Dass die lange Geschichte des Films so wenige Point-of-View-Produktionen in sich trägt, hat seinen Grund. "Lady in the Lake" (1947) war ein früher Versuch, eine Detektivgeschichte fast durchgängig aus dem visuellen Blickwinkel der Hauptfigur zu erzählen und insofern ein kameratechnisches Experiment. Dass der Actionfilm "Hardcore" im Jahr 2016 immer noch als Experiment gelten muss und Pioniersstatus in seiner Nische genießt, sagt viel darüber aus, welche Schlussfolgerungen aus den ersten versuchen gezogen wurden: Konsequente POV-Filme sind ihrer Intention nach zum Scheitern verurteilt. Niemals kann die Kameralinse die Bewegungen des menschlichen Auges adäquat nachstellen. Die Nachempfindung einer Geschichte aus erster Hand muss eine Illusion mit spürbaren Limitationen bleiben; das Medium Film in seinem bis heute gültigen Standardformat stößt hier an seine Grenzen.
So erschöpft sich die Faszination für "Hardcore" auch weitgehend in technischen Aspekten. Selbst wenn die Illusion des Selbsterlebten brüchig bleibt, so weiß man doch die Aufwände in der Realisierung zu honorieren, die Newcomer Ilya Naishuller unter der Obhut Timur Bekmambetovs zu bewältigen hatte, zumal es sich immerhin um einen Actionfilm handelt. Es geht darum, zumindest eine Ahnung zu vermitteln, wie die Hauptfigur Extremsituationen erleben muss, indem man diese noch unvermittelter erfährt als im stärker verbreiteten Found-Footage-Film über den Kamerabildschirm. Das Spannende an all den Explosionen, Wall Runs, Sprüngen, Kämpfen und Schusswechseln ist im Grunde die eigene Domestizierung durch Kinofilme aus der konventionellen Third-Person-Perspektive: Man sieht sich selbst in einer Verfolgungsjagd, und doch schwebt man im Geiste zurück in die gewohnte Perspektive: Wie sähe dieser Film aus, hätte man ihn aus gewohnter Perspektive gefilmt.
Wenn "Hardcore" schon nicht authentisch vermitteln kann, dass man sich tatsächlich höchstpersönlich an Ort und Stelle in Russland befindet und Schergen in einer nahfuturistischen Science-Fiction-Actionstory verfolgt, so regt er immerhin zu filmtheoretischen Überlegungen an. Diese wären allerdings nochmals ungleich faszinierender, würde man nicht zu dem Schluss kommen, dass Naishullers Filmdebüt konventionell gefilmt ein zweitklassiger Ostblock-Actioner wäre. Der Regisseur ist sichtbar damit beschäftigt, die zweifellos aufwändigen Stunts mit einer zumindest rudimentär funktionierenden Story zu verknüpfen, wobei letztere in erster Linie die funktionelle Aufgabe erfüllt, einer Ermüdung vorzubeugen. Darüber hinaus vergisst er aber vor allem eines: Atmosphäre. In dieser Kategorie geht die Anschlagsnadel gen Null; kein Wunder, wenn ein Großteil der Handlung sich über russische Straßen und abgerissene Hausfundamente erstreckt. Dass Atmosphäre und POV sich keineswegs ausschließen, hat vor einigen Jahren noch Gaspar Noé mit der Anfangssequenz aus "Enter The Void gezeigt.
Trotzdem erfüllt "Hardcore" im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen explorativen Zweck. Die SciFi-Elemente hätten sicher noch eine ausgefeiltere optische Entsprechung gebrauchen können, aber zum Ende hin entschädigt der teils menschenverachtende und durchaus brutale Reißer, der auch als hochoriginelle Fortsetzung der "Crank"-Reihe hätte durchgehen können, mit reichlich Wumms und Schauwerten. Technisch wie inhaltlich lässt sich aus dem POV-Film aber noch sehr viel mehr herausholen.
