Filmtagebuch: Wallnuss

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Wallnuss
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Close Encounters of the High Kind

Beitrag von Wallnuss » 06.03.2017, 18:05

Highlander: Die Rückkehr

Bei einem Heist-Movie handelt es sich um ein Untergenre des Thrillers, welches die Planung und Ausführung eines Raubüberfalls in den Fokus der Erzählung stellt. Doch wie nennt man Filme, die das Konzept anderer Filme mit ähnlicher Sorgfalt und Konsequenz ausplündern? Seit 1991 könnte die Bezeichnung dafür das "Zeist-Movie" sein. Denn Connor MacLeod, jener titelgebende "Highlander", der 1986 in den Kinos Popkulturgeschichte schrieb, offenbarte in der fünf Jahre später erschienenen Fortsetzung, dass er zwar Highlander sei, aber nicht aus den Highlands stamme. Tatsächlich kommen er und die anderen kopflosen Unsterblichen vom Planeten Zeist, von dem sie einst aufgrund ihrer Rebellion gegen den Tyrann Katana verbannt wurden. Russell Mulcahy, der schon den ersten Teil inszenierte, übernahm erneut die Regie und holte seine Stars Christopher Lambert und Sean Connery zurück an Bord. Das Ergebnis ist eine wahnsinnig witzige und liebevolle Parodie auf den legendären Kultfilm der 80er Jahre.

Zwar muss am Anfang doch einmal relativiert werden: Die Außerirdischen-Thematik wollte Mulcahy eigentlich nicht im Film haben. Ihm stand der Sinn ursprünglich nach einer durchaus ernsten Fortführung der "Highlander"-Thematik. Gott sei Dank jedoch schlossen die Produzenten ihn nach den Dreharbeiten von der Postproduktion aus und nutzten das wahre parodistische Potenzial, dass in der "Rückkehr" des Highlanders verborgen lag. War das Original noch ein erschreckend tiefgründiger und hinter all dem musikalischen Queen-Bombast und virtuos inszenierten Kampfgetummel im Kern tief trauriger Film, entpuppt sich das Sequel schnell als launige Demontage und Umkehrung seines großen Vorgängers. Zu Beginn des Erstlings noch saß Connor im Publikum eines Wrestlingkampfes und dachte zurück an die Schlachten, der als junger Schotte im Mittelalter geschlagen hatte. Nun eröffnet das Geschehen stattdessen mit ihm als gealterten Mann, der sich bei einer Opernvorführung an seine Alienrevoluzzer-Vergangenheit erinnert. Der tumbe, stets leicht bedröppelt aussehende Christopher Lambert als uralter Pseudo-Intellektueller? Schon hier schießen dem Zuschauer die Tränen in die Augen. Derartig liebevoll gestalten sich auch die restlichen 90 Minuten, in denen Mulcahy immer wieder Situationen des Vorgängers (wie die Trainingsmontage zwischen Lambert und Connery oder allgemein die dynamischen Schwertkämpfe) aufgreift und filmisch völlig zerstört: sei es durch dilettantisch gesetzte Schnitte, unsinnige Kamerapositionen oder den im Kern schlicht albernen Chorographien.

Gleichzeitig versteht sich "Highlander: Die Rückkehr" auch als Satire auf die Willkürlichkeit des Highlander-Mythos, der im ersten Teil schlicht und ergreifend ohne Konturen blieb. Viele Fans liebten das mythische Element des Kultfilms und konnten selbst in ihrer Fantasie Geschichten über die Unsterblichen entspinnen. Doch eigentlich entschädigt das kaum dafür, dass dieser Teil des Narrativs im 86er Film letztlich bloß undurchdacht und konstruiert ausfiel. Auch dies findet im Sequel seine entsprechende Schelte: Da die Rückblenden des Originals bei genauerer Betrachtung nur pseudo-mythisch angelegt waren, setzt Mulcahy dieses Mal einen drauf und entfesselt in den ersten dreißig Minuten ein wahnwitziges, weil vollkommen unverständliches Zeitwirrwarr, in dem sich kein Zuschauer zurecht finden wird. Worum es geht, kann hier kaum verstanden werden. Einmal wird von einem zerstörten Ozonloch als große Gefahr für die Menschheit gesprochen, ein anderes Mal hat die Erde bereits einen Schutzschild und mittendrin die konfusen Geschehnisse auf Zeist. Was alle Szenen verbindet, ist ihre verworrene Actioninszenierung. Überall kämpfen und sterben sie, ob auf der Erde, auf Zeist, im Ozonloch oder im Kinosaal gegen die Lachreflexe. Der Mensch kann nun mal nicht anders, ob mit Pistolen, Schwertern, Laserkanonen oder Atomgeschützen, er muss sich bekriegen, er muss kämpfen, um seine Existenz zu rechtfertigen.

In diesen Momenten offenbart "Highlander: Die Rückkehr", keineswegs nur als Parodie zu funktionieren. Er ist auch eine thematische und philosophische Steigerung seiner Vorlage, die in ihrer für den Zuschauer augenscheinlich "schlechten" Umsetzung in Wahrheit die Dekadenz widerspiegelt, auf die der von substanzlosen Musikvideos geprägte Stil des Popkultur-Meilensteins bei einer näheren Ausgestaltung unausweichlich zusteuern würde. Wo 1986 noch die übertrieben emotional aufgeladene Musik von Freddie Mercury und Queen das Geschehen künstlich überhöhte, ist nun "The Police" Schlagzeuger Stewart Copeland für einen Score verantwortlich, der von Kaufhausmusik nicht zu unterscheiden ist, als Äquivalent zur Banalität, die "Highlander: Die Rückkehr" dem gemeinen US-Blockbusterkino unterstellt. Somit ist Mulcahys sicher nicht unbedingt freiwillig entstandenes Sci-Fi-Abenteuer ein filmisches Experiment, eine Anatomie der Fortsetzungskultur Hollywoods und ein cleverer Versuch, die Gigantomanie der hiesigen Konsumkultur als barockes Stückwerk zu spiegeln. Dazu passt dann auch, dass Antagonist Katana (dessen Name nur ein Platzhalter ist, angesichts der Tatsache, dass er ohne Katana in Erscheinung tritt) nur dem Abziehbild eines Abziehbilds eines Klischeeschurken entspricht und Sean Connery, der im Vorgänger noch triumphierend nonchalant den spanischen Edelmann mit schottischem Akzent gab, auf den sich der Blick konzentrieren sollte, hier ganz verloren durch das Szenengefüge stolpert. Ganz abgesehen davon, dass seine Figur nach seinem Verbleib am Ende des Originals eigentlich gar nicht in Erscheinung treten dürfte. Dieser im höchsten Maße künstlerische Ansatz von Regie und Studio muss und kann dabei sicher nicht jedem gefallen, die Intellektualität kann man dieser prächtigen Satire/Parodie jedoch nicht absprechen, die das Schlechtsein so herrlich propagiert wie noch kein anderer Film zuvor.

Fazit: So oder so ähnlich könnte eine Nachbetrachtung zum "Highlander"-Sequel sicherlich lauten. Doch leider scheitern all diese Ansätze an einem banalen wie erschreckenden Fakt: Das Studio meinte diesen Film, besser: diesen Versuch eines Films, dieses abscheulich schlechte Öko-Märchen voll von dümmlichen Dialogen, affigen Actionszenen und bescheuerten Charakteren wie Handlungen, wirklich ernst. Und das ganz ohne doppelten Boden, versteckten Witz oder sonstige Bewandnis. Die Verantwortlichen können nur hoffen, dass unter den Zuschauern niemals ein tatsächlicher Zeist-Bewohner sitzen wird. Ansonsten werden ihre Köpfe rollen.

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Beitrag von SFI » 07.03.2017, 05:30

Finde ja schon die 1 nicht besonders prall, von daher geht die Wertung sicher in Ordnung. :lol:
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Geistlose Ballerei in ansprechender Hülle

Beitrag von Wallnuss » 06.04.2017, 10:26

Ghost in the Shell

Seit 1999 mit "Matrix" ein in schicker Cyberpunk-Optik aufgezogener, philosophischer Sci-Fi-Meilenstein die amerikanischen Kinosäle heimsuchte, hielten sich immer wieder eifrig Gerüchte über eine Live-Action-Adaption Hollywoods von "Ghost in the Shell", einem mehrfach bereits als Anime verfilmten japanischen Manga des Autoren Masamune Shirow, der für die Wachowskis bei der "Matrix"-Trilogie die wichtigste Ideenvorlage war. Der ehemalige Werberegisseur Rupert Sanders also schien dazu auserkoren, 2017 endlich nach einem ewig langen Hin und Her, bei dem sogar zeitweise Steven Spielberg für den Posten vorgesehen war, der existentialistischen Geschichte von Major Motoko Kusanagi, deren menschliches Gehirn in einen kybernetischen Körper eingesetzt wird, neues Leben einzuhauchen. "Ghost in the Shell" ist dabei leider ein weiteres, erschütterndes Beispiel dafür, was Hollywood aus solchen Stoffen macht: Seelenloses, lärmendes CGI-Geballer mit viel Zeitlupe - und Scarlett Johansson.

Weshalb der Original "Ghost in the Shell" international solches Ansehen erregte, lag in seiner einmaligen Mischung begründet: die fabelhafte, eigenwillige Gestaltung einer Megapole, die einem futuristischen Mix aus Tokyo und New York gleicht, kombiniert mit einer Geschichte, die gleichermaßen temporeich und charaktergetrieben, aber auch philosophisch und von tiefer Nachdenklichkeit geprägt ist. Vordergründig betrachtete Shirow in seinem Werk das Leib-Seele-Problem des französischen Erkenntnistheoretikers René Descartes: Ist es dem Geist, also der Seele des Menschen, möglich, außerhalb ihrer Materie zu existieren? Und wenn ja, wie definiert sich dann eigentlich Menschlichkeit? Da die Menschen in "Ghost in the Shell" technologische, kybernetische Verbesserungen an ihrem Körper vornehmen können (oder wie Major direkt als Cyborgs durch die Gegend laufen), bzw. auch die Entwicklung von künstlicher Intelligenz unlängst geglückt ist, stellen sich diese Fragen umso mehr. Die erste große Enttäuschung für Fans der Vorlage ist daher die wohl gewaltigste Änderung, die Sanders am Stoff vornimmt: Künstliche Intelligenzen (und damit eine eventuelle Gegenüberstellung derer mit menschlichen Persönlichkeiten) spielen in der 2017er Version keine Rolle. Das Leib-Seele-Problem wird vollständig auf Majors Außenseiterdasein durch ihre kybernetische Hülle gemünzt, die von den einen als nächster Schritt der menschlichen Evolution gesehen wird, während der skrupellose Kuze (blass gespielt von Michael Pitt) sie als Waffe für militärische Operationen missbrauchen will.

