
Originaltitel: Strange Days
Herstellungsland: USA
Erscheinungsjahr: 1995
Regie: Kathryn Bigelow
Darsteller: Ralph Fiennes, Angela Bassett, Juliette Lewis, Tom Sizemore, Michael Wincott, Vincent D'Onofrio, Glenn Plummer, Brigitte Bako, Richard Edson, William Fichtner, Josef Sommer, Joe Urla, Nicky Katt, Kelly Hu u.a.
“Strange”, fremdartig ist etwas, wenn es von einer wahrscheinlichen Erwartungshaltung abweicht. Die “Strange Days” aus Kathryn Bigelows 1995er Milleniumsdystopie sind eine optionale Zukunft, die massiv vom diachronisch geregelten Menschenleben abweicht. Grund sind Progression und technische Revolution, die Digitalisierung von Erinnerungen und materielle Archivierung der Geschichte eines jeden Menschen, Bild für Bild. Wer zum Junkie der Videodroge wird, die so unendlich viele Einsatzmöglichkeiten birgt und in Bigelows High-Speed-Trip den Sündenbock für den Zerfall der Gesellschaft darstellt, erlebt eine anachronistische Invasion, welche die Sentimentalitäten aus der Vergangenheit, bereits gelebtes Leben an die Stelle des eigentlichen, gegenwärtigen Lebens setzt. Der technische Fortschritt führt zum Stillstand, ja gar zum Rückschritt der menschlichen Existenz.
Soweit zur Idee, ausgelegt auf den Jahrtausendwechsel, und aus heutiger Sicht kann die Lehre gezogen werden, dass trotz des gefühlt rasanten Fortschritts in digitaler Medientechnik bei anstehenden cineastischen Zukunftsvisionen besser längerfristig geplant werden sollte, denn jetzt, fast sieben Jahre nach den Ereignissen von “Strange Days”, ist dessen Inhalt immer noch Zukunftsmusik, die sich zwar im Empfangsradius abspielt, aber eben allenfalls mittelfristig als umgesetzte Realität zu erwarten ist.
“Strange” gemäß der vorangestellten Definition ist aber nicht zuletzt auch wieder mal Bigelows kommerziell gescheiterte Vision von dem von James Cameron mitproduzierten SciFi-Rollenspiel. “Strange Days” ist tatsächlich eine upgegradete, mutierte Version eines konventionellen Genrefilms. Die Standards sind zum Greifen nahe - Juliette Lewis, Tom Sizemore, Angela Bassett und Michael Wincott in ihren klassischen, nicht allzu tief gezeichneten Rollen, die Idee und dahinter steckende philosophische Ansätze alles andere als neu - soweit lässt alles auf einen beliebigen Science Fiction-Film der nahen Zukunft schließen. Doch es ist weit mehr als das. Lässt man sich ein Mal von der ersten bis zur letzten Minute darauf ein, die Paranoia mit der außer der Reihe tanzenden Identifikationsfigur Lenny Nero (Ralph Fiennes) zu teilen, so offenbart sich ein schier keine Grenzen kennender Trip, der tiefschürfende Emotionen vorgaukelt...
...aber doch im Grunde keine realen Emotionen bietet. Und hier beginnt das fremdartige, das ungewöhnliche, das im Endeffekt unberechenbare Element aus Bigelows Rezept, sich wie eine Hauptschlagader durch die blinkenden Lichterfassaden des Endneunziger-L.A.’s zu ziehen, eine anonyme Metropole der Sünde, ebenso emotional leer wie die komplette Darstellungsweise der Regisseurin. Dass sich die beiden Liebenden der Geschichte erst im Schlussakt öffnen, ohne irgendwann zuvor auch nur Anzeichen ihrer Gefühle gezeigt zu haben, ist dafür das beste Beispiel - als Nebeneffekt wird dann noch eben mal ein gesellschaftliches Tabu normalisiert, wie es kein Film oder keine Dokumentation je schaffen könnte, die ein solches Tabu zu ihrem Hauptmotiv macht.
Ansonsten ist “Strange Days”, sofern man dem hochkomplexen Storyverlauf Schritt auf Schritt folgen kann, über seine mehr als zwei Stunden eine Hochburg der Emotionalität, ein farbenprächtiger Orgasmus der Sinne, der niemals von seinem Klimax hinabsteigen möchte. Eine dramaturgische Direktive, die eigentlich jeder gewöhnliche Film braucht (und als solchen haben wir “Strange Days” an einigen Punkten ja schon festgemacht), baut Bigelow überhaupt nicht ein, und sie benötigt ihn auch nicht, bis kurz vor Mitternacht im Jahre 1999. Denn erst hier wird die wirkliche Emotionalität (sofern man eine Emotion, die von 24 Bildern pro Sekunde und einem akustischen Signal erzeugt wird, überhaupt “wirklich” nennen kann) in die Handlung eingebaut. Zuvor ist es lediglich ein falscher Hase. Eine vorgegaukelte Gefühlsregung, hervorgerufen durch rezeptive Stimulation der Sinne. Die kühlen Lichter der Discotheken aus L.A.’s Höllenschlund, die sich hastig bewegenden, unkoordinierten menschlichen Körper, die an einem Ort zu Massen aufeinandertreffen, der ohrenbetäubende Tech-Noir/Punk-Soundtrack (u.a. Skunk Anansie, Prong mit dem Titeltrack oder Juliette Lewis selbst mit PJ Harvey-Covers, die sie in ihre Filmrolle integriert auch persönlich vorträgt).
