeder jeden für einen Liter Benzin töten würde. Und er erzählt von einem, den er in dieser Einöde kennenlernte, der über die Straßen zog und als der titelgebende Vollstrecker sein einsames Dasein fristete: Max Rockatansky, erneut gespielt vom ultracoolen Mel Gibson, der mit diesem Sequel endgültig zum Superstar avancierte. Wer den Vorgänger nicht gesehen hat: Kein Problem, die eröffnende Montage erklärt nochmal kurz, was geschehen ist. Sie könnte genauso gut aber auch weggelassen werden. Max mag im Vorgänger noch den Anschein eines Charakters erwecken, doch jetzt wird er nur noch als Mythos behandelt, als Idee eines Heldentypus, von dem andere in Sagen berichten.

Wer in der Wüste dreht und von wortkargen, ewig getriebenen Helden ohne Heimat erzählt, der weiß, dass sein Setting schnell in den Hintergrund rückt und beim Zuschauer Gedanken an einen Western evoziert werden. Miller versucht gar nicht, diese Inspirationen zu verheimlichen. Neben den Samurai-Filmen eines Akira Kurosawa waren die Italowestern des Sergio Leone eine wichtige Inspirationsquelle für ihn. Wortkarg ist Max noch mehr als seine Inspirationsquellen: Nur 16 Sätze spricht er im Verlauf des Films, zwei davon lauten: „Ich bin nur wegen des Benzins gekommen.“

Der Plot könnte für einen Western kaum klassischer sein: Nach einer kurzen, effektiven und vor allem explosiven Einführungsszene, die Max bei der täglichen Jagd nach Sprit zeigt, stößt der ehemalige Polizist, der seine einstige Lederuniform noch immer wie eine Rüstung trägt, auf einen Siedlertreck, der von Outlaws bedroht wird. Statt mit Pferden und Postkutschen voller Gold, sitzt diese verzweifelte Gruppe in futuristischen Quads und auf einem großen Tankwagen voller Öl, der irgendwie über die Frontier, die Grenze, ins gelobte Land gebracht werden soll, von dem in Erzählungen zu hören ist.

Dumm nur, dass der maskierte Muskelberg Hummungus, gekleidet wie ein BDSM-Sklave, und seine motorisierten Punk-Psychos die Siedler aus ihrer Festung nicht entkommen lassen, sondern sie rund um die Uhr belagern. Max, kein Held im klassischen Sinne (mehr), kann einem der Siedler retten und sie zu einem Deal überreden: Sie geben ihm literweise Öl, dafür hilft er ihnen, den tonnenschweren Tanker an Hummungus‘ Schergen vorbeizukriegen. Der Loner, mag er noch so profitgierig und kalt wirken, lässt hinter seiner harten Schale ein Herz erahnen und hilft den Verzweifelten in Not. Mel Gibson als filmischer Erbe von Clint Eastwood.

Man kann dieses narrative Konstrukt simpel nennen, aber Miller denkt als Regisseur vor allem in Bildern, die bei ihm eine eigene cineastische Grammatik entwickeln. Motorengeräusche, Menschengeschrei, Lederuniformen und Explosionen formen eine innovative, komplexe Syntax. Die inszenatorischen Einfälle sind charakteristisch und teils brillant: Als Max zum Beispiel einmal, er hatte sich gerade eigensinnig aus dem Staub gemacht und war von ein paar Raudis überfallen und beinahe getötet worden, von einem Gyrocopter-Piloten – köstlich-humorvoll gespielt von Bruce Spence als degenerierte Grimassen-Version eines James-Coburn-Archetypen – gerettet wird, filmt Miller den zugerichteten Gibson frei in der Luft schwebend, während unter ihm die Erde vorbeizieht.

Visuell ist „Mad Max: Der Vollstrecker“ ein großes Vergnügen. Die Wüstenlandschaften werden von Kamera-Ass Dean Semler ebenso spektakulär in Szene gesetzt, wie die Designs für die „Wasteland“-genannte Postapokalypse vielseitig ausfallen. Die Kostüme und Karosserien der Schurken sind auf maximale Einprägsamkeit hingedacht, über achtzig Autos wurden umgebaut, über die Hälfte von ihnen beim Dreh der Actionszenen zerstört. Ebendiese sind nicht nur rasant, sondern auch durchtränkt von schwarzem Humor, und so erinnert die insgesamt schräg-gezeichnete Welt mitunter an die Logik alter Comic-Strips. Als Max etwa einmal mit einem Truck-Vorderbau durch das Lager von Hummungus brettert, reißt er dabei eines der vielen Zelte um und darunter zum Vorschein kommt ein Pärchen, das gerade dem Liebesspiel nachgeht und verdutzt dreinblickt.

So humorvoll angereichert es also zugeht, ist „Der Vollstrecker“ dennoch ein überaus gewaltvoller Film. Einmal schneidet ein kleiner stummer Junge per Bumerang-Wurf einem Schurken den Kopf auf, in mehreren anderen Szenen hat Hummungus zwei gefangene Siedler vorne an seinen Wagen gebunden, als seien sie lebendige Schutzschilde. Max hat in seinem ikonischen Auto, dem V8 Interceptor, auch einen Hund bei sich, der für ein paar erheiternde Momente sorgt, aber – man ahnt es in diesem Genre – den Film nicht überlebt.

Das große Crescendo ist dann jener Moment, der diese Fortsetzung zu einem Genre-Primus werden ließ – so wählten ihn beispielsweise die Leser des Rolling Stone im Jahr 2015 zum besten Actionfilm aller Zeiten. Kein Wunder, ging doch die finale dreizehnminütige Verfolgungsjagd, bei der Hummungus und Co. dem Tankwagen – gefahren von Max – nachjagen, in die Annalen der Filmgeschichte ein, gilt neben den berühmten Autojagden aus „Bullitt“, „Ronin“ und „Die Blechpiraten“ als eine der besten, die je gedreht wurden. Über 200 Stunts flossen in die wahnwitzige Sequenz ein, mehrere davon waren so gefährlich, dass die involvierten Fahrer ungewöhnlicherweise gebeten wurden, zwölf Stunden vor Dreh nichts mehr zu essen – falls sie im Nachgang sofort operiert werden müssten.

Dieser, einer der größten Autoschrottplätze der Kinowelt, ist in seiner virtuosen choreographischen Dynamik, in seinen wahnwitzigen Bewegungsrhythmen, nicht zu übertreffen. Autos krachen bei voller Geschwindigkeit ineinander, Männer und Frauen turnen auf, am und unter dem Tankwagen, ein finaler Zusammenstoß zerfetzt den Wagen des Gegners in tausende Teile. Brian May, der schon beim ersten Teil komponierte, liefert dazu eine ungeheuer treibende, Bass-lastige Filmmusik, die ihn zur tragenden musikalischen Gestalt des Australian New Wave machte und stark an den ersten Satz aus der Orchestersuite „Die Planeten“ von Gustav Holst angelehnt ist, Titel: „Mars, der Kriegsbringer“.

Einen Kracher bewahrt sich George Miller für die Schlussszene auf: Die halsbrecherischen Manöver und pointierten Überdrehungen, die diesen Kino-Auftritt des Vollstreckers als überaus grimmigen Realfilm-Cartoon ausweisen, entpuppen sich als die Nacherzählung des kleinen stummen Jungen mit dem tödlichen Bumerang. Er ist der Off-Erzähler vom Anfang und bezeugt, er habe seinen Helden nach diesem Abenteuer nie wieder gesehen. Nicht nur nährt dies den Max-Mythos, es erklärt die stilistischen Eigenarten des Films – können diese doch nun als kindliche Ausschmückung verstanden werden.

„Mad Max“ war die Einleitung, die Fortsetzung lieferte den Popkultur-Kult. Regisseure wie Guillermo del Toro, Robert Rodriguez und Zack Snyder geben den zweiten „Mad Max“ als ihren Lieblingsfilm an. Eine Welle an hingeschluderten „Mad Max“-Imitationsprojekten – größtenteils in Italien gedreht – prägten das Trash-Kino der 80er. Später waren Blockbuster wie „Waterworld“ und „Mortal Engines“ sichtbar vom irren Max inspiriert, ebenso die Spielreihe „Fallout“ und ihre Serienadaption. Dank George Miller und Mel Gibson glauben wir daher mittlerweile fest zu wissen: Wenn die Welt einmal untergeht, dann wird das Wimmern gehörig knallen.

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Wenn die Postapokalypse dreimal klingelt

Beitrag von Wallnuss » 23.07.2024, 23:42

Mad Max: Jenseits der Donnerkuppel

„Zwei Mann gehen rein, ein Mann geht raus“, brüllt die Menschenmasse ekstatisch, während sie einem Käfigkampf der etwas anderen Art beiwohnen. In einer großen vergitterten halbkugelförmigen Arena stehen sich zwei Kontrahenten gegenüber. Sie sind an Gummiseilen befestigt, durch die sie den ganzen Raum der sogenannten Donnerkuppel nutzen können. Die Menge reicht den beiden Gladiatoren durch das Gitter martialische Hilfsmittel: Kettensäge, Speer und Riesenhammer.

Das Erstaunliche an dieser Actionszene ist, dass sie Mittel der filmischen Illusion ins Zentrum der Publikumsaufmerksamkeit rückt. Bei Kampfszenen, gerade bei Martial-Arts-Filmen aus dem ostasiatischen Raum, ist es Usus, die Darsteller an Drähten zu befestigen, sodass sie kontrollierte und übermenschliche Sprünge durch den Raum vollführen können oder ein Tritt in die Magengegend den Gegner mehrere Meter bis zur Wand fliegen lässt.