Sicherlich mag diese Verknappung der Themen der Einführung des Universums geschuldet sein, da Sanders seinen "Ghost in the Shell" definitiv für eine oder mehrere Fortsetzungen ausgelegt hat. Leider bleibt es das Leitmotiv seines Films, dass der Schein das Sein fortwährend dominiert. Die Cyberpunk-Aufmachung der Stadt ist optisch ausgezeichnet, gigantische Werbehologramme beherrschen die Skyline, multikulturell bizarr wirkt der Clash von amerikanischer Moderne und asiatischer Tradition. Vorlagen getreu klebt Sanders dabei an der Vorlage: beinahe alle größeren Actionszenen, von denen es in den knappen 109 Minuten eine Menge gibt, entstammen direkt dem Manga, sei es Majors anfänglicher Anti-Terror-Einsatz, der brutale Showdown oder der Tarnanzug-Kampf auf bewässertem Terrain. Die Actioninszenierung entspricht durchweg den Anforderungen des Publikums an moderne Genrefilme: Schnell, körperbetont, in massig Zeitlupe überstilisiert und mit pathetischer Musik von Lorne Balfe und Clint Mansell untermalt. Als simpler Actioner ist "Ghost in the Shell" nicht besser oder schlechter als seine Konkurrenz der letzten Jahre, vielleicht etwas zu gewollt ästhetisch in vielen Bildern, dafür aber visuell auch grandios durchdacht und in sich schlüssig, wie man es lange nicht mehr gesehen hat und in den die Kinos dominierenden "Marvel"-Filmen oft vermisst. Doch es sind Momente, wie der symphonische Tauchgang von Major, in denen Sanders Plagiate offenbaren, dass er mehr am Stil als an der Substanz der Vorlage interessiert ist: Ist dieser stille Moment im Original eine Weltenflucht für Major, widerspricht sie im Film dem veränderten Background, den ihr die Drehbuchautoren William Wheeler und Jamie Moss, verpasst haben, da ihr mit Wasser verbundenes Kindheitstrauma plötzlich wie vergessen scheint.

Die allgemein etwas strukturlose und in erster Linie mutlose Identität der US-Adaption lässt sich am besten an der Besetzung der Protagonistin ausmachen: Sicherlich ist Scarlett Johansson mühelos den Anforderungen an ihre Figur gewachsen, sodass man ihr sowohl die verletzliche junge Frau als auch die kampferprobte menschliche Waffe abkaufen wird. Doch - unabhängig von den "Whitewashing" Vorwürfen, die es für ihr Engagement hagelte - ist sie auch die denkbar einfachste, nahe liegendste Besetzung. Nicht falsch verstehen: Lieber eine talentierte Wiederholungstäterin, als eine schwache Quereinsteigerin. Dennoch ist es schade, dass durch ihr Mitwirken weniger der Charakter Major, als mehr die Personalie Johansson im Vordergrund stehen, was "Ghost in the Shell" ungewollt noch ein Stück weit belangloser und unauffälliger durch das Kinojahr 2017 treiben lässt. Die schönste Besetzung ist jedoch der Auftritt eines japanischen Regisseurs und Schauspielers: Takeshi Kitano gibt sich als Boss von Major die Ehre und ihn umgibt in seinen Szenen eine schöne mythologische Aura, die seine wenigen Auftritte zu etwas besonderem werden lässt. Was ebenfalls gefällt, ist Sanders Verzicht auf die üblichen Oneliner. Endlich kaspert eine übermenschliche Figur sich mal nicht durch die Shootouts. Auch hier ist in Ansätzen wieder erkennbar, welcher Film "Ghost in the Shell" hätte werden können, wenn das Lesen der Vorlage nicht beim Anhimmeln der Zeichnungen hängengeblieben wäre.

Fazit: Wer die schnelle Actiondauerfeuer-Berieselung in ziemlich verblüffender Hochglanz-Optik sucht und dabei vor Hollywood-Konventionen nicht zurückschreckt, der kann seine Zeit schlechter verbringen, als mit "Ghost in the Shell". Fans der Vorlage werden alles halbwegs interessante längst gesehen haben und sich zunehmend darüber ärgern, dass Sanders' Regie komplett auf Oberflächlichkeiten konzentriert bleibt. Schlussendlich gilt die Unschuldsvermutung, dass nach der Etablierung der Welt wie der Charaktere die fehlende, dringend nötige Tiefe in einem eventuellen Sequel nachgeliefert wird. Ansonsten wird auch der Fortsetzung nur hübsche Action bleiben - und Scarlett Johansson.

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Psychosen einer Primaballerina

Beitrag von Wallnuss » 02.05.2017, 16:07

Black Swan

Zuerst ein Grand jeté, in der Luft ein Arabesque, bevor auf ein Fouetté en tournant und eine Pirouette ein Ailes de Pigeon folgt. Doch Grazie und technisches Können allein reichen der Primaballerina Nina im 2010er "Black Swan" von Darren Aronofsky noch lange nicht, um die einmalige Doppelrolle ihres Lebens auszufüllen: Sie soll in einer modernen Adaption von Pjotr Iljitsch Tschaikowski's "Schwanensee" sowohl den unschuldigen, lieblichen, reinen weißen Schwan Odette als auch den ihrem Wesen fernen dunkel-anziehend, verführerischen schwarzen Schwan Odile verkörpern. Ihr Perfektionismus stößt da an ihre Grenzen, wo sie mit hyperkontrollierter Selbstbeherrschung nur verlieren kann: Ihrer Odile mangelt es an Erotik, an Charisma, am natürlichem Sujet. Und so erzählt "Black Swan" von einem Danse Macabre, von den unerbittlichen Qualen des Method Actings, wenn die Psyche dem fragilen Körper ein verzweifeltes Gnothi seauton aufzwingt.

Regisseur Aronofsky ist noch nie als Mann der leisen Zwischentöne bekannt gewesen, und so macht er sich den exzessiven Ausdruck des Balletts zu Gunsten, um durch ihn seine theatralische filmische Ausgestaltung zu rechtfertigen. Was als Milieustudie und präzise beobachtetes Drama einer jungen Frau zu beginnen scheint, entwickelt sich bald zu einem anschwellenden Psychothriller mit eindeutiger Horrorfilm-DNA, der zwischen Wahnvorstellungen und Schockmomenten an Subtilität kaum Interesse zeigt. Je mehr Nina ihr zerbrechliches Selbst transzendiert, je mehr sie sich der Metamorphose ihrer Rolle hingibt, umso mehr verliert sich ihre bisherigen Wesenszüge: Aronofsky fragt nach dem Zusammenhang zwischen Geist und Körper, aber auch nach der Wechselwirkung von Sex und Kunst. Nina's sexuelle Unerfahrenheit (besonders deutlich in ihrem rosarot tapezierten Zimmer in der Wohnung der Mutter, das Bett von Kuscheltieren dominiert) ist das, was ihr bei der Annahme von Odile im Weg steht. So muss sie erst nach und nach ihre Triebe und Sinnlichkeiten erforschen, bekommt vom Tanzdirektor die Masturbation als Hausaufgabe verordnet, der selbst hervorgerufene Orgasmus soll in ihr jenes animalische Verlangen nach Laszivitäten wecken, doch es wird erst Tanzkonkurrentin Lily sein, deren luder- und lasterhaftes Auftreten sie zu einen Ausflug in das Nachtleben Los Angeles' und fortan in den Wahnsinn treibt.

Mit Natalie Portman als Hauptdarstellerin ist Aronofsky ein Glückstreffer gelungen. Sie meistert mit facettenreichen Akzenten alle Stufen ihrer komplexen Rolle, und macht nicht nur die zentrale Wandlung Ninas absolut glaubhaft, sondern weiß auch die vielen kleinen Herausforderungen der jeweiligen Szenen mühelos und doch mühevoll ausschauend nach außen zu tragen. Ninas nah an der Bulimie befindliche, von Dermatillomanie gezeichnete Zerbrechlichkeit, schwebt über ihrem Minenspiel wie ein Damoklesschwert und was sie in den hypnotischen Tanzszenen nur über ihre Augen, über ihr Stöhnen und ihre Leidenschaft transportiert, überragt jeglichen Zweifel an der Echtheit des Martyriums ihres Charakters. Für 108 Minuten lebt Portman den weißen Schwan, der eigentlich der schwarze Schwan sein möchte. Doch könnte die talentierte Schauspielerin nicht so grandios auftrumpfen, würden ihr ihre Nebenakteure nicht derart glänzend die Bälle zuspielen: Vincent Cassel begeistert als Agent Provocateur in Gestalt des diabolischen Ballettdirektors, und Mila Kunis steht die hinterhältige Schlange so gut zu Gesicht, dass ihr selbstbewusst viriles Auftreten der im Script simplen Gegenüberstellung von Mauerblümchen Nina und Sexbombe Lily eine ungeahnte, vielleicht sogar ungewollte Tiefe indoktriniert. Einzig Barbara Hershey kann sich als Ninas fast schon vom Erfolg ihrer Tochter besessene Mutter nie aus der Klischeehaftigkeit ihrer Rolle befreien, bleibt eine abstrakte, funktional ausgerichtete Drehbuch-Konstruktion.

In ihr verdeutlicht sich gut, weshalb die Intentionen der Regie sich gelegentlich als überambitioniert entlarven. Immer wieder an erkennbaren Genrevorbildern (auch literarischen, etwa "Der Doppelgänger" von Fjodor Dostojewski) orientiert ist der vornehmlich in Handkameras gefilmte "Black Swan" eine Mischung aus großem Suspense, echtem Thrill im Stile der Altmeister Alfred Hitchcock oder Brian De Palma und den Elementen des trashigen Gore-Kinos, stets gefilmt in der Aufmachung des Dokumentarfilms. Der Cinéma vérité Look ist omnipräsent, besonders, wenn Aronofsky mit seiner Kamera gefühlt minutenlang stoisch dem Hinterkopf von Portman durch die Straßen bis zur Tanzprobe folgt. Seine visuelle Aufmachung, besonders die Horroreffekte, sind effektiv, präzise gesetzt und schocken, doch fallen sie nicht selten auch plakativ und platt aus, wenn etwa Nina aus einer selbst erzeugten Rückenwunde eine schwarze Feder herauszieht, ist dies zu eindeutig und überladen in seiner Symbolik. Die Parallelen zur "Schwanensee"-Handlung beschränken sich auf die schon in Titel und Prämisse ausgestellte Schwarz-Weiß-Kontrastierung, die elementare Bedeutung der Clubnacht Ninas wird in lässiger kaleidoskopischer Schnittfolge zum Exzess getrieben. Das alles entwickelt ein eigenes Pacing, einen eigenen Look, eine eigene kühle Atmosphäre im Sinne eines Stanley Kubrick Films, doch ergründet es nie die Tiefen, die eine Charakterstudie verlangt, womit "Black Swan" mehr spannende, gruselnde Unterhaltung denn analytisches Psychogramm darstellt.

