Filmtagebuch: Wallnuss

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Wallnuss
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The Sound of Silence

Beitrag von Wallnuss » 26.04.2018, 10:20

A Quiet Place

In seiner rohen Essenz ist das Kino als Kunstform ein ausschließlich visuelles Medium. Als der narrative Film in seinen Anfängen war, unterschied ihn gerade das vom etablierteren Theater. Während dort der Blick des Publikums starr nach vorne auf eine unbewegliche Bühne gerichtet ist, in der Darsteller und Kulisse operieren, ist beim Film das Auge des Zuschauers lenkbar. Die Montagetechnik erlaubt es dem Regisseur, den Fokus ganz eigenmächtig zu bestimmen. So können komplexe Emotionen ganz ohne Ton über das reine Filmhandwerk erzeugt werden. "A Quiet Place" von John Krasinski kann mit diesem Gedanken im Hinterkopf glatt als Rückkehr zu den Ursprüngen des Mediums gesehen werden. Der Thriller bemächtigt sich eines gar avantgardistischen Tons: Die meiste Zeit herrscht Stille. Popcorn- und Nacho-Konsumenten müssen hier leider draußen bleiben.

Das Konzept ist denkbar einfach und funktioniert ohne große Erklärungen: In einer dystopischen Welt haben blinde außerirdische Wesen weite Teile der menschlichen Zivilisation ausgelöscht. Die übrigen Überlebenden müssen nur auf eine Sache achten, um nicht ebenfalls blitzschnell von den überdimensionalen Wesen eliminiert zu werden: Sie dürfen kein Geräusch machen. Die Biester können einen Menschen zwar nicht wittern, reagieren aber allergisch auf jede Form von Ton. Mit dieser Prämisse setzt Krasinski ein Zeichen im allgegenwärtigen akustischen Overkill des modernen Blockbuster-Kinos aus dem Jahre 2018 und erzeugt maximale filmische Immersion durch Reduktion der technischen Mittel. Mit der rein auf die Bildarbeit konzentrierten Komposition knüpft er reizvoll an die Urinstinkte der menschlichen Natur an: Wäre es die normale Reaktion im Augenblick der Gefahr, schlagartig die Flucht zu ergreifen, müssen die Protagonisten hier ihre Reflexe unterdrücken und erstarrt verharren, in der stillen Hoffnung, die Monster mögen einfach an ihnen vorbeiziehen. Das Sounddesign des Films ist schlicht meisterhaft: Jedes noch so kleine Geräusch geht durch Mark und Bein, und einer der größten Schockeffekte ist daher ein Moment, als von einer ruhigen Wanderung zu einem reißenden Bach geschnitten wird. Die Atmosphäre dieser aural leblosen Welt ist ungebrochen und absolut präzise konstruiert. Krasinskis Regie spielt so auch mit dem Zuschauer, der sich selbst dazu ermahnen muss, das Spiel um die Stille mitzuspielen, da jedes Nebengeräusch den Effekt beschädigen würde. Fantastisch, wie leicht man noch im 21. Jahrhundert ohne großen Aufwand das Kinopublikum in das eigene Film-Konzept einbinden kann.

Weshalb "A Quiet Place" wirklich sehenswert gerät, ist darin begründet, dass Krasinski sein Konzept nicht verwässert, sondern auch inhaltlich durchzieht. Ohne erklärende Elemente wie einen Voice-over-Kommentare oder Rückblenden in die Zeit vor der Alien-Invasion gerät sein World Building nur über die Kamera. In vielen bemerkenswerten Details zeichnet er eine stimmige geräuschlose Umgebung, die einen selbst darüber reflektieren lässt, wie vielen Geräuschen man im Alltag ausgesetzt ist, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Faszinierend fällt das deshalb aus, weil ein Plot als solcher nicht existiert und sich die Erzählung als unglamourös und nicht global entpuppt. Im Mittelpunkt steht lediglich das alltägliche Überleben einer typischen US-amerikanischen Familie, die mit Mann, Frau, Tochter und Sohn auf einer Farm ihr trostloses Dasein fristen, wobei Krasinski und Gattin Emily Blunt gleich selbst die Hauptrollen bekleiden. Eine kluge Entscheidung, denn besonders Blunt ist grandios darin, all ihre Emotionen und charakterlichen Nuancen nur über die Mimik und den spärlichen Einsatz von (untertitelter) Zeichenspache auszudrücken. Besondere Brisanz kriegt diese Familienkonstellation einerseits durch die Schwangerschaft von Blunts Figur wie durch die Tatsache, dass die Tochter des Paares gehörlos ist (gespielt von der tatsächlich gehörlosen Millicent Simmonds). Doch bis auf wenige dramaturgische Zuspitzungen bleibt "A Quiet Place" erfreulich unprätentiös und versteht sich ganz als verheißungsvoller 90-minütiger Survival-Trip.

Die große Freude, die hier ein Kinobesuch mit sich bringt, ist das Gemeinschaftsempfinden beim gemeinsamen Schweigen, welches dazu zwingt, auf jedes akustische und visuelle Detail genau zu achten. Zum Glück ist das durchaus lohnend, da so einige tolle Ideen beobachtet werden können wie Monopoly-Spielfiguren aus Watte oder essbare Teller, die nicht zerbrechen können und außerdem nicht abgewaschen werden müssen. Natürlich geraten einige Spannungsmomente im letzten Drittel, die eine (in diesem Szenario undenkbare) Klimax suggerieren, etwas plakativer, doch auf Horrorfilm-Effekte wie Jumpscares verzichtet die Regie, da solche das Ambiente nur ad absurdum führen würden. Wenn es zum Knall kommt, dann folgen darauf stets unmittelbare und sehr bittere Konsequenzen. Einzig der Soundtrack von Marco Beltrami darf als extradiegetisches Mittel auch dann tönen, wenn Stille vorherrschend ist und weiß dennoch auch gerade damit gekonnt für Verunsicherung zu sorgen. Im Rahmen der nachdenklichen Ruhe gelingt so eine erfreuliche Annäherung an menschliche Triebe. Besonders deutlich wird das in einem der wenigen Dialoge, als Blunt und Krasinski sich in einem unterirdischen Raum verstecken. Blunt betont, dass die beiden egal was passiert ihre Kinder beschützen müssten. Was wären sie für Eltern, wenn sie das nicht könnten? Die Welt um sie herum mag untergegangen sein, doch in Extremsituationen rückt der Mensch gerade deswegen eng zusammen. Eine angenehm existenzialistische Note, die auch nach dem Ende noch nachhallt.

Fazit: Mit "A Quite Place" findet John Krasinski den idealen Mittelweg zwischen Genre-Thrill und Experimentalfilm und erreicht eine spannende cineastische Auseinandersetzung mit der Urgewalt des Kinos. Die innovative Idee funktioniert erfreulicherweise ganz ohne breite Erklärungen, ohne sich nur für diese eine Filmerzählung konstruiert anzufühlen. Man ist sich sicher, dass es Erklärungen für die Offenheiten des Filmuniversums gibt, sie können nur dank der tödlichen Kreaturen nicht ausgesprochen werden. Ein gemeinsamer Kinobesuch kann hier angesichts des gemeinsamen Ausgesetztseins rasch zur eigenwilligen Erfahrung werden. Es bleibt, sich mehr solcher kreativen Ideen für das Kino zu wünschen - und abzuwarten, ob "A Quiet Place" der üblichen Hollywood-Logik folgend zum Franchise aufgebaut und sein Konzept als Saga ausgeschlachtet und verwässert wird. Potenzieller Sequel-Titel: "A Not So Quiet Place Anymore".

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Re: The Sound of Silence

Beitrag von StS » 26.04.2018, 10:45

Hatte dem auch 8/10 gegeben.
Wallnuss hat geschrieben:Es bleibt, sich mehr solcher kreativen Ideen für das Kino zu wünschen - und abzuwarten, ob "A Quiet Place" der üblichen Hollywood-Logik folgend zum Franchise aufgebaut und sein Konzept als Saga ausgeschlachtet und verwässert wird. Potenzieller Sequel-Titel: "A Not So Quiet Place Anymore".
Jo ;)
'A Quiet Place' Sequel Moving Ahead at Paramount

Paramount is moving ahead with a sequel to A Quiet Place, the hit horror film that has earned more than $213 million at the worldwide box office to date, including $134.8 million in North America.
(...)
A Quiet Place was a much-needed success for Paramount, which has endured a tough run at the box office for more than a year. It is the first film that went into production after Gianopulos — who formerly ran Fox — arrived at the studio.
(...)
"If you told me five years ago that an almost silent film starring the very funny guy Jim from The Office would have been a hit at Paramount, I would have said, 'Well, I should go work at Paramount,'" Gianopulos told the crowd.
(...)
A Quiet Place cost $17 million to make, meaning it will be hugely profitable. The film has defied box-office expectations, even overtaking the big-budget Dwayne Johnson pic Rampage last weekend to come in No. 1 in its third weekend (it opened at No. 1, while coming in No. 2 behind Rampage in its second outing). Platinum Dunes' Andrew Form and Brad Fuller produced.

(HollywoodReporter.com)

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Angeschnauzt: Da wird der Hund auf der Insel verrückt!

Beitrag von Wallnuss » 02.05.2018, 11:02

Isle of Dogs

Zumindest einen Vorwurf kann man dem neuen Film von Wes Anderson, der in Stop-Motion-Animationen eine knuffige Abenteuergeschichte aus der Tierwelt erzählt, machen: Katzen könnten sich ganz schön beleidigt fühlen, so stereotyp und bösartig wie sie hier dargestellt werden. Nicht umsonst hat Anderson seinen Film "Isle of Dogs" genannt, was phonetisch wie "I love Dogs" klingt. Der beste Freund des Menschen steht hier im Mittelpunkt, doch eigentlich will "Isle of Dogs" auch etwas über seine Herrchen erzählen. Man könnte ihn beinahe als politischen Kinderfilm einstufen, sehr wohl aber als Fabel, in der der Regisseur mit seiner Vorliebe für Symmetrie der Intoleranz den Krieg erklärt. Ein kleiner Schritt für einen Filmmacher, aber ein großer Schritt für die Vierbeiner?

Bevor man etwas über die Geschichte des Films erzählt, muss man direkt eine wichtige Empfehlung ausschrieben: Wer komplexe Stop-Motion-Animationen liebt und ein Faible für detailreich gestaltete Filmwelten hat, ist bei "Isle of Dogs" genau richtig. Das dystopische Japan, die unterschiedlichen Hunderassen, die fantastischen Kostüme der Menschen oder die grandiosen Landschaften, die durch Tsunamis und andere Naturkatastrophen gezeichnet sind: Derart präzises, fantasiehaftes World Building hat in diesem Metier so noch keiner betrieben. Anderson gelingt nicht weniger als ein logistisches Meisterwerk voller Ehrfurcht, aber auch selbstironischer Annäherung an die japanische Kultur und seine filmischen Vorbilder. Insbesondere Akira Kurosawa zitiert nicht nur die Kamera, sondern auch das rhythmische Getrommel von Filmkomponist Alexandre Desplat am laufenden Band, doch auch weniger bekannte Künstler, wie etwa Farbholzschnitt-Meister Utagawa Hiroshige dienten überdeutlich zur Inspiration. All diese Mittel stellt Anderson streng in den Dienst seiner Geschichte, die er bekanntlich am liebsten in symmetrischen Bildeinstellungen erzählt, in denen die Kamera seitlich durch die Szenerie gleitet und die Plastizität der Animationen so fast wieder zweidimensional erscheint. Die Handlung selbst könnte man fast als Archestoff des Abenteuerkinos bezeichnen: Der kleine Junge Atari stürzt mit seiner Propellermaschine auf "Trash Island", der Insel der Hunde, ab, um dort seinen verschollenen Hund zu suchen. Bei seiner Odyssee über die Insel, auf die sämtliche Hunde Japans wegen der Überpopulation der Vierbeiner verbannt wurden, helfen ihm vor allem fünf tierische Gefährten - angeführt vom menschenfeindlichen Streuner Chief, der mit "I don't sit - I bite" sich selbst am besten beschreiben kann.