Normalerweise sind diese Drähte Hilfsmittel des Regisseurs, die den Zuschauern nach Möglichkeit nicht auffallen sollen. In der Donnerkuppel sind diese ‚Drähte‘ Teil des Kampfes und bedeuten somit auch, dass die beiden Krieger sie strategisch einsetzen können. Die bekannte Actionästhetik wird dadurch zum konkreten Handlungsgegenstand. Pulitzer-Preisträger Roger Ebert schrieb über diese atemberaubende Sequenz: „Die Donnerkuppel ist die erste wirklich originelle Filmidee für die Inszenierung eines Kampfes seit den ersten Karatefilmen“, und: „Die Donnerkuppel verhält sich zum Zweikampf wie 3D-Schach zu einem flachen Brett.“

George Miller musste nach seinen ersten beiden „Mad Max“-Filmen sicher nicht mehr beweisen, dass er virtuose Action kann. Der zweite Teil der Reihe, „Der Vollstrecker“, endete mit einer dreizehnminütigen Verfolgungsjagd mit dutzenden Fahrzeugen, die in die Filmgeschichte einging. Doch man tut Miller unrecht, wenn man seine dystopischen Endzeitfantasien als puristische Stunt-Show abtut. Seine große erzählerische Fähigkeit liegt darin, komplett über Bilder erzählen zu können, und sein daraus resultierendes großes Interesse, kinetisches Kino zu machen. Er arbeitet mit vertrauten Versatzstücken und Archetypen aus Western und Eastern, aus Horror- und Drama-Filmen; wichtig ist bloß: Alles muss immer in Bewegung bleiben.

An einer weiteren Rückkehr in die Welt von Mad Max hatte Miller jedoch zunächst das Interesse verloren, als 1983 sein enger Freund und Produzent Bryon Kennedy bei einem Helikopterabsturz starb. Zu dem Zeitpunkt stellte Miller gerade, in Kooperation mit anderen Regisseuren und Autoren, die australische TV-Miniserie „The Dismissal“ fertig – sie wurde Publikumshit und Kritikerliebling. Im Rückblick darauf, warum es schließlich doch zum dritten „Mad Max“ kam, erklärte er: „Ich hatte das Bedürfnis, etwas zu tun, um den Schock und die Trauer zu überwinden.“ Er erinnere sich kaum an die Entstehungsgeschichte, es sei eine Filmproduktion als Trauerbewältigungsmaßnahme gewesen.

Vermutlich deshalb halste er sich eines der bis dato teuersten Kinoprojekte in der Geschichte Australiens nicht allein auf, sondern holte sich George Ogilvie, einen seiner „The Dismissal“-Ko-Regisseure, dazu. Die Gerüchte, Miller habe die Actionszenen inszeniert und Ogilvie den Rest, wie sie nach Veröffentlichung des Films 1985 durch die Presse geisterten, treffen dabei nicht zu. Tatsächlich gab es nur wenige Tage, an denen nicht beide gemeinsam am Set waren.

Der Erfolg der Vorgänger in Übersee hatte die Reihe mittlerweile in die Popkultur befördert. Mit dem sparsamen, gar spartanischen Ursprungsfilm hat der dritte Teil nur noch wenig gemein. Ein Budget von 10 Millionen Dollar ermöglichte es dem Regie-Duo, aus den Vollen zu schöpfen. Zu hören ist das schon, wenn im Vorspann noch die Namen durchlaufen, denn niemand geringeres als Rock-Queen Tina Turner steuerte gleich zwei Songs zum Film bei („One of the Living“ & „We Don’t Need Another Hero“), mehr noch: Sie spielt als die mysteriöse Aunty die zweite Hauptfigur neben Mel Gibson.

Auch den Kulissen sieht man die erhöhten Kosten an. Nach einer kurzen Einführung landet Max in der vom Handel dominierten Kleinstadt Bartertown, einer Art post-zivilisatorischen Höllenadaption von Las Vegas, in der Tina Turners skurril-überzeichnete Aunty von einem mechatronischen Vogelnest aus den Ton angibt – zumindest scheint es so. In Wahrheit ist die Stadt horizontal geteilt. Aunty regiert als Gesetzgeberin die Oberwelt, doch ist sie abhängig von der nicht nur sprichwörtlichen Unterwelt. Dort, in einem abscheulichen Set, das Terry Gilliam zu Ehren gereicht, wird die Energiegewinnung der Siedlung geleistet – gewonnen aus Schweinekot. Tausende Schweine werden von einem bizarren Duo überwacht; einem kleinwüchsigen Tyrannen namens Master, der auf dem Rücken eines vermummten Hünen namens Blaster hockt und – nach Lust und Laune – der Oberwelt mit einem Embargo droht. Jener Blaster ist es, dem Max sich später, in Auntys Auftrag stehend, in der Donnerkuppel stellen muss.

Es sind herrlich kreative und kultige Konzepte, die Miller und Ogilvie auftischen und ihre postnukleare Welt der Warlords mit Leben füllen. Tonal fällt aber von der ersten Sekunde an auf, dass durch den dritten „Mad Max“-Film ein anderer Wind weht. Statt düster-atmosphärischer Experimentalmusik von Brian May durfte jetzt Komponist Maurice Jarre ran, der großzügig seine Arbeit für „Lawrence von Arabien“ zitiert und ansonsten auf dickes Pathos setzt. Statt harter und rasanter Fahrzeugaction zieht Max sein motorisiertes Vehikel jetzt mit Kamelen durch die Wüste – und es wird ihm direkt in der Auftaktszene gestohlen.

Die Brutalität wurde ohnehin stark zurückgefahren. Der Kampf in der Donnerkuppel verläuft unblutig und als Max seinem Kontrahenten Blaster final die Maske vom Kopf schlägt und erkennt, dass es sich um jemanden mit psychischer Behinderung handelt, weigert er sich, diesen zu töten. Dem Publikum des Kampfes gefällt diese Gnade nicht. Sie fordern weiter: „Zwei Mann gehen rein, ein Mann kommt raus.“

Das Publikum des Films tut es ihnen gleich: Unter Fans gilt dieser als der schwächste Teil der Reihe, sogar als schwarzes Schaf. Die Vorwürfe, Miller habe seine einstige Vision weichgespült, sind erst recht nicht mehr von der Hand zu weisen, als Max von Aunty in die Wüste verbannt wird und dort auf einen Klan Kinder trifft, die nach einem Flugzeugabsturz zu Überlebenskämpfern geworden sind. Tatsächlich plante Miller 1982 mal, eine eigene Version des Romanklassikers „Der Herr der Fliegen“ in Angriff zu nehmen, und nutzte einige seiner Ideen für diesen Handlungsstrang. Die Kinder erkennen in Max ihren Retter, und widerwillig wird der einstige Polizist so zur Messias-Figur für eine Rasselbande, die nicht wenige wahlweise an „Die Goonies“ oder die Lost Boys aus „Peter Pan“ erinnert.

Leider verdammt dieser Bruch der Handlung ihren Protagonisten zur passiven Figur. Max lässt sich von den Kindern in aller Ruhe erklären, wer sie sind, woher sie kommen und plant dann sogar, erstmal einfach an ihrer Seite zu bleiben. Er übernimmt erst wieder die Führung, als ein paar Kids blindlings in die Wüste davonrennen und er eine Rettungsmission starten muss. Überhaupt steht Mel Gibson in diesem Film oft im Raum und lässt sich von anderen Figuren die Handlung erklären. Selbst im großen Finale, in dem Miller und Ogilvie die famose Schlussjagd aus „Der Vollstrecker“ beinahe plagiieren, fragt Max andere Figuren, wie eigentlich der Plan lautet. „Es gibt keinen“, lautet die Antwort.

Gerade besagte Schlussaction – Max und die Kinder fliehen mit einem Zug vor Auntys Gefolgsmännern – ist eine besonders schwerwiegende Enttäuschung. Nachdem das Drehbuch eher unbeholfen den Kinder-Plot mit der Bartertown-Handlung zusammengeführt hat, wandelt sich die bisher etablierte Comic-Strip-Logik der „Mad Max“-Filme vollständig zum Cartoon-Spektakel: Kinder schlagen mit Bratwannen auf Erwachsene ein. Max kapert inmitten der Verfolgungsjagd ein schwarz-weiß geflecktes „Kuh-Mobil“. Einmal explodiert das Vehikel eines Gegenspielers, nur damit dieser danach komplett schwarz angemalt wieder im Geschehen mitmischt – ganz so, als wäre er der Koyote aus den Looney Tunes.

Tolle PS-Action sucht man vergeblich: Die gewohnt beachtliche Stunt-Arbeit wird an ein eher unbeholfenes, peinliches Slapstick-Spektakel verschwendet, in dem der sonst so coole Mel Gibson ganz schön verloren aussieht. Vor allem das Ende verärgert: Wenn die Kinder dank Max das „gelobte Land“ erreichen, dient der barocke „Mad Max“-Stil weniger noch als unterhaltsamer Selbstzweck und mehr als Mittel zur Aufblähung simpler, sentimentaler Noten. Es mag auf dem Papier eine interessante Idee gewesen sein, den mythischen, vigilanten Punk-Rächer zur Moses-Gestalt zu stilisieren, doch im Streben nach Bedeutung und einem moralisierenden Abschluss der Trilogie weicht Millers überbordender Gestaltungswille sowie sein kinetisches Talent einem klumpigen Didaktizismus.

Vielleicht war es der Trauer um Byron Kennedy geschuldet, dass das frenetische Gewaltkino einer massentauglichen Abenteuerromantik, die Düsternis der Endzeit-Wüsten einer heiter-flachen Erlöser-Metaphorik geopfert wurde. Es sollte dreißig Jahre dauern, ehe Miller seine Lust am bildgewaltigen, kinetischen Erzählen wiederfand und – allerdings ohne Gibson – zu „Mad Max“ zurückkehrte. In der Zwischenzeit drehte er seichte Familienfilme wie „Ein Schweinchen namens Babe“ und „Happy Feet“. Womöglich die richtige Entscheidung, denn „Mad Max: Jenseits der Donnerkuppel“ hat jenseits dieser Titel-Kulisse nur wenig zu bieten.