Fazit: Es tut gut, dass Filmkomponist Clint Mansell fast durchgängig auf den musikalischen Themen Tschaikowskys' aufbaut. Die träumerische Romantik und die in der Tat tänzerischen Darbietungen insbesondere der Hauptdarstellerin Natalie Portman erweisen sich als die größte Stärke des Films, auch wenn früh klar wird, dass hinter der Staffage des Balletts finstere Abgründe liegen. Das bemerkenswerte an "Black Swan" ist seine fehlende Berührungsangst, die Mittel großer filmischer Glanztaten genauso eindeutig zu zitieren wie sie mit campigen Elementen der Trivialunterhaltung zu vermengen, und beides nur als Aufhänger für eine moderne Adaption der "Schwanensee"-Geschichte zu nutzen. Aus diesen ungleichen Inspirationsquellen gewinnen Aronofsky und sein Film eine heimliche, verborgene destruktive Energie, die das unweigerliche tragische Crescendo früh einleitet und in seiner finalen Wirkung begünstigt, was "Black Swan" gleichermaßen mitreißend wie auch absurd werden lässt.

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Rasant rasender Rentner-Raubzug...

Beitrag von Wallnuss » 02.05.2017, 18:33

Abgang mit Stil

Es könnte der witzigste und absurdeste Moment des Kinojahres 2017 sein: An einem Mittwochabend sitzen drei Rentner vor der Couch und zappen durchs Fernsehprogramm. Hängen bleiben sie jedoch nicht bei einem alten Western mit John Wayne oder einer Quizsendung, sondern bei der Kuppelshow "The Bachelorette", in welcher eine junge Frau über mehrere Folgen hinweg eine Anzahl von attraktiven Männern datet und sich schlussendlich per Rosenvergabe für ihren Mister Perfect entscheidet. Glaubt man den drei Herren, so hat sich diese Bachelorette jedenfalls falsch entschieden. Dafür ist immerhin ihr rotes Kleid ganz hübsch. Diese an sich schon skurrile Situation wird für den geneigten Filmexperten jedoch zur Begegnung der etwas anderen Art: Regisseur Zach Braff setzt immerhin nicht mehr und nicht weniger als die drei Oscar-Preisträger und Hollywood-Urgesteine Michael Caine, Alan Arkin und Morgan Freeman auf das Sofa, und präsentiert mit "Abgang mit Stil" eine unverhofft witzige und packende Caper-Comedy.

Der demographische Wandel hatte in den letzten Jahren schon öfter seine Spuren im Unterhaltungskino hinterlassen: Immer häufiger stellen komödiantische Filme die anarchistische Energie der Rentner-Generation in den Vordergrund, und übertragen den YOLO-Spirit der Post-Millennium-Jugend auf die gealterten Protagonisten. Im Sinne des "fish out of water"-Humorprinzips verhalten sich so die Vertreter des Ü70-Lifestyles als wären sie in ihre pubertären Zeiten zurückversetzt. Diese einfache, aber nicht unbedingt leichte Rezeptur steigert Braff durch seine Besetzung auf ein Maximum und generiert dabei unerwartet spritzige Kinounterhaltung. Den alten Haudegen merkt man sofort an, dass sie sich nicht nur unter einander gut kennen (Freeman und Caine stehen bereits zum sechsten Mal gemeinsam vor der Kamera), sondern auch viel Spaß miteinander am Set gehabt haben müssen, mit so schlafwandlerischer Sicherheit verkörpern die drei ihre filmischen Alter Egos. Gerade Arkin ist als mürrischer Gegenpol zu seinen optimistischen Nebenparts dermaßen er selbst, dass man zahlreiche seiner vergangenen Rollen der letzten Jahre in seinem Spiel wieder zu erkennen glaubt. So ist gerade die erste Hälfte des Films, die aus einer Menge teils urkomischer Situationen zusammengewürfelt ist, vor allem für Fans der 3 Darsteller ein großer Spaß, auch, weil Braff seine Pointen mit absolutem Selbstbewusstsein präsentiert und so selbst daneben gehende Gags noch als charmant gewertet werden.

Natürlich gibt es aber auch eine Handlung, und auch wenn diese nicht neu ist und die großen Vorbilder klar zu benennen wären, so ist sie doch gleichermaßen aktuell wie ernst zunehmen. Da ihnen ihre Bank ihre Rentenzahlung streitig gemacht hat, alle drei möglichst schnell ihr verdientes Geld brauchen und sie ohnehin nicht viel zu verlieren haben (böte doch selbst ein Gefängnisaufenthalt immer noch ein sicheres Bett und drei Mahlzeiten am Tag), beschließen die drei, ihre Bank auszurauben und das überschüssige Geld in bester Robin-Hood-Manier für wohltätige Zwecke zu spenden. Erstaunlich ernst und überlegt, ohne den Spaß aus den Augen zu verlieren, geht Braff mit diesem nicht leichten Thema um und während in einer längeren Passage, in der die drei Räuber wider Willen in einem kleinen Discounter damit trainieren, unbemerkt Zutaten für Cordon bleu zu entwenden, kein Auge trocken bleibt, schimmert auch immer wieder die wichtige Frage und in ihrer hier gefundenen Beantwortung klare Kritik daran durch, inwiefern in Zeiten des Großkapitalismus die Gesellschaft noch ihre Aufgabe erfüllt, sich um die Ältesten unter ihnen zu kümmern. Wenngleich die Vereinfachung des Bankwesens als gewissenloses Kollektiv es sich sehr einfach macht, die Protagonisten zu Aposteln zu stilisieren, so ist in diesem Subtext von "Abgang mit Stil" doch eine schöne Moral vorzufinden, die mit den gängigen Klischees des Caper-Films gekonnt fusioniert. In der Vorbereitung des Raubüberfalls kann es vor lauter Spielfreude und Humorfrequenz gar zu Szenenapplaus kommen, und es ist schön, dass sich Braff nie darauf beschränkt, eine Sketchshow zu initiieren, sondern mit ruhiger Hand dem Film einen inszenatorischen Stempel aufzudrücken versteht, ob nun mit Split-Screen-Aufnahmen, in warmen Farben präsentierten Großstadtaufnahmen vom Big Apple oder sehr geschwungenen Überblenden, in denen Konzeptzeichnungen langsam zu ihren realen Vorbildern (mit Akteuren darin) verschmelzen.

Hervorragend gelungen ist an "Abgang mit Stil", dass letzterer, welcher im Titel extra betont wird, stets die Oberhand behält und sich nie dem Infantilismus beugen muss. Sicherlich muss das Verhalten der Protagonisten der humoristischen Idee wegen teils nah an der Schwelle zur Kindlichkeit liegen, und das kurze Ausprobieren von Cannabis in einer Szene gehört da wohl mittlerweile einfach dazu, dennoch verlieren sie nie ihre Haltung als reife, in die Jahre gekommene Männer mit Überzeugung. Und eben jene Überzeugung verhilft dem schelmischen Treiben auf der Leinwand zu seiner Sogwirkung, der Wunsch, als Rentner einmal noch ähnlich rasant und überzeugt auftreten zu können. Hier profitiert das ideenreiche Script, dass nur in den letzten 20 Minuten etwas zu erwartbar verlaufen mag, nicht nur von den versammelten über 250 Jahren Lebenserfahrung der Hauptdarsteller, sondern ebenso von ein paar wunderbar besetzten Nebenrollen, etwa der 60er-Sexikone Ann-Margaret oder einem brüllend komisch agierenden Christopher Lloyd, der zum heimlichen Helden der Erzählung wird, wie vom spritzigen Score Rob Simonsen, der an die großen Gaunerkomödien der 70er überdeutliche Anleihen nimmt. So ist Braff stets klug genug, die Klischees des Genres gleichermaßen zu umgehen wie sich zu Nutze zu machen, um den Filmspaß möglichst pointiert zu garantieren.

Fazit: Situationskomik-Experte Zach Braff offeriert mit "Abgang mit Stil" eine der besten Komödien der jüngeren Zeit und vielleicht das Paradebeispiel dafür, wie eine filmische Zusammenkunft alter Stars auszusehen hat. Das Ergebnis ist bestes Feel-Good-Kino für die ganze Familie, in welchem Hirn und Herz gleichermaßen präsent sind. Neben den antikapitalistischen Denkanstößen begeistert dabei am meisten die ungewöhnliche Lösung des Konflikts, denn ohne zu viel zu verraten: Was wären Rentner doch ohne ihre Enkel? Man kann und sollte den Ältesten manchmal eben auch etwas zurückgeben.

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Why is the fun gone?

Beitrag von Wallnuss » 30.05.2017, 14:30

Pirates of the Caribbean: Salazars Rache

Es scheint fast, als hätte die deutsche Titelschmiede einst prophetische Kräfte bewiesen, als sie den 2003er Disney-Überraschungshit "Pirates of the Caribbean" promt in "Fluch der Karibik" umbenannte. Mittlerweile mag man beim deutschen Verleih zurückgerudert sein, doch erweist sich die im Jahre 2017 nun zur Pentalogie ausgeweitete Filmreihe glatt als andauernder Fluch fürs Publikum. Nach dem Gore Verbinski seinen eigenen spannenden Erstling in einem spektakulären überepischen Zweiteiler in den Jahren 2006 und 2007 eigenhändig gigantomanisch überhöht ins Aus beförderte, konnte Rob Marshall 2011 mit einem deutlich reduzierten Teil zwar die Kinokassen, aber nur bedingt die Herzen der Fans des Originals zum klingeln bringen. Espen Sandberg und Jochen Rønning dürfen sich nun also als nächste am karibischen Fluch erproben und finden in ihrem Schurken, dem untoten Geisterpiraten Salazar, die perfekte Metapher für das Franchise: Was bereits tot ist, kann nicht mehr sterben.

Zu begründen, warum das Original einst begeisterte Reaktionen hervorrief, ist gar nicht so schwer. So brachte "Fluch der Karibik" einst zwei wahnsinnig frisch arrangierte Faktoren zusammen. Zum einen das klassische Heldenepos im Gewand eines vergessenen Filmgenres (dem Mantel und Degen Film) in Gestalt des Filmpaares Orlando Bloom und Keira Knightley, kombiniert mit der zwischen Mephistopheles und Keith Richards angelegten Figur des Piratenkapitäns Jack Sparrow, der von Johnny Depp mit einmaliger Spielfreude zum besten gegeben wurde. Allzu falsch schienen die Verantwortlichen jedoch die Faszination der Sparrow-Figur interpretiert zu haben: Gewann diese gerade durch ihre unkonventionelle Kreuzung mit der genreüblichen Saga an Reiz, mutierte sie in den Sequels zum allgegenwärtigen Pausenclown, zur Verballhornung jener Figur, welche sie im Erstling noch gleichermaßen pointiert amüsant wie unterschwellig bedrohlich und hinterhältig wirken ließ. In "Salazars Rache" erreicht diese Entwicklung nun ihren traurigen Höhepunkt: Jack Sparrow ist der Geschichte mehr im Weg als nützlich und Depps schauspielerische Leistung als dauerbetrunkenes Abbild seiner einstigen Paraderolle so träge wie lustlos. Nicht genug, dass der Überraschungseffekt des Charakters nach 4 Filmen schlicht verflogen ist, so scheint er nun in einem gänzlich anderen Licht. Der ehemalige Agent provocateur, der Wolf im Schafspelz, der seine Intelligenz und Raffinesse hinter dem Auftreten eines Hofnarrs versteckte, ist um sämtliche IQ-Punkte beraubt ein rein grotesker Comic relief, ohne den der Film genauso und vielleicht sogar erträglicher verlaufen würde.