Was nun folgt, ist im besten Sinne kindliches Entdecker-Kino. Obwohl Atari aufgrund seiner japanischen Sprache (im Gegenteil zum (für den Zuschauer) übersetzten Bellen der Hunde) wie ein Fremdkörper in der Heldenbande wirkt, ist es eine Freude, die Gruppe miteinander interagieren zu sehen, zumal Anderson den Hunden das Mittel der Selbstreflexion gibt und sie höchst amüsant ihre eigene Existenz überdenken lässt. So wissen die größtenteils ehemaligen Schoßhunde schon, dass sie eigentlich zu einem Herrchen gehören. Doch auf ihre Herrchen ist auf dem durch Anti-Hunde-Propaganda verseuchten Festland kein Verlass mehr. Sie sind Under-Dogs, die Ungewollten. Es fällt nicht schwer, das politische Potenzial und die Bannbreite dieser Allegorie zu entziffern. Fast schon überdeutlich artikuliert "Isle of Dogs" sein Anliegen. Wenn etwa Machtinhaber Kobayashi wie die Stop-Motion-Adaption eines japanischen Donald Trumps inszeniert wird oder Aufnahmen vom Schicksal der Hunde auf "Trash Island" in ihrer Ästhetik an Fernsehberichte über das Schicksal von Flüchtlingen auf Lampedusa erinnern, verleiht das der unterhaltsamen Show einen sehr ernsten Unterton. Nicht zuletzt dank toller Voice Actor kann Anderson sich darauf verlassen, dass diese moralischen Aspekte auch emotional beim Zuschauer ankommen. Edward Norton, Scarlett Johansson, Bill Murray oder Jeff Goldblum machen einen tollen Job, wobei insbesondere Bryan Cranston in der Hauptrolle Chief dermaßen intensiv den rebellischen Hundeanführer mit Leben füllt, dass alleine seinetwegen eine Sichtung der englischen Tonspur zu empfehlen wäre. All diese Sprecherleistungen, die zwischen zynisch, patzig und sentimental angelegt sind, unterstreichen den verschrobenen Tonfall, der alleine für einen gelungenen Kinobesuch ausreicht.

Nur manchmal schlägt der Regisseur über die Stränge, überschätzt den Gehalt seiner Erzählung und scheint im letzten Drittel nicht alle Aspekte der gesellschaftskritischen Metaphern durchdacht zu haben. Wenn schließlich eine US-amerikanische Austauschschülerin den katzenliebenden Kobayashi-Clan und sein totalitäres Regime zu Fall bringt, und den Japanern Toleranz und Demokratie vermittelt, verpufft die aufgebaute Donald-Trump-Kritik vor lauter Inkonsequenz mit fadem Beigeschmack. Bei einer langen Szene in einer Art Konzentrationslager für Hunde, bei welchem auch visuell mehrmals explizit auf das Lager von Auschwitz angespielt wird, vergreift sich "Isle of Dogs" dann völlig in Ton und Geschmack. Leider versagt es Anderson auch zum Ende hin, die zauberhaften Eigenschaften eines Kinderfilms zu bewahren und vergisst "unterwegs" gar einige zentral eingeführte Charaktere, weil er allzu sehr auf eine klar verständliche Botschaft setzen will. Übrig bleibt der Eindruck von Staunen, darüber, wie dieser Film und seine Welt wohl ausgesehen hätte, wenn sie Realität wären. Und Staunen darüber, dass "Isle of Dogs" trotz seiner dramaturgischen und strukturellen Probleme inszenatorisch wie aus einem Guss wirkt und mit Leichtigkeit eine Vielzahl an visuellen Spielereien (u.a. Split-Screen-Verfahren und Subjektive Kamerafahrten) glaubhaft durch die eskapistische, extrem stilisierte Animationswelt bugsiert.

Fazit: Hasst Wes Anderson Katzen? An dieser Stelle kann nur gemutmaßt werden. Sicher ist hingegen: Wes Anderson liebt Hunde. Vielleicht muss "Isle of Dogs" daher auch unter einem ganz anderen Licht gesehen werden. Ob man nun die japanische Kultur für würdevoll oder klischeehaft gezeichnet hält, ob man die politische Seite der Handlung als geglückt oder prätentiös hält, ob man die Sprecherleistungen authentisch oder übertrieben findet oder ob man die Abenteuergeschichte als angenehm kindlich oder unangemessen naiv erachtet: Eine so detailreiche Liebeserklärung an des Menschen liebstes Haustier lief lange nicht mehr in den Kinos. Atari lernt, was Franz von Assisi einst so treffend formulierte: "Der Hund ist dir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde."

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Wenn ich einmal schlank wär... Wi di wi di bum

Beitrag von Wallnuss » 07.05.2018, 09:42

I Feel Pretty

Manche Geschichten sind offenbar nie auserzählt. So etwa auch die alte Mär vom Aschenputtel. Da zieht das verhasste Stieftöchterlein nachts das Feenstaub-Kleid über, hockelt mal schnell in den Ballsaal und angelt sich den süßen Prinzen. Klar: Es ist nicht das Kleid, dass auch dem Aschenputtel einen besseren Menschen macht. Es ist ihr neu gewonnenes Selbstwertgefühl. Diese Erkenntnis überliefert das Regie-Duo Abby Kohn und Marc Silverstein nun mit "I Feel Pretty" ins 21. Jahrhundert - und folgen dabei einem modernen feministischen Trend: Body Positivity. Das Mantra: Jeder Mensch ist schön. Jeder Körper ist ein Bikini-Körper. Doch für Renee, gespielt von US-Komikerin Amy Schumer, ist diese Sichtweise verheerend, denn sie erlangt ihre neue Souveränität nicht durch Auto-Suggestion, sondern durch einen Schlag auf den Kopf...

Dieser eine Schlag reicht aus und schon sieht sich die junge Frau mit anderen Augen. War sie eben noch ein Mauerblümchen über dem Idealgewicht, glaubt sie nun, mit perfekten Modelmaßen durchs Leben zu gehen und hält sich wie selbstverständlich für eine atemberaubende Schönheit, der die Männer natürlich nur zu Füßen liegen können. Doof nur, dass der Rest der Welt weiterhin die unveränderte Renee vor sich sieht. Und so wandelt das komödiantische Korsett der Erzählung in Märchensprache gesprochen irgendwo zwischen Aschenputtel und dem hässlichen Entlein - und ist gerade deshalb so ärgerlich. Denn eigentlich wäre es wirklich wichtig und wünschenswert, dass Hollywood sich auch filmisch mit dem Diktat der Oberflächlichkeit auseinandersetzt, unter dem viele Frauen heute leiden. Immerhin ist die Traumfabrik an genau diesem Phänomen nicht so ganz unschuldig, haben doch gerade die in US-Filmen geprägten Schönheitsideale den Selfie-Zeitgeist moderner Generationen maßgeblich geprägt. Und zwischenzeitlich könnte man sogar vermuchen, dass Silverstein & Kohl sich darüber im Klaren sind, dass sie gar mehr im Sinn haben, als die üblichen flachen Witze und amüsantes Geplänkel. Wenn Renee ihre Freundinnen etwa belehrt, dass es im Online Dating nur auf das Foto und nicht auf die Profilbeschreibung ankomme, könnte dies mit gutem Willen als Sozialkritik interpretiert werden. Doch mit zunehmender Laufzeit nehmen dererlei Töne immer mehr ab, auch, weil der Plot maßgeblich um den narzistischen Ego-Trip der Hauptfigur konstruiert ist, der Renee leider nur wenig sympathische Töne zugesteht.

Amy Schumer mag sich voll und ganz vor der Kamera verausgaben, ihre Eskapaden geraten im Laufe der etwas anderen Verwechslungsgeschichte leider selten sonderlich witzig, dafür umso mehr gehörig heuchlerisch. Zu oft resultiert der Humor daraus, dass Renee Reaktionen ihrer Umwelt für sich beansprucht, die angesichts ihrer körperlichen Maße unberechtig erscheinen. Sollte die Moral doch sein, dass es egal ist, wie das Umfeld einen sieht, sagt "I Feel Pretty" genau das Gegenteil dessen, was er eigentlich verkünden wollte. Nicht, dass wahre Schönheit von Innen kommt, sondern Schönheit durch eine äußere Betrachtung beschlossen wird. In den viel zu langen 110 Minuten beißen sich daher immer wieder übler Motivationskitsch mit noch üblerem "Bodyshaming". Die Regie lacht nicht mit, sondern über Renee. So ist es fast zynisch, wenn Kohn & Silverstein später durch eine unterforderte Michelle Williams mit piepsiger Heidi-Klum-Gedächtnisstimme veranschaulichen wollen, dass auch die "wirklich schönen" Frauen Probleme mit sich haben können. Da hilft es nur wenig, dass die Message sich für eine Komödie erschreckend ernst nimmt: "I Feel Pretty" ist ein Ratgeber mit Denkfehler, der stetig das kritisiert, was er für billige Lacher und Fäkalhumor kurz darauf selbst ebenfalls betreibt. Schumer selbst ist gar das einzige Element des Films, dass gelegentlich für etwas Klasse aufblitzen lässt. Im Gegensatz zum Film als künstlerisches Gesamtwerk nimmt man ihr die engagierte Grundhaltung voll und ganz ab.

Jener Elan ist es, der "I Feel Pretty" fehlt und den Schumer mitbringt. In ihren Bühnenprogrammen echauffierte sie sich einst darüber, dass Frauen mit ausgiebigem Sexualleben umgehend als "Schlampen" bezeichnet werden würden. Hier gibt sie die Schönheitskönigin per unbemerkter Selbst-Imagination mit Verve und Charisma. Auch ihre Chemie mit ihrem Love Interest Rory Scovel funktioniert besser als es verdient wäre - und überhaupt gefällt, dass mit Scovel auch ein körperlich durchschnittlicher Typ Mann besetzt wurde und auf dieses Aschenputtel eben nicht der unwiderstehliche Märchenprinz wartet. In den gemeinsamen Szenen der beiden blitzt auf, wie die Komödie wohl ausgesehen hätte, wenn ihr Herz am rechten Fleck gewesen wäre. Dort lassen sich nämlich Ansätze erkennen, unaufgeregt das alltägliche Liebesleben der US-Mittelschicht abbilden zu wollen. Momente, in denen auch der Score von Michael Andrews angenehm dezent bleibt, ohne sich aufzuspielen. Leider sind dies nur Momentaufnahmen, deren Understatement durch Verzicht auf humoritische Überspitzung nicht ewig während darf, da sie allesamt gleichströmig auf Renees zweites Hirntrauma und ihr schlussendliches "Gnothi seauton" zusteuern müssen. Es bleibt schwer zu glauben, dass bei dem abschließenden Schlussplädoyer für Selbstakzeptanz noch irgendwer aktiv genug dabei sein sollte, um den im Kern lobenswerten Inhalten mehr als ein gleichgültiges Nicken zu widmen.

Fazit: Mehrfach betrachtet Renee sich selbst im Spiegel, so als wolle sie fragen: "Spieglein, Spieglein, an der Wand: Wer ist die Schönste im ganzen Land?" Der hintergründigste Witz von "I Feel Pretty" ist, dass es nicht der Spiegel ist, der Renee ihr wahres Äußeres zeigt, sondern sie in sich selbst blicken muss. Bis dahin ist es jedoch ein weiter Weg, der daran krankt, dass Renees egomanischer Selbstfindungstrip auf Kosten der Gefühle ihrer Freundinnen kaum empathischen Zugang zu ihr ermöglicht und sich die Regie eher darin gefällt, ihre "unverdiente" Zuneigung zu Gunsten von Lachern zu opfern - etwa, wenn die Ärmste sich bei einem Bikini-Wettbewerb neben schlanken Beach-Girls zur Schau stellt. Offenbar ist eben doch nicht jeder Körper ein Bikini-Körper. Schade, denn so gerät dieser überhebliche Film zur peinlichen Farce voll des Fremdschämens, der mit Amy Schumer und Michelle Williams gehörig Darsteller-Potenzial verschwendet und dem als Statement nur die bahnbrechende Neuigkeit vergönnt ist, dass Frauen über Kleidergröße 34 auch liebenswert sind. Um sich schön zu fühlen, brauchen sie aber natürlich erst einen Schlag auf den Kopf...

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Han im Glück: Die Entzauberung einer Leinwandlegende

Beitrag von Wallnuss » 24.05.2018, 10:59

Solo: A Star Wars Story

Als wir Han Solo im allerersten "Star Wars" von 1977 zum ersten Mal treffen, wird der Weltraum-Cowboy gerade vom grünhäutigen Kopfgeldjäger Greedo in der Cantina auf dem Wüstenplaneten Tattooine festgenagelt. Eloquent versucht er sich aus der Situation zu quatschen. Da fällt plötzlich ein Schuss: Greedo kippt leblos auf den Tisch, Solo steht auf und geht kaltschnäuzig davon. Eine Ikone war geboren! Han Solo ist Harrison Ford und für nicht wenige sind er und Wookie-Kumpel Chewbacca das eigentliche Herz des "Star Wars"-Universums. Vorfreude kam daher erstmal verhalten auf, als Disney ankündigte, im Zuge der neuen "Star Wars"-Offensive ein Prequel über den kauzigen Space-Eastwood zu produzieren. Als dann auch noch während der Dreharbeiten das eigentliche Regie-Duo gefeuert wurde und Gerüchte aufkamen, Hauptdarsteller Alden Ehrenreich habe noch am Set Schauspielunterricht nehmen müssen, schien Hans berühmtester Spruch den Fans aus der Seele zu sprechen: "I have a bad feeling about this."