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Erben verpflichtet

Beitrag von Wallnuss » 25.07.2024, 12:19

Largo Winch: Tödliches Erbe

Manchmal ist der Weg auf die Leinwand lang. Als 2008 mit „Tödliches Erbe“ zum ersten Mal die Figur des Largo Winch es in die Kinos schaffte, hatte der Charakter schon einunddreißig Jahre auf dem Buckel. Sein Schöpfer, der belgische Autor Jean Van Hamme, hatte ihn Mitte der 70er Jahre als Comicfigur erfunden. Das „Tintin“-Comicmagazin (bekannt für die Abenteuer von „Tim und Struppi“) wollte in den US-amerikanischen Markt expandieren und Largo Winch sollte der darauf zugeschnittene Held werden. Als mysteriöser Milliardär, der sein Vermögen für das Bekämpfen von Verbrechern einsetzt, erinnert er entfernt an Bruce Wayne und sein Alter Ego Batman. Mit Winch als Protagonisten Wirtschaftskrimis zu erzählen, gefiel Van Hamme gerade deshalb gut, weil er so sein ökonomisches Fachwissen nutzen konnte.

Aus den Comics wurde vorerst nichts, doch von 1977 bis 1980 schrieb Van Hamme sechs „Largo Winch“-Romane, die vor allem in Frankreich für Aufsehen sorgten: der Schreibstil war roh, explizite Gewaltschilderungen und sehr viel Sex dominierten die Leseerfahrung. Die teils wirklich komplexen Geschichten gerieten da beinahe in den Hintergrund. 1990 klappte es dann doch noch mit dem Comic: In Zusammenarbeit mit Zeichner Philippe Francq wurden erst die Romane in das Format übertragen, später folgten neue Geschichten – Sex und Gewalt fuhr man in den Comics allerdings stark zurück. Dem großen Erfolg folgte 2001 eine recht kurzlebige TV-Serienadaption und 2002 mit „Largo Winch: Empire Under Threat“ ein erfolgreiches Computerspiel.

Schon zu dem Zeitpunkt hatte der Drehbuchautor Jérôme Salle Interesse daran, dem Milliardenerben auf die Leinwand zu helfen, doch um das aufwendige Projekt zu finanzieren, fehlte ihm die Reputation. Erst 2005, als sein Regie-Debüt „Anthony Zimmer“ (auch als „Fluchtpunkt Nizza“ bekannt) die europäische Filmkritik überzeugte und er für einen César nominiert wurde, konnte er das Projekt verwirklichen. 24 Millionen Euro nahm die Produktion in die Hand, gedreht wurde u. a. in Hongkong, Bosnien und Herzegowina und auf Malta. Da die Romane und Comics in Deutschland weitgehend unbekannt waren, erschien der Film dort abseits vom Fantasy Filmfest 2009 nur auf DVD und Blu-ray.

Auch ganz ohne vorherige Berührungspunkte lohnt sich aber die Begegnung mit Largo Winch, schließlich verfilmt Salle die ersten paar Comic-Bände und erzählt somit die Ursprungsgeschichte der Figur. Die beginnt mit einem Mord: Nerio Winch, milliardenschwerer Medienmogul, wird auf seiner Jacht im Hafen von Hongkong überfallen und ertränkt. Für die Weltöffentlichkeit sieht es wie ein Unfall aus. Der Winch Konzern sieht sich jetzt mit großen Problemen konfrontiert: Der zwielichtige Waffenhändler Mikhail Korsky will die Firma mit einem hinterhältigen Börsencoup übernehmen und die stellvertretende Geschäftsführerin Ann Ferguson muss befürchten, dass sich der Vorstand im Kampf und Nerios Nachfolge gegenseitig an die Gurgel geht.

Doch überraschenderweise hatte Nerio vorgesorgt. Da er selbst kinderlos blieb, hatte er vor Jahren in Jugoslawien einen Waisenjungen adoptiert und heimlich in allem ausgebildet, was es für die Welt der Hochfinanz braucht. Zu Beginn des Films treibt dieser mittlerweile erwachsene Mann – noch weiß er nicht, dass er soeben zum Erben geworden ist – um die Welt, lässt sich hier und da in Schlägereien und Liebesaffären verwickeln und landet dabei auch mal im Gefängnis. Largo-Darsteller Tomer Sisley überzeugt dabei von Anfang an mit Charisma und Sex-Appeal, entpuppt sich so als Entdeckung. Er lernte für die Rolle nicht bloß serbisch, sondern führte auch beinahe alle seine teils gefährlichen Stunts selbst aus.

Mit der Comicfigur hat er optisch nur wenig zu tun – diese hatte Philippe Francq damals an das Aussehen von Patrick Swayze angelehnt. Doch Salle ist den Romanen ohnehin näher als den Comics, zeigt bei Morden blutige Einschusslöcher und scheut weder Sexszenen noch Nacktheit. Er macht dabei keinen Hehl darum, dass eines seiner Vorbilder die frühen Filme der „James Bond“-Reihe sind. Der stets gut gekleidete Jetsetter, der von Land zu Land und von einer Schönheit zur nächsten hüpft und nebenbei die Bösen ins Jenseits befördert, provoziert solche Assoziationen sowieso – zumal Winch schon in den Vorlagen eine Chef-Sekretärin namens Miss Pennywinkle beschäftigt, die wohl kaum zufällig an Bonds Miss Moneypenny erinnert.

Tatsächlich hatte sich 2008 die „James Bond“-Reihe den Inhalten der Largo-Winch-Geschichten gerade angenähert. Anders als in früheren Ablegern, in denen Superschurken von opulenten unterirdischen Hauptquartieren aus die Welt wahlweise erobern oder vernichten wollten, waren in den damals neuesten Filmen der Franchise, „Casino Royale“ und „Ein Quantum Trost“, die Strippenzieher skrupellose Kapitalisten, die vor allem das Ziel verfolgten, ihren eigenen Reichtum zu maximieren.

So kurz nach der Weltfinanzkrise traf „Largo Winch: Tödliches Erbe“ also den Zeitgeist damit, der gängigen Rezeptur des Actionabenteuerkinos zu folgen (heißt: Schusswechsel, Faustkämpfe, Stunteinlagen), aber die Sprengköpfe von einst durch Aktienpakete zu ersetzen. Als Largo sein Erbe nämlich antreten will, muss er erstmal seinen Anspruch geltend machen und außerdem die feindliche Übernahme verhindern. Dass es dabei auch Verräter in den eigenen Reihen gibt, ist so absehbar wie die Auflösung, welche Figuren es genau sind.

Visuell kann sich das Ergebnis wirklich sehen lassen. Salle inszeniert auf den Punkt und findet spektakuläre Bilder, einige Ortschaften (darunter eine kleine, halbkreisförmige Insel) lassen in Verbindung mit der durchweg dynamischen Kameraführung von Denis Rouden einen glatt ein weitaus höheres Budget für den Europa-Blockbuster vermuten. Gerade in den Actionszenen erweist sich Salle als wertvoller Bildgestalter. Man mag bei den schnell geschnittenen und zudem mit Handkamera gefilmten Verfolgungsjagden zwar an die Ästhetik der „Jason Bourne“-Filme denken – deren haptische Intensivität „Largo Winch“ bei aller Würdigung nicht erreicht –, doch es sollte dennoch nicht unterschätzt werden, wie wohlausgefeilt die einzelnen Aufnahmen arrangiert sind, sodass sie im Schneideraum dermaßen schlüssig ineinanderfließen können.

Wer keine tieferen BWL-Kenntnisse hat und die Börsenwelt generell als fremdes Paralleluniversum wahrnimmt, könnte in dem komplizierten Plot das ein oder andere Mal leicht stolpern. Zumal Salle das eh schon verworrene Narrativ noch durch eine Rückblendenstruktur aufbricht, in der schrittweise die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Largo und Nerio illustriert wird. Ein Hochgeschwindigkeitsactioner sollte daher nicht erwartet werden. Die Finanzkrimi-Hintergründe der Figur stehen klar im Vordergrund.

Spannend sind die Kontraste, die Salle in seinem Film eröffnet: Die eigentlich intime Geschichte rund um einen Adoptivsohn, der dem Vermächtnis seines Vaters gerecht wilden, kontrastiert er mit Hochglanzaufnahmen wunderschöner Schauplätze, begleitet von der pompösen Orchestermusik des französischen Star-Komponisten Alexandre Desplat. Für einige dieser Aufnahmen ging das Team hinter den Kulissen ein großes Risiko ein. In Hongkong erhielt man keine Drehgenehmigung, also filmte man die dort spielenden Actionszenen und Parkour-Stunts ohne offizielle Genehmigung mit einer kleinen Crew, in der einzelne Mitglieder abgestellt wurden, nach Polizisten Ausschau zu halten.

Trotz der stilvollen Oberflächenreize, dem charismatischen Hauptdarsteller und der erfreulich zackigen und doch pfiffigen Handlung lässt sich allerdings der Vorwurf nie ganz wegwischen, dass es sich bei „Largo Winch: Tödliches Erbe“ im Grunde um ein neoliberales Aufsteigermärchen handelt. Largo nutzt sein erworbenes Kapital – zumindest in dieser Geschichte – nicht, um damit anderen zu helfen, wie man es aus den eskapistischen Fantasien seiner ähnlich vermögenden Filmheld-Kollegen Batman oder Lara Croft aus „Tomb Raider“ kennt, sondern verteidigt hauptsächlich seinen eigenen Reichtum. Es war daher geschickt, stärker als in den Vorlagen seine arme Herkunft als Waise besonders zu betonen.

Aber auch das ändert nur wenig daran, dass zwar die Identifikation mit der Titelfigur gelingen mag, die Fallhöhe der Geschichte aber recht niedrig bleiben. Largo scheint an seinem Leben als kosmopolitischer Herumtreiber bereits einiges an Genuss zu empfinden, und zeigt – abseits von der Aufklärung des Mordes an seinem Vater – nur wenig Interesse an dem Leben, welches er sich laut der Handlung nun dringend verdienen und erhalten sollte.