Sandberg und Rønning präsentieren so einen Film, der die Reihe entweder ad absurdum führt oder schamlos bei den Vorgängern kopiert. Wieder steht ein junger Held aus bescheidenen Verhältnissen mit verschollenem Piratenpapa vor einem großen Geheimnis, wieder wird ein verlorenes Artefakt gesucht, wieder muss eine für ihre Zeit und Gesellschaft zu emanzipierte junge Frau sich in einer Männerwelt beweisen, wieder wollen die Briten bei allem mitmischen, ohne zu verstehen, worum es geht, wieder ist Geoffrey Rush als Captain Barbossa unmotivierter Teil der Handlung und bloße Pflichterfüllung, wieder schwafelt eine ominöse Hexe noch ominöserer Sprüche mit sehr ominöser Motivation... Die Filmreihe, die einst auf einer Disneyland-Attraktion baiserte, beweist hier folgerichtig, warum es langweilig ist, immer wieder dieselbe Achterbahn zu fahren: Irgendwann kennt man die Höhen und Tiefen und weiß, was man bekommt. Statt aus dieser vermeintlichen Sicherheit jedoch Profit zu schlagen, weiß die Regie nicht viel mit ihrem Stoff zu machen. Unaufgeregt, aber auch ohne jede visuelle Eigenständigkeit werden die üblichen Actionszenen abgespult, mal mit ein wenig Zeitlupe, mal mit ein paar Panoramaaufnahmen. Schwertkämpfe sind auf ein Minimum reduziert, an ihrer statt treten CGI-Kanonenfeuer oder ein bei Nacht gefilmtes Aufeinandertreffen zweier Piratenschiffe, dass in seinem undramatisch-kindlichen Verlauf besser gleich als Animationsfilm hätte inszeniert werden können. "Salazars Rache" fehlt von Anfang bis Ende ein echter Handlungskatalysator, der Interesse für das Geschehen auf der Leinwand entfalten könnte, was mehr, als leichte Sonntagnachmittags Unterhaltung aus dem Stoff machen könnte. Und hier ist gerade Salazar der Hauptgrund für dieses Scheitern.

Denn wo die Neuzugänge Brenton Thwaites und Kaya Scodelario ihre prüde Romanze zwar weniger enthusiastisch als Bloom und Knightley einst, aber immerhin mit Überzeugung und Würde runter spielen, so darf Javier Bardem als Antagonist klar als größter Fehlgriff des Films neben der Sparrow-Interpretation bezeichnet werden. Der ertrunkene Geisterkapitän ist durch seine ausführlich visualisierte Unsterblichkeit eigentlich unbesiegbar, scheitert jedoch oft genug an den wohl haarsträubendsten Gründen. Freut man sich als Zuschauer auf ein großes Duell zwischen Held und Widersacher, so ist es doch enttäuschend, wie oft Salazar hier eigentlich statt gegen Sparrow gegen den Drehbuchautoren zu kämpfen scheint. Unfreiwillig komisch gerät da nur, mit wie viel falschem Übermut Bardem die auf dem Papier öde Salazar-Rolle durch ausuferndes Overacting frühzeitig der Lächerlichkeit Preis gibt. Dennoch ist "Salazars Rache" im Vergleich zu seinen zwei Vorgängern eine leichte Steigerung. Tatsächlich tut dem Film die in Relation kurze Laufzeit von 129 Minuten gut, sodass die wenigen Höhepunkte (eine wahnsinnig gut inszenierte Rückblende zur ersten Begegnung von Salazar und Sparrow & eine fast Verehelichung des Letzteren) zur Geltung kommen, und auch der Übergang von Komponist Hans Zimmer auf Geoff Zanelli ist durch dessen treffende Melodien für die Ohren äußerst angenehm. Ferner können ein Kurzauftritt von Paul McCartney sowie ein paar überraschende Widerkehrer der Ur-Trilogie die eingefleischten Fans begeistern. So täuscht der nach hinten raus doch noch mit 2-3 guten Momenten aufwartende Film aber nur rudimentär darüber hinweg, dass die Reihe längst mit dem Gesicht nach unten im Becken treibt.

Fazit: Nach dem Abspann weiß einen der "Fluch der Karibik" doch noch einmal zu erschrecken: In einer weiteren Sequenz wird ein sechster Film angedeutet. So ist das eben mit Flüchen: Man wird sie nicht los und muss lernen, mit ihnen umzugehen. Entweder in dem man sie sich schön redet oder - nach bevorzugter Art von Captain Jack Sparrow - schön säuft. Prost!

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Beitrag von SFI » 30.05.2017, 16:23

Obwohl die Reihe mit jedem Teil schlechter wurde, hätte ich bei den beiden Regisseuren auf eine frische Brise gehofft. Da war wohl der Studioeinfluss größer. :?:
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Beitrag von gelini71 » 30.05.2017, 17:16

ich will ja niemanden beleidigen - aber warum tut man sich den Quark denn überhaupt noch an ? Bereits nach dem zweiten Teil war die Luft aus der Reihe raus und alle Teile die danach kamen wurden generell durch die Bank weg als schlecht bewertet. Haben die Zuschauer wirklich noch Hoffnung das da noch was gutes kommt ? Sorry - ich verstehe es nicht...einfach ignorieren damit das Studio finanziell auf die Schnauze fliegt und wir von weiteren Teilen die schlecht sind verschohnt bleiben.
Ich mache keine Rechtschreibfehler, ich gebe Wörtern lediglich eine individuelle Note

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Beitrag von Wallnuss » 30.05.2017, 18:13

Ganz ehrlich: Teil 1 und 2 (8/10 & 7/10) mochte ich, Teil 3 (4/10) war dann in der Tat eine Enttäuschung. Hatte mir dann Teil 4 (3/10) auch nur angesehen, weil ich die Bluray für wenige Euros bekommen und gehofft hatte, der Back to the roots Charakter könnte mir mehr gefallen als der blasse Vorgänger, im Nachhinein wurde es eher noch schlimmer. Hätte mir die 5 daher nie angesehen, wenn ich gestern kein Date gehabt hätte und die holde Dame keine manische Depp-Anhängerin gewesen wäre. :lol: Vielleicht wäre es wirklich konsequenter gewesen, kein weiteres Review zu schreiben, aber da bin ich dann im Hinblick auf meine Texte zu 1-4 eben Komplettist.

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Beitrag von Vince » 05.06.2017, 14:53

Ich finde das auch vollkommen in Ordnung... auch schlechte Filme brauchen Rezensionen. Obwohl der hier dem allgemeinen Vernehmen nach ja zumindest wieder besser sein soll als der Totalschaden von Teil 4.

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Nichts ist so flach wie der Sand am Meer...

Beitrag von Wallnuss » 02.07.2017, 22:21

Baywatch

Wenn man heute einige Zeitgenossen befragt, wer eigentlich in den 90ern vor dem heimischen TV-Apparat der Kultserie "Baywatch" und ihren damaligen Stars wie David Hasselhoff oder Pamela Anderson zum Erfolg verholfen hat, dann will es heute natürlich keiner gewesen sein. Einig ist man sich im Nachhinein nur über eines: An der überragenden Qualität der Drehbücher oder am effektiven Schauspiel der Akteure hat es eher weniger gelegen. Anderson selbst soll einmal gesagt haben: "Meine Brüste hatten eine glänzende Karriere. Ich bin immer nur hinterher gereist." Irgendwo, in diesem unlängst nostalgisch anmutendem Gefüge, in diesem Mix zwischen seichtem Krimi-Geplänkel, jugendlichem Lifestyle und Strandpornografie platziert im Jahre 2017 (und damit stolze 16 Jahre nach dem Ende der Originalserie) Regisseur Seth Gordon seine Neuauflage des Pop-Phänomens, die in einem Wechsel der Strandpromenade von der West- zur Ostküste ihre größte Innovation vorzuweisen hat.

"Baywatch" präsentiert sich im Kino-Aufguss, als wäre es nie weg gewesen. Mit artifiziellem Kitsch trumpft schon das Intro auf, in dem hinter dem heroisch aus dem Wasser steigenden Hauptdarsteller Dwayne Johnson mit einem lauten "Bamm" beim Erscheinen der Titel des Films den Horizont bedeckt. Und später wird die blonde Schönheit Kelly Rohrbach ganz im Sinne der Vorlage in Ultra-Zeitlupe und hautengem Badeanzug auf die Kamera zulaufen. Doch in dieser Szene offenbart Gordon früh genug den großen Unterschied, welchen seine Version zu gehen wagt: Die Kommentierung, die Flucht ins Selbstironische. Denn während Rohrbach so ihrer Wege zieht, fragt einer der sie anhimmelnden Typen ganz nebenbei, ob die anderen sie auch in Zeitlupe sehen würden. Anders als die Serie, die ihrerseits ganz eskapistisch darauf ausgelegt war, einen Mikrokosmos zu entwerfen, in dem es völlig alltäglich ist, dass Rettungsschwimmer mit familiärem Pathos kriminalistischen Ermittlungen nachgehen, bricht Gordon die Absurdität der "Baywatch"-Uridee auf, in dem er den Zuschauer zu einem Eindringling in eine solche "Parallelwelt" werden lässt, der von Darsteller Zac Efron als Greenhorn im Rettungsschwimmer-Kommissariat sogar eine innerweltliche Repräsentation erfährt. Diese fast schon radikale Konzeption macht über weite Strecken des Films einen Großteil seines Spaßes aus. Immer dann, wenn Gordon in visuell exakter Nachahmung der Manierismen der "Baywatch"-Klischees deren Banalität exzessiv zur Schau stellt, lädt dies zum großen Grinsen auf den Gesichtern der Kinozuschauer ein und immer wieder scheint der Film so fast schon wehmütig in Richtung Publikum zu seufzen: "Wisst ihr noch, wie unbeschwert das damals war, in den 90ern?"

