
Originaltitel: 127 Hours
Herstellungsland: Großbritannien, USA
Erscheinungsjahr: 2010
Regie: Danny Boyle
Darsteller: James Franco, Lizzy Caplan, Amber Tamblyn, Kate Mara, Clémence Poésy, Kate Burton, Darin Southam, Elizabeth Hales, Norman Lehnert, Priscilla Poland, Patrick Gibbs u.a.
Das Schicksal von Aron Lee Ralston ging seinerzeit vor allem durch die US-Medienwelt. Der amerikanische Bergsteiger hatte früh für sich beschlossen, alle 59 Viertausender in Colorado zu besteigen. Dabei wurde ihm irgendwann zum Verhängnis, dass er dieses Ziel im Alleingang bewältigen wollte und dabei obendrein die Eigenart entwickelte, niemanden über seine Freizeitaktivitäten in Kenntnis zu setzen. Und so kam es im April 2003, dass er bei einem eigentlich harmlosen Bergwanderungsausflug in Utah (der westliche Nachbar von Colorado) abrutschte und in eine Felsspalte fiel, wo sein rechter Arm zwischen einem ebenfalls abgegangenen Felsbrocken und der Felswand eingeklemmt wurde. Fünf Tage bzw. genau 127 Stunden verbrachte er an diesem Platz - ohne große Hoffnung auf Rettung von außerhalb seiner „neuen Heimat“. Am Ende seiner Kräfte beschloss Aron am fünften Tag seinen Arm selbst zu amputieren ...
Ein Verzweiflungsakt, der aber die einzig logische Konsequenz zu sein schien, denn weder erwiesen sich das mühsame „Zertrümmern“ des Felsens mit einem stumpfen Taschenmesser noch ein improvisierter Flaschenzug als erfolgreich. Und eigentlich war es Aron auch komplett unmöglich, den Knochen seines rechten Armes mit dem vorhandenen Taschenmesser zu durchtrennen. Wie er sich dann dennoch aus dieser Situation retten konnte, das verlangt dem Publikum eiserne Nerven ab. Von diversen Ohnmachtsanfällen und Übelkeitsempfindungen wurde bereits berichtet. In meiner Vorstellung erwischte es eine junge Dame, die wohl nach dem eiligen Verlassen des Kinosaals im Thekenbereich kollabierte.
Dennoch wäre es unfair, Danny Boyles Survivalstreifen auf diese - zugegebenermaßen sehr plastische und haarsträubend real wirkende - Szene zu beschränken, denn sein Film „127 Hours“ ist abgesehen von diesem Moment nämlich vor allem eines: Ein echter Danny Boyle Streifen. Das wird schon in den ersten Minuten deutlich, wenn in Splitscreentechnik das Aufbrechen Arons in Richtung Bergmassiv ungemein energetisch bebildert wird. Schon diese Szenen belegen erneut eindrucksvoll, dass Boyles Kino vor allem eines ist: Kinetisch bis ins Mark. Nur kurz verweilt die Kamera nach diesem Einstieg, um uns die einzigartige Schönheit der Berglandschaft nahe zu bringen.
Da begegnet Aron zwei Wanderinnen und wir lernen ihn richtig kennen. Er ist ein Adrenalinjunkie und ein von seinem Job nicht immer angetaner, junger, sportiver Mensch, der die Wochenenden in den Bergen nutzt, um abzuschalten. Hier sucht er sich die Herausforderungen, die er im Normalleben nicht findet, und hier kann er ein Leben führen, wie es ihm gefällt. Und zwar vollkommen allein. Er ist nämlich ein Einzelgänger, den Anrufe seiner Familie, seien sie noch so selten, nerven, weshalb er auch nie zurückruft. Und er will auch gar nicht, dass jemand weiß, wo er ist. Ein Handy hat er demzufolge auch nicht dabei. Die idealen Voraussetzungen also für einen folgenschweren Zwischenfall. Selbst die Einladung durch die beiden Wanderinnen, mit denen er eine kurze, aber lustige Zeit verbringt, beantwortet er eher höflich mit einem „Vielleicht“.