Das restliche Darsteller-Ensemble bleibt eher blass. Kristin Scott Thomas spielt die stereotype Business-Frau, Karel Roden gab als böser Russe gleich nach seiner Darstellung in „Rock N Rolla“ 2008 schon den zweiten Abramowitsch-Abklatsch, und die hübschen Frauen Mélanie Thierry und Bojana Panić bleiben im Grunde auf ihre dekorativen Vorzüge als Bettgespielinnen reduziert. Für etwas Farbe sorgt einzig Benedict Wong als mürrischer Shareholder, der Jahre später im Marvel-Film „Doctor Strange“ seinen internationalen Durchbruch feiern sollte.

Nicht alles gelingt Salle im Verlauf der knappen 108 Minuten, den pulpigen Ursprüngen der Vorlagen kommt er aber nahe, was in Belgien auch überaus wertschätzend wahrgenommen wurde. Im Ausland diente „Largo Winch: Tödliches Erbe“ als nächstes Anschauungsbeispiel dafür, dass im europäischen Genrekino die Franzosen weiterhin tonangebend sind. So hinterließ der Film sein eigenes Erbe: Eine Fortsetzung namens „Die Burma-Verschwörung“ ließ nicht lange auf sich warten und ging praktisch kurz nach der Veröffentlichung des ersten Films in Produktion.

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Diary of a Madmax

Beitrag von Wallnuss » 26.07.2024, 13:49

Mad Max: Fury Road

Verbringt ein Film viele Jahre in dem, was in Hollywood als „Produktionshölle“ bezeichnet wird, dann gilt er unter Cineasten gerne schon vor Kinostart als abgeschrieben. Zu viele Köche verderben ja bekanntlich den Brei. Daher dürfte manch einer nicht schlecht gestaunt haben, als bei den Filmfestspielen in Cannes 2015 außer Konkurrenz vor allem ein Film die Kritiker zum Jubeln animierte: „Mad Max: Fury Road“, der vierte Teil der Endzeitsaga des australischen Regisseurs George Miller, der ursprünglich mal ein Arzt war und Unfallopfer behandelte, und 1979 mit dem Erstling der Reihe für nur 400.000 Dollar einen Kultfilm schuf.

Dieser erste „Mad Max“ war wenig mehr als eine exploitative, mit Mythen angereicherte Antwort auf das Autorennkino der 70er, in dem der titelgebende Cop Max Rockatansky noch als relativ zurechnungsfähiger Straßenpolizist Motorradgangs nachjagte. Was heute mit „Mad Max“ assoziiert wird, also die atomverstrahlte Wüste, die Überlieferung von Western-Bausteinen ins Roadmovie-Segment und die ikonische Tanklasterjagd, eine der beeindruckendsten Stuntsequenzen der Filmgeschichte, stammen aus der Fortsetzung „Der Vollstrecker“, der in den 80er Jahren unzählige miese Nachahmer folgten.

Die „Mad Max“-Reihe steht für ein Autorenkino, das auf Nötigste reduziert ist und sich als Melange aus Kunst- und Trashfilm versteht. Und sie ließ Miller nie los: Seit der dritte Teil, „Jenseits der Donnerkuppel“, 1985 die meisten Fans enttäuscht hatte, plante er immer, in die wüste Postapokalypse zurückzukehren. Seit 1998 arbeitete er konkret an einem neuen Film, doch spätestens mit Beginn des Irakkriegs wenige Jahre später wurde die Thematik des Films, immerhin ein Krieg motorisierter Banden um Öl, als zu problematisch eingeschätzt.

2006 nahm das Projekt wieder Fahrt auf. Ex-Hauptdarsteller Mel Gibson hatte sich mittlerweile mit antisemitischen Eskapaden ins Abseits geschossen. 2009 waren Darsteller gefunden. 2011 sollte der Dreh im australischen Broken Hill beginnen, doch nachdem heftiger Starkregen dort überraschend üppige Blumenlandschaften erzeugt hatte, verlegte man die Produktion für 2012 spontan nach Namibia. Es wurde von Komplikationen am Set berichtet, die beiden Hauptdarsteller Tom Hardy und Charlize Theron hätten sich untereinander und auch mit Miller in die Haare bekommen. 2013 durften die Stars zurück in die Wüste für aufwendige Nachdrehs.

Fans und Presse waren sich einig: das Projekt war zum Scheitern verurteilt. Die Berichte über die Produktion klangen abschreckend. Miller hatte zuletzt vor allem Kinderfilme mit sprechenden Tieren – darunter „Ein Schweinchen namens Babe“ und „Happy Feet“ – verantwortet, und schien mit 70 Jahren vielleicht auch etwas zu alt für die rockige „Mad Max“-Reihe von einst. Dann aber jubelte man in Cannes, bei den Oscars gab es sechs Trophäen bei zehn Nominierungen und das äußerst renommierte National Board of Review kürte „Fury Road“ gar zum besten Film des Jahres 2015.

Dreißig Jahre mussten Fans auf diesen Film warten, und Miller spannt sie nicht lange auf die Folter. Es dauert nur Minuten, da ist der wortkarge Max bereits in die Gefangenschaft eines religiös-faschistischen Kults unter Herrschaft des wahnsinnigen Immortan Joe geraten. Immortan Joe regiert in seiner Felsenfestung über eine der letzten Wasserressourcen, hält sich tödlich verstrahlte Warboys als Sklaven und fruchtbare Frauen als Gebärmaschinen. Bis seine Vollstreckerin Furiosa fünf der anderen Frauen entführt und mit ihnen in einem aufgemotzten Kampflaster in die Wüste flieht. Immortan Joe jagt ihr mit seinem PS-gestärkten Heer voller deformierter Krieger in retrofuturistischen Monstertrucks nach und Max findet sich recht bald – widerwillig – auf Seite der Frauen wieder.

Viel mehr gibt es zur dramaturgischen Klammer nicht zu sagen – eigentlich ist „Fury Road“ damit schon auserzählt. Nach etwa fünfzehn Minuten beginnt die wilde Hetzjagd und sie wird die kommenden zwei Stunden bestenfalls für kurze atmosphärische Ruhepausen unterbrochen. Was einem Plot noch am ähnlichsten kommt ist die amüsante Pointe, dass die Flucht der Helden im dritten Akt eine 180-Grad-Wendung macht und man nicht mehr von A nach B, sondern wieder zurück von B nach A fährt.

Stattdessen bestimmen ab jetzt Explosionen, Frontalzusammenstöße und perkussive Heavy-Metal-Orgien das Geschehen, die nicht nur Teil der Tonspur sind, sondern diegetisch stattfinden: einer der Konvois aus Immortan Joes Kuriositätenzirkus gleicht einem rollenden Boxenturm, trägt vier Trommler hinten und hat auf der Kühlerhaube einen Rockmusiker festgekettet, der die gesamte Verfolgungsjagd mit einer feuerspeienden E-Gitarre begleitet. Dieses eine ikonische Bild fasst die filmische Erfahrung treffend zusammen.

Ein Blockbuster nach B-Film-Regeln also. Millers Ziel ist, sein Biest von Actionfilm zwei Stunden lang auf Höchstgeschwindigkeit zu halten und nur dann zu bremsen, wenn es wirklich nicht anders geht. Eigentlich kehrt er hier zum zweiten Teil der Reihe, zu „Der Vollstrecker“ zurück, nimmt die brillante finale Tanklastzugverfolgung und stilisiert sie zur kinetischen Konzeptkunst. Viele der schier unfassbaren, lebensbedrohlichen Einlagen sind real gedreht. Nur einmal dominieren die Bits and Bytes deutlich, am Ende des ersten Akts, als Max und einige der Warboys mit ihren Karosserien in einen gigantischen Sandsturm geraten.

Die Behauptung, die vielerorts zu hören war und von der Marketing-Abteilung massiv unterstützt wurde, „Fury Road“ käme fast ganz ohne CGI aus (Miller behauptete, 90 Prozent der gedrehten Szenen seien reales Filmmaterial), kann aber entkräftet werden. Von den 2.400 Einstellungen im Film sind fast alle am Computer angefasst worden. In nahezu allen Einstellungen wurde der Himmel ausgetauscht. Ganze Kulissen wie eine mehrfach durchfahrene Schlucht oder die Zitadelle des Immortan Joe sind Computerprodukte. Furiosa, herausragend entschlossen von Charakterdarstellerin Charlize Theron verkörpert, bekam digital über die gesamte Laufzeit einen Arm "amputiert".

Zudem ist die Farbgestaltung stark bearbeitet. Miller verabschiedete sich gezielt vom reellen und haptischen Stil der Vorgänger und setzte auf eine übersättigte, aber auch akzentuierte Farbregie. Die unwirkliche Postapokalypse nähert sich damit aber noch mehr der Optik von Comicheften an, denen die früheren „Mad Max“-Filme in ihrer Erzähllogik stark ähnelten. Tatsächlich lässt sich „Fury Road“ fast als abstraktes Kunstwerk betrachten, in dem nur noch Bewegungsabläufe, Töne und Farbkombinationen eine Rolle spielen. Dialoge gibt es eh kaum, eine Handlung ohnehin nicht. Oliver Kaever schrieb für die Zeit, man wähne sich in einer „Mischung aus überlangem Rammstein-Video und einem Gemälde von Hieronymus Bosch“.

Im Kern ist Miller mit dieser sorgfältig bestimmten Montage schneller Aktionsmomente ganz nah am Kino des Sergei Eisenstein, entfernt sich von den Westernmythen, die bei „Mad Max“ immer mitschwangen, und liefert ein entrückt-barockes Kino der Impressionen. Eine so große (Budget: 150 Millionen Dollar) hemmungslose Spielwiese fernab aller Genereprogrammatik ist eine absolute Ausnahmeerscheinung.