In Wahrheit sind die Zeichen der Zeit jedoch auch an "Baywatch" nicht spurlos vorbei gegangen. Dass ein Film in Nachfolge der Serie heute für seinen Chauvinismus kritisiert werden würde, beantwortet Gordon mit einer Umkehrung der Körperinszenierung: Zwar dürfen sicherlich auch die Frauen in diesem Film attraktiv und reizvoll sein, doch sind es die männlichen Protagonisten Johnson und Efron (die im Rückblick den glatt rasierten Oberkörper Hasselhoff's eher putzig anmuten lassen), deren Brustumfang die deutlich höhere Beachtung geschenkt wird. In einigen Szenen scheint die Haut über Efron's purer Brustmuskelmasse gar bis kurz vorm Platzen gespannt. Tatsächlich kristallisiert sich so unter Gordon mehr und mehr heraus, was bei einem Revival von "Baywatch" zwangsläufig offenbart werden musste: Jene Serie, die einst für ihre sexuelle Freizügigkeit bekannt war, ist schon damals mit der Über-Sexualisierung auf und ab hüpfender Bikini-Busen in Zeitlupe eine eigentlich prüde Veranstaltung gewesen, die heute nur umso konservativer erscheinen muss. Auch der Film zeigt dies klar und deutlich: Wenn der Klischee-Nerd-vom-Dienst Ronnie (sympathisch gespielt von Jon Bass), zuständig für die meisten Vulgärwitze, mit seinem erigierten Penis in einem Lattenrost stecken bleibt oder Efron später das Gemächt eines Verstorbenen angeekelt anheben muss, reagieren die umstehenden Charaktere mit kühler Besonnenheit und ohne größeres Aufsehen. Zur Kontroverse taugen diese "Tabubrüche" längst nicht mehr. Ein Revival der 90er muss eben zwangsläufig einen definierten Anachronismus in sich bergen, und so ist die stetige atmosphärische Brechung der vorab temporeich etablierten Begebenheiten der zentrale Clou der Erzählung.

Lange Zeit weiß das auf eine angenehm "trashige" Art und Weise, die eine richtige Lust an Oberflächlichkeiten und Trivialitäten weckt, zu unterhalten. Schwach wird "Baywatch" immer dann, wenn sich das Drehbuch und der darin verborgene Plot rund um einen Vater-Sohn-haften Konflikt der Baywatch-Kerle und eine von Priyanka Chopra völlig blass gespielte schurkische Club-Besitzerin allzu sehr aufdrängt, und gerade in der zweiten Hälfte der mit beinahe 2 Stunden wohl etwas zu lang bemessenen Laufzeit den Raum einfordert, den selbst eine so funktionale Geschichte nun einmal irgendwann braucht. Hier erweist sich die in den im Abspann gezeigten Outtakes wohl hinter den Kulissen vorhandene Chemie zwischen den Darstellern als auf der Leinwand zu wenig präsent, und Gordon und Co wirklich allzu einfallslos, den stereotypischen Entwicklungen eines Kriminalfilms einen ähnlichen Kniff wie der Rekonstruktion und Destruktion der "Baywatch"-Serienklischees zu verpassen. Im Showdown wird dann gar nur noch die übliche wacklig-hektische Actioninszenierung abgespult, die bei dem knappen Budget von 69 Millionen US-Dollar aber gleichzeitig weider nicht allzu üppig ausfallen darf. Irgendwie konsequent, schließlich war auch die Serie immer dann am schwächeln, wenn zwischen nasser, (fast) nackter Haut, Jugendidealen und Zeitlupen versehentlich einem Dialog gelauscht wurde...

Fazit: Der griechische Philosoph Thales von Milet hat geschrieben: "Das Prinzip aller Dinge ist Wasser; aus Wasser ist alles, und ins Wasser kehrt alles zurück." Zweifelsfrei wird die kurzzeitige "Baywatch"-Reanimation bald genauso schnell wieder verschwunden sein, wie sie gekommen ist. Zum eigenen Kult wird sie nicht geraten, dafür haben sich die Sehgewohnheiten doch zu sehr weiter entwickelt - zum Glück, möchte man hinzufügen. Für eine gemütliche Zeitreise in die 90er reicht es dennoch allemal und so sehr schämen wie beim Original muss man sich hier dank schönen Metawitzeleien schon deutlich weniger. Ansonsten ist eben nach wie vor nichts flacher als der Sand am Meer...

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Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.

Beitrag von Wallnuss » 03.07.2017, 11:18

Unknown Identity

Der Kalte Krieg mag mittlerweile vorbei sein, doch das wiedervereinte Berlin ist auch im 21. Jahrhundert (zumindest in Filmen) nach wie vor ein beliebter Tummelplatz für Spione. Das muss auch Dr. Martin Harris erfahren, der lange nach Glasnost und Perestroika bei einem Besuch in der Bundeshauptstadt einen Unfall während einer Taxi-Fahrt erleidet und sich ein paar Tage ins Koma verabschiedet. Der wahre Schock liegt für ihn aber im Aufwachen, denn die eigene Frau schaut ihn bei seiner Wiederankunft im Adlon bloß verständnislos an: "Excuse me, do I know you?" Ein anderer hat derweil längst seinen Platz eingenommen. Pech für Harris, Glück für den Kinozuschauer, denn diese spannende Konstellation dient dem spanischen Regisseur Jaume Collet-Serra nur als cleverer Aufhänger für ein wahres Verwirrspiel rund um Identitäten, eine beeindruckende Melange aus B-Movie-Atmosphäre, französischem Existentialismus und klassischem Hitchcock-Narrativ.

Collet-Serra will sich mit "Unknown Identity" als kleiner geistiger Bruder großer "Vorfahren" wie Alfred Hitchcock, Roman Polanski oder Brian De Palma verstehen, ganz auf dem obligatorischen "Wrong Man"-Konflikt aufgebaut, und doch erweckt sein Film nie den Eindruck ausschweifender Hybris. Im Zentrum steht die kluge Geschichte, welche in atemlosen Tempo erzählt beinahe einen altmodischen Charme entwickelt. Die Inszenierung beweist ein vorzügliches Timing für Verfolgungsjagden, Suspense und entsprechende Atempausen, die dem zugrunde liegenden Mysterium des falschen Harris sogar etwas Rätsel-Stimmung entlocken. Berlin fungiert als winterliche Kulisse, ihm wird aber auch ein eigener Charakter zugestanden. Wenn eine von Flavio Martínez Labiano spannend eingefangene nächtliche Autoverfolgung über die Friedrichstraße nach mehreren Minuten mit einem Zusammenstoß mit einer Tram ihr rigoroses Ende findet, ist der Szenenapplaus mitunter nicht weit entfernt. Gerade für Berliner entwickelt sich hier der besondere Reiz, einen klassischen Hollywood-Thriller vor der eigenen Haustür zu begutachten, doch auch der Berlin-fremde Zuschauer erhält einen tollen Einblick in die Seele dieser pulsierenden Stadt. Berlin dient gleichermaßen auch als Metapher für den erzählten Plot: Auch über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ringt die Metropole um eine urbane Identität, ist immer noch gespalten, nur das die Trennlinie nicht mehr auf jeder Stadtkarte präsent ist.

Es ist oft nur vorsichtig eingeschobener visueller Subtext wie dieser, der der spannenden Story in der Tat genug Substanz einimpft, um sie in die Sphären ihrer großen Vorbilder vordringen zu lassen. Dass die späte Auflösung des an Wendungen nicht armen Komplotts schließlich nicht bloß eine simple Enthüllung bereit hält, versteht sich da von selbst. Bei dem moralischen Dilemma seines Protagonisten weiß Collet-Serra mit den Lehren des Jean-Paul Sartre zu argumentieren und Martin Harris muss erkennen, dass die Essenz ganz im Sinne des Philosophen tatsächlich der Existenz vorausgeht und er sich vor jene radikale Wahl gestellt sieht, nach der er sein Wesen selbst definieren muss. Dieses ihm aufgezwungene "Nosce te ipsum" ist der ideale Katalysator, um Hauptdarsteller Liam Neeson groß aufspielen zu lassen. Neeson, der als betagter Actionheld immer wieder Kinozuschauer begeistert, bekommt hier mehr als in seinen sonstigen Filmen gleicher Gangart die Gelegenheit, sein vielfältiges mimisches Repertoire in voller Bandbreite zu nutzen. Er darf nicht nur den kaltschnäuzigen Kämpfer porträtieren, sondern sich als hadernder und verzweifelter Jedermann beweisen, und wenn er durch die Nächte Berlins wandert, ist das tragische Charisma, dass von ihm ausgeht, schon allein die Eintrittskarte wert.

Auch der restliche internationale Cast schickt sich an, mit Höchstleistungen aufzuwarten. Diane Kruger ist als Immigrantin und einzige Rettung für Harris perfekt besetzt und bringt eine leise Ironie in ihr Spiel ein, die den zunehmend abgedrehteren Verschwörungen eine angenehme Erdung zu verleihen weiß. Ebenso können January Jones, Aidan Quinn oder Sebastian Koch mit Leichtigkeit überzeugen und sind so effektiv genutzt wie selten. Am meisten begeistern jedoch weniger die Charaktere selbst als die Einstellung, die Collet-Serra zu ihnen gewinnt. Er ist sich den Skurrilitäten und Macken des Genres stets bewusst und so übernimmt seine Kamera stets eine leise, fast auktoriale Distanz zu den Figuren und ihren Aktionen, der ein spitzbübischer Eindruck innewohnt. Wenn ein vermeintlich freundlich gesinnter Charakter sich so urplötzlich als Widerling entpuppt, entpuppt sich "Unknown Identity" in seiner Unaufgeregtheit als amüsantes Spiel mit dem Publikum, dass sich daher den vielleicht etwas zu konventionellen Abschluss gönnen darf, in dem der Zerstörung jener Sehenswürdigkeiten, die zuvor noch so atmosphärisch eingefangen, etwas zu viel Zeit gewidmet wird. Das Highlight des Films lag aber ohnehin in seiner ruhigsten Szene, als in einer Nebenhandlung Bruno Ganz, der als Ex-Stasi-Agent (stets über die Fähigkeit des Vergessens bezüglich des deutschen Volkes schwadronierend) die faszinierendste Figur des Films verkörpert, die hier eine Art verschrobene moralische Instanz darstellt, auf Schwergewicht Frank Langella trifft. So oft bekommt man einen derartig subtilen, bedächtigen und packenden Schlagabtausch zweier Meister ihres Fachs so effizient nicht präsentiert.

Fazit: Über etwaige Unglaubwürdigkeiten im Script, dass auf dem gleichnamigen Roman von Didier Van Caulewert basiert, weiß Collet-Serra mit Unterstützung der deutschen Hauptstadt und einer groß aufspielenden Besetzung mühelos hinweg zu navigieren, während er unbeirrt über einen Zeitraum von 114 Minuten seinem Ziel näher kommt, den großen Meistern des Genres Tribut zu zollen, und sich dabei dennoch auf das Spiel mit den trivialen Elementen dieser Sorte Film einzulassen. Es mag Geschmackssache sein, inwiefern diese bei dem einzelnen Betrachter möglicherweise störend ins Gewicht fallen, wichtiger ist aber, dass sich "Unknown Identity" seiner Eigenarten stets bewusst ist und sie daher clever in seine Struktur etabliert. So ist der Film besonders für eine Zweitsichtung gut geeignet und nicht wenigen wird vermutlich erst bei einer solchen auffallen, wie geschickt und mühelos ausschauend sich der Aufbau des Plots eigentlich gestaltet. Eine klare Genre-Empfehlung, die besonders für Berliner noch einen Extra-Geschmack Bahnhofscurrywurst enthält.

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Das Versprechen historischer Korrektheit...