Sein größtes Problem teilt "Solo: A Star Wars Story" mit der Star-Wars-Prequeltrilogie von George Lucas. Spätestens, als der zehnjährige Lausbub Anakin Skywalker von seiner Mom mit "Anni" gerufen wurden, war für viele Zuschauer der Schritt zur Entmystifizierung seines späteren Alter Egos Darth Vader getan. Und auch "Solo" scheint einen Haufen Fragen zu beantworten, die sich nicht nur vorab niemand gestellt hat, sondern die die mysteriöse Aura der Solo-Figur enorm beschädigen: Wieso heißt Han mit Nachnamen eigentlich Solo? Wie haben er und Chewbacca sich kennen gelernt? Wann kam er in den Besitz seines legendären Millennium Falken? Und warum kann der Falke in Gefahrensituationen eine richtige Diva sein? Hierin offenbart sich das große Problem des wenig überzeugenden Films: Die Vorgeschichte der Han-Figur wird wie eine Strichliste abgearbeitet, ohne eine für sich stehend starke Geschichte zu erzählen. Einzelne Sätze aus den originalen "Star Wars"-Filmen werden so zu riesigen Actiongefechten aufgeblasen. Erwähnte Solo im 77er Original, dass er den Kessel-Flug in unter 12 Parsec geflogen sei, muss dieser hier als bildgewaltiges Action-Setpiece seine epische Entsprechung finden. Mitreißend oder befriedigend ist das wenig, auch weil "Solo" zu wenig Arbeit in seine Charaktere investiert. Die Freundschaft zwischen Han und Chewbacca wird in Windeseile beschlossen und sämtliche Nebencharaktere müssen sich beständig dem Prequel-Charakter unterordnen. Die angedeutete Affäre zwischen Han und seiner Herzdame Qi'ra ist im Hinblick auf sein zukünftiges Anbandeln mit einer bestimmten Weltraumprinzessin ohnehin zum Scheitern verurteilt.

All das ist deshalb schade, weil Ron Howard, der auf dem Regiestuhl nach dem Rausschmiss des unerfahrenen Comedy-Duos Phil Lord und Chris Miller kurzfristig Platz nahm und weite Teile des Films unter Zeitdruck neudrehen musste, durchaus fähig ist, eine eigene Bildsprache für "seinen" Film zu finden und gemeinsam mit Kameramann Bradford Young den visuell bodenständigsten Film der Space Opera zu Tage bringt, was besonders in Actionszenen für unerwartete Plastizität sorgt. Klarer Höhepunkt des Films ist daher eine frühe Heist-Movie-artige Sequenz, in der Han und Kumpanen einen Hochgeschwindigkeitszug zu überfallen versuchen und in der "Star Wars" kurz zu seinen Sci-Fi-Western-Ursprüngen zurückfindet. Doch im weiteren Verlauf mangelt es schmerzlich an echten Identifikationsfiguren. Die Auftritte von Paul Bettany oder Thandie Newton wirken, als hätte man beiden spontan Rollen geschrieben, damit sie sich Kindheitsträume erfüllen können. Emilia Clarke bleibt als Qi'ra unverschämt blass und konturlos, Woody Harrelson spielt auf Sparflamme. Am schlimmsten ist jedoch wie vorab befürchtet die Besetzung von Alden Ehrenreich in der Titelrolle. Ohne jedes Charisma und mimisch extrem eingeschränkt ist er für keine Sekunde als Antiheld glaubwürdig - der Vergleich mit Harrison Ford verbietet sich da sowieso. Einzig Donald Glover als junge Version von Hans Rivalen Lando ist ein Lichtblick, weiß er doch mit all dem zu glänzen, was Ehrenreich abgeht: Autorität, Charme und Raffinesse.

Es mutet ironisch an, dass der Solo-Film über den größten Trotzkopf der Galaxis der bislang biederste Beitrag zum Franchise geworden ist. Neu und aufregend ist an "Solo" eigentlich nichts - und genau das war scheinbar beabsichtigt. Das triumphale "Rückkehr"-Gefühl der Neubelebung der Reihe von 2015 ist längst verflogen und während es dem Spin-Off-Ableger "Rogue One" trotz aller Schwächen wenigstens gelang, mit seiner martialischen Kriegshandlung neue Wege im Sternenkrieg zu gehen, ist "Solo" routinierte Actionunterhaltung, aber auch überdeutlich hörbar am blutleeren Score von John Powell schrecklich uninspiriert. Howards Film wird nie den Verdacht los, ein Lückenfüller für eine Lücke zu sein, die eigentlich gar nicht da war. Im unangenehmen Sinne zeigt "Solo" das Problem der pausenlosen Dauerbefeuerung des Franchise durch Disney auf, bei dem jedes Jahr ein neuer "Star Wars"-Film erscheinen muss. Alles ist laut, aber völlig egal und schnell vergessen. "Solo" ist ein nur kurzfristiges Intermezzo, der "Star Wars" um das Erhabene beraubt und die Wagnisse des nur 6 Monate vorher in den Kinos gestarteten "Star Wars: Die letzten Jedi" vermissen lässt. Extrem ärgerlich gerät so der Schluss, als ein ominöser Cameo einer berühmten "Star Wars"-Figur klar macht, dass "Solo" seine Konflikte nicht zufriedenstellend beendet, sondern lieber auf mögliche Fortsetzungen verschiebt. Im Franchise-Kontext bleibt "Solo" so nicht mehr als ein Witz - leider einer ohne Pointe.

Fazit: Wer einfach nur seine jährliche Dosis Sternenkrieg braucht, den wird es nicht stören, wenn Ron Howard mit "Solo: A Star Wars Story" zwar kompetente Unterhaltung liefert, dem Film-Mythos aber nichts wesentliches hinzufügt. Der Rest wird sich fragen, ob es diesen Film gebraucht hat, der nicht nur die Figur Solo entmystifiziert, sondern auch ihre Charakterentwicklung der Originaltrilogie vorweg nimmt. Das erinnert an George Lucas "Special Edition" genannte Überarbeitungen von 1997. Per CGI korrigierte er seine Meilensteine - und fügte unter anderem ein, dass nun in der Cantina auf Tattooine Greedo zuerst schoss, bevor Han ihn in Notwehr tötet. Fans waren über diese Änderung so erboßt, dass sie unter dem Schlachtruf "Han shot first" versuchten, eine Rückänderung zum Original zu erzwingen. Dieser Fraktion muss leider gesagt werden: Der Han Solo von Alden Ehrenreich ist definitiv der, der zurückschießt - und nicht als erster.

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Beitrag von SFI » 24.05.2018, 14:49

Die arme SW Fanbase, schon wieder kein guter Film. :lol:
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Beitrag von Vince » 24.05.2018, 15:33

Doch, der letzte war sogar sehr gut. Haben die verblendeten Nerdies nur leider nicht kapiert. :lol:
Der Han reizt mich jetzt komischerweise auch nicht so sehr. Wird wohl der erste, den ich im Kino auslasse.

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Beitrag von MarS » 24.05.2018, 16:16

Seit Star Wars I-III ist doch klar, dass man Star Wars IV-VI nicht mehr wiederholen kann. Die Magie werden die nie wieder einfangen können. Meine Erwartungen sind seitdem ähnlich wie die an Marvelfilme: Leichtes Popcorn-Kino und tendenziell eher von durchschnittlicher Qualität, wobei ab und zu mal ein Glückstreffer möglich sein könnte.

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Beitrag von SFI » 24.05.2018, 17:16

Dabei ist doch Roque One der einzige SW Film, der mich bisweilen überzeugen konnte. :lol: imdb Rating von Solo steht aktuell bei 6,5. :lol:
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Beitrag von Vince » 24.05.2018, 17:23

Der ist für mich wiederum der schwächste der neuen Filme, aber ich werde ihm demnächst nochmal ne Chance im Heimkino geben.

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Beitrag von SFI » 24.05.2018, 17:24

Ja, schwächer als Wing Commander ist RO allemal. :lol:
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Beitrag von Vince » 24.05.2018, 17:47

Genau, und Wing Commander ist nochmal nen Tacken schwächer als Dreamcatcher. :lol:

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Beitrag von freeman » 24.05.2018, 17:50

Dafür ist Dreamcatcher etwas besser als Daniel der Zauberer.

In diesem Sinne:
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Beitrag von Vince » 24.05.2018, 17:57

Wohingegen Daniel der Zauber die meisten Threadseiten von allen Filmen im gesamten Forum hat und somit der erfolgreichste Liquid-Love-Film aller Zeiten ist!

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Beitrag von freeman » 24.05.2018, 17:59

Ich denke mal auch, dass es bald Filme geben wird, die Daniel der Zauberer zum Inhalt haben werden... Könnte so eine neue epische Weihnachtstrilogie ala Herr der Ringe werden.

In diesem Sinne:
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Wer hat dem Affen die Seele geklaut?

Beitrag von Wallnuss » 02.06.2018, 13:05

Kong: Skull Island

Alle wollen ein Cinematic Universe! So sieht das Blockbuster-Kino im 21. Jahrhundert aus. Eine einfache Geschichte über maximal 1-3 Filme zu erzählen reicht dabei lange nicht mehr aus. Jedes Produktionsstudio will seine eigene Welt, in der verschiedene Charaktere bei Belieben clashen oder solo agieren können. Marvel Studios hat es vorgemacht, da keuchen und fleuchen sämtliche bunt gekleidete Superhelden der modernen Popkultur durch die unterschiedlich stark verzahnten Filme - bis auf die, deren Rechte nicht Marvel gehören. Die sind dafür im DC-Universe vertreten. Selbst "Star Wars" setzt längst auf Spin-offs, Prequels und sonstige Erweiterungen ihres Filmuniversums. Und Legendary Entertainment? Bei denen darf es noch eine Nummer größer sein. In "Kong: Skull Island" feiert Riesenaffe King Kong sein Leinwandcomeback. Franchisetauglich heldenhaft, mit weißer Frau, aber dafür ohne Empire State Building.

Regisseur Jordan Vogt-Roberts nähert sich dem Kong-Mythos dabei anders als seine filmischen Vorgänger. Von der Romantik und mystischen Aura der originalen King Kong Geschichte ist hier nichts zu spüren. Sämtliche Auftritte des Riesenaffen geraten zur Machtdemonstration. Einmal für Kong selbst, der als König der titelgebenden Insel eine gottgleich allmächtige Präsenz erhält und außerdem für die Macher des Films, die eine wahnwitzige Effekt-Schau nach allen Mitteln moderner Filmkunst präsentieren. Der Monster-Clash, denn Kong muss sich hier mit allerlei anderen Echsen-haften Viechern kloppen, wird in bildgewaltigen Dimensionen eingefangen. Die beste Entscheidung von Vogt-Roberts ist es, von Anfang an mit offenen Karten zu spielen. Schnell bekennt sich der Film zu seinen Trash- und Exploitation-Wurzeln und überrascht mit einer unkomplizierten Pulp-Attitüde, die gar nicht erst versucht, dem Treiben auf der Leinwand eine höhere filmische Komplexität zu geben. Auch verzichtet er auf das Klischee, die Enthüllung des Monsters möglichst lange hinaus zu zögern - bei einer seit 1933 in der Popkultur verankerten Schöpfung wäre dies auch recht unsinnig gewesen. Was der Titel verspricht, liefert der Film schnell: Und Kong, der in "Skull Island" selbst so groß wie die Wolkenkratzer ist, auf die er in der Originalgeschichte klettert, hat definitiv noch nie besser ausgesehen.

Doch natürlich kann kein Monsterfilm ohne menschliche Handlungsträger, die nicht selten zu eindimensionalen Pappkameraden geraten. "Kong: Skull Island" scheint dies zu vermeiden, wenn im Vorspann von so exquisiten Darstellern wie John C. Reilly, Tom Hiddleston, John Goodman oder Samuel L. Jackson die Rede ist. Leider bleiben diese Hoffnungen unerfüllt. Die meisten gesichtslosen Nebenfiguren sind bloßes Kanonenfutter, während die Großennamen im Autopilot vor sich hin spielen. Hiddleston kann den Film trotz Leinwandpräsenz nicht tragen, Goodman und Reilly haben erschreckend wenig zu tun und dienen als Erklärbären, während Vielfilmer Jackson eine lustlose Ahab-Interpretation gibt. Einzig Brie Larson als Kriegsfotografin weiß etwas natürlichen Charme zu versprühen, dennoch wird jede längere Dialogszene davon überschattet, dass hier den Monstern die Show gehört. Ein gelungener Einfall war, die Geschichte in das Jahr 1973 zu verlegen und aus den Protagonisten Vietnam-Krieger zu machen. So versteht Vogt-Roberts seinen Film als Metapher auf den verlorenen Krieg, wenn die Soldaten auf fremden Gebiet von den überlegenen Kreaturen überrannt werden und gefällt sich besonders am Anfang mit einer Reihe an Hommage-Szenen an 70er Jahre Filmklassiker, die in ihrer Häufigkeit (speziell bei Francis-Ford-Coppola-Zitaten) schnell etwas zu penetrant werden. Auch Henry Jackman liefert einen stark an 70er Kriegsfilmen orientierten Score, der nur zum Ende hin zu etwas zu seelenlosem Blockbuster-Einheitsbrei verkommt.