Derart kurz und prägnant verortet stürzt Aron dann in die Felsspalte und startet Danny Boyle seinen Angriff auf die Sehzentren des Zuschauers. Denn im Gegensatz zu dem unlängst gelaufenen und ähnlich gelagerten Streifen „Buried“, der ebenfalls nur an einem Schauplatz spielte (wenngleich „Buried“ dahingehend noch konsequenter war), kann sich Boyle nicht auf einer spannenden, an einen Thriller gemahnenden Handlung ausruhen, sondern er muss das Martyrium Arons für den Zuschauer greifbar machen. Dankbarerweise versuchte der wahre Aron in den 127 Stunden einiges, um sich zu befreien, und verharrte nicht in Schockstarre, so dass Boyle einiges zu präsentieren hat, was die Spannung oben hält.
Dennoch macht er den „Fehler“ (je nachdem wie einem diese Szenen gefallen), dass er von dem ungemein involvierenden und zermürbenden Befreiungskampf immer wieder mal weggeht und dem Zuschauer in Flashbacks, Visionen und Träumen nahe zu bringen versucht, was Aron wohl empfunden haben mag und was seine Gedankenwelt umtrieb, als er dort „eingesperrt“ war. Das ist manchmal ungemein feinfühlig und schlicht brillant, in anderen Szenen arg kitschig und dem Tempo des Filmes nicht zuträglich.
Das Tempo selbst hält Boyle mit einem wilden Stilmittelgewitter extrem hoch. Denn neben Visionen und Träumen setzt es Splitscreens, wilde Wechsel zwischen grobkörnigem Video- und hoch auflösendem Filmmaterial, Zeitrafferaufnahmen, extreme Close Ups, Bildverfremdungen und obendrein ein hübsches Sounddesign. Hier und da übertüncht Boyles Inszenierungswut leider ein wenig das intensive Spiel des brillanten James Franco, der hier als Aron die Leistung seines Lebens abliefert und vollkommen zu Recht für den Oscar nominiert wurde. Vor allem gefällt, wie Franco den Humor des Filmes schultert, denn um nicht den Verstand zu verlieren oder aufzugeben, versucht Aron geistig beweglich zu bleiben. Er interviewt sich selbst und redet mit sich selbst und beweist dabei viel Selbstironie und auch seine Träume und Visionen sind immer wieder geprägt von einem köstlich lakonischen, der Situation vor allem diverse schwarze Seiten abgewinnenden Humor. In den Eingangsminuten sind mit Amber Tamblyn und Kate Mara Eye Candy Garanten dabei, spielen aber wie Clémence Poésy oder Lizzy Caplan (was für ein weiblicher Cast!) keine wirkliche Rolle für den Film. Selbst der ewige Nebendarsteller Treat Williams als Arons Vater ist nur eine Randnotiz in der Francoshow.
Was bleibt ist ein wahrer Fingernagelkiller, der dank einer sympathischen Hauptfigur, dem intensiven Spiel James Francos und der ungemein involvierenden „Was würde ich wohl in der Situation machen?“ Ausgangslage über die gesamte Laufzeit hinweg zu fesseln vermag und dank Danny Boyles ungebremster Inszenierungswut eine enorm flirrende, kraftvolle Energie verliehen bekommt. Unterstrichen wird dies durch den großartigen Soundtrack von A.R. Rahman, der ein untrügliches (und humorvolles! Die Untermalung vom Bau des Flaschenzuges sei erwähnt!) Händchen sowohl für Fremdkompositionen (Sido und Sigur Rós in einem Film?! Erstaunlich!) als auch für das selbst produzierte Themenmaterial beweist. Natürlich greift bei dem Film massiv das „Apollo 13“ Prinzip. Sprich, wenn man die letzten Tage nicht in einer Höhle verbracht hat, weiß man, dass Aron inzwischen ALLE anvisierten 4000er bestiegen hat. Doch wie dem Tom-Hanks-Streifen gelingt es Boyles Film vorzüglich, zu fesseln und eben den Weg zum Ziel zum wahren Ziel zu machen! Großartiges Ausnahmekino!

In diesem Sinne:
freeman