Beitrag von Wallnuss » 17.08.2017, 11:45

The Promise

Kaum ein Film wurde in letzter Zeit so zum Gegenstand einer politischen Debatte ausgeweitet wie „The Promise“. Doch das Werk von Regisseur Terry George weckt damit im Vorfeld Erwartungen, die der fertige Film kaum einhalten kann. Der Reihe nach: 2016 kam es zu politischen Streitigkeiten zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei, als die Bundesregierung eine Resolution beschloss, nach der die Vertreibung der Armenier aus dem Türkischen Reich 1915 (in deren Zuge zwischen 300000 und 15000000 Menschen den Tod fanden) fortan als Völkermord zu bezeichnen sei, während die türkische Regierung sich gegen eine Verwendung des Genozid-Begriffs wehrt: die damaligen Geschehnisse seien Konsequenzen des Ersten Weltkriegs gewesen und eine derartige Titulierung daher unangebracht. Auf welcher Seite George und sein Film stehen, ist nach wenigen Minuten klar, und dennoch ist „The Promise“ ein seltsam mitleidsloses Werk geworden, welches Authenzität, Empathie und Sensibilität in allen Punkten vermissen lässt.

In vielerlei Hinsicht fühlt sich der Filmkenner bei „The Promise“ schnell an die klassischen Hollywood-Epen eines David Lean erinnert. Sowohl in der Ausstattung als auch inhaltlich ist die Orientierung an den Kostümfilmen überdeutlich: die Detailverliebtheit der Produktion ist produktionsdesign-technischer Traum, natürlich mit modernen Mitteln, denn wo Lean einst echte Landschaften und große Kulissen abfilmte, greift der zwischen 90 und 100 Millionen Dollar teure Film auf weite Panoramaaufnahmen von CGI-Replikationen der Türkei des frühen 20 Jahrhunderts zurück. Geschenkt, da der Wille einer um Exaktheit bemühten Nachstellung der damaligen Zeit auf der Leinwand durchaus erkennbar wird. Die inhaltlichen Parallelen zu Leans Filmen liegen im Fokus der Geschichte: Zentral ist hier nämlich kein Soldat oder direkt vom Krieg geschädigter Charakter zu finden, sondern ein turbulentes Liebesdreieck, welches allzu schnell durch den ausbrechenden Krieg in Mitleidenschaft gezogen wird. Liebe und Krieg als Kontraste – ein Kniff, so alt wie das Kino selbst. Die Liebe der beiden Armenier Mikael und Ana steht daher von Anfang an merklich unter keinem Stern – und das nicht nur, weil Mikael durch eine arrangierte Verlobung eigentlich bereits vergeben ist, genauso wie Ana, die sich in einer Beziehung mit dem US-amerikanischen Fotoreporter Christopher befindet…

Was hatte die Produktionsfirma Survival Pictures sich doch bemüht, große Stars wie Elton John oder Leonardo DiCaprio hinzuzuziehen, um in einer Marketingoffensive auf die Botschaft des Films aufmerksam zu machen. Gleichzeitig standen schwere Sabotage-Vorwürfe im Raum: Türkische Internettrolle sollen die Bewertungen für den Film auf der Webplattform imdb.com manipuliert haben, um dem Ansehen des Films zu schaden. Und wie enttäuscht wird der politisch interessiert oder desinteressierte Zuschauer doch sein, wenn er im Kino erfahren muss, dass „The Promise“ bei allem vorgeschobenen Interesse am Schicksal der Armenier ein platter Liebesfilm mit unausgegorenen Dialogen und klischeehafter Aufmachung geworden ist. Denn wo weltweit Diplomaten wie Historiker über den „Völkermords“-Begriff diskutieren, ist sich „The Promise“ seiner Sache zwar sicher, scheint aber deshalb auch seine Position kaum genauer ausgestalten zu wollen. Die Liebesgeschichte zeigt sich von den Gräueltaten und Massakern jedenfalls wahrlich unbeeindruckt: Ganz klassisch finden Mikael und Ana zusammen, überstehen kleinere und größere Konflikte an denen ihre Liebe immer weiter wächst, bis am Ende alles ganz melodramatisch in große Tränenausbrüche mündet. Eingeschobene Episoden, wie ein Ausflug des Reporters Christopher in ein Kriegsgefangenenlager wirken so willkürlich wie beiläufig und so verpasst es der Film zu jeder Zeit, dem Krieg ein dramaturgisches Sujet zu vermitteln. Dies schwächt zeitgleich auch die Liebesgeschichte, denn da diese in ihrer Tragik erst durch das Kriegsleid deutlich werden soll, fehlt es hier vollständig an jedweder Emotionalität für das Leinwandgeschehen.

Unbegreiflich bleibt, wie George eine solche Starriege versammeln konnte, um sie in Rollen von Cameo-artiger Länge zu präsentieren. Wer vorab von der Verpflichtung von Tom Hollander oder Jean Reno gehört haben sollte, kann seine Vorfreude auf deren Auftritte getrost ad acta legen, so winzig fällt ihre Teilnahme aus. Auch die begabte Angela Sarafyan bleibt verschenkt und so bleibt nur die Dreieckskonstellation aus Oscar Isaac (Mikael), Christian Bale (Christopher) und Charlotte Le Bon (Ana) im Gedächtnis, die dafür überaus kompetent gegen die Plattheiten von Inszenierung wie Script anspielen. Besonders Bale, der die emotional distanzierteste Rolle verkörpert, deutet nicht selten an, welches Potential in „The Promise“ gesteckt hätte, wenn die Ausarbeitung des Projekts im Vorfeld überlegter gewesen wäre. Historisch genau arbeitet der Film schließlich und zitiert nicht selten sogar Fotos aus Armenischen Museen nahezu 1:1, so wie allgemein das Anliegen, den Fokus auf ein bislang historisch kaum filmisch aufgearbeitetes Thema auch aus aktueller Sicht durchaus lobenswert ist, auch wenn „The Promise“ in die Falle tappt, das Leiden eines ganzen Volkes durch eine Episode darzustellen, die von einem Großteil der beteiligten Personen überlebt wurde, was der eh schon empfundenen Emotionslosigkeit der konventionell-tränendrückerischen Herangehensweise nicht unbedingt gut tut.

Fazit: Historiker und Diplomaten, die seit jeher eine Schwäche für die thematischen Begebenheiten in der Türkei 1915 haben, werden den Kinobesuch ohnehin wagen. Eine Kinoempfehlung für dieses Klientel ist daher so redundant wie abgedroschen. Doch die Frage, an wen sich „The Promise“ sonst richten will, bleibt offen. Natürlich ist der Film trotz ehrbaren Anliegens (produziert vom vor zwei Jahren verstorbenen amerikanischen Milliardär Kirk Kerkorian, der selbst armenischer Abstammung ist) in seinem Sendungsbewusstsein so grob wie es das Mainstream-Publikum verträgt und mit seinem großen Fokus auf die standardisierte Liebesgeschichte ein ziemlicher Langweiler bei einer Länge von 130 Minuten. Fans historischer Liebesdramen können den Kinobesuch trotzdem wagen, um sich immerhin an der prächtigen Ausstattung und den respektablen Darstellern zu erfreuen. Für alle anderen bleibt „The Promise“ nur ein Versprechen, auf dessen Einlösung man aber vergeblich wartet.

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Wenn nicht mal mehr das Zeitreisen noch hilft...

Beitrag von Wallnuss » 19.08.2017, 16:03

Terminator: Genisys

Seit jeher behandelte die "Terminator"-Filmreihe, die Kinovisionär James Cameron 1984 mit einem dreckigen, nihilistischen B-Movie begann und 1991 zum publikumswirksamen Blockbuster ausbaute, das Thema der Zeitreise, denn die künstliche Intelligenz Skynet konnte es über die Jahre einfach nicht lassen, dem Anführer der späteren Resistance, John Connor, oder seine Mutter Sarah Roboter-Infiltrationseinheiten auf den Hals zu hetzen, um ihre Existenz vor dem Tag der Abrechnung, als die Maschinen die Herrschaft über die Erde gewannen, zu vernichten. Insgesamt zwei weitere Fortsetzungen, von denen eine sogar den Kampf der Resistance nach dem Judgement Day zum Inhalt hatten, folgten auf Camerons Meilensteine, stießen bei der Masse der Fans aber auf herbe Kritik. Wie immer im "Terminator"-Kosmos heißt die Lösung dafür: Zeitreise! So entpuppt sich die fünfte Installation "Genisys" als Rückbesinnung auf die Cameron-Originale und Regisseur Alan Taylor erzählt eine Story, die teilweise parallel zum ersten Teil diverse Szenen wieder aufgreift. Doch ebenfalls wie immer im Terminator-Kosmos ist auch "Genisys" ein David gegen Goliath Kampf: Meisterregisseur Cameron trifft auf Dutzendarbeit aus dem Hause Taylor.

Der Zeitpunkt hätte perfekter nicht sein können: 2015 und damit lange genug, um die Fans die Enttäuschungen, die die beiden Vorgänger für sie waren, vergessen zu lassen, setzt Taylor, der nach vielen TV-Arbeiten mit "Thor: The Dark Kingdom" bereits erfolgreiches Popcorn-Kino für die Marvel Studios ablieferte, mit der ersehnten Verpflichtung von Arnold Schwarzenegger in seiner Paraderolle als T-800 und einem ersten Trailer voller Zitate der ersten Teile ganz auf die Retro-Karte, die schnell große Erwartungen weckte. Und in der Tat weiß "Genisys" zu Beginn absolut zu überzeugen: Sei es die Serien-typische Einführung mit Voice-over und einem in blauer-nächtlicher Optik gefilmten Opening im Krieg gegen die Maschinen im Jahre 2029 bis hin zur ständig eingespielten Originalmusik von Brad Fiedel, die Lorne Balfe und Hans Zimmer nun endgültig zur Hymne stilisieren. Seine größte Plot-technische Innovation entfesselt der Film nach wenigen Minuten, wenn die obligatorische Zeitreise von Statten geht: Nun verwandelt sich "Genisys" zum Best-Of der Höhepunkt aus den Teilen 1 und 2. Dies geht soweit, dass Taylor die anfänglichen Szenen des 84er Originals 1:1 nachstellt, um sie dann mit einem neuen Clou zu versehen. "Die Zukunft hat sich geändert", erfährt der verdutzte Zuschauer wie der ebenso verdutzte Kyle Reese von einer deutlich reiferen Sarah Connor, während sich ein Polizist, der im Original noch ein Szenen-Statist war, plötzlich als aus ein aus "Terminator 2" bekannter T-1000 entpuppt und ein deutlich gealterter T-800 sein jüngeres Modell wuchtig in den Erdboden stampft.

