Natürlich lese ich auch 2021 weiter, nur vergasse ich die Bücher hier zu posten. Machen wir einen Anfang:
Kein Heimspiel
von Karl Ove Knausgård und Fredrik Ekelund
Ein Briefwechsel zur Fussball-WM 2014 in Brasilien? Theoretisch könnte der Inhalt nicht ferner meiner täglichen Interessen sein. Ja, einzelne Spiele habe ich natürlich im damaligen Sommer mit Freunden geschaut, eine wirkliche Auseinandersetzung mit Mannschaften, Sport und Meisterschaft fand bei mir aber nicht statt. Wie es das Leben aber so spielt, hat "Kein Heimspiel" mein liebster nordischer Autor Karl Ove Knausgård ins Leben gerufen.
Und als Fanboy lohnt es sich natürlich mehr als dreifach, in diesen gesammelten E-Mails zu versinken. 600 Seiten geschriebene Diskussion, zwischen Knausgård und seinem Freund Fredrik Ekelund, ersterer im Alltagsleben in Schweden, zweiterer mittendrin in Brasilien, dem Samba, dem lebensfreudigen Wahn. So trifft das warme und leidenschaftliche Dasein auf die introvertierte und nachdenkliche Lebensweise, Analysen auf Emotion, Fussball auf intellektuelle Konstrukte.
"Kein Heimspiel" behandelt nicht nur die Spiele, die Fussballer und die FIFA, sondern viele Aspekte des Lebens. Gleichberechtigung, Familienleben, Kultur- und Sozialgeschichte, Feminismus, Suchtverhalten, Lebensentscheidungen. Ein überbordendes Buch voller Ideen und Gedanken, ein stetes Schwanken zwischen Vernunft, Zustimmung, Ausgelassenheit und Kritik. Wahnsinn.
Der Schnupfen
von Stanisław Lem
Stanisław Lem hat mit "Der Schnupfen" ein Kriminalroman verfasst, der viele Elemente der Science Fiction in sich tragen. Und leider, was dem damaligen Zeitgeist entspricht, immer wieder mit frauen- und fremdenfeindlichen Kommentaren aufwartet. Diesen Umstand trübte das Lesevergnügend, trotzdem ist das Buch eine interessant erzählte Geschichte, die sich mit Erklärungen viel Zeit lässt.
Lem hat eine erzählerische Konstruktion geschaffen, die mit unerklärbar viele Details und Feinheiten aufwartet, die eine Parallelwelt zu den wahren Siebzigerjahren erbaut hat. So dicht an Details und technischen Punkten, dass man sich ab und an in den Finessen verliert, dem Rätsel aber trotzdem auf den Grund gehen möchte.
Chilenisches Nachtstück
von Roberto Bolaño
Mit der kurzen Erzählung "Chilenisches Nachtstück" hatte der chilenische Autor und Intellektuele Roberto Bolaño sein Leben gespiegelt. Selbst im Exil tätig und in keiner Weise Unterstützer der damaligen Landespolitik, wird der religiöse Gelehrte Sebastián Urrutia Lacroix im Buch zu einem Spielball der Mächte, ohne sich den Realitäten stellen zu wollen.
Mit seinen sarkastischen Beobachtungen um das Unvermögen, die Ebene der Kultur zu durchbrechen, hat Bolaño einen vielschichtigen Text verfasst, der vor allem mit den unsausgesprochenen Aussagen glänzt. Kunst und Politik können nicht getrennt werden, jede*r Künstler*in hat eine Verantwortung und muss diese wahrnehmen. Sonst verkommt das Leben zu einem Witz der persönlichen Antagonisten.
