127 Hours

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freeman
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127 Hours

Beitrag von freeman » 22.02.2011, 08:22

127 Hours

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Originaltitel: 127 Hours
Herstellungsland: Großbritannien, USA
Erscheinungsjahr: 2010
Regie: Danny Boyle
Darsteller: James Franco, Lizzy Caplan, Amber Tamblyn, Kate Mara, Clémence Poésy, Kate Burton, Darin Southam, Elizabeth Hales, Norman Lehnert, Priscilla Poland, Patrick Gibbs u.a.

Das Schicksal von Aron Lee Ralston ging seinerzeit vor allem durch die US-Medienwelt. Der amerikanische Bergsteiger hatte früh für sich beschlossen, alle 59 Viertausender in Colorado zu besteigen. Dabei wurde ihm irgendwann zum Verhängnis, dass er dieses Ziel im Alleingang bewältigen wollte und dabei obendrein die Eigenart entwickelte, niemanden über seine Freizeitaktivitäten in Kenntnis zu setzen. Und so kam es im April 2003, dass er bei einem eigentlich harmlosen Bergwanderungsausflug in Utah (der westliche Nachbar von Colorado) abrutschte und in eine Felsspalte fiel, wo sein rechter Arm zwischen einem ebenfalls abgegangenen Felsbrocken und der Felswand eingeklemmt wurde. Fünf Tage bzw. genau 127 Stunden verbrachte er an diesem Platz - ohne große Hoffnung auf Rettung von außerhalb seiner „neuen Heimat“. Am Ende seiner Kräfte beschloss Aron am fünften Tag seinen Arm selbst zu amputieren ...

Ein Verzweiflungsakt, der aber die einzig logische Konsequenz zu sein schien, denn weder erwiesen sich das mühsame „Zertrümmern“ des Felsens mit einem stumpfen Taschenmesser noch ein improvisierter Flaschenzug als erfolgreich. Und eigentlich war es Aron auch komplett unmöglich, den Knochen seines rechten Armes mit dem vorhandenen Taschenmesser zu durchtrennen. Wie er sich dann dennoch aus dieser Situation retten konnte, das verlangt dem Publikum eiserne Nerven ab. Von diversen Ohnmachtsanfällen und Übelkeitsempfindungen wurde bereits berichtet. In meiner Vorstellung erwischte es eine junge Dame, die wohl nach dem eiligen Verlassen des Kinosaals im Thekenbereich kollabierte.

Dennoch wäre es unfair, Danny Boyles Survivalstreifen auf diese - zugegebenermaßen sehr plastische und haarsträubend real wirkende - Szene zu beschränken, denn sein Film „127 Hours“ ist abgesehen von diesem Moment nämlich vor allem eines: Ein echter Danny Boyle Streifen. Das wird schon in den ersten Minuten deutlich, wenn in Splitscreentechnik das Aufbrechen Arons in Richtung Bergmassiv ungemein energetisch bebildert wird. Schon diese Szenen belegen erneut eindrucksvoll, dass Boyles Kino vor allem eines ist: Kinetisch bis ins Mark. Nur kurz verweilt die Kamera nach diesem Einstieg, um uns die einzigartige Schönheit der Berglandschaft nahe zu bringen.

Da begegnet Aron zwei Wanderinnen und wir lernen ihn richtig kennen. Er ist ein Adrenalinjunkie und ein von seinem Job nicht immer angetaner, junger, sportiver Mensch, der die Wochenenden in den Bergen nutzt, um abzuschalten. Hier sucht er sich die Herausforderungen, die er im Normalleben nicht findet, und hier kann er ein Leben führen, wie es ihm gefällt. Und zwar vollkommen allein. Er ist nämlich ein Einzelgänger, den Anrufe seiner Familie, seien sie noch so selten, nerven, weshalb er auch nie zurückruft. Und er will auch gar nicht, dass jemand weiß, wo er ist. Ein Handy hat er demzufolge auch nicht dabei. Die idealen Voraussetzungen also für einen folgenschweren Zwischenfall. Selbst die Einladung durch die beiden Wanderinnen, mit denen er eine kurze, aber lustige Zeit verbringt, beantwortet er eher höflich mit einem „Vielleicht“.