Man darf aber auch anmerken, dass der radikale Verzicht auf das Erzählerische dazu führen kann, sich hier einem leeren Spektakel gegenüber zu sehen. Hat man sich an den Actionabläufen, den grellen Wüstenoberflächen und der bizarren Szenendekorierung einmal satt gesehen – wofür die nicht endende Verfolgungsjagd reichlich Gelegenheit bietet – mangelt es dem filmischen Unterfangen rasch an Fallhöhe. Bei aller handwerklicher Brillanz fällt auf, dass es an einem Mel Gibson fehlt, dessen raues Charisma mehr als nur Behauptung war, dessen Menschlichkeit hinter den starrenden Augen immer durchschimmerte. Tom Hardy erweist sich derweil als Fehlbesetzung, schnauft und grunzt sich durch eine bemerkenswert wirre Darstellung. Der Guardian verspottete ihn treffend als „Macho Mr. Bean“.

Max ist ohnehin nur eine Nebenfigur dieses Films, der sich Furiosa und den Sexsklavinnen verschreibt. Im Vorfeld war bekannt geworden, dass Miller die Autorin der berüchtigten „Vagina-Monologe“, Eve Ensler, als feministische Beraterin und Skriptdoktorin engagiert hatte. Im Internet schäumten die rechten Fans, man wolle „Mad Max“ verweiblichen. Doch der progressive Anstrich, der irgendwo in den Ansätzen der dünnen Geschichte gesteckt haben mag, bleibt unter dem Wüstenstaub verborgen. Über Geschlechterbilder oder patriarchale Herrschaftsstrukturen, sexuelle Ausbeutungen und Machtverhältnisse hat Miller nichts zu erzählen.

Dass die Furiosa-Figur dennoch gut ankam, ist wohl in erster Linie Charlize Theron zu verdanken – womit es etwas kurios anmutet, dass Miller ganze neun Jahre später ausgerechnet diesem Charakter einen eigenen Ableger widmete, sich dort aber entschloss, ihre Vorgeschichte zu erzählen, und Theron so der deutlich jüngeren Anya Taylor-Joy weichen musste.

Die einen störten sich am figürlich und narrativ dünnen Überbau, der große Rest erfreute sich an der monumentalen Materialschlacht. In jedem Fall gelang „Mad Max: Fury Road“ eine seltene Ausnahmeleistung: Als vierter Teil einer kultigen Reihe gelang ihm deren Renaissance nach mehreren Jahrzehnten. Millers Film stach bei Veröffentlichung aus dem gleichförmigen Blockbusterkino der Konkurrenz heraus und begriff Action als formalistisch: sie ist nie psychologisch motiviert oder in der Handlungsentwicklung verhaftet, sondern in ihrer technischen Perfektion ausschließlich Selbstzweck. Mit diesem Fest für Puristen strafte George Miller seine Zweifler Lügen – und sorgte nachhaltig dafür, dass die „Produktionshölle“ für Cineasten keinen verlässlichen Indikator mehr darstellt.

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Giganten am Flughafen

Beitrag von Wallnuss » 05.10.2024, 21:01

Airport

Am 17. Februar 1970 starb mit Alfred Newman einer der einflussreichsten Komponisten in der Geschichte der modernen Filmmusik. Er komponierte nicht nur die Musik für dutzende Klassiker wie „Schlagende Wetter“, „Alles über Eva“ oder „Das war der wilde Westen“, sondern gewann für seine Arbeiten insgesamt neun Oscars, war mehr als zwei Jahrzehnte Chef der Musikgestaltung bei 20th Century Fox, komponierte für dieses Studio die bis heute berühmte Eröffnungsfanfare und ermöglichte anderen legendären Komponisten wie Bernard Herrmann, Alex North oder David Raskin ihre Hollywood-Karriere. Nur zwei Wochen nach Newmans Tod wurde der letzte Film veröffentlicht, für den er die Musik vollständig komponierte. Sie brachte ihm posthum eine weitere Oscar-Nominierung und einen Grammy ein. Die Rede ist von „Airport“.

Es dauert nur wenige Sekunden, bis man Newmans Genie ein letztes Mal zu hören bekommt. Regisseur und Drehbuchautor George Seaton, bekannt für den Weihnachtsklassiker „Das Wunder von Manhattan“, beginnt seinen Film mit diesem titelgebenden „Airport“, den fiktiven Lincoln International Airport in Chicago. Es schneit heftig, also schieben riesige Fahrzeuge den Schnee weg von den Start- und Landebahnen. Dazu laufen die Titeleinblendungen – und es spielt Newmans letzte Ouvertüre. Seine brillante Arbeit überrascht: Die schwunghafte und mitreißende Orchester-Musik, die das Publikum zu hören bekommt, würde man eher in einem episch geratenen Abenteuerfilm erwarten als in einem Figurendrama rund um Angestellte eines Flughafens. Aber damit nimmt Newman in den ersten Minuten schon vorweg, was diesen Klassiker von 1970 auszeichnet.

Die Geschichte basiert auf dem gleichnamigen Roman des britisch-kanadischen Schriftstellers Arthur Hailey, dem damit 1968 ein Welterfolg gelang. Das handlungsauslösende Ereignis seines Plots ist simpel: Mitten in einem Schneesturm bleibt eine Boeing 707 nach der Landung auf besagtem Lincoln International Airport im Schnee stecken und blockiert damit eine ganze Landebahn. Jetzt müssen die Flieger auf eine andere Bahn umgeleitet werden, die bei Nacht wegen den Beschwerden der umliegenden Anwohner eigentlich geschlossen bleiben soll. Flughafendirektor Mel Bakersfeld muss nicht nur diese Probleme lösen, sondern sieht sich auch mit seinem Schwager, dem erfolgreichen Piloten Vernon Demerest, konfrontiert, da dieser die Sicherheit der landenden Flugzeuge nicht länger gewährleistet sieht.

Von dieser Konstellation aus wird „Airport“ zu einem Drama, das aus Sicht verschiedener Figuren diese chaotische Nacht am Flughafen beleuchtet. So hat Bakersfeld nicht nur am Arbeitsplatz Probleme, sondern bekommt auch einen Anruf seiner Ehefrau, die für seine vielen Überstunden kein Verständnis mehr aufbringt. Bakersfelds standfeste Kollegin Tanya Livingstone wiederum hegt selbst Gefühle für ihn, erkennt längst, dass dessen Ehe gescheitert ist, und ist trotzdem drauf und dran, sich nach San Francisco versetzen zu lassen. Demerest erfährt derweil, dass seine heimliche Geliebte, die Stewardess Gwen Meighen, schwanger von ihm ist und in Erwägung zieht, das Kind zu bekommen – was die Ehe des Flugkapitäns beenden würde.

Keine Frage: „Airport“ steht in bester Tradition zum klassischen Hollywood-Melodram. Vor allem der Über-Klassiker „Menschen im Hotel“ von 1932 mit Greta Garbo und John Barrymore kann als direkter Vorläufer angesehen werden. Mit ruhiger Ausführlichkeit folgt Seaton seinen Charakteren durch ihren turbulenten Arbeitsalltag, inszeniert gemäß der damaligen Mode in auffallend vielen Halbtotalen, und filmt konsequent jedes Telefonat zwischen verschiedenen Charakteren in der Split-Screen-Technik, teilt also den Bildschirm in der Mitte, um beide Enden der Leitung zu zeigen.

1970 war eine Zeit, in der das Studiosystem Hollywoods mächtig strauchelte. Genrefilme, die zuvor typische Kassenerfolge waren, floppten. Stattdessen dominierte ein radikaleres Kino abseits abgesteckter Grenzen. Unkonventionelle und riskante Produktionen mit einer klaren Anti-Establishment-Haltung wie „Bonnie & Clyde“, „Die Reifeprüfung“, „Asphalt-Cowboy“ und „Easy Rider“ standen sinnbildend für den neuen Geschmack einer Generation. In diesem Zuge war es keine Selbstverständlichkeit, dass sich Produzent Ross Hunter bei Universal Pictures dazu entschlossen, die schon damals altmodisch angehauchte Romanadaption für 10 Millionen Dollar in Auftrag zu geben, und ein großes Star-Ensemble dafür zu verpflichten.

Die beiden Streithähne Bakersfeld und Demerest wurden mit Burt Lancaster und Dean Martin besetzt – zwei der damals aller größten Filmstars. Als die schwangere Gwen holte man sich die aus „Bullitt“ bekannte Jacqueline Bisset an Bord, und für die resolute PR-Managerin Tanya wurde Jean Seberg verpflichtet. Die hübsche Französin pendelte seit ihrer Rolle im revolutionären Gangsterfilm „Außer Atem“ von Jean-Luc Godard 1960 mit Erfolg zwischen europäischem und US-amerikanischem Kino. Alle vier Weltklasse-Darsteller agieren in „Airport“ auf höchstem Niveau, überzeugen durch ihr zweifellos großes Talent und ihr immenses Charisma. Besonders Lancaster ruft eine Bestleistung seiner Karriere ab, auch wenn er sich später abfällig äußerte. Er hatte den Film nur eines äußerst lukrativen Vertrags wegen angenommen und bezeichnete ihn nach der Veröffentlichung als „den schlimmsten Mist, der je gemacht wurde“.

Während Hailey in der 690 Seiten langen Vorlage die Arbeitsabläufe so detailliert beschrieb, dass Stephen King ihm später vorwarf, er schreibe eigentlich „Betriebsanleitungen“, versteht Seaton seine Protagonisten als die schwer arbeitenden ‚Herrscher des Himmels‘, lässt seine männlichen Helden als die sprichwörtlichen harten Kerle des Industriezeitalters auftreten. In keiner Figur wird das so sichtbar wie beim erfahrenen Cheftechniker Joe Patroni, der die steckengebliebene Boeing von der Landebahn wegschaffen soll. Der begnadete George Kennedy spielt diesen Part mit einer der lässigsten Darbietungen von Hemdsärmeligkeit, die das Kino je gesehen hat. Als er beim Schäferstündchen telefonisch abkommandiert wird, erklärt er seiner Herzensdame flott, er werde die Maschine notfalls auch mit seinen Zähnen aus dem Schnee ziehen.