Es macht eine ganze Menge Spaß, in den ersten 45 Minuten Laufzeit dabei zu sein, wie Taylor nostalgische Erinnerungen an vergangene Kinobesuche weckt, und das nur über detailgetreu nachempfundene Sets, Kostüme und einer an Camerons einmaligen Handschrift klebenden Inszenierung. Lee Byung-hun übertrifft mit seiner physisch eindrucksvollen artifiziellen Bewegungsmotorik als T-1000 glatt Darsteller Robert Patrick, der den legendären Filmschurken '91 noch verkörperte (und hier in einem Cameo-Auftritt dabei sein darf). Arnie bleibt auf seine ihm angeborene Steifheit und seine Oneliner reduziert, wandelt durch den Film aber ohnehin stets wie die Legende, die er nicht nur für das Franchise ja eben auch ist. Unantastbar, stets kurz vorm gefühlten Bruch der Vierten Wand. Allerdings kann "Genisys" diese durchaus charmante Ader der etwas anderen Neuinterpretation nicht über seine gesamten 125 Minuten aufrecht erhalten. Nach einem gekonnt retrospektiven ersten Drittel nämlich will dann doch eine eigenständige Handlung erzählt werden. Und hier scheitert der Film auf nahezu allen Ebenen. Das beginnt bereits damit, dass die beiden wichtigsten Darsteller, Jai Courtney (Kyle Reese) und Emilia Clarke (Sarah Conner) nicht nur den vorherigen Darstellern Michael Biehn und Linda Hamilton zu keinem Zeitpunkt gerecht werden, sondern viel schlimmer noch völlig fehlbesetzt sind. Courtney langweilt sich uncharismatisch und angestrengt durch den Film, während Clarke die legendäre Action-Amazone zur trotzigen frühpubertären Göre umfunktioniert, deren rebellische Natur eine bloße Behauptung des Drehbuchs bleibt.

Mit diesem ist es ohnehin nicht gut bestellt. Was "Genisys" nach einer weiteren Zeitreise ins Jahr 2017 dem Zuschauer vorsetzt, ist ein unnötig komplizierter computergenerierter Mix aus blassen Charakteren, unsinnigen Handlungstwists und Actionszenen, die jedes Gefühl für Physik und Kinematografie sowie inhaltlicher Relevanz schlicht vermissen lassen. Dem Schurken (ein weiterer T-XTausend, dieses Mal aber natürlich ebenfalls mit Twist) untersagt Taylor gleich jede Motivation und scheint sich nicht dafür zu interessieren, mit einer "Enthüllung" mal eben die gesamte Reihe ad absurdum zu führen, zeitgleich wird jedoch ausgerechnet Arnie offenbar nur dafür aus dem "Terminator"-Ruhestand zurückgeholt, um ständig pseudotechnologische Erklärungen für das abgehobene Treiben auf der Leinwand mitzuliefern. Fast putzig geraten die Auseinandersetzungen zwischen dem unfreiwillig komischen Helden-Trio und ihrem Kontrahenten: Da können sich dann auch ganze Busse auf der Golden Gate Bridge mehrmals überschlagen oder zwei Helikopter das nächtliche San Francisco demolieren, es bleibt generische Konsolenaktion, die völlig spannungsarm und in steril-abgenutzter Optik von Statten geht, bis der Showdown dann zwei CGI-Wesen aufeinander loslässt, um wirklich jedes persönliche Involvieren der Zuschauer zu unterbinden. Vielsagend, dass in der zweiten Hälfte des Films einzig J.K. Simmons in einer Nebenrolle als Außenseiter-Cop in Erinnerung bleibt, der zeigt, wie unsinnig all das audiovisuelle Explosions-Brimborium und unzählige Halo-Effekte doch sind, wenn ein paar sarkastische Sätze und eine authentische Ausstrahlung viel einprägsamer sein können.

Fazit: "Terminator: Genisys" reiht zwei Best-Of Teile aneinander: Zu Beginn wartet er mit originalgetreuen Erinnerungen an zwei Genre-Klassiker auf, um danach formelhaft alles zu versammeln, was im heutigen Blockbuster-Segment nicht fehlen darf. "Genisys" überzeugt nur dann, solange er akribisch den Cameron-Visionen folgt. Taylors Film ist somit tatsächlich die beste Untermauerung dafür, dass manchmal früher eben doch alles besser gewesen ist. In Anbetracht der angedeuteten Fortsetzung kann man wohl nur darauf hoffen, dass Skynet vorher die Menschheit endlich ausgelöscht haben wird.

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Post-Post-Feminismus: Wir feiern, bis alles zerfällt!

Beitrag von Wallnuss » 22.08.2017, 11:10

The Party

Wie es der russische Dramatiker Anton Pawlowitsch Tschechow einst für Tragödien definierte: "Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, wird es im letzten Akt abgefeuert." Die Kunst der vorbestimmten Eskalation. "The Party", der mit 71 Minuten Laufzeit kürzeste Film der Berlinale 2017, macht sich genau diese zu Eigen. Eröffnet wird er mit einer adretten Engländerin, welche die Tür zu ihrem Heim auftut und mit einer kleinen Pistole direkt in die Kamera zielt. Wie es dazu kommen konnte, versucht Sally Potter nun in dem von ihr geschriebenen und inszenierten Kammerspiel zu erörtern. Doch während die Begründung oberflächlich wie eine Verkettung unglücklicher Umstände anmutet, entpuppt sich das komplexe Geflecht der sechs Partygäste plus Gastgeberin als Pamphlet auf die moderne britische desillusionierte Westend-Gesellschaft und als eine der bösesten und bittersten Satiren der jüngeren Kino-Vergangenheit.

Obwohl Potter ihr Kammerstück ganz in Schwarzweiß und Echtzeit umsetzt, also in kausalem Zusammenhang von Raum und Zeit, scheint ihre Analyse menschlicher Eskalation bis zur Explosion absolut zeitlos und stets exakt beobachtet. Tatsächlich ist "The Party" weitaus mehr als nur ein auf Lacher ausgelegtes Scharmützel eigenwilliger Protagonisten. Gastgeberin Janet feiert mit ihrer Party ursprünglich die Ernennung zur Gesundheitsministerin des Schattenkabinetts, was als früher Hinweis auf die politische Dimension dienen darf, die der Film nehmen wird. Denn Janet, die von ihren Freunden (allen voran der antiparlamentarisch eingestellten April, die nicht von ungefähr in ihrer direkten stürmischen Art nach dem launischsten Monat des Jahres benannt ist) dafür gefeiert wird, es als Frau (!) endlich ganz nach oben an die Spitze geschafft zu haben, hat ihren Erfolg, wie Potter mehrmals Janet selbst gestehen lässt einzig dem Rückhalt ihres Mannes Bill zu verdanken. Sie erklimmt somit früh den Gipfel als Symbol des liberalen Feminismus'. Und wie sieht es um sie herum aus? Ein aufgedrehter Banker im Prada-Kostüm, der mit Koksnase und Waffengurt gleich zwei direkt zur Eskalation beitragende Katalysatoren beiträgt, Aprils esoterisch angehauchter Lebensberater Gottfried mit unerträglich altbackenen Weisheiten, das lesbische Paar Martha und Jinny, die dank künstlicher Befruchtung Drillinge erwarten und natürlich Bill selbst, der mit seiner Enthüllung die Bombe (und den Auftakt zur kollektiven Selbstgeißelung) platzen lässt: Tumor. Endstadium.

Die Früchte dieser im Mittelpunkt der Party stehenden zivilisatorischen Errungenschaften fördern eine glänzende Fallhöhe für die missgünstigen Hasstiraden zu Tage, welche mit zunehmender Laufzeit immer mehr die bürgerlich-intellektuelle Identität der Handlungsträger konterkariert. Schnell arten die Konversationen derartig aus, dass der Zuschauer Mühe haben wird, alle Themen später noch einmal zusammenzukriegen. Es wundert wenig (und ist zudem großartig simples visuelles Erzählen über das Setdesign), dass im Wohnzimmer nie ein Tisch bereit stand, denn so unterschiedlich und aneinander stoßend, wie die Gäste der Veranstaltung charakterlich ausfallen, hätte Janet wohl selbst ohnehin nie mit einer friedlich verlaufenden Feier gerechnet. In klassisch britisch-schwarzhumorig exakt getakteten und pointierten Dialogen über Schulmedizin, Atheismus, Misandrie, Kapitalismus und das Dritte Reich wahrt Potter stets die Dreidimensionalität all ihrer dennoch metaphorisch gemeinten Charaktere und erschafft in den begrenzten Räumen der Behausung ein Vakuum vermeintlich liberaler Engstirnigkeit. "The Party" arbeitet heraus, dass jeder Mensch politisch ist, auch die, die es von sich selbst nicht denken. So wie auch Atheisten daran glauben, an nichts zu glauben, so ist selbst der politikverdrossenste Mensch hier ideologisch motiviert, wobei die Ideologien in dieser herbei konstruierten Situation stets auf dem Prüfstand stehen und zusehends ins Wanken geraten.

Filmisch ist "The Party" so wunderbar aufgelöst, weil er ob seiner dialoglastig verschachtelten Erzählung eben weitaus mehr als abgefilmte Theaterarbeit bedeutet. Mit einer Handkamera und immer eng an den glänzenden Akteuren nutzt Potter vor allem die schnellen Wechsel aus Distanz und Nähe zum Geschehen für ihre Zwecke. Ihr Ensemble lässt sie derweil nicht im Stich: Kristin Scott Thomas ist schlicht brillant in ihrer schwierigen Hauptrolle, während ansonsten besonders die komödiantischsten Parts (Banker Tom und Gottfried), gespielt von Cillian Murphy und einem gloriosen Bruno Ganz, in Erinnerung bleiben. Emily Mortimer, Cherry Jones und die herrlich aufbrausende Patricia Clarkson (April) runden die Top-Besetzung ab, obgleich zusätzlich noch Timothy Spall als dauerdeprimierter und dauerbetrunkener Bill eine besondere Funktion innewohnt: Mit einem alten Plattenspieler ausgestattet sorgt er für die atmosphärische Musikuntermalung. Blues, Rock, Klassik und Samba scheinen als die letzten gesitteten Überbleibsel dessen, was die ungezügelt aufeinander einschlagenden (verbal wie einmal sogar physisch) Vertreter der Oberschicht ihrer eigenen Ansicht nach wohl repräsentieren sollten. In der witzigsten und bösesten Szene des Films, als schließlich einer von ihnen am Boden liegt, wird die Musik gar als heilende Kraft eingesetzt, die die erhoffte Genesung und Abwendung des bevorstehenden Übels bringen soll, bis es ganz unverhofft doch noch zum Gewehr an der Wand kommt. Nicht nur wegen seiner überraschenden Gestalt ein Moment der Selbsterkenntnis.