Um 118 Minuten ordentlich Leinwand-Remmidemmi zu liefern, zieht Vogt-Roberts zu dem sämtliche visuelle Register, von Vertigo-Shots über Plansequenzen bis hin zur Videospiel-gerechten Subjektiven, all das in zeitgemäß moderner Gelbstich-Colorgrading-Ästhetik. Verschleiern kann das trotz angenehmer Kurzweiligkeit kaum, dass hier allzu laut und allzu kalkuliert filmische Resteverwertung betrieben wird. Der Kong-Mythos wird auf seine Schauwerte ausgeschlachtet, muss sich aber im Sinne der Franchise-Pläne zurückhaltend ernst nehmen. Als dreckiges B-Movie hätte das "Skull Island"-Format sein Potenzial gehabt, doch bei aller Formelhaftigkeit erinnert dieses Abenteuer viel zu sehr daran, dass die Macher während der Dreharbeiten wohl schon die nächsten Filme im Kopf hatten. Das menschliche Personal ist am Ende glatt so egal, dass mehrere unnötig aufgestellte Subplots erwartbar ins Leere laufen, um die Trickschlacht nicht zu stören. Das anfangs etablierte Vietnam-Feeling (unterstützt durch unumgängliche Songs wie "Run Through The Jungle" von Creedance Clearwater Revival) oder die frech gezogenen politischen Parallelen zwischen der Nixon- und Trump-Politik nimmt man im Nachhinein lieber nicht für voll, und wer in der generischen Starrheit des Handlungsverlaufs Zeit hat, die bedeutungslos eingeführte Figur der chinesischen Star-Schauspielerin Jing Tian zu hinterfragen, findet die Begründung in der Kompatibilität für den immer wichtiger werdenden asiatischen Markt. "Kong: Skull Island" ist so nicht ganz unfreiwillig ein Sinnbild für das moderne Massenkino 2017: Nicht bloß profitorientiert, sondern auch stets Wegbereiter für den immer gleich gestalteten Nachschlag.

Fazit: Nichts am Neuaufguss des monströsen Affenkönigs ist wirklich schlecht. Im Gegenteil: Jordan Vogt-Roberts weiß, was die Zuschauer bei einem Film über einen wütenden Riesenaffen sehen wollen und liefert ihnen auf unterhaltsame Weise genau das. Problematisch ist, dass das für sich nicht ausreichen darf. Im Sinne des geplanten MonsterVerse braucht es die großen Verknüpfungen und Expositionen, alles muss voll gefüllt mit Andeutungen sein. So fühlt sich der eigentliche Plot um die spärlich charakterisierten Protagonisten, die nicht mal das Prädikat zweckdienlich erfüllen, nur als Mittel zum Zweck an. Natürlich folgt auch nach dem Abspann gemäß der Marvel-Mechanismen noch eine Sequenz, die sich wie eine Amazon-Kundenempfehlung anfühlt: "Wenn ihnen "Kong" gefallen hat, gucken sie bitte auch unsere nächsten Monsterfilme." Dem König der Affen selbst hätte "Skull Island" sicher gut gefallen, immerhin ist hier sämtliches Treiben trotz handwerklicher Perfektion letztlich reichlich Banane.

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Liebling, ich habe wieder den Avenger geschrumpft!

Beitrag von Wallnuss » 14.08.2018, 13:19

Ant-Man and the Wasp

Normalerweise gilt für Blockbuster-Fortsetzungen ein simples Prinzip: Alles muss eine Spur größer und eine Spur schneller präsentiert werden, um dem Publikum eine Steigerung zu verkaufen. Für Superheldenfilme heißt das zumeist eines: Wurde der Held im Vorgänger von einem Schurken herausgefordert, müssen nun mindestens zwei gegen ihn antreten - und wer die volle Steigerungsdröhnung will, der stellt dem Helden noch einen Sidekick zur Seite. Einen solchen deutete Regisseur Peyton Reed am Ende seines Marvel-Abenteuers "Ant-Man" bereits an, als Hope van Dyne, das Love-Interest von Scott Lang, ihren eigenen Anzug erhielt. Doch es ist nicht nur den Schrumpffähigkeiten der beiden Helden zu verantworten, dass sich ihr gemeinsamer Auftritt als "Ant-Man and the Wasp" eher eine Nummer kleiner als eine Nummer größer anfühlt.

Ursprünglich hätte Regie-Genie Edgar Wright 2015 beim "Ant-Man"-Erstling die Zügel in der Hand halten sollen, doch kreative Differenzen mit Marvel führten zur Übernahme durch Peyton Reed. Dennoch war Wrights DNA bis zum Schluss spürbar, nur die penetrante Eingliederung in das "Marvel Cinematic Universe" (bestehend aus den Abenteuern von "Iron Man", den "Guardians of the Galaxy", "Thor" etc.) wollte nicht ins Bild passen. Der Nachfolger muss nun auf eigenen Beinen stehen - und Reed wählt für seine Fortsetzung den größtmöglichen Kontrast zum nur drei Monate vorher im Kino gestarteten Marvel-Epos "Avengers: Infinity War". Stand im Großevent noch das Schicksal des Universums auf dem Spiel, zeigt "Ant-Man and the Wasp" reduziertes Spektakel. Der Ansatz passt zur Hauptfigur: Scott Lang ist ein verklärter Romantiker und ein verträumter Vater, keine lässig-coole Type. Unweigerlich muss man sich fragen, warum letztlich ganze fünf Drehbuchautoren (u.a. Hauptdarsteller Paul Rudd) benötigt wurden, um den dünnen Plot zu schreiben, bei dem das Trio Scott, Hope und ihr Vater Hank versuchen, ihr Equipment gegen verschiedene Schurkenparteien zurück zu erkämpfen. Die Geschichte ist gar so brav und familiär angelegt, dass die notwendigen Action-Konfrontationen im Mittel- und Schlussteil wie ein Klotz am Bein wirken, nur dazu da, um die Konfliktlösung noch etwas länger zu verschieben und in die Länge zu ziehen.

Den lobenswerten Ansatz, sich vom Gigantismus anderer Marvel-Filme abzusetzen, jedoch mal beiseite geschoben, hat "Ant-Man and the Wasp" wenig zu bieten, um den Kauf einer Eintrittskarte zu rechtfertigen. Die Geschichte ist gar so tiefenentspannt erzählt, dass keinerlei Spannung aufkommt. Dafür ist die Stimmung zu luftig, das Ambiente zu harmlos und Walton Goggins als grimassierender Schurke, der direkt aus einer 80er Jahre Sitcom importiert sein könnte, kann und soll als Gegenpol gar nicht funktionierend. Reed verzichtet auf eine eigene Note, und integriert eher die auswendig gelernten Marvel-Paradigmen, setzt auf Schnellfeuerdialoge, Querverweise aufs eigene Filmuniversum (wenngleich der eigentliche Filmplot davon unangetastet bleibt) und hat auf Abruf noch eine zweite Schurkin namens Ghost parat, die zwar einerseits durch Wände gehen kann, während andererseits aber der Screentime-Anteil der Darstellerin Hannah John-Kamen zu Gunsten der seichten Familienunterhaltung eher spärlich ausfällt und ihr eigenes persönliches Dilemma binnen weniger Sekunden aufgelöst wird. Eine dramatische Fallhöhe sucht der Plot nicht und nutzt längere Erklärbär-Szenen hauptsächlich als Möglichkeit für den Zuschauer, sich noch einen Eimer Popcorn zu kaufen. Auch die Besetzung ist Opfer der biederen amerikanischen Durchschnittlichkeit. Paul Rudd spielt wie zuvor nur sich selbst, Michael Douglas knurrt sich mürrisch durch den Film, und die Neueinsteiger Laurence Fishburne und Michelle Pfeiffer wirken wie bestellt und nicht abgeholt, während einzig Evangeline Lilly als erste titelgebende Marvel-Heldin "Wasp" ein wenig Spielfreude und feministisches Engagement in der Männerdomäne des Superheldenkinos zeigt, aber keine echte Chemie mit Rudd auf der Leinwand entwickeln kann.

Die Harmlosigkeit des Films wäre gar kein allzu großes Problem, wenn Peyton Reed wenigstens ein ordentliches Pacing vorzuweisen hätte. Leider jedoch ist gerade das Tempo der einzelnen Sequenzen unausgegoren. Besonders schmerz zudem, dass Reed aus den variierenden Größenverhältnissen seiner Helden optisch nichts herauszuholen weiß. Sowohl der MacGuffin als auch Helden und Widersacher werden auf unterschiedlichste Weise vergrößert, verkleinert oder auseinander gezerrt, doch es misslingt, durch die Kamera ein Gefühl von Plastizität zu verleihen. Zu selten setzt die Regie auf Totalen oder interessante Vogelperspektiven, fast nie verlässt die Kamera ihre Subjektive und bleibt auf Distanz zum Schrumpfvorgang. Hier zeigt sich am allerdeutlichsten das Fehlen von Edgar Wright: Hatte der viele der Actionszenen für den Vorgänger bereits vorgeplant, fallen seine kreativen Ideen für die Fortsetzung weg und nicht selten wirken die irrwitzigen Gefechte, in denen Salzstreuer zu riesigen Waffen gemacht werden, wie ein platter Abklatsch des ersten Teils. Gerade eine eigenständige Visualisierung des Größer- und Kleinerwerdens hätte den ordentlich getricksten Autoverfolgungsjagden einen interessanten Kniff verliehen, und das Spiel mit Waschen und Verkleinern reizvoll werden lassen können. Erst ein später Ausflug ins Surreale weiß optisch zu begeistern und weckt mit seiner leicht trashigen Attitüde Erinnerung an alte Sci-Fi-Serials. Etwas mehr hiervon hätte gut getan, "Ant-Man and the Wasp" als das immerhin 20. Abenteuer aus dem Marvel-Universum zu etwas besonderem werden zu lassen.

Fazit: Bescheidenheit war bislang sicher keine Marvel-Stärke. Für einen entspannten Kinoausflug mit der Familie mag "Ant-Man and the Wasp" daher deutlich geeigneter sein als viele seiner Vorgänger. Das ändert allerdings wenig daran, dass die deutlich zu lang geratene Veranstaltung für Comic-Nerds ihr eigentliches Ziel verfehlt: Statt dem Biedermeier, dem Jedermann (in Gestalt von Scott Lang) ein ironisches Heldendenkmal zu setzen, verendet die Dramaturgie in Baukasten-Schemata und seichter Belanglosigkeit. Für den Moment mag das reichen und ist gerade so kurzweilig genug, auf lange Sicht gesehen fehlt den kleinen Helden aber doch das große Alleinstellungsmerkmal, sodass sich der Film nach dem Abspann ähnlich wie Schurkin Ghost ins Nichts auflöst.

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Murphy hat recht: Was misslingen kann, wird auch misslingen!

Beitrag von Wallnuss » 14.08.2018, 15:50

The Killing - Die Rechnung ging nicht auf

"Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen." - Es ist nicht klar, ob Regisseur Stanley Kubrick jenes Zitat des französischen Philosophen Blaise Pascal kannte, als er die Dreharbeiten zu "The Killing" begann. Feststeht aber, dass jener Satz kaum eine bessere filmische Entsprechung hätte finden können, als in Kubricks Adaption des Romans "Clean Break" von Lionel White. In nur 84 Minuten erzählt "The Killing" von einem Heist und der Gruppe Kleinkrimineller, die ihn ausführen wollen. Doch wie der deutsche Titel "Die Rechnung ging nicht auf" bereits verrät, ist Kubricks Thriller-Meilenstein ein Film über unerfüllte Träume, berechtigte Ängste und verzweifelte Taten. Es ist ein Film über verlorene Seelen, die dem Schicksal mit fatalistischer, selbstzerstörerischer Entschlossenheit entgegen treten - und ein komplexes, packendes Spiel mit der Zeit.

Ein solches war es auch, dass Kubrick einst reizte, den Roman von White auf die große Leinwand zu bringen. Unchronologisch brach der Autor seine Geschichte auf und entwickelte so eine eigene Dynamik aus zeitlicher Abfolge und dem Dilemma der einzelnen Charaktere. So verwebt auch Kubrick die Szenenmontage als non-linear zusammenhängend in sein Drehbuch, springt hin und her und widmet sich fragmentarisch jeder Figur so lange, bis sie ihre Funktion für die momentane Handlung erfüllt hat. Fast schon dokumentarisch kommentiert dabei ein leidenschaftsloser Off-Erzähler das Geschehen und jongliert eifrig mit Datums- und Uhrzeitangaben, wie die Regie selbst mit Elementen des Film Noir spielt, zu dessen späten Vertretern sich "The Killing" zählen darf. Nüchtern, beinahe didaktisch werden die Figuren etabliert, sei es der Berufspolizist mit Schulden bei einem Kredithai, der ehemalige Alcatraz-Sträfling mit einer hoffnungslos naiven Verlobten, der Barkeeper mit todkranker Frau oder der Pferderennbahn-Kassierer, der seiner raffgierigen, undankbaren Frau den Lebensstandard finanzieren will. Bereits früh wird vorbereitet, was das geplante perfekte Verbrechen sein soll, wie es ablaufen könnte und woran es möglicherweise scheitern wird. Trotz des zeitweiligen zeitlichen Vorsprungs des Zuschauers gegenüber den Protagonisten liebt Kubrick jedoch die Desinformation: Die genauen Details des Heists bleiben offen und die Psychologie der Figuren gerät rätselhaft unklar.