Einen Großteil der 137 Filmminuten investiert Seatons Meisterwerk in die verschiedenen miteinander verwebten Handlungsbögen und bezieht seinen enormen Spaß vor allem aus einer ganzen Riege illustrer Nebenfiguren. Zu nennen wären da neben Patroni noch Barry Nelson als lässiger Co-Pilot, James Nolan als Ohrfeigen-verteilender Pfarrer und die sensationelle Helen Hayes in der Rolle der Seniorin Ada Quonsett, die es faustdick hinter den Ohren hat. Als permanenter blinder Passagier trickst sie sich von einer Maschine zur anderen. Hayes verkörpert diese gewitzte alte Frau als komödiantischen Nebenpart so großartig, dass sie als Einzige für „Airport“ mit einem Oscar ausgezeichnet wurde.

Doch obwohl das so ist, hat „Airport“ heute einen anderen Ruf: Er gilt als Begründer des Katastrophenfilmgenres der 70er, soll jenen Trend losgetreten haben, der später in „Die Höllenfahrt der Poseidon“, „Flammendes Inferno“, und „Erdbeben“ gipfelte. Das erklärt sich durch eine der Nebenhandlungen – nämlich durch jene, die im Finale alle Figurenstränge zusammenbringt. Verteilt zwischen die anderen Plots ist Van Heflin als verarmter Ex-Sprengstoffexperte der Armee zu sehen, der den Plan hegt, sich während eines Langstreckenfluges mit einer selbstgebastelten Bombe umzubringen, um seiner Frau so eine große Stange Geld über die Lebensversicherung zukommen zu lassen. Diese Frau, unglaublich tragisch von Maureen Stapleton dargestellt, kommt zwar dahinter, doch alle Warnungen sind zu spät. Ihr Mann setzt seinen Plan in die Tat um und natürlich muss kein geringerer als Demerest die Maschine sicher landen.

Dieses mit viel technischem Geschick und hoher Spannung umgesetzte Szenario eines in der Luft aufgesprengten Flugzeugs mag auf ein Publikum im Zeitalter nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in der Darstellung naiv wirken, verfehlte aber damals seine Wirkung nicht. Wenngleich einige Kritiker dem Blockbuster unterstellten, mit seinen Geschichten über Untreue, Eheprobleme und Flughafenpolitik eng verwandt mit der Seifenoper zu sein, löste „Airport“ überwiegend Begeisterung aus. Über Jahrzehnte gaben Piloten an Flugschulen auf der ganzen Welt an, durch diesen Film zu ihrem Berufswunsch gekommen zu sein. Kein Wunder also, dass „Airport“ nicht nur 128 Millionen einspielte und für zehn Oscars nominiert wurde, sondern auch drei Fortsetzungen erhielt, die dem Katastrophengenre dann noch eindeutiger zuzuordnen waren. George Kennedy war als Patroni übrigens der einzige Darsteller, der für alle weiteren Teile zurückkehrte.

Aber es ist das Original, das zum großen Klassiker wurde: Die Spezialeffekte sind erstklassig, die Besetzung exzellent, die Dialoge spritzig-gewitzt, die verschiedenen Geschichten erstaunlich offenherzig in Bezug auf Sexualpolitik – oszillieren sie doch zwischen Ehebruch, Abtreibung und Scheidung. Doch die Kirsche auf der Torte bleibt die Musik von Alfred Newman, die wie der ideale Deckel auf diesen Topf passt. Der Großmeister verstand es perfekt, mit seinen ausgetüftelten Melodien sowohl den Figurendramen als auch dem Spektakel im letzten Drittel die gleiche Bedeutung beizumessen.

Genau diese Gleichwertigkeit der Erzählbausteine zeichnet „Airport“ aus, diesen Katastrophenfilm, in dem die Katastrophe erst nach 100 Minuten eintritt. Spätere Filme dieses Genres würden ihre Charaktere mit nachlässigeren, breiteren Strichen zeichnen, um schneller zu den Explosionen und dem Geschrei zu kommen, doch dieser wusste genau, dass es viel befriedigender ist, Dominosteine umzuwerfen, je mehr Zeit man damit verbringt, sie aufzustellen.

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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von gelini71 » 06.10.2024, 12:19

Während Hailey in der 800 Seiten langen Vorlage
Keine Ahnung auf welche Buchausgabe Du dich beziehst aber meine Deutsche Taschenbuchausgabe aus dem Ulstein Verlag hat lediglich 480 Seiten und ist meines Wissens nach ungekürzt
Ich mache keine Rechtschreibfehler, ich gebe Wörtern lediglich eine individuelle Note

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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von Wallnuss » 06.10.2024, 13:54

700 Seiten wäre richtig gewesen, da habe ich mich vertippt. Meine Ausgabe kommt auf knapp 690 Seiten und ist ein Ullstein Taschenbuch. :)

Viel unverzeihlicher ist aber, dass ich konsequent den Namen der Hauptfigur falsch geschrieben habe. Ich korrigiere beides Mal!

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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von gelini71 » 06.10.2024, 15:41

Das mit der unterschiedlichen Seitenzahl kann ja auch mit der Druckgröße der Buchstaben zusammenhängen, mein Taschenbuch ist relativ klein gedruckt. Aber wie gesagt - 800 Seiten sind etwas zuviel des Guten, außer es ist Großdruck für Sehbehinderte :wink:
Ich mache keine Rechtschreibfehler, ich gebe Wörtern lediglich eine individuelle Note

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Über den Wolken muss der Schaden wohl grenzenlos sein

Beitrag von Wallnuss » 15.10.2024, 15:00

Giganten am Himmel

Was die Realität umtreibt, spiegelt sich im Kino wider: Die Angst im Kalten Krieg vor einem nuklearen Holocaust führte im US-Kino der 50er und 60er so zu einer Welle an Sci-Fi-Filmen, in denen Außerirdische oder durch nukleare Strahlung mutierte Echsen und andere Insekten als Vorboten für das Ende der Welt standen. 1968, der Vietnamkriege hatte viele urtypisch amerikanische Ideale bröckeln lassen, erreichte diese pessimistische Untergangsstimmung das teure Massenkino, und der heutige Klassiker „Planet der Affen“ endete mit der bösen Pointe, dass es sich bei dem titelgebenden Himmelskörper um die Erde handelte, die bei einem Atomkrieg vernichtet wurde. Regisseur Franklin J. Schaffner zeigte am Schluss die zerstörte Freiheitsstatue. Hauptdarsteller Charlton Heston verfluchte auf der Tonspur die gesamte Menschheit.

„Planet der Affen“ nahm vorweg, was in der ersten Hälfte der 70er zum Trend im Blockbuster-Kino werden sollte: den Katastrophenfilm. Vor dem Hintergrund der Morde von Charles Manson und dem Ende der idealistischen Hippie-Kultur sowie den Skandalen der Watergate-Affäre rund um Präsident Richard Nixon hatte das Vertrauen in traditionelle Institutionen und staatliche Autoritäten schwer gelitten. Zu sehen gab es daher buchstäbliche Desaster, ausgelöst durch Systemversagen oder Naturgewalten, und eine Riege an bekannten Stars in verschiedenen Parallelhandlungen, die durch diese große Katastrophe vereint wurden und teils heldenhafte Tode sterben, um Schlimmeres zu verhindern.

Vorgemacht hat es 1970 der zehnfach oscarnominierte „Airport“ von George Seaton. Ein waschechter Starauflauf verschiedener Generationen, darunter Burt Lancaster, Helen Hayes, Jean Seberg und Dean Martin, musste trotz vieler Krisen und Differenzen zusammenarbeiten, als ein Mann in einem Passagierflugzeug eine Bombe zündete und die Maschine daher auf einer verschneiten Landebahn notlanden musste. Des großen Erfolgs wegen beeilte sich Hollywood, schnell mehr Filme nach diesem Muster zu drehen. Zwei Jahre später war „Die Höllenfahrt der Poseidon“, in dem sich Gene Hackman, Ernest Borgnine und Shelley Winters auf einem umgekippten Luxusdampfer retten mussten, ein riesiger Erfolg.

Als Katastrophenjahr ging aber 1974 in die Filmgeschichte ein. Gleich vier große Klassiker des Genres entstanden in diesem Jahr und ließen Kinokassen klingeln: Auf einem Kreuzfahrtschiff blieben Richard Harris, Omar Sharif und Anthony Hopkins nur „18 Stunden bis zur Ewigkeit“ und während Steve McQueen und Paul Newman in „Flammendes Inferno“ einen brennenden Wolkenkratzer überstehen mussten, stellten sich „Planet der Affen“-Star Charlton Heston und „Airport“-Legende George Kennedy gleich zwei Desastern. Nachdem sie nämlich in Los Angeles mit einem verhängnisvollen „Erdbeben“ konfrontiert wurden, waren sie die Stars der ersten von drei „Airport“-Fortsetzungen, bzw. wie der deutsche Titel sie taufte: „Giganten am Himmel“.

War das Original noch eine Blaupause für das Genre und funktionierte vor allem als Charakterdrama (die Katastrophe in Form der Bombenexplosion ließ ganze 100 Minuten auf sich warten), ist das günstigere Sequel (nur noch 3 statt 10 Millionen US-Dollar) ein klassischer Vertreter seiner Zunft. Flott führt der spätere „Schlacht um Midway“-Regisseur Jack Smight seine vielen Figuren ein, die sich an Bord einer Boeing 747 einfinden. Myrna Loy, die Grande Dame aus „Der große Ziegfeld“, zieht unentwegt am Flachmann und tankt weit mehr als ein Flugzeug laden könnte. Drei weitere Säufer sind an Bord, einer von ihnen, gespielt vom späteren „King of Queens“-Komiker Jerry Stiller, soll den Unglücksflug verschlafen.