Den akustisch-visuellen Overkill, der die Spannungsmesse pausenlos auf dem höchstmöglichen Punkt stagnieren lässt, erreicht Bigelow durch das Aufbrechen filmischer Tabus mit dem Resultat, dass uns eine mehrdimensionale, genial gefilmte Welt geboten wird, die irgendwo in der Umlaufbahn des Saturn schwebt anstatt wie einige der überzeugenderen Kollegen allenfalls eine Mondlandung auf die Beine zu stellen. Das beginnt mit der an massiven Aufwand gebundenen First-Person-Perspektive, welche uns in den Film einführt, ohne dass uns zur Koordination des eigenen deiktischen Standpunktes zuvor einmal die gewöhnliche Third-Person-Perspektive gewährt wird. Zurückgeführt auf Robert Montgomerys kameratechnisches Experiment mit “Die Dame im See” (1947) gilt die Egoperspektive, die sogenannte “subjektive Kamera”, aufgrund der objektiven Starre des Darstellungsradius einer Kameralinse als ungeeignet, um dem Zuschauer effektiv eine solche Position auf die Handlung zu gewährleisten, als stünde er mittendrin. Ausgerüstet mit besseren Bedingungen als damals, das egozentrierte Sichtfeld des Zuschauers in diesen oft mehrminütigen Clips stärker der Rezeption des menschlichen Auges anzupassen (Lightstorm Entertainment steckte ein Jahr in die Entwicklung einer speziellen Kamera, um dieses Problem zu lösen), legt sich Bigelow bewusst mit der Problematik an - und gewinnt dabei. Oftmals wirken die Clips tatsächlich egoperspektivisch, was durch die Soundkulisse verstärkt wird, die eigens gesprochene Worte und Geräusche in unmittelbarer Nähe dumpf klingen lässt.
Erzählerisch lässt sich Bigelow auch nicht lumpen und bietet ein hochkomplexes Handlungsgeflecht, das durch die verschiedenen Perspektiven nochmals an Komplexität dazugewinnt und es erfordert, dass man mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache ist. Nebenher geht nicht, ohne inakzeptable Qualitätseinbußen in Kauf zu nehmen. Bleibt man am Ball, so entfaltet sich eine ungeahnte Dynamik. Obwohl Ralph Fiennes der unangefochtene Protagonist im Film ist und ausgesprochen intensives Identifikationspotenzial in sich birgt, erlebt man die Geschehnisse nicht wirklich aus seiner Warte - müsste ich sagen, aus wessen Sichtweise man die “Strange Days” miterlebt, würde ich sagen, aus derjenigen eines unsichtbaren elektronischen Spannungsfeldes, das sein Netz zwischen den interagierenden Figuren ausbreitet.
Und doch rührt die emotionale Achterbahnfahrt aus einer Identifikation mit Fiennes Charakter. In Anbetracht des Umstandes, dass dieser Lenny Nero eher ein bemitleidenswertes Charakterschwein ist, bleibt die Identifikation mit diesem Verlierertypen, einem Verticker von Drogenäquivalenten, eines der einprägsamsten Erlebnisse in den vollen zwei Stunden. Ralph Fiennes ist toll, er tanzt zwischen den abstoßenden und den liebenswerten Eigenschaften seiner Rolle, baut in das apokalyptische Flair gar oberflächlich gesehen unpassende ironische Töne ein, die so fehl am Platz sind, dass sie wahrhaftig besser nicht hätten präsentiert werden können als auf diese ungelenke Art. Noch mehr als Fiennes’ darstellerische Leistung trägt aber die Art und Weise dazu bei, wie er präsentiert wird durch Kameraperspektiven, durch Beleuchtung, durch Dialoge, durch Handlungsweisen. Es ist ein durch und durch ambivalentes Erlebnis, Lenny Nero zu sein. Vielleicht klinkt man sich als Zuschauer deswegen immer wieder aus seinem Geist aus und schlüpft in den anderer Filmfiguren, mit denen Lenny in Kontakt gerät.
Das Geheimnis von “Strange Days” ist nicht im Drehbuch zu suchen, nicht in den Nebendarstellern, die ausnahmslos alle mit dem Strich gecastet wurden und auch deswegen kaum über Charaktertiefe verfügen. Es ist nicht die Interpretation, die Suche nach einer moralischen Aussage oder nach einer Lebensphilosophie, auch wenn die Ansätze nicht unintelligent sind. Er sollte stattdessen als sensitiver Trip verstanden werden, den man auf sich einwirken lassen sollte, anstatt ihn mit dem Herzen zu fühlen. Den man schmecken, betrachten, spüren sollte, dem man lauschen sollte, anstatt ihn mit dem Verstand zu hinterfragen. Mit bildgewaltiger Opulenz führt Kathryn Bigelow durch einen ständigen Rollentausch, eine perspektivische Abfolge von immer neuen Stationen mit einer Abkehr von gängigen Genremechanismen... obwohl sie im Ansatz dankend angenommen werden. Ganz einfach ist es nicht, sich darauf einzulassen, aber wenn man den Willen und die Kraft dazu hat, sollte es funktionieren.
You can trust me, 'cause I'm your priest, I'm your shrink... I am you main connection to the switchboard of he soul. I'm the magic man... Santa Claus of the subconscious. You say it, you think it, you can have it.

Kinowelt brachte im August 2006 eine 2-Disc-Special Edition auf den Markt. Eine Kritik dazu gibt's hier.