Erst später, wenn der exzellent getaktete Raubüberfall aus immer wieder unterschiedlicher Perspektive startet und von Vorne begonnen wird, offenbart sich die meisterhafte Vorarbeit. Intelligent und suggestiv arbeitet die dichte Regie die Anspannung und Relevanz der zeitlichen Abfolge heraus, die sie selbst konterkariert. Der minutiöse Plan, bei dem Sekunden von Erfolg und Misserfolg abhängen kann als Quasi-Metapher für die exakt ausgeklügelte filmische Vision ihres Regisseurs verstanden werden. All das funktioniert wie ein Uhrwerk wunderbar: Von fast tragischer Qualität entspinnt sich ein Actionkrimi, dessen Puzzle-artige Struktur sich erst nach und nach entschlüsselt, ehe er detailliert auf seinen unausweichlichen Ausgang zusteuert. Das äußerst reife, progressive und nahezu postmoderne Narrativ entlockt seinen im Mittelpunkt stehenden Schwarzen Schafen, u.a. von Sterling Hayden wunderbar effizient gespielt, eine Grundsympathie, die gut ins Bild zur ungewöhnlich Dialog vernarrten Inszenierung Kubricks passt. Er wagt kaum formelle Experimente, sondern kokettiert mit dem Raum und der Überschaubarkeit der Dinge, nutzt allenfalls Stilmittel, die ohnehin im Noir verankert sind (so filmt er häufig durch Gitterschatten, um die drohende oder emotional bereits bestehende Gefangenschaft einer Figuren zu symbolisieren) oder setzt auf minimal installierte Besonderheiten (seitliche Plansequenzen durch Räumlichkeiten, bei denen selbst die Wände der Kamera nicht im Weg stehen). Besonders dank der vorzüglichen Dialoge des dafür angeheuerten Autoren Jim Thompson ist "The Killing" ein filmischer Leckerbissen, wenn etwa Geld als Äquivalent zur Liebe betrachtet wird oder Gangster zum Synonym für bewunderte Stars, deren erwartbaren Absturz man erleben will, geraten.

Die asynchrone, niemals chaotische Chronologie der Ereignisse erzeugt dabei genauso eine irre Spannung wie der ironische Umgang mit Elementen der damals bereits abklingenden Schwarzen Serie Hollywoods: Enorm hervor sticht hier die vermeintliche Femme Fatale (zwielichtig wie immer: Marie Windsor), die eben keine alles beherrschende, gefährliche Schönheit ist, sondern nur ihren schwachen Ehegatten an der Nase herumführen kann. Gleichzeitig straft Stanley Kubrick all seine Emotionsleugner Lügen, die ihm gerne unterstellen, ein kalter Regisseur zu sein. Immer wieder gewährt er in "The Killing" einen melancholischen, an der Grenze zum melodramatischen Blick auf die Handlungsträger und erzählt durch sie und durch die ergreifende Musik seines Schulkameraden Gerald Fried eine große Geschichte gescheiterter Träume. Dass dieser Traum vom großen Geld durch einen Raubüberfall handelt, ist für ihn unerheblich, es geht nicht um gesetzliche Moral. "The Killing" versteht sich als nicht wertender, aber zweifellos empathischer Blick auf ein Mosaik der Menschlichkeit, der seine eigenen Figuren fast liebevoll untersucht, und schwappt nur ganz am Ende in bitteren Zynismus über. Dort offenbart sich das süffisante Lächeln des perfektionistischen Regisseurs, der nun sein eigenes schwarzhumoriges Fazit zu der einen hoffnungslosen Tätigkeit des Menschen präsentiert, die ihn selbst im Laufe seiner Karriere so berüchtigt machte: Dinge zu planen.

Fazit: Obgleich man einerseits enorm um das Gelingen der Aktion bangt, ist es schwer, sich der Erheiterung zu verweigern, wenn die Rechnung letztlich in der Tat nicht aufgeht. Das fesselnde, lustvolle Spiel mit zeitlicher Verwirrung und punktuell gesetzter Chronologie ist ohne Frage das Aushängeschild des meisterhaft arrangierten Thrillers, welcher noch Jahre später Filmemacher wie Jean-Pierre Melville, Walter Hill, Quentin Tarantino oder Christopher Nolan nachhaltig beeinflusste. Während es mit dem Film Noir, zu dessen späten Vertretern "The Killing" gezählt werden darf, bereits zu Ende ging, war Kubricks Stern gerade aufsteigend und sein mutiger Genrefilm ebnete ihm die Wege zum Ruhm. Verständlich, denn schon hier zeigt sich in der dynamischen Montage und zielsicheren Fokussierung auf narrative Ankerpunkte das Werk eines Regisseurs, der genau wusste, was er wie erreichen wollte. Gerade deshalb ist die präzise Erzählung eines präzisen Raubes eine Erfolgsgeschichte für ihren Macher, inhaltlich aber das Gegenteil: Eine bittere Chronik des Scheiterns.

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8-Bit-Charme trifft auf 4K-Optik

Beitrag von Wallnuss » 15.08.2018, 15:38

Pixels

Es war 2010, als der junge französische Filmemacher Patrick Jean auf YouTube für Aufmerksamkeit sorgte und unwissentlich den Grundstein für einen kleinen Hype legte. Sein zweieinhalb minütiger Kurzfilm "Pixels" bot eine coole Nostalgie-Granate für alte Arcade-Veteranen: Space Invaders bombardieren darin Manhattan, der Frogger-Frosch hüpft über eine New Yorker Straßenkreuzung, Pac-Man frisst sich durch die U-Bahn-Stationen und am Ende verwandelt sich der ganze Planet Erde in einen schwarzen Würfel. Wer diesen irrwitzig intelligenten Trip hinter sich gebracht hat, muss sich wohl fragen, wozu fünf Jahre später eine Spielfilmversion der immerhin gehörig grotesken Grundidee von Nöten sei. Comedy-Routinier Adam Sandler und der auf Jugendfilme spezialisierte Chris Columbus versuchen sich also an dieser Aufgabe und vermischen die eckige Pixel-Ästhetik einer vergangenen Videospiel-Generation mit der hochauflösenden CGI-Animation des modernen Gegenwartskinos.

Für nicht wenige mag der Name Adam Sandler, der dem Langfilmprojekt als Hauptdarsteller und Produzent seinen Stempel aufdrückt, ein Warnsignal gewesen sein, haftet dem erfahrenen Komiker doch zunehmend der Ruf an, in seinen Filmen stets nur die eigene Midlife-Crisis auszuschlachten und mit präpubertären Späßen aufzutrumpfen. Zumindest in dieser Hinsicht überrascht "Pixels" durchaus. Sicherlich zünden längst nicht alle Gags und Rohrkrepierer gibt es (bei der hohen Frequenz an cool gemeinten Onelinern kaum verwunderlich) genügend, dennoch funktioniert Sandler als Protagonist dieser 80er Jahre Rückbesinnung und auch der restliche Cast ist mit ulkigen Knalltüten (Josh Gad, Kevin James), ironisch auftretenden Filmstars (Michelle Monaghan, Peter Dinklage) und alternden Schauspielgrößen (Sean Bean, Brian Cox) angenehm durchgemischt. Besonders der frisch gegen den Strich als notgeiler Nerd besetzte Dinklage macht richtig Spaß, während die Wahl, Kevin James im üblichen Modus als Präsidenten der Vereinigten Staaten einzusetzen zumindest vorab diskutabel gewesen wäre. Sei es drum: Filmtechnisch ist "Pixels" überraschenderweise im hochwertigen Drittel moderner US-Komödienproduktionen zu sehen. Chris Columbus inszeniert mit sicherer Hand und hat gerade in den Actionszenen das richtige Tempo, dazu kommt ein schmissiger Soundtrack von Henry Jackman, der zweifellos zu seinen besseren Arbeiten gehört und mit dem eingängigen Leitthema neben der Verwendung von Songklassikern wie "We Will Rock You" von Queen oder "Everybody Wants To Rule The World" von Tears For Fears bestehen kann.

Der große Reiz an dem Plot rund um eine Gruppe Außerirdischer, die in Form von Arcade-Klassikern die Menschheit herausfordern, liegt in dem Kontrast alter und neuer Technik: Wenn mittels modernster CGI-Techniken die rückwärtsgewandt ausschauende Vervoxelung unserer Welt betrieben wird und die Aliens etwa mit Wolkenkratzern "Tetris" spielen, atmet "Pixels" die rohe Kraft seiner Kurzfilmvorlage. Wer eine Vielzahl an Insider-Gags für Nerds erwartet, wird dabei aber sicher etwas enttäuscht sein: Die großen Sequenzen werden um allseits bekannte Klassiker gestrickt, funktionieren mit ihrer anarchischen Liebe zum Detail durchaus. Insbesondere eine interessant entwickelte Sequenz um Videospiellegende Pac-Man, der als Godzilla-Äquivalent durch New York wütet, bereitet ordentlich Freude, erinnert aber genau wie ein später Auftritt des Riesenaffen Donkey Kong daran, warum "Pixels" zwar auf eine simple Art und Weise Spaß bereitet, aber nie so wirklich das ist, was er sein könnte. Als Hommage und mögliche Renaissance der Arcade-Kultur der 80er Jahre scheitert Columbus auf ganzer Linie. Dieses Problem zeigt schon ein skurriles Opening, welches die jungen Versionen von Sandler und James in einer Spielehalle zeigt. Die Frisuren, die Fahrräder, die Musik, all das mag exakt nachgebildet sein, dennoch ist der kurze Prolog in seiner bunten und sytlischen Aufmachung bis auf Oberflächlichkeiten von der behaupteten Gegenwart nicht zu unterscheiden.

Die Retrowelle des Jahres 2015, in der Hörspielkassetten und Retro-Sneakers plötzlich wieder im Trend liegen, verlangte eigentlich nach einem Film wie "Pixels". Leider lösen Columbus und Sandler aber in genau diesem Punkt ihr Versprechen nicht ein. Dafür bleibt das ganze Nerdtum zu sehr im Fremdscham verhaftet, und dafür wirkt "Pixels" mit seiner konservativen Familienmoral in der vollkommen überflüssigen Liebesgeschichte zwischen Monaghan und Sandler und auch in seinen generell stereotypen Charakteren zu spießig. Die vielen popkulturellen Referenzen haben oft einen stark aufzählenden, altklugen Ton und können sich daher nie vom Status lösen, nur Plagiate einer einstmals beliebten Vintage-Ästhetik zu sein. Nostalgie kommt da deshalb nicht auf, weil Sandler nie der wirklich coole Nerd sein darf, sondern der Loser sein muss, dessen Videospiel-Vernarrtheit trotz ihrer Beihilfe zur Weltenrettung eher als liebenswerte Macke denn als vertretbare Leidenschaft dargestellt wird. Statt die damalige Faszination für vergessene Figuren wie Q*Bert oder die Centipedes zu ergründen, erweist sich "Pixels" zum Ende hin immer mehr als durchschnittliche Actionkomödie mit passablen Gags, die erst im überaus kreativen Abspann, der im launigen zweidimensionalen 8-Bit-Design gestaltet wurde, ein wenig andeutet, dass ihre Macher ursprünglich wohl mehr im Sinn gehabt haben als sie hier zeigen.

Fazit: Als kurzer Aufschub der eigenen Adoleszenz und poppige Collage bekannter Gamer-Oldies wird "Pixels" gleichermaßen überraschen wie enttäuschen. Überraschen deshalb, weil die professionelle Arbeit von Chris Columbus die zotigen Chaoten Adam Sandler und Kevin James deutlich seriöser handhabt, als man angenommen hätte und zudem mit erstaunlichen Effekten, ordentlicher Action und ein paar geglückt schrulligen Ideen gefällt. Die durchgängig propagierte Nostalgie wird aber wohl nur bei jüngeren Semestern funktionieren, die über die absurden Frisuren und Uralt-Grafiken von Spielen wie "Galaga" staunen können, während sich bei Zeitgenossen eher weniger Flashbacks einstellen. Dafür ist "Pixels" zu erkennbar ein Kind seiner eigenen Zeit und auch etwas zu brav im Mainstream verhaftet, um seinem selbst gestellten Anspruch als Nerd-Film vollkommen gerecht zu werden. Für etwas Quality-Time mit dem Sohnemann also empfehlenswert, darüber hinaus aber nur Einmalunterhaltung.