Nicht zum Schlafen kommt die kleine Linda Blair, die dringend per Flieger nach Los Angeles gebracht werden soll, um dort eine lebensnotwendige Nierentransplantation zu erhalten. Wie ein Jahr zuvor, als Blair noch in „Der Exorzist“ vom Dämon Pazuzu besessen wurde, erhält sie auch im zweiten „Airport“ göttlichen Beistand, denn Frauenrechtsaktivistin Helen Reddy ist an Bord und spielt eine freundliche Nonne, die sich mal flugs zu dem kleinen Mädel gesellt, sich ihre Gitarre schnappt und ein Lied darüber trällert, dass ihr bester Freund sie selbst ist. Eine Szene, so bizarr, launig und komisch, dass sie sechs Jahre später in „Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug“ parodiert wurde, aber selbst da kaum lustiger ausfällt.

Ach ja, Stummfilm-Ikone und „Boulevard der Dämmerung“-Star Gloria Swanson ist auch an Bord. Nicht in irgendeiner Rolle. Nein, sie tritt als Gloria Swanson auf, die unentwegt von ihren Erlebnissen mit „Die zehn Gebote“-Regisseur Cecil B. DeMille palavert und an ihrer Biografie arbeitet. Es war ihr erster Film seit 22 Jahren und blieb der letzte Auftritt ihrer Karriere.

All diese Stars so herrlich selbstironisch zu sehen, ist schon ein Spaß für sich. Dies geht so weit, dass sogar die Katastrophe selbst mit einem Meta-Gag verbunden ist: Ein vermögender Geschäftsmann, gespielt vom 40er-Jahre-Megastar Dana Andrews, erleidet beim Flug mit seiner Privatmaschine einen Herzanfall und kracht in das Cockpit der Boeing 747, was den von Broadway-Legende Efrem Zimbalist Jr. gespielten Piloten schwer verletzt und den Rest der Cockpit-Besatzung tötet.

Die Idee zu diesem Aufhänger hatten sich die Macher beim 1960 erschienenen Thriller „SOS für Flug T 17“ abgeguckt. Dort krachte ein Düsenjet in eine Passagiermaschine. Und schon damals spielten Andrews und Zimbalist Jr. mit – aber in vertauschten Rollen. Zimbalist Jr. war der Pilot, der seinen Jet in Andrews Cockpit donnerte. Dem kleinen Flugzeug, das im Film mit der 747 kollidierte, eine Beechcraft Baron mit der Hecknummer N9750Y, ereilte im August 1989 tatsächlich ein solches Schicksal: Es wurde über Tracy, Kalifornien, bei einer Kollision mit einer Cessna 180 zerstört.

Ab hier zeigt „Giganten am Himmel“ seine Qualitäten als großes und in seinen 107 Minuten sehr temporeiches Actionfilm-Vergnügen. Im Zuge des Unfalls muss nämlich eine Stewardess die Maschine quer durch die Wasatchkette der Rocky Mountains steuern und sich mithilfe von Funk-Anweisungen mit den Gerätschaften des demolierten Cockpits vertraut machen. „Five Easy Peaces“-Schnuckel Karen Black spielt diese unfreiwillige Pilotin famos, ihre Überforderung und Hilflosigkeit ist geradezu greifbar. Die Spezialeffekte sind wie beim Vorgänger für die damalige Zeit besonders gelungen ausgetüftelt und erzeugen nicht selten glaubhaft die Immersion eines demolierten Flugzeugs in luftiger Höhe. Manches wurde mit einer echten 747 gedreht, die man für 30.000 Dollar pro Drehtag von der Fluggesellschaft American Airlines ausgeliehen hatte.

Besonders aufregend wird es aber natürlich, als schließlich die eigentlichen Giganten den Himmel erreichen. George Kennedy spielt erneut den aus „Airport“ bekannten hemdsärmeligen Joe Patroni, der damals noch Mechaniker war und jetzt zum Vizepräsidenten einer Fluglinie avanciert ist. Mit Politik hält er sich aber nicht lange auf, schließlich sind Frau und Brut in der gefährdeten Maschine. Also wird von ihm Charlton Heston alias Fluglehrer Al Murdoch – der passenderweise eine Liaison mit Allens Stewardess hat – hinzugerufen, um in der Luft durch das Loch im Cockpit in die „Red-Eye“ genannte Boeing umzusteigen und den Adler sicher zu landen. Genauso kommt es dann auch und die Stuntarbeit in dieser ganz besonders mitreißenden Szene verdient höchstes Lob und beschert Smights Film gar traumhafte Aufnahmen.

Fairerweise: Mit dem eher seriösen „Airport“ hat diese Fortsetzung dann abseits von Kennedys erneutem Mitwirken nur herzlich wenig zu tun und das nicht bloß, weil Teil zwei kaum an einem Flughafen spielt. Wurde im originalen Klassiker noch in empathischen Dialogzeilen über Scheidungen, Affären und Abtreibungen verhandelt und war das Abwenden des drohenden Flugzeugabsturzes da noch vor allem durch das Zusammenarbeiten verschiedenster Kräfte mit einer gewaltigen emotionalen Katharsis verbunden, lässt Smight diese Sentimentalitäten beiseite und feiert eher den maskulin-herben Charme seiner beiden Hauptdarsteller ab.

Die vielen absurden, karikaturistisch-schrillen Passagiers-Nebenfiguren fungieren hauptsächlich als ironisierte Farbtupfer. Ihre Szenen sind nicht mehr melodramatisch angehaucht, sondern wissen um ihre gar drollige Überdrehtheit. Kritiker schimpften die exzentrische Fortsetzung wohl auch deshalb „albern“ und „lächerlich“, kritisierten ein „fragwürdiges Idealbild des rettenden Helden“. Pulitzer-Preisträger Roger Ebert hingegen lobte die „Giganten am Himmel“ und sah darin „guten, spannenden, trivialen Eskapismus“. Damit war er auf der Seite des Publikums: Allein in den USA wurden 47 Millionen Dollar eingenommen, weltweit kamen über 100 Millionen zusammen.

Auf Nixons Präsidentschaft folgte 1974 im Zuge seines Rücktritts die Amtszeit von Gerald Ford, den drei Jahre später Jimmy Carter beerbte. Der Vietnamkrieg endete. Das Massenpublikum verlor mehr und mehr die Lust an spektakulären Untergangsdarstellungen, das Katastrophengenre hatte seinen Zenit überschritten. Zwar wurden später in Hollywood noch „Die Hindenburg“ (1975) und eine „Achterbahn“ (1977) zerstört, man ließ einen „Meteor“ (1979) vom Himmel fallen, zeigte ein „U-Boot in Not“ (1978) und die „Airport“-Reihe ging „Verschollen im Bermuda-Dreieck“ (1977) und zerdepperte in „Die Concorde“ (1979) einen besonders spektakulären Flieger, doch der ganz große Klassiker war nicht mehr dabei. Logisch, denn was soll schon noch groß folgen, hat man bereits den Giganten am Himmel auserkoren.

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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von Cinefreak » 16.10.2024, 19:07

@Wallnuss
Giganten am Himmel hab ich tatsächlich schon einige Male gesehen, der hat schon deutliche Schwächen, ist aber nicht der schlechteste seiner Art meiner Meinung nach. Man muss da ja auch immer die Entstehungszeit sehen. ;)

Hatte euch übrigens vor langer Zeit mal bei insta angeschrieben, ob ihr mich mal als Gast im Podcast haben wollt, vielleicht ging es ja unter ;)
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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von Wallnuss » 30.10.2024, 17:22

Cinefreak hat geschrieben:
16.10.2024, 19:07
Hatte euch übrigens vor langer Zeit mal bei insta angeschrieben, ob ihr mich mal als Gast im Podcast haben wollt, vielleicht ging es ja unter ;)
Ja, das ging in der Tat unter!
Ich schreib dir hier mal eine PN!

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(K)Eine Bruchlandung

Beitrag von Wallnuss » 01.11.2024, 16:15

Verschollen im Bermuda-Dreieck

Bei wenigen Schauspielern ist das Wort „Legende“ so angebracht wie bei Christopher Lee. Und das nicht nur, weil er knapp sieben Jahrzehnte lang aktiv war und in über 285 Filmen mitwirkte, darunter zumeist als Bösewicht: vor allem in seinen mehrfachen Auftritten als „Dracula“ wurde er berühmt! Lee lebte auch abseits der Leinwand ein so hoch interessantes Leben, das es ihm nicht gerecht würde, bezeichnete man ihn „nur“ als eines von Hollywoods größten Talenten, wenngleich dies bei seiner Körpergröße von 1,96 Metern eine hübsche Doppeldeutigkeit hätte.

Er war adeliger Abstammung, seine Mutter eine Gräfin aus dem Adelsgeschlecht Carandiri. 1939 wurde er Augenzeuge der letzten öffentlichen Hinrichtung durch eine Guillotine auf dem europäischen Kontinent. Im Zweiten Weltkrieg spionierte er für den OSS, zusammen mit seinem Großcousin Ian Fleming, dessen literarische Schöpfung James Bond in Teilen auf Lee basiert. Er sprach zahlreiche Sprachen, hatte sie autodidaktisch erlernt. Er konnte fließend Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Spanisch und Swahili. Auch Deutsch beherrschte er, hatte er doch in einigen Edgar-Wallace-Verfilmungen wie „Das Rätsel der roten Orchidee“ mitgespielt, und später seinen Part im Zeichentrickklassiker „Das letzte Einhorn“ selbst nochmal für die deutsche Synchronfassung eingesprochen.