Tot bist du noch lange nicht, sag mir erst wie alt du bist.
von Klaus Märkert und Myk Jung
«Tot bist du noch lange nicht, sag mir erst wie alt du bist.», klingt wie der Kinderreim, den wir damals auf dem Pausenhof fast täglich aufgezählt haben. Und der Titel ist nicht das einzige Elemente an diesem Buch, welches die Zeit zurückzudrehen scheint. Die neue Kurzgeschichtensammlung von Klaus Märkert und Myk Jung spielt mit dem gotisch-grusligen Gefühl, welches früher beim Konsum von «Horror»-Medien verspürt wurde. Die rettende Bettdecke in Griffnähe, die Vorhänge gezogen – doch wer kratzt da an der Tür?
Auf 160 Seiten bieten die beiden Autoren vor allem mehr vom Bekannten. Da kommt ein gewisser Herr Lavkraft zu Ehren, da flattern die Vampire vorbei, da wird mit Voodoo hantiert. Mord, Monster, Missgeschicke – positive und lichtdurchströmte Ausgänge gibt es bei diesen Erzählungen nicht. Die dunklen Seelen und Seiten der Menschen stehen im Zentrum, die wilden Wortkreationen und Einfälle von Klaus Märkert und Myk Jung findet man ungefiltert auf den Seiten. Das sorgt für kuriose Schöpfungen, das lässt gewisse Texte im Nichts verschwinden. Oft will das Beschriebene am Ende wenig Sinn ergeben, wie das reale Leben halt?
Wer sich gerne in der schwarzen Szene umtreibt oder schon länger mit dem Genre der bitter-absurden Literatur beschäftigt, der findet in «Tot bist du noch lange nicht, sag mir erst wie alt du bist.» genau dies. Dazugehörig natürlich die ironische Art, wie sich Autoren und Szene präsentieren, die holprige Individualität, welche teilweise mit dem Brecheisen ausgeführt wurde. Darüber kann man jauchzen oder genervt den Kopf schütteln, mich persönlich spricht eine solche Erzählweise nicht direkt an. Zu gewollt, zu erhaben auf der humoristischen Position.
Da die Texte allesamt sehr kurz sind und einige Schreib- und Setzfehler nicht behoben wurden, eignet sich der Band vor allem für den kurzen Zwischensnack. Ein Glas Rotwein, ein lecker angebratenes Stück Herz, ein paar Seiten Text. Das verhindert den Überdruss und tarnt die eher gleichförmige Stimmung auf den Seiten.
Lied der Weite
von Kent Haruf
Warm fühlen sich die Sätze bei "Lied der Weite" an, mit grosser emotionaler Sorgfalt geschrieben und als tröstende Umarmung. Kent Haruf musste keine eloquenten Schachtelsätze verfassen, um seine Figuren zu lebendigen Charaktere zu gestalten. In diesem Roman passiert das normale Leben in der ländlichen Umgebung Amerikas. Auf den Farmen, in der Kleinstadt, in den zerrütteten Familien.
Einzelne Charaktere geraten durch gewisse Entwicklungen aneinander, lernen sich neu kennen oder müssen grossen, privaten Umwälzungen ins Auge Blicken. Das ist weder episch noch extrem, sondern menschlich und zärtlich. "Lied der Weite" fesselt so in seiner leisen Art und zaubert damit Sehnsüchte hervor.
Leben zu verkaufen
von Yukio Mishima
uizid ist ein stetes Thema in der japanischen Kultur, mal Ausweg, mal Verzweiflung, mal letzte ehrenvolle Handlung. Im Roman "Leben zu verkaufen" von Yukio Mishima werden die möglichen Aspekte von Selbstmord mit lakonischen Betrachtungen kombiniert - die Hauptfigur Hanio bietet sein Dasein für alle möglichen Zwecke an und fürchtet sich nicht vor dem eigenen Ende.
Yukio Mishima mischt absurde Situationen und merkwürdig agierende Charaktere mit aufrüttenden Gedanken und versucht darzustellen, was passiert, wenn das eigene Leben zum Spielball anderer Menschen wird. "Leben zu verkaufen" ist als Erzählung nicht tragisch oder traurig, sondern voller Gewitztheit und gar Abenteuer, mit modernen Gedanken und weit von den restriktiven Sechzigerjahren entfernt.
