Die Faust im Gesicht

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Vince
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Die Faust im Gesicht

Beitrag von Vince » 20.08.2010, 13:45

Die Faust im Gesicht

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Originaltitel: Requiem for a Heavyweight
Herstellungsland: USA
Erscheinungsjahr: 1962
Regie: Ralph Nelson
Darsteller: Anthony Quinn, Jackie Gleason, Mickey Rooney, Madame Spivy, Julie Harris, Cassius Clay

Der Name Rod Serling steht vor allem für die "Twilight Zone". Der Drehbuchautor und TV-Produzent gilt als Vater der berühmten Science-Fiction-Serie. Für die Anthologiereihe "Playhouse 90" hatte er schon vorher "Requiem for a Heavyweight" geschrieben, ein Drama über einen Boxer am Ende seiner Karriere, und damit das Aufsehen der Kritiker erhascht. Emmys hagelten auf die Mitwirkenden nieder, es folgte eine britische sowie eine niederländische TV-Adaption, bevor Ralph Nelson sich der US-Verfilmung annahm.

Man möchte zuerst nicht glauben, dass dieser Film auf einem Fernsehspiel basiert, auf einer Portierung des Theaters auf das Fernsehformat. Die ersten Minuten sind alles andere als Fernsehen, sie sind Kino-Experimentalismus in Reinform. Ein egoperspektivischer Blickwinkel blickt in einen Boxring. Ihm gegenüber tanzt ein gewisser Cassius Clay (von Muhammad Ali selbst gespielt). Fäuste prasseln gnadenlos auf das Blickfeld nieder, Wasser fließt über das Objektiv. Die Szene wird unscharf, es erfolgt ein Cut, der einen kurzzeitigen Blackout simuliert, bevor der Blickwinkel in die Arme des Trainers fällt. Die Seile des Rings werden gespreizt, als die Kamera sich im Winkel hindurchzwängt, in dem ein menschlicher Kopf den Ring verlassen würde. Immer wieder wird es unscharf. Auf dem Weg in die Kabine stieren Reporter und Schaulustige ins Objektiv, so dass die Illusion erzeugt wird, man sei Gegenstand einer Freakshow. Ein einzelner Besucher, der von links nach rechts durch das Blickfeld zieht, ohne es eines Blickes zu würdigen, macht das, was man beim Blick durch diese Augen empfindet, nur noch erbärmlicher.

Die grandiosen ersten Minuten dürfen keine falschen Erwartungen wecken, denn fortan entwickelt sich, wie ursprünglich erwartet, ein dialoglastiges Drama ohne eine weitere Rückkehr in den Ring, geschweige denn irgendwelche Experimente. Paradoxerweise muss Hauptdarsteller Anthony Quinn den Boxer, den er spielt, nicht boxen lassen, was den traurigen Schatten, den die Figur mit sich her zieht, nur noch größer macht. So ist es ein überlegter Schachzug, dass man den Boxer in seinem einzigen Kampf niemals von außen betrachten darf, sondern ausnahmslos aus dessen eigenem Blickwinkel. Von außen hätte der Eindruck entstehen können, dass Luis "Mountain" Rivera ein großes Kämpferherz hat – man erfährt später, dass er immerhin sieben Runden gegen den großen Cassius Clay durchhielt und damit mindestens drei mehr, als jeder im Saal geglaubt hätte. Indem man den Kampf jedoch nur aus den Augen Riveras verfolgt, bekommt man nichts von der Kämpfernatur mit – dafür aber jede Menge Prügel und das Gefühl, ein bemitleidenswerter Fall zu sein.

Vieles entwickelt sich auch danach zunächst in die richtige Richtung. Die Settings versprühen reichlich Noir-Atmosphäre, die Nebenfiguren scheinen zu funktionieren, ja teilweise ängstigen und begeistern sie sogar: Madame Spivy gibt mit der androgyn wirkenden Wettpatin Ma Greeny eine Vorstellung zum Besten, die ebenso viel Ehrfurcht wie Abscheu erzeugt. Mit Jackie Gleason und Mickey Rooney nehmen zwei weitere Charakterköpfe an der Handlung teil, von denen zumindest Gleason später auch menschliche Abgründe erkennen lässt. Und Quinn zuletzt führt in der Hauptrolle die charismatische Hässlichkeit fort, mit der schon Jack Palance im TV-Original Erfolg hatte. Dass der aufs Abstellgleis geschickte Boxer seine eigene Hässlichkeit immer wieder betont und sie als unveränderliche Tatsache hinnimmt, spricht für die Fähigkeit zur realistischen Selbsteinschätzung und eine emotionale Intelligenz, die sich interessanterweise mit der bedingungslosen Loyalität beißt, mit der er seinem Mentor (Jackie Gleason) begegnet.