Fazit: Bei aller Zeitlosigkeit ist "The Party" doch ein Film zur richtigen Zeit. Gedreht in nur 14 Tagen, zeitgleich zum Volksentscheid der Briten über den Ausstieg aus der Europäischen Union, hält Potter einem ganzen Volk den Spiegel vor: Verlorene Ideale und zerstörte Ideologien, Post-Post-Feminismus, lebensferne Linksintellektualität, ein verästeltes Damoklesschwert der westeuropäischen Upper Class Lebenswirklichkeit. Mit einer grandiosen 7-Mann-Besetzung bestückt nimmt Sally Potter alles aufs Korn, was als bürgerliche Facette des Königreichs bereit ist, bei zu starker Erschütterung sein Gesicht zu verlieren und tatsächlich fällt selbst in der allerletzten Sekunde noch eine Maske, von der man bis dato gar nicht wusste. "The Party" ist ein filmischer Hilfeschrei ungeahnter Sogkraft. Man lacht, weil man ansonsten weinen müsste und man feiert, weil man ansonsten bedauern müsste. Und wie bei jeder Party bleibt am Ende nur ein Scherbenhaufen.

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Ein Fliegerass trumpft auf!

Beitrag von Wallnuss » 12.09.2017, 12:17

Barry Seal: Only in America

Nicht erst seit Martin Scorsese gibt es im US-amerikanischen Kino eine Faszination für die Jedermanns, Draufgänger aus der gesellschaftlichen Mitte, die mit Charme, Ehrgeiz und etwas krimineller Energie große Reichtümer einheimsen. Ob Frank Abagnale Jr., Henry Hill oder im jüngsten Beispiel: Barry Seal. Sie alle stehen für einen American Way of Life, der nur oberflächlich von moralisch falschem Verhalten korrumpiert ist, in Wahrheit jedoch die Quintessenz dessen darstellt, was kulturell jenseits des großen Teichs schon in Gründungszeiten das Handeln bestimmte. In dieser Hinsicht ist es wohl am erstaunlichsten, dass die wahre Geschichte des Piloten Barry Seal, der in den 1980ern gleichzeitig sowohl für die CIA an verdeckten Operationen in Südamerika teilnahm als auch Drogenschmuggler für das berüchtigte Medellín-Kartell gewesen ist, erst 2017 unter der kompetenten Regie von Doug Liman ihren Weg auf die große Leinwand finden sollte.

Schon das flott gestaltete Intro etabliert den Weg, den "Barry Seal" in den folgenden 2 Stunden gehen wird: Statt des modernen Logos eröffnet Liman seinen Film mit dem Universal Studios Opening, welches von 1969 bis 1990 verwendet wurde. Die darauf folgenden dokumentarischen Aufnahmen vom Zeitgeschehen werden unterlegt mit einer im Disco-Stil gearteten Coverversion der fünften Beethoven-Sinfonie. Genau so ist dieses Biopic durchgängig gehalten: Bemüht um historische Authenzität, stets farblich wie inszenatorisch nah am Look von Dokumentarfilmen, und in seiner Erzählstruktur klassisch, dabei aber fortwährend mit Pepp und Esprit. Die Vorgeschichte der Iran-Contra-Affäre dient Liman hier als waschechter Sommerfilm, der konsequenterweise in der Titelrolle mit dem ewig jungen Hollywood-Sunnyboy Tom Cruise besetzt wurde. Politische Rekonstruktion und launiges Popcorn-Kino müssen aber kein Widerspruch sein: Mit einem bemerkenswerten Gespür für das richtige Verhältnis aus Zeitgeist-Imitation und leichtfüßiger Zelebrierung der Gewitztheit der Hauptfigur gelingt ein ungemein kurzweiliges Kinovergnügen, dass den historischen Ereignissen durchaus angemessen auf eine Melange aus Bewunderung für Barry Seals Lässigkeit und schockierte Verwunderung über die unglaublichen Zusammenhänge aus ist, derer man hier zuteilwird. Die wahre Geschichte Barry Seals fällt glasklar unter die Kategorie "Plots, die man keinem Drehbuchautoren jemals abkaufen würde". Anfangs wird der gutgläubige, etwas naive Pilot vom CIA-Mann Schafer, der von Domhnall Gleeson als eine Mischung aus Vegas-Zocker und Mephistopheles angelegt wird, nur beauftragt, kleine Botengänge für sein Land in Mittel- und Südamerika zu erledigen.

Doch die Historie ist bekannt: 1981 unterstützt Präsident Ronald Reagan in Nicaragua die Contras bei der Revolution und dem Sturz ihrer Regierung. Und Seal beginnt schnell zu begreifen: Wenn er dort für die CIA Waffen für die Contras abgeliefert hat, kann er auf dem Rückweg auch noch schnell das Kokain von Pablo Escobar mitnehmen. Was dann nach seinem Umzug mitsamt Frau und Kindern im Gepäck in die Kleinstadt Mena (mit aus Langley gesponsterem eigenem Flugplatz) folgt, ist so skurril komisch, dass ob der Absurditäten einige Lacher im Kinosaal ertönen dürften. Die Contras wollen nicht so recht kämpfen und werden fortan von Uncle Sam in Mena trainiert, Escobar kauft die Hälfte der jeweiligen Waffenlieferungen von Seal für seine Revolution in Kolumbien ... und Barry? Der weiß gar nicht mehr, wohin mit seinem vielen Geld und kurze Zeit später steht im mit weniger als 3000 Einwohner sparsam bevölkerten Mena eine Bank an jeder Ecke. Irgendwann beginnen Barry und seine Frau glatt, ihr Geld einfach im Garten zu verbuddeln. Genau hier erweist sich Cruise als Idealbesetzung. Absolut perfekt weiß er mit seinem Spitzbuben-Auftreten das Understatement zu verkörpern, welches seinen Akteur trotz aller kriminellen Machenschaften zum Sympathieträger reifen lässt. Als ihn das FBI und die DEA bei seinen Schmuggelaktionen erwischen, guckt er bedröppelt rein. Warum er eine Szene später von Reagen ins Weiße Haus eingeladen wird, versteht er - wie er aus dem Off mitteilt - selber nicht.

Genau diesen Trumpf spielt Liman immer wieder genüsslich aus. Eben noch lässt er den Zuschauer in verwackelter Dokumentar-Optik mit der Kamera im Cockpit Teilhaber an Seals Wirken in Südamerika werden und ihn den Reiz am gewagten Risikospiel spüren, um kurz darauf die unschuldige Frohnatur seines Protagonisten herauszustellen. In bunten Bildern und mit flotter Popmusik unterlegt gerät das Hintergehen von Drogenbaronen und US-Präsidenten so zum verfilmten Tagebuch. Den Ost-West-Konflikt stellt man da schon mal als Cartoon dar, in welchem sich Adler und Bär verprügeln, und Jahreszahlen wie Ortsbezeichnungen werden in Großbuchstaben auf die Leinwand gekritzelt. Historisch nimmt es Liman trotz Weitsicht im Bezug auf die Verzahnungen der verschiedenen Parteien nicht immer zu genau und erlaubt sich genug berechtigten Spielraum für künstlerische Freiheiten. Ärgerlich allerdings, dass bei allem Gelächter über die absurden Zusammenhänge die Kritik an der Involvierung des amerikanischen Geheimdienstes (wie der Originaltitel andeutet, ist die sich anbahnende Iran-Contra-Affäre zu großen Teilen "American Made") oft zu kurz kommt und Liman durchaus in den Verdacht geraten könnte, den historischen Barry Seal mit seiner Charakterzeichnung zu verunglimpfen. Andersrum ist dies jedoch nicht seine Angelegenheit. "Barry Seal" ist trotz aller inszenatorischen Anleihen kein investigativer Dokumentarfilm, sondern Popcorn-Kino, geschliffenes Thriller-Entertainment der besten Sorte.

Fazit: Tolle Flugszenen, ein schmissiger Soundtrack, knallige Farben, viel 80er-Retro-Charme und ein gesunder Mix aus Humor und Politthriller. Was will man im Kinosommer mehr? Darüber hinaus funktioniert "Barry Seal: Only in America" aber auch als Realsatire und zeitgeschichtliches Dokument, welches mit seinem durchgehenden Popcorn-Feeling die lässig-entspannte Haltung seines Protagonisten bis zum unvermeidlich bitteren Ende reflektiert. Die durchgehend vermeintlich optimistische Grundhaltung, dass dieser etwas andere American Dream zu einem guten Abschluss kommen wird, destilliert vorbildlich die Tragik von Seals per VHS Kassetten festgehaltener Rückbetrachtung von Reagens Drogenkrieg: Barry hielt sich Zeit seines Lebens für einen Macher, einen Akteur, einen Spieler, der viel zu spät einsehen musste, dass er nur ein Spielball im Wirken der Mächtigen gewesen ist.

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Beitrag von SFI » 12.09.2017, 15:58

Auf den freue ich mich auch. :D
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Beitrag von Wallnuss » 12.09.2017, 23:25

Atomic Blonde

"Mr. Gorbachev, tear down this wall!", ward grad gesprochen, da informiert der bunt beschmierte Bildschirm, dass dies eine andere Geschichte sei. Regisseur David Leitch blickt mit "Atomic Blonde" von 2017 zwar auf das Berlin im November des Jahres 1989 zurück, doch sein Blick gleitet am bekannten historischen Zeitgeschehen vorbei. Irgendwo in einer Gasse wird plötzlich ein Mann von einem Auto mehrmals brutal gegen einen anderen Wagen gerammt, bis auch der letzte Knochen in seinem Körper zermalmt ist. Dann ein harter Cut. Eine bildschöne Blondine steigt mit ihrem von Blutergüssen übersäten Körper aus der eisgekühlten Badewanne. Im Hintergrund läuft "Cat People" von David Bowie. Die Frau ist MI6-Agentin, und nun dazu genötigt, in einem Verhör ihre Berlin-Mission der letzten Tage zu rekonstruieren. Damit wären alle Ingredienzien für die folgenden zwei Stunden etabliert: Gewalt, Stil und Synthie-Pop.

"Atomic Blonde" basiert eigentlich auf der Graphic Novel "The Coldest City", hat für die Schwarzweiß-schraffierte Optik seiner Vorlage jedoch kaum etwas übrig. Eher präsentiert er sich in luxuriösen Edelstahl-Farben, grell, unterkühlt, exzentrisch. Leitch erzählt seine Spionage-Handlung von der Agentin Lorraine, die in Berlin eine Liste aufspüren muss, hinter der neben den Engländern auch die Amerikaner, Franzosen, Russen und natürlich die Stasi her sind, mit unbedingtem Stilwillen und einer filmisch exakten Nachahmung der New Wave Ära. Berlin erstrahlt in überästhetisiert kühlen Grau und Violett Tönen, und erschafft so mit der schlagkräftig schweigsamen Protagonistin und dem düsteren Agentenplot, in dem jeder jeden zu täuschen gedenkt, den kinematografisch getakteten Film Neon Noir. Atmosphärisch unglaublich dicht entfaltet sich das Script von Kurt Johnstad als verwinkelte Erzählstruktur, die einerseits eine Verbindung der druckvollen Nahkampf-Actionszenen sein soll, andererseits aber mit einem eigenen Sujet aufwartet und in ihrer undurchsichtigen Art zu fesseln weiß. Gerade Protagonistin Lorraine bleibt ebenfalls undurchschaubar, ihre Gedanken und Motive uneinsichtig, ihre Funktion als subjektive Erzählerin der Rückblenden-Handlung gar anzweifelbar, was sich in