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Sartre im Suff: Der Exzess geht der Existenz voraus...

Beitrag von Wallnuss » 28.08.2018, 12:53

So was von da

"Jetzt der Abspann. Das wäre perfekt." - Nein, das ist keine Aussage eines gelangweilten Kinozuschauers, sondern der Wunsch von Oskar. Für ihn könnte "So was von da" bereits enden, bevor er begonnen hat. Er weiß, dass es besser nicht mehr werden kann - umringt von seinen betrunkenen Freunden, die an ihn gelehnt mit Absinth-Gläsern in ihren Händen stehen. Oskar weiß: Dies ist nicht nur der Höhepunkt des Films, es ist der größte Moment in seinem Leben. Doch der Zuschauer sieht etwas anderes: Einen Haufen hoffnungsloser Versager, die ihre letzten grauen Zellen für den nächsten Trip geopfert haben und nach dem Aufwachen wieder in ihrer traurigen Existenz angekommen sein werden. Und gleich hierin schlummert die kluge Wechselseitigkeit dieses eigenwilligen Films: Er spielt mit innerer und äußerer Wahrnehmung. Er zeigt eine legendäre Silvesterparty auf dem Hamburger Kiez, die für ihre Teilnehmer enorm aufregend gerät - betrachtet wird sie hier jedoch von dem stocknüchternen Zuschauer im Kinosessel.

Ein kurzes Zucken, ein plötzliches Grinsen, ein lautes Geräusch, ein gelebter Impuls. Die Spontaneität einer kurzen Denkpause, der in Sekundenbruchteilen vorbeiziehende Augenblick, es sind genau diese Momente, denen Improvisationsfilmer Jakob Lass in seiner Filmografie nachjagt. Seine Drehbücher sind oft nur vage Skelette, Konzeptzeichnungen, die die Darsteller vor laufender Kamera ausfüllen müssen. Und genauso näherte er sich in "So was von da" dem (fast) gleichnamigen Kiezroman von Tino Hanekamp mit einer ganz eigenen Herangehensweise. In einem Casting-Aufruf für Statisten ließ die Produktionsfirma verlauten: "Die Werktreue der Romanverfilmung besteht nicht in einer Reproduktion der Dialoge aus dem Buch, sondern darin, das Lebensgefühl des Romans auf die Leinwand knallen zu lassen." Und genauso will Lass verstanden werden. Oskars Odyssee durch das Nachtleben in St. Pauli ist in seiner Sprache und etwa durch den Auftritt des im Hamburger Rotlichtmilieu bekannten Kiezkalle (der sich gleich selbst verkörpert) zwar eindeutig in der Elbstadt verhaftet, erzählt aber eine universelle Geschichte einer postmodernen Jugendkultur, die lieber im gelebten Moment verglüht, als beim Gedanken an die Zukunft zu verbrennen. Das Feiern ist für die Veranstalter dieser Silvesterparty seine eigene Essenz, das eigene private Versagen wird mit Stolz und Pathos betrachtet, etwa wenn Oskar aus dem Off verkündet, seine Seele sei so kaputt wie seine eingetretene Wohnungstür.

"So was von da" erzählt von einem Hochgefühl, bevor einen die bittere Realität ins Leben zurückführt. Oskar sieht sich zwar bedroht, "Kiezkalle" will 10.000 Euro von ihm, sonst sind seine Finger dahin. Doch je später die Nacht, umso egaler wird Oskar die zunehmende Bedrohung. Was zählt, ist die totale Gegenwart, die Dancefloor-Euphorie, die Lass ganz direkt einfängt, unverfälscht. Um das zu erreichen ließ er seine Darsteller nicht nur die meisten Dialoge improvisieren, sondern drehte an 4 Tagen in einem echten Hamburger Club, während des Betriebs. Hauptdarsteller Niklas Bruhn ist dafür die Idealbesetzung. Er trifft den richtigen Ton aus sensibler Nachdenklichkeit und hedonistischer Unruhe. Als besonders amüsant ist zudem der selbstironische Gastauftritt von Bela B. als von den Toten auferstandener Altrocker zu erwähnen, der wohl als einziges Zugeständnis an die Vorlage eine abgeschlossene Nebenhandlung zugestanden bekommt. Ansonsten geht es gehörig chaotisch zu, so chaotisch, dass Wunsch, Wirklichkeit und Drogenhalluzinationen kaum noch zu unterscheiden sind. In einem wilden Ritt jongliert Lass mit Jump-Cuts, Zeitraffern, Split-Screen-Aufnahmen und filmt dazu bei Doppelbelichtung mit einer Wackelkamera, immer so, als suche er nach einer Geschichte, einer tieferen Bedeutung oder gar einer narrativen Struktur, erfolglos. Den steigenden Eskalationsstufen kann kein Kamerateam der Welt einen Sinn verleihen, es kann nur durch den filmischen Stakkato dem Exzess möglichst nahe kommen.

Aus eben diesem Grund galt der Roman als unverfilmbar, doch wenn man den Berserker-Sog der Adaption erlebt hat, weiß man, dass sie den Roman eher erweitern als umsetzen will. Erweitern um Techno-Musik, um kantige Gesichter und um stroboskopisch durchsetzte Nebelschwaden, die erst ganz am Ende vom apokalyptisch wirkenden Sonnenlicht aufgelöst werden, dass den drohenden Untergang aller Figuren ankündigt - wohlgemerkt ohne, dass Lass ihn zu zeigen gedenkt. "So was von da" ist der Sturm vor der Ruhe, ein Konglomerat aus Energie und Verzweiflung. Etwa, wenn blutend trotz Kniescheibe im Fuß weiter gefeiert, das Verführen der eigenen Exfreundin erst als Triumph und dann als persönliche Niederlage gedeutet und ein Gehirntumor per Hand aus dem Kopf herausgenommen und damit Golf gespielt wird. Von der destruktiven Grundhaltung ihres eigentlich kindischen Benehmens spüren die Figuren allerdings wenig. Für eine solche Erkenntnis bleibt ihnen in ihrem faszinierenden Mikrokosmos auch keine Zeit. Lass konzentriert sich wie Oskar auf das Hier und Jetzt, und lässt es genau dann endgültig im Rausch versinken, als das Leben wieder an dessen kaputte Tür klopft. Wer sich darauf einlassen kann, erlebt im Kino letztlich auf ganz andere Weise dasselbe wie Oskar. Rastlose Melancholie, aber auch ermüdende Ziellosigkeit.

Fazit: "Was früher mal der Knaller war ist heute nur noch Krach | Und drei Tage wach gleich zwölf Tage schwach | Früher waren wir Bunnies, heute sind wir alte Hasen | Und die Blüten uns'rer Jugend blühen bei uns nur noch in Vasen" - Zwar ist es nicht direkt diese Stelle aus dem Song "Ich Rollator mit meim Besten" der Band Grossstadtgeflüster, die in "So was von da" zitiert wird, dennoch wirkt sie wie eine Zusammenfassung der Party-People-Polterei. Die Frage, wohin all das Chaos und die irrealen Abenteuer hinführen sollen, steht dem direkten Erlebnis nur lästig im Weg. "So was von da" ist mehr Form als Inhalt und zieht seinen Reiz aus der Diskrepanz dessen, was Oskar sieht und was wir sehen können. Beginnend mit seinem Wunsch nach einem Abspann, bevor wir ihn überhaupt kennen gelernt haben. Doch hätten wir auf ihn gehört, würden wir uns am Ende vielleicht nicht so leer und so verkatert fühlen.

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Ein Predator macht noch keinen Kult

Beitrag von Wallnuss » 12.09.2018, 10:13

Predator: Upgrade

Würde man Filme stets für bare Münze nehmen, so müsste man spätestens bei Fortsetzungen oft schmunzelnd den Kopf schütteln und fragen: Warum greifen Monster oder Aliens überdurchschnittlich oft die USA an? Warum passiert ausgewählten Herrschaften wie John McClane oder James Bond immer wieder dieselbe Geschichte? Und warum plagen gewisse Kreaturen in regelmäßigen Intervallen nicht nur die Kinozuschauer, sondern auch ganz banal den Planeten Erde? Zumindest letztere Frage versucht Regisseur und Drehbuchautor Shane Black zu erläutern, wenn er in "Predator: Upgrade" selbstironisch erklärt, dass der ikonische Dreadlocks tragende Trophäenjäger aus dem All seit seinem ersten Erscheinen im Action-Meisterwerk von John McTiernan 1987 mehrfach zur Verbesserung seiner Fähigkeiten zum blauen Planeten zurückkehrte. Zwar ist dies eine kreative Erklärung für die vielen seelenlosen Fortsetzungen des Originals in Film- oder Comicform, doch rettet es "Upgrade" nicht davor, sich in genau diese Sparte einzugliedern.

Für "Predator"-Fans ist Shane Black kein unbeschriebenes Blatt. Er selbst sollte damals für die Produzenten des Urfilms am Drehbuch mitwerkeln und - obwohl er dies verweigerte - wurde er als einer der Soldaten besetzt, die an der Seite von Arnold Schwarzenegger im Dschungel ums Überleben bangen mussten. Der Film erwies sich damals als unerwarteter Erfolg. Nicht nur Arnie, die brutale Gewalt und das faszinierende Monsterdesign von Stan Winston überzeugten, sondern auch die tiefere Ebene hinter dem Katz-/Mausspiel. Als Parabel auf das anhaltende Vietnam-Trauma der USA zeigte "Predator" stahlharte Kerle wie Jesse Ventura oder Carl Weathers verzweifelt und chancenlos gegen den überlegenen Jäger. Und genau hier scheitert Blacks 31 Jahre spätere Fortsetzung im Geiste. So sehr seine auf Political Correctness verzichtende, mit deftiger Splatter-Gewalt ausgestattete Erzählung das Herz von 80er-Actionfans kurzzeitig zum Hüpfen bringen könnte, so sehr verpasst Black es, seinem "Upgrade" jene Eigenschaften mitzugeben, die "Predator" einst zu mehr als einem Testosteron getränkten Männerfilm machten: Menschliche Akteure, tiefere Absichten und vor allem eine Vision. Stattdessen ist es eine ganz andere Mission, die Black und seine Produzenten verfolgen und die sich erst in der letzten Szene äußern: Die Erweiterung/Erneuerung der Marke zum Franchise.

Die Crux eines jeden Reboots ist, dass sie bevor sie etwas neues, aufregendes mit der Marke probieren kann, erstmal für die neuen Zuschauer das Altbekannte neu aufwärmen muss. "Predator: Upgrade" hakt dabei so routiniert und uninspiriert den Predator-Mythos ab, dass er dabei das Monster vollkommen entmystifiziert, erst recht, als Black die Jagdaktivitäten der außerirdischen Mörder mit modernen Problemen wie der globalen Klimaerwärmung verknüpft. Natürlich ist der Predator schon optisch heute zu bekannt, um noch echten Grusel auf der Leinwand aufzulösen, doch das entschuldigt nicht, wie lustlos Black ihn nur als Katalysator für eine groteske Actionkomödie missbraucht. Akteure wie Boyd Holbrook, Olivia Munn, Sterling K. Brown oder Thomas Jane definieren sich nur über ihre Qualität mit der Waffe und ihre Quantität an Onelinern, bleben aber austauschbare Pappkameraden, die größtenteils ohnehin nur als Kanonenfutter gedacht sind. Besonders schmerzhaft ist in dem Zusammenhang ein ganzer Subplot um einen autistischen Jungen, der nicht nur die Sprache der Predator ad hoc verstehen lernt, sondern dessen Autismus vom Script auch als nächste Stufe der menschlichen Evolution bezeichnen wird. Schon in seinen vorherigen Regie-Ausflügen "Kiss Kiss Bang Bang" und "The Nice Guys" liebäugelte Shane Black mit geschmacklosen Elementen in Verbindung mit klassischen Erzählstoffen wie etwa den Romanen von Raymond Chandler, doch der Humor von "Predator: Upgrade" fühlt sich erstaunlich altbacken an, während dem Film ansonsten misslingt, gleichermaßen die Bedürfnisse der 80s-Fans und die des jungen Franchise-affinen Publikums unter einen Hut zu bringen.

So scheint "Upgrade" ein Potpurri an im schlechten Sinne absurden, fehlgeleiteten Ideen zu sein. Für die Hardcore-Nerds gibt es da z.B. eine lange Diskussion über die Richtigkeit der Bezeichnung "Predator" für einen aus Leidenschaft tötenden Jäger, während jüngere Semester sich über ein ausladendes CGI-Finale und neue Kreaturen wie einem mutierten Riesen-Predator und außerirdischen Jagdhunden ("Predadogs") erfreuen sollen. In den wenigen gelungenen Momenten, die meist als Hommage an McTiernans Erstling gedacht sind, zeigt sich, dass Black sich eigentlich die 80er zurückwünscht, als der sogenannte "Männerfilm" noch florierte, doch mit seinem sterilen Look, den (zugegeben durchs Budget bedingten) schwachen visuellen Effekten und seiner eindeutigen Franchise-Kompatibilität ist "Predator: Upgrade" trotz politisch unkorrekter Dialoge und viel Gore-Brutalitäten viel zu sehr ein Kind des Jahres 2018, um diesem Anspruch genüge zu werden. Was bleibt ist ein Drehbuch, dass seine Vielzahl an hanebüchenen Momente so oft mit selbstreferenziellen Gags zu retten versucht, dass "Upgrade" eher als "Predator"-Parodie denn als ernsthafte Fortführung des Kino-Mythos funktioniert. Einzig der wie so oft fantastische Soundtrack-Komponist Henry Jackman erfüllt die Anforderungen an einen "Predator"-Neuaufguss nach 31 Jahren: Treibend, dynamisch und packend zelebriert er musikalisch den Actionkult und hat in all dem Bombast immer noch genug Platz für die Originalmusik von Alan Silvestri. Vorbildlich!

Fazit: Jeder Fangruppe sei ein solcher Nostalgie-Trip wie "Predator: Upgrade" natürlich vergönnt. Doch selbst den härtesten Verfechtern der extraterrestrialen Menschenjagd wird auffallen, dass letztlich nichts im schon sechsten Leinwandausflug des Alien-Punks sich so in die Filmgeschichte wird eintragen können wie es McTiernan und Schwarzenegger 1987 gelang. Was sicher nicht das Problem wäre, wenn das "Upgrade" für den Kinokult nicht schon beim Einsetzen des Abspanns wieder vergessen wäre und höchstens dazu animieren könnte, sich wieder den Originalen zu widmen. Ob es wirklich zu den angedeuteten Fortsetzungen kommen wird, bleibt ungewiss. Shane Black, der derweil damals als Soldat im Urwald als erster dem "Predator" zum Opfer fiel, zeigt hier nur erneut, dass er ihm bislang nicht gewachsen ist.

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Nichts ist unglaublicher als die eigene Familie

Beitrag von Wallnuss » 30.09.2018, 15:34

Die Unglaublichen 2

Vierzehn Jahre lang haben große und kleine Kinder warten müssen, jetzt ist es endlich soweit. Die Unglaublichen sind zurück! Wir erinnern uns: 2004 endete der weltweit gefeierte Superheldenfilm der Pixar Studios mit der Ankunft des Tunnelgräbers, einem maulwurfartigen Schurken mit riesigem Bohrer. Regisseur Brad Bird hatte also wirklich die Frechheit besessen, ganz nebenbei einen der besten Kinder- und einen der besten Superheldenfilme aller Zeiten mit einem riesigen Cliffhanger enden und sich dann 14 Jahre Zeit für die Fortsetzung zu lassen. In dieser Spanne hat die Filmwelt sich gewaltig verändert. Superheldenfilme sind keine Event-Blockbuster mehr, sondern in Zeiten geteilter Filmunivsersen à la Marvel längst Kino-Alltag. Doch das ist eben das Unglaubliche an den Incredibles: Der Konkurrenz zum Trotz bleiben sie sich treu und stellen alle Helden-Konkurrenz mühelos in den Schatten.

Mustergültig zeigt Brad Bird, wie eine so späte Fortsetzung aussehen muss. Im genau richtigen Maße setzt "Die Unglaublichen 2" auf den richtigen Mix aus alt bekannten und neuen Elementen und vermeidet es konsequent, nur die Highlights seines Vorgängers zu wiederholen. Natürlich sind neben den fünf Familienmitgliedern auch geliebte Randfiguren wie Eisheld Frozone oder die kultige Kostümdesignerin Edna Mode ("No capes!") wieder mit von der Partie, doch wie Bird diese mittlerweile nostalgischen Charaktere in eine faszinierende, spannende und vor allem frische Geschichte verwebt, ist in Zeiten immer liebloserer Fortsetzungen eine Wohltat! Wie schon der erste Teil begeistert das Sequel durch eine erstaunlich erwachsene Geschichte, die gekonnt Animationsfilm-typischen Albernheiten mit brillant getrickster Action und klug durchdachten Charaktermotivationen vermengt und dabei höchst witzig gängige Rollenklischees bricht: Um die Beliebtheit und Akzeptanz von Superhelden bei der Bevölkerung zu fördern, plant ein Werbefachmann eine große Medienoffensive - ausgerechnet mit Elastigirl als Protagonistin. Ihr Ehemann Mr. Incredible guckt da in die Röhre. Während sie in spektakulärer Manier Züge am Entgleisen hindert und Superschurken bekämpft, steht er vor seiner größten Herausforderung: Einem pubertierenden Teenie-Mädel mit Liebeskummer, einem hyperaktiven 10 Jährigen mit Bergen an Mathehausaufgaben und einem Baby, dass beim Windeln wechseln gerne mal unkontrolliert mit seinen Laseraugen los schießt.

Dass der Mann zu Hause bleibt, während die Frau arbeiten geht, ist kein Zufall. "Die Unglaublichen 2" handelt immer wieder davon, dass man seinen Platz finden muss, um sich selbst zu finden (oder hier: die Welt zu retten). Klassische Rollenbilder werden regelmäßig neu verhandelt, etwa durch die Tatsache, dass der heimliche Star des Films, der Säugling Jack-Jack, mit seinen zahlreichen verblüffenden Superkräften dem Rest der Familie weit überlegen ist. Auch der neue Oberschurke trägt dazu bei: Im Verlauf der Story versucht der ominöse Screenslaver, über TV- und Computerbildschirme Superhelden zu hypnotisieren und zu seinen willenlosen Sklaven zu machen. Nicht genug, dass Bird diese Figur nutzt, um im dritten Akt ungewöhnliche Gegner-Konstellationen aufzubauen, so ist der Screenslaver auch ein schöner Meta-Verweis auf die zunehmende Konsumkultur und den auf Kinoleinwänden immer größer werdenden Superheldenhype. Mit Sätzen wie "Superhelden sind Teil eurer hirnlosen Begierde, echte Erfahrungen durch Simulationen zu ersetzen" wendet sich "Die Unglaublichen 2" direkt an das Kinopublikum und setzt so den Trend von Bird vor, mit den Abenteuern der animierten Heldenfamilie auch das erwachsene Publikum durch kluge Meta-Gags ernst zu nehmen. Die spät eingeführte, extrem überzeichnete neue Heldentruppe in überdeutlicher Anlehnung an die "Avengers" aus dem Marvel Cinematic Universe hätte es in ihrer Plumpheit gar nicht gebraucht, zeigt aber, wie popkulturelle Referenzen in der Welt der Unglaublichen stets auch für die Erweiterung ihres filmischen Universums genutzt werden, statt nur als Selbstzweck zu dienen.

Trotz aller unterschwelliger Konsumkritik ist die schwungvolle Fortsetzung aber kein spießiger Konzeptfilm, sondern in erster Linie bildgewaltiges, atemberaubend ausgewogen erzähltes Popcorn-Kino. Schon in den ersten fünf Minuten hängt Bird in Bezug auf perfekt und detailreich animierte Bombast-Action die Messlatte auf neue Höhen. Auch in Folge gelingt es ihm bravourös zwischen den an Comic-Strip-Ästhetik erinnernden Actionsequenzen mit Elastigirl und den rasant chroreographierten Slapstick-Szenen beim Rest der Familie hin und her zu navigieren. So ganz kann "Die Unglaublichen 2" das große Erbe seines Vorgängers aber nicht verleugnen. Teil 1 war nicht mehr und nicht weniger als ein perfekter Unterhaltungsfilm, ein Meilenstein der Animationstechnik, des Superheldengenres und dank des fantastischen Soundtracks von Michael Giacchino (der in Teil 2 ebenfalls abliefert) auch eine großartige Parodie auf die James-Bond-Filme. Diese unglaubliche Leichtigkeit erreicht das Sequel nicht ganz, dafür ist der Screenslaver als Schurke vielleicht etwas zu düster geraten und die Trennung der Familie in dem 118 Minuten langen Film eine Spur zu lang, sodass die wunderschönen Ensemble-Momente erst sehr spät auftreten. Fans werden das aber zu verschmerzen wissen, wenn man dafür nach 14 Jahren so sehr und so unterhaltsam für sein Warten belohnt wird.

Fazit: Wer angesichts der vielen ankündigten Fortsetzungen aus dem Hause Pixar die Originalität die Innovationsschmiede vermisst, den wird Brad Bird mit "Die Unglaublichen 2" versöhnlich stimmen: Ohne Schwierigkeiten gelingt es ihm, den eskapistischen Spaß des Vorgängers zu wiederholen, und dabei all das zu bieten, was sich das Superhelden-erprobte Publikum wünscht. Eine spannende Story voll spritziger Witze, facettenreicher Charaktere, die trotz all der wilden Action das Herz immer am rechten Fleck hat. Gleichzeitig vermeidet er, wie genügend andere Superheldenfilme erneut die Frage der Selbstjustiz zu stellen, sondern bekennt sich ganz offensiv zu seinen Helden, was in dieser altmodischen Art wunderbar zum verspielten Enthusiasmus des Filmes passt. Ein dritter Teil darf hier gerne kommen, zumal die finale Abrechnung mit dem Tunnelgräber, wie ein subtiler Gag am Ende des Abspanns (heute bei Blockbustern eben Standard) ankündigt, noch aussteht. Daumen drücken, dass es nicht wieder 14 Jahre dauert, bis wir "Die Unglaublichen" wiedersehen dürfen.

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Knall auf Fall in ein neues Abenteuer

Beitrag von Wallnuss » 19.12.2018, 22:18

Mary Poppins' Rückkehr

Selbst den unkritischsten Zuschauern ist mittlerweile bekannt, wie wenig Skrupel die Produzenten von Disney dabei kennen, aus alten Filmstoffen neues Geld zu scheffeln. Das erreichte seinen Höhepunkt mit der Rückkehr der Marke "Star Wars" im Jahre 2015 und erstreckte sich über zahlreiche bereits erschienene oder geplante Realfilm-Remakes alter Zeichentrickklassiker. "Das Dschungelbuch" oder "Die Schöne und das Biest" sind längst neuaufgelegt, für die nächste Zeit sind u.a. "Der König der Löwen", "Dumbo", "Mulan", "Susi & Strolch" und "Aladdin" geplant. Als jedoch angekündigt wurde, dass Disney ganze 54 Jahre nach "Mary Poppins" von Robert Stevenson eine Fortsetzung mit Emily Blunt in der Kultrolle von Julie Andrews schlechthin geplant sei, war die Skepsis hoch, gilt dieser Musicalmeilenstein doch als eines der heiligen Kühe der Unterhaltungsindustrie. Kann eine solche Fortsetzung, die im Übrigen bislang späteste ihrer Art in der Filmgeschichte, überhaupt funktionieren?

In der Filmzeit zwischen "Mary Poppins" und "Mary Poppins' Rückkehr" sind zwar keine 54, aber dennoch etwa 25 Jahre vergangen. Der träumerischen, end-viktorianischen Zeit der Fin de siècle des Vorgängers folgt nun der "Great slump", die Depressionsära, und obgleich London auch in dieser filmischen Bühnenschau wie einer Postkarte entnommen anmutet, ist der Einstieg deutlich wehmütiger und schwerer als einst im Original. Entpuppte sich der Kernkonflikt um die Banks-Kinder Michael und Jane dort als Spannung zwischen ihrem strengbürgerlich auftretenden Vater und ihrem eigenen kindlichen Freiheitsstreben, ist der Grund für Mary Poppins Erscheinen diesmal ein ernsterer. Michael hat vor kurzem seine Frau bei einem Unfall verloren, ist mit seinen eigenen drei Kindern überfordert und wird von der Bank aus seinem Haus geschmissen. So überrascht Disney schon zum zweiten Mal im Kinojahr 2018 mit einer erstaunlich selbstreflexiven Fragestellung. Bereits in "Christopher Robin" zeigte Marc Forster den einstigen besten Freund von Winnie Puuh als desillusionierten Erwachsenen, der von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs geprägt wurde, und fragte, was von der Magie der Kindheit später übrig bleibe. Auch Michael und Jane sind kaum noch als ihre frühpubertären Kinds-Versionen wieder zu erkennen. Und so verwundert es nicht, dass Mary Poppins bei ihrem ersten Auftritt betont, sie sei erneut gekommen, um sich um die Banks-Kinder zu kümmern, wobei sie Michael und Jane ganz direkt miteinschließt.

Natürlich ist "Mary Poppins' Rückkehr" aber kein angestrengtes Sozialdrama und auch wenn kurzzeitig Schlangen vor den Suppenküchen und die Londoner Arbeiterbewegung angesprochen werden, müssen diese sozialen Themen allzu bald guter Laune und tanzenden Menschen weichen. Rob Marshall nutzt die Trostlosigkeit dieser historischen Epoche für einen Appell an den Geist der Einfachheit und für eine Rückbesinnung auf die "glücklichere" Vergangenheit. Nostalgie wird hier großgeschrieben, und Musicial-Routinier Marshall erzählt die verschiedenen Abenteuer von Mary und den drei Banks-Kindern mit Verve und deutlicher Reminiszenz an den Stil des Originals. In einem langen Ausflug geht es so erneut in eine Fantasie-Welt, die ganz im 1960er-Zeichentrickstil gestaltet wurde, und auch wenn keiner der legendären Songs des 64er Films wie "Chim Chim Cheree" oder "Supercalifragi..." neu aufgenommen wurde, erinnern die neuen, teils wunderbar komponierten Lieder überdeutlich an ihre Vorbilder. Und überhaupt ist diese "Rückkehr" fast schon überfüllt mit dem Gefühl des Vertrauten. Der Charakter des Lampenanzünders Jack kommt wie eine Kopie des Schornsteinfegers Bert daher, nur das Lin-Manuel Miranda zu keiner Sekunde an Dick van Dyke heranreicht (der dafür selbst einen famos-ironischen Cameo spendiert bekommt). Die großen Wendungen der Geschichte sind nahezu identisch mit jenen zarten Dramatisierungen in Stevensons Film. Und selbst die großen Starauftritte von Meryl Streep und Colin Firth sind zwar einerseits wunderbar gelungen, und leiden andererseits doch darunter, dass auch ihre neuen Figuren eigentlich keine sind. Streeps "Topsy" ist der Ersatz für die Nummernrevue des Onkel Alberts im Vorgänger und Colin Firth der nächste Mr. Dawes, der den kalten Kapitalismus des Bankenwesens zur Schau stellt.

Nostalgisch veranlagten Zuschauern wird das nicht viel ausmachen, denn die bekommen hier genau das geboten, was sie erwartet haben: Eine exakte Reanimation eines Kinokults, der seine anfänglich neue Wehmut durch ein Loblied auf alte Werte verdrängt. Und dagegen wäre bei einer so späten Fortsetzung gar nicht mal etwas zu sagen, wenn "Mary Poppins' Rückkehr" nicht viel mehr Remake als Sequel wäre. Dadurch entsteht einmal zu oft der Eindruck, Marshall habe so sehr auf Nummer Sicher gehen wollen, dass er vergessen hat, eigene Akzente zu setzen. Die kommen dafür von jemand ganz anderem: Was Emily Blunt in der Titelrolle veranstaltet, ist genau jene Magie zu verbreiten, die in Marshalls kalkuliertem "Mary-Poppins-Best-Of" etwas zu sehr auf der Strecke bleibt. Blunt emanzipiert sich durch ihre ihr eigene Strenge und Bestimmtheit sofort von Andrews' Interpretation der Rolle, gewinnt so aber auf ihre Weise die Herzen der Zuschauer, wenn sie nach einer kurzen Maßregelung plötzlich mit funkelnden Augen in voller Montur in der Badewanne versinkt und singend durch eine märchenhafte Unterwasserwelt gleitet. Sie ist der Motor, der den Film immer wieder vor dem Eindruck bewahrt, rein wirtschaftlich motiviert zu sein, und in der sich alle pädagogischen Ansätze der Rolle vereinen. Die Lebensphilosophie, die Mary-Poppins-Erfinderin P. L.Travers in ihren Romanen einst ausdrücken wollte, die unschönen Einflüsse des Lebens aus der Distanz mit Humor zu nehmen und seine Fantasie zu beanspruchen, artikuliert sie nicht über die Songtexte, sondern einzig über ihre Ausstrahlung und Spielfreude. Mehr von dieser Kraft und Eigenständigkeit hätte es für "Mary Poppins' Rückkehr" gebraucht, um sich als Fortsetzung oder besser: Fortführung der Themen und Figuren des Vorgängers zu behaupten.

Fazit: Letztlich ist "Mary Poppins' Rückkehr" einer jener Filme, denen man längst nicht so böse sein kann, wie man vielleicht möchte. Denn auch wenn die sklavische Nachahmung des Originals nicht sonderlich originell daherkommt, so funktioniert sie als quietschbunter Musical-Eskapismus für Jung und Alt mit einigen wirklich schönen Szenerien. Dank der famosen Emily Blunt gelingt so ein 131 minütiges Seufzen darüber, wie schön die eigene Kindheit doch war, als man sich noch von "Mary Poppins" verzaubern lassen konnte. Und mehr als das wollte Rob Marshall vermutlich gar nicht abliefern. Sein Ziel, kurzzeitige Unterhaltung nach vertrauten Mustern, hat er zweifellos erreicht - einen neuen Klassiker schafft man so aber nicht.

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Lieben und sterben lassen

Beitrag von Wallnuss » 19.12.2018, 23:52

Widows

Es gibt Filme, da ist nach wenigen Sekunden alles gesagt. In "Widows" sehen diese ersten Momente so aus: Ein Paar liegt im Bett und küsst sich leidenschaftlich. Sie sind beide über 50, der Mann weiß, die Frau schwarz. Ihre Zungen dringen exzessiv in den Mund des anderen ein, dann ein harter Cut. Derselbe Mann, jetzt mit drei anderen Männern, maskiert und bewaffnet unterwegs, flieht von einem Raubüberfall. Einen weiteren Zwischenschnitt zum Ehegeschehen unter der Dusche später lässt er in einem Feuerball beschossen von unzähligen Polizisten sein Leben. In dieser kurzen Paralellmontage erzählt Regisseur Steve McQueen alles, was man über seinen Film wissen muss. Denn obwohl sich der Plot um drei Witwen dreht, die nach dem Tod ihrer kriminellen Gatten ihr eigenes Ding planen müssen, um den mörderischen Auftraggeber ihrer Männer zu bezahlen, ist "Widows" kein Heist-Movie, kein Thriller, und nicht mal ein echter Genrefilm, sondern eine komplexe Reflexion über den Menschen als soziales Wesen.

Obwohl es sich bei dieser Prämisse anbieten würde, ist "Widows" kein Film über tödlich coole Amazonen, die mit Todesblick und nervösem Finger am Abzug auf Rachetour gehen. Viel mehr entspinnt sich im vollgepackten Drehbuch von McQueen und Autorin Gillian Flynn nach loser Vorlage einer britischen Miniserie von 1983 ein breites Gesellschaftsporträt. McQueen nutzt das Genre des Heist-Thrillers nur lose für die innerfilmische Struktur, transzendiert sämtliche Genre-Elemente aber zu einem Konglomerat aus Politik, Emanzipation und menschlichen Abgründen. Seinen drei Protagonistinnen Veronica, Alice und Linda begegnet er mit Achtung und Mitgefühl, und lässt sie in ihrer Trauer um den schweren Verlust und das eigene "Erbe" wachsen: Veronica sieht sich durch den kriminellen afroamerikanischen Politiker Jamal bedroht, der sein Geld zurückwill, Alice ist den Misshandlungen ihres toten Mannes entkommen, aber dafür in einen Escort-Service abgerutscht und Linda muss erfahren, dass ihr privates Geschäft hinter ihrem Rücken vom verstorbenen Lebensgefährten verzockt wurde. Wie diese drei unterschiedlichen Frauen aus existenzieller Angst heraus eine Zweckgemeinschaft formen, gehört zu den großen Momenten des Filmjahres 2018. McQueen gelingt es dabei, die existentialistische Verzweiflung aller Akteurinnen so authentisch begreiflich zu machen, als würde man ihnen persönlich nahekommen. Auch danach geht er nie den einfachen Weg: Sämtliche körperlichen wie seelischen Anstrengungen auf dem Weg zum großen Überfall bekommen ebenso ihren Platz wie die lang andauernde Überzeugung des Trios, eigentlich nicht in die Kriminalität abrutschen zu wollen.

Parallel folgt McQueen aber auch einem anderen Machtkampf des Handlungsorts Chicago, wo der politische Außenseiter Jamal mit dem verlangten Geld versuchen möchte, seinen Wahlkampf gegen den schmierig-versnobten Tom Mulligan, den Stammhalter einer alteingesessenen lokalen Politdynastie, zu finanzieren. Dieser würde selbst eigentlich dem achtzehnten Bezirk Chicagos gern den Rücken zukehren, ist aber als Thronfolger seines Vaters zur Ortstreue verdammt. Wie auch bei den drei Witwen vereint sich in diesem Subplot eine Geschichte über tragische Charaktere, die verzweifelt versuchen, sich aus ihrer Statusfatalität zu erheben. Die (durchaus perfekt besetzten) Darsteller brauchen da nur noch ihr Übriges tun, um diesen bereits auf dem Papier faszinierenden Figuren Leben einzuhauchen. Colin Farrell als Mulligan brilliert dabei wie lange nicht mehr, sowie Schauspiellegende Robert Duvall als dessen Vater und Politoligarch auftrumpft. Viola Davis, Michelle Rodriguez und Elizabeth Debicki sind als Frauentrio absolut grandios, besonders Davis entspricht mit ihren bebenden Lippen und eiskalten Wimpernschlägen der suggestiven Kraft jener Bilder, die McQueens Kameramann Sean Bobbitt unvergleichlich zu kredenzen weiß. Und zusätzlich schockiert Daniel Kaluuya in einer der beängstigsten Rollen der jüngeren Kinogeschichte. Als gnadenloser Schuldeneintreiber im Dienste Jamals ist er mehrfach in unerträglich brutalen und sadistischen Gewaltszenen zu sehen, die einen so perfide wie nichts vergleichbares 2018 erwischen können.

Das alles bildet den Rahmen für einen Blick in ein Gesellschaftsviertel, welches von Korruption, Armut, Rassimus, Polizeigewalt und Gang-Kriminalität geprägt ist und in welchem sich die trauernden Witwen zu verorten versuchen. Und das dieser ambitionierte, gewalt(tät)ige und oft berührende Film nicht überfrachtet wird, liegt an der unglaublichen visuellen Erzählkunst seines Regisseurs. Wenn McQueen etwa den Tod eines schwarzen Jugendlichen durch übereifrige Cops zeigt, passiert dies unter den mahnenden Augen eines vergilbten Werbeplakats für Ex-Präsident Barack Obama. Und in einer anderen großartigen Plansequenz fährt Tom Mulligan mit seiner Sekretärin vom Wahlkampftermin in den Slums aus nach Hause - und während er im Auto tobt, bleibt die Kamera nur auf der Motorhaube und zeigt uns die vorbeiziehenden Häuser, vom Elends- ins Reichenviertel. Von der einen in die andere soziale Realität sind es nur drei Kurven. In diesen Momenten merkt man, dass hier ein Epiker des postmodernen Kinos die Zügel in der Hand hält und das es bei "Widows" viel mehr um die Welt geht, in der die Personen handeln als um klassische Suspense-Elemente. Erst in den letzten 25 Minuten verdichtet McQueen seinen Plot, und ergibt sich den funktional gemeinten Genre-Elementen mit entsprechend pulsierendem Score von Hans Zimmer, verbleibt dafür aber bei einer meisterhaften Konklusion: Offen, aber doch endgültig, bittersüß, aber nicht zu versöhnend.

Fazit: In den Hochzeiten der Serien-Unterhaltung hat sich David Simon mit "The Wire" einen Namen gemacht. Die vielschichtige, überkomplexe Geschichte der Kriminalität in Baltimore aus verschiedenen Perspektiven über einen Zeitraum mehrerer Jahre galt stets als das Paradebeispiel für Formate, die so im Kino nicht funktionieren können. Doch da hat man die Rechnung ohne Steve McQueen gemacht: Dem gelingt mit "Widows" nicht nur eine konzentrierte Analyse sozialer Ungleichheiten in Problembezirken, sondern durch geschickte Verdichtung auch ein großes, existenzielles Figurendrama vor dem Hintergrund einer formalen Genregeschichte, über Frauen, die sich nicht emanzipieren, weil das dem Bild der modernen Frau entspricht, sondern weil sie die Schnauze voll haben - und über Frauen, die einen bewaffneten Überfall auch deshalb begehen, weil dies letztlich weniger gefährlich ist als weiter in der Welt zu existieren, in der sie sich befinden. Und das dies nicht nebenbei, sondern stets miteinander verzahnt und gleichzeitig geschieht, ist eines der großen Wunder dieses Films und der Grund, warum man sich bei "Widows" keine Sekunde von der Leinwand abwenden kann.

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Re: Filmtagebuch: Wallnuss

Beitrag von Vince » 24.12.2018, 08:14

Klingt gut! Da ich aktuell Urlaub habe und sonst nicht viel läuft, wäre das eigentlich ein Kinokandidat gewesen, aber natürlich läuft der bei uns wieder nur zu unmenschlichen Zeiten.

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