1977 erhielt er von der US-Stuntmen-Association deren höchste Auszeichnung, eine bronzene Gürtelschnalle, als er bei einem seiner eigenen Stunts fast zu Tode gekommen wäre – am Set des Katastrophenfilm-Blockbusters „Verschollen im Bermuda-Dreieck“. In diesem war Christopher Lee nur einer von vielen. Bei dem Actionabenteuer von Regisseur Jerry Jameson handelte es sich schließlich um den dritten Teil der „Airport“-Filmreihe, die sich in den Vorgängern bereits durch große Star-Ensembles ausgezeichnet hatte. Das Prinzip war simpel: es brauchte eine Katastrophe in Verbindung mit einem Flugzeug, an dessen Bord sich so ziemlich alles versammelte, was in Hollywood Rang und Namen hatte.

Das „Airport“-Original hatte 1970 eine Trendwelle an Nachahmern ausgelöst, die erste Fortsetzung „Giganten am Himmel“ verankerte sich in der Popkultur. Für „Verschollen im Bermuda-Dreieck“ sollten die vorherigen Spektakel getoppt werden. Statt wie zuvor Flugzeugabstürze zu verhindern, stürzte eine luxuriöse Boeing 747 dieses Mal tatsächlich ab. Es handelt sich um den Privatjumbo eines steinreichen Philanthropen, der auf diesem Weg Bekannte und Verwandte nach Florida fliegen will und gleich die Gelegenheit nutzt, noch einen Haufen an Kunstgegenständen einzufliegen. Dumm nur, dass sich ein paar Gangster in die Maschine schmuggeln, mittels eines Spezialgases alle außer Gefecht setzen und die Maschine kapern. Noch dümmer, dass die Ganoven mitten über dem Bermuda-Dreieck einen Ölbohrturm streifen, und die Maschine somit mitten auf dem Ozean landet und sofort versinkt. Richtig dumm, dass bis auf einen von ihnen alle Schurken bei dem Manöver draufgehen.

Die cineastische Prominenz ist somit im Schlund der Meere gefangen, darunter die aus „Asphalt-Cowboy“ bekannte Brenda Vaccaro, „Ich hab‘ dir nie einen Rosengarten versprochen“-Sweetheart Kathleen Quinlan sowie zwei großen Hollywood-Ikonen: „Citizen Kane“-Hauptdarsteller Joseph Cotten und „Vom Winde verweht“-Star Olivia de Havilland geben sich die Ehre und scharmützeln ein wenig miteinander. Gefordert werden sie nicht. Die Stars sind für die „Airport“-Filme an diesem Punkt ganz zum Selbstzweck geworden. Exemplarisch zeigt sich das an einer Szene, in welcher der blinde Schmusesänger Tom Sullivan selbstironisch die Ballade „Beauty is in the Eyes of the Beholder“ schmettert: eine Sequenz, die nur dadurch motiviert zu sein scheint, dass mit „Die Höllenfahrt der Poseidon“ und „Flammendes Inferno“ nur wenige Jahre zuvor gleich zwei Katastrophenfilme einen Oscar in der Kategorie Bester Song gewinnen konnten. Sullivan gibt nach dieser Gesangsszene dann auch schnell den Löffel ab, für mehr wird er nicht gebraucht.

In der Hauptrolle des heldenhaften Piloten Don Gallagher wurde „Manche mögen‘s heiß“-Komiker Jack Lemmon besetzt; eine angesichts seiner Physis denkbar ungewöhnliche Wahl für einen Actionfilm. Zudem wird an Land ein paar Mal der besorgte Millionär gezeigt, gespielt vom großartigen James Stewart. Wer aber Leistungen wie in Alfred Hitchcocks Meisterwerken „Das Fenster zum Hof“ oder „Vertigo“ erwartet, wird enttäuscht: Stewart durfte wenig mehr vorführen als den Umstand, wie alt er mittlerweile geworden war.

Für Zunder im Ensemble sorgen dann eben nur Christopher Lee und die aus „Shampoo“ bekannte Oscar-Preisträgerin Lee Grant als seine betrügerische Alkoholiker-Ehefrau. Grant hat sichtlich Spaß dabei, Gift und Galle in alle Richtungen zu spucken. Eine Szene, in der sie panisch unter Wasser die Flugzeugtür öffnen will, und dafür unsanft ins Land der Träume geboxt wird, soll bei Kinovorführungen frenetischen Applaus ausgelöst haben. Lee bleibt lange im Hintergrund, ehe sich seine unaufgeregte Figur als erfahrener Sporttaucher offenbart und Gallagher bei einem verzweifelten Rettungsplan helfen soll.

Zwar inszeniert TV-Veteran Jameson seinen Film durchaus kompetent, setzt auf ordentliche Spezialeffekte bei der Notwasserung und bekommt die klaustrophobische Stimmung an Bord des untergegangenen Fliegers souverän eingefangen, doch es fehlt sowohl am locker-leichten Spaß-Faktor der „Giganten am Himmel“ sowie an den psychologisch ausgefeilten Charakterporträts des ersten „Airport“-Films. Stattdessen bleiben die meisten Figuren flach gezeichnet, und ist der Flieger erstmal unter Wasser, beschränken sich Spannungsmomente die meiste Zeit auf ein paar knarzende Geräusche und besorgte Blicke. Mit der Fluchtaktion im zweiten Teil nimmt das Spektakel aber merklich an Fahrt auf. Dass der untrainierte Mittfünfziger Lee als angeblicher Sporttaucher keinen Deut glaubwürdig ist, macht angesichts dessen, dass der Film parallel auch Jack Lemmon als harten Kerl verkaufen will, kaum einen Unterschied.

Beide wollen sich in einer Kammer einschließen und diese fluten, um danach an die Wasseroberfläche zu gelangen. Der Ausgang dieser Szene gehört zum bizarrsten, was das Genre zu bieten hat: Minutenlang durfte Lee über seiner Taucherfähigkeiten lamentieren, nur damit seine Figur auf der Stelle verstirbt, als ihm bei der Kabinenflutung die Tür gegen den Kopf knallt. So kam es immerhin zum beinahe tödlichen Stunt: Die Passagiere schauen aus ihren Fenstern, als plötzlich der tote Taucher vorbeitreibt. Lee drehte die Passage selbst, ohne Atemgerät, und hielt für die Aufnahme so lange durch, dass ihm die Luft ausging. Der Einsatz hat sich gelohnt, denn es ist genau dieser Moment des Schreckens, den „Verschollen im Bermuda-Dreieck“ gebraucht hat, um neue Energie zu erhalten.

Lemmons Gallagher schafft es nämlich an die Oberfläche und kontaktiert die Marine. Die leiten eine große Aktion der Marine ein, bei der das Flugzeug durch Luftkissen angehoben werden soll. Was hier an Schiffen und Tauchern aufgefahren wird, ist angesichts des Budgets von 6 Millionen Dollar wirklich beachtlich und das minutiöse Durchführen der riskanten Unterwasser-Aktion an der beschädigten Boeing liefert nachträglich die erhofften Spannungsmomente. Der Mix aus echten Marine-Geräten und Modell-Tricks bestand den Test der Zeit.

„Verschollen im Bermuda-Dreieck“ wurde ein recht ansehnlicher Erfolg, wenngleich sich das finanzielle Level der ersten Teile sowie deren filmische Qualität nicht mehr ganz erreichen ließ. TV-Routinier Jameson verzichtete auf die Macho-Helden der Vorgänger, dort noch hemdsärmelig von Burt Lancaster, Dean Martin oder Charlton Heston gespielt. Passenderweise hat George Kennedy in seiner Paraderolle als Flugzeug-Experte Joe Patroni als einziger Rückkehrer aus den vorherigen Filmen nur noch einen Gastauftritt, ist bloß für 91 Sekunden zu sehen.

Jameson fokussierte lieber das Spektakel, die Anziehungskraft der Attraktionen, erschuf einen filmgewordenen Rummelplatz. Es war daher nur folgerichtig, dass in den Universal Studios Hollywood kurz nach Kinostart eine eigene Themenpark-Attraktion zum Film veröffentlicht wurde. Dort konnten Tourbesucher in nachgebauten Sets die Charaktere von der großen Leinwand nachäffen und ihren eigenen Film“ drehen lassen. Die ganze Attraktion war ziemlich gewaltig, beinhaltete mehrere Wasserbecken. Selten konnte sich der normale Fan so sehr wie ein Hollywood-Star fühlen.

Für die „Airport“-Reihe war der Ausflug ins Bermuda-Dreieck ein letztes Aufbäumen, ehe der letzte Teil „Airport ‘80 – Die Concorde“ dann 1979 in Trash-Gefilden wilderte. Jerry Jameson tauschte 1980 ein untergegangenes Flugzeug gegen ein gesunkenes Schiff und drehte den Edel-Flop „Hebt die Titanic“. Jack Lemmon äußerte mehrfach, er hätte es trotz seiner charismatischen Performance bereut, sich als Actionheld versucht zu haben. Und Christopher Lee? Der wischte sich nach der kleinen Nahtod-Erfahrung am Set den Mund ab und lebte sein erstaunliches Leben weiter, hatte im hohen Alter noch ikonische Auftritte als Lichtschwert-schwingender Count Dooku in den „Star Wars“-Prequels oder als betrügerischer Zauberer Saruman in den Mittelerde-Filmen des „Der Herr der Ringe“-Kosmos, wurde 2009 zum Ritter geschlagen und nahm mit über 90 Jahren noch ein eigenes Heavy-Metal-Album auf.

Am 7. Juni 2015 starb er im Alter von 93 Jahren und hinterließ ein gewaltiges Vermächtnis. „Verschollen im Bermuda-Dreieck“ mag davon nur ein sehr kleiner Teil sein, doch dient er als Beweis dafür, dass sich überall in Lees Lebenswerk denkwürdige Passagen und Leistungen finden.

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