Derart kurz und prägnant verortet stürzt Aron dann in die Felsspalte und startet Danny Boyle seinen Angriff auf die Sehzentren des Zuschauers. Denn im Gegensatz zu dem unlängst gelaufenen und ähnlich gelagerten Streifen „Buried“, der ebenfalls nur an einem Schauplatz spielte (wenngleich „Buried“ dahingehend noch konsequenter war), kann sich Boyle nicht auf einer spannenden, an einen Thriller gemahnenden Handlung ausruhen, sondern er muss das Martyrium Arons für den Zuschauer greifbar machen. Dankbarerweise versuchte der wahre Aron in den 127 Stunden einiges, um sich zu befreien, und verharrte nicht in Schockstarre, so dass Boyle einiges zu präsentieren hat, was die Spannung oben hält.

Dennoch macht er den „Fehler“ (je nachdem wie einem diese Szenen gefallen), dass er von dem ungemein involvierenden und zermürbenden Befreiungskampf immer wieder mal weggeht und dem Zuschauer in Flashbacks, Visionen und Träumen nahe zu bringen versucht, was Aron wohl empfunden haben mag und was seine Gedankenwelt umtrieb, als er dort „eingesperrt“ war. Das ist manchmal ungemein feinfühlig und schlicht brillant, in anderen Szenen arg kitschig und dem Tempo des Filmes nicht zuträglich.

Das Tempo selbst hält Boyle mit einem wilden Stilmittelgewitter extrem hoch. Denn neben Visionen und Träumen setzt es Splitscreens, wilde Wechsel zwischen grobkörnigem Video- und hoch auflösendem Filmmaterial, Zeitrafferaufnahmen, extreme Close Ups, Bildverfremdungen und obendrein ein hübsches Sounddesign. Hier und da übertüncht Boyles Inszenierungswut leider ein wenig das intensive Spiel des brillanten James Franco, der hier als Aron die Leistung seines Lebens abliefert und vollkommen zu Recht für den Oscar nominiert wurde. Vor allem gefällt, wie Franco den Humor des Filmes schultert, denn um nicht den Verstand zu verlieren oder aufzugeben, versucht Aron geistig beweglich zu bleiben. Er interviewt sich selbst und redet mit sich selbst und beweist dabei viel Selbstironie und auch seine Träume und Visionen sind immer wieder geprägt von einem köstlich lakonischen, der Situation vor allem diverse schwarze Seiten abgewinnenden Humor. In den Eingangsminuten sind mit Amber Tamblyn und Kate Mara Eye Candy Garanten dabei, spielen aber wie Clémence Poésy oder Lizzy Caplan (was für ein weiblicher Cast!) keine wirkliche Rolle für den Film. Selbst der ewige Nebendarsteller Treat Williams als Arons Vater ist nur eine Randnotiz in der Francoshow.

Was bleibt ist ein wahrer Fingernagelkiller, der dank einer sympathischen Hauptfigur, dem intensiven Spiel James Francos und der ungemein involvierenden „Was würde ich wohl in der Situation machen?“ Ausgangslage über die gesamte Laufzeit hinweg zu fesseln vermag und dank Danny Boyles ungebremster Inszenierungswut eine enorm flirrende, kraftvolle Energie verliehen bekommt. Unterstrichen wird dies durch den großartigen Soundtrack von A.R. Rahman, der ein untrügliches (und humorvolles! Die Untermalung vom Bau des Flaschenzuges sei erwähnt!) Händchen sowohl für Fremdkompositionen (Sido und Sigur Rós in einem Film?! Erstaunlich!) als auch für das selbst produzierte Themenmaterial beweist. Natürlich greift bei dem Film massiv das „Apollo 13“ Prinzip. Sprich, wenn man die letzten Tage nicht in einer Höhle verbracht hat, weiß man, dass Aron inzwischen ALLE anvisierten 4000er bestiegen hat. Doch wie dem Tom-Hanks-Streifen gelingt es Boyles Film vorzüglich, zu fesseln und eben den Weg zum Ziel zum wahren Ziel zu machen! Großartiges Ausnahmekino!
:liquid9:

In diesem Sinne:
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Beitrag von Vince » 22.02.2011, 09:32

Starke Kritik. Boyle ist so ne Sache. Der Mann macht tolle Filme, und während man sie sieht, sind sie verdammt gut, aber zurückblickend bleiben immer bleiern schwere Knödel zurück, die man gar nicht mehr unbedingt anfassen mag. Der inszeniert mir irgendwie zu fiebrig und uneinheitlich. Film wird trotzdem gesichtet, dann aber eher im Heimkino.