Problematisch wird es, als die weibliche Konstante ins Rennen geschickt wird. Nicht nur ist die sich anbahnende Liebesgeschichte kaum notwendig, um die Geschichte von "Mountain" Rivera zu erzählen, sie wird auch äußerst ungeschickt in einen Rahmen integriert, der sich bis dahin selbst trug. Mit welcher Motivation die Arbeitsvermittlerin Grace Miller (Julie Harris) sich voller Inbrunst ausgerechnet an Rivera aufopfert, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Besonders offensichtlich wird die Künstlichkeit der Beziehung, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie Sylvester Stallone Dekaden später als "Rocky" um die Gunst einer unscheinbaren Zoohandlungsangestellten buhlte. Der ungeschliffene Realismus, der sich hier ergab, weicht in "Requiem for a Heavyweight" noch den Behelfsschablonen einer klassischen Hollywood-Romantikkomödie – wenngleich deren Ende diesmal für eine Komödie oder auch nur eine Romanze doch zu ambivalent ausfällt.

Dessen ungeachtet bietet Ralph Nelson in der Folge eine Reihe von guten Szenen auf, die zumindest dann funktionieren, wenn man nicht weiter über ihre Herleitung nachdenkt. Die Kneipenszene etwa hat viele kleine Worte und Gesten zu bieten, die auf gekonnte Art Menschlichkeit zum Ausdruck bringen, doch entstanden ist das Treffen nur, weil Grace die unglaubwürdige Motivation aufbrachte, sich nicht nur über ihren Arbeitstag hinaus Gedanken über einen besonderen von vielen Arbeitssuchenden zu machen, sondern ihn auch noch aufzuspüren und weiterhin ins Persönliche zu gehen.

Was den Einsatz anbelangt, er scheint nicht der Höchste zu sein. Die Endsequenz birgt Nachbarschaften zu Aronofskys "The Wrestler", der eine existenzielle Frage von Leben und Tod war. Hier dagegen ist es "nur" die Würde, die auf dem Spiel steht. Bei Mickey Rourke ist sie zu Beginn des Films schon längst verloren, Quinn dagegen steht sie bis zum Ende in die Augen geschrieben. Um so mehr wird "Requiem for a Heavyweight" zum "Männerfilm" im altmodischen Sinn, um so wichtiger wird auch das Umfeld, vor dem sich der Mann beweisen muss.

"Requiem" bedeutet trotzdem, dass über einen einzelnen Menschen reflektiert wird. In der Tat ist es ein einziger Mensch, der im Zentrum von Rod Serlings Idee steht; die Verfilmung jedoch macht alles in allem zu sehr einen Eindruck, dass es um diesen Menschen herum keine anderen Menschen gibt, die von Bedeutung sind. So interessant die Figuren um den Boxer herum sein mögen, am Ende dienen sie nur dazu, das Leid von "Mountain" Rivera wiederzuspiegeln. Ein "Raging Bull" hat mit seiner komplexen Sozialstudie bewiesen, dass ein Charakterportrait nicht zwangsläufig eine One-Man-Show sein muss."Requiem for a Heavyweight" ist nicht vielschichtig genug, um hier mithalten zu können, indes trotzdem eine gute gespielte und inszenierte Außenseitergeschichte, deren Qualitäten in der schnörkellosen Einfachheit liegen, mit der das Leben manchmal gnadenlos zuschlägt.
:liquid6:

Eine DVD findet sich in der "Legend Diaries" Box von Anthony Quinn zusammen mit sieben weiteren Filmen (unter anderem auch "Last Action Hero", der inmitten der vielen alten Filme heraussticht wie ein Quietschebällchen in einem Schwarzweißfilm).

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