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Beitrag von StS » 22.02.2011, 10:59

Freu mich auch schon sehr auf den! Mal schauen - wenn der in der OV im Kino hier läuft, geh ich auf jeden Fall rein, ansonsten halt auf BR daheim. Feine Kritik, btw. :wink:

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Beitrag von Hannibal » 22.02.2011, 11:20

Sehr feine Kritik mal wieder, die sich im Großen und Ganzen mit meinen Eindrücken vom Streifen deckt, auch wenn du das ganze einen Tick positiver siehst ;)

Nur eine Kleinigkeit: Die Canyonlandschaft, in der Aron unterwegs ist, befindet sich in Utah und nicht in Colorado, da sind auch keine 4000er in der Nähe ;)

Auch nochmal mein Bier zum Film:
Die verrücktesten Geschichten schreibt das Leben selbst...so basiert auch die Story von "127 Hours" auf einer unglaublichen realen Begebenheit, welcher sich Danny Boyle annahm und sie in eine intensive, brilliant inszenierte One-Man-Show von James Franco verpackte. Die inszeniatorisch hervorragende Umsetzung des Stoffes ist stellenweise allerdings so perfekt, dass dem Film jegliche Luft zum Atmen genommen wird ohne Raum für Improvisation, ohne Raum für echte Gefühle. Stellenweise scheucht Boyle den äußerst souveränen Franco so sehr durch sein Stilmittelchaos aus Traumsequenzen, Split-Screens und Flashbacks, dass es schwer fällt eine emotionale Verbindung zum ausweglosen Schicksal des Protagonisten herzustellen. In Momenten wie dem tatsächlichen Arm-Abtrennen gewinnt der Film allerdings enorm durch den Inszenierungsstil, denn die Schmerzen von Franco werden mit einer audiovisuellen Meisterleistung geradezu perfekt und gnadenlos in den schockierten Kinosaal hineingepumpt. In unserer Vorstellung gab es gar einen Zuschauer, der über die Szene in Ohnmacht fiel...auch noch nie erlebt! :D
Was die Form angeht ist "127 Hours" also grandios, was die Komposition der (natürlich größtenteils vorgegebenen) Geschichte angeht, bleibt Spielraum nach oben, worunter auch Franco's Spiel leidet, der nicht etwa gegen einen übermächtigen Schauspieler anspielen muss, sondern stellenweise verzweifelt gegen das Stilmittel-Inferno von Boyle kämpft und somit nicht die Höchstleistung erreicht, die einen Oscar rechtfertigen würde, im Gegensatz zur bspw. grandiosen Natalie Portman in "Black Swan", auch wenn man die FIlme natürlich nur schwer vergleichen kann.
Dennoch ein höchst imposanter Trip in den Südwesten der USA, der in seiner unendlichen Schönheit fantastisch eingefangen wurde!
:liquid8:

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Beitrag von Wallnuss » 22.02.2011, 22:27

127 Hours ist ein Film der etwas anderen Art.Es ist ein Film der einen durch die Spannung und die Relitätsnähe in seinen Bann zieht so dass man durch den grausigen Moment in dem sich der Protagonist selbst den Arm amputiert geschockt wird.Boyle hat das geschafft was sehr schwer ist im Filmgeschäft:
Ein One-Man Show ohne irgendeinen Gegenspieler zu inszenieren.Das gelingt ihm durch einen sauberen Schnitt,einem (wie ich finde) genialem Soundtrack und einem starken Hauptdarsteller (James Franco) der seiner Rolle das gewisse etwas verleiht.Als das hebt diesem Film vom Durchschnitt ab.Doch was hat Boyle falsch gemacht:Er baut etwas viel Humor ein.Auch ist der Film etwas kurz,ich hätte gern noch mehr gesehen aber das sind nur Anmerkungen.Denn wenn Leute im Publikum in Ohnmacht fallen,der Film für 6 Oscars nominiert ist und sogar Aron Ralston selbst bei der amputations Szene seine Schwierigkeiten hatte dann sagt mir das,das Boyle hier einen excellenten Film geschaffen hat.Ich war im Kino jedenfalls positiv überrascht und vergebe daher

:liquid9: Punkte.

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Beitrag von freeman » 23.02.2011, 08:25

@ Hanni: Also meines Wissens wollte Ralston eben alle 4000er Colorados besteigen, weshalb ja dieser Unfall in Utah von ihm so bewertet wird, dass es eben ein vollkommen harmloser Ausflug war ... aber du hast recht, es ist irgendwie zu verknappt ausgedrückt. Ich habe den Einstieg mal minimal angepasst.

In diesem Sinne:
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Beitrag von Hannibal » 23.02.2011, 10:10

Ah, jetzt hab ich's auch verstanden, wie du's gemeint hattest :D Hm, dann mein Fehler, sorry ;)

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Beitrag von freeman » 24.02.2011, 09:10

Quadderadatsch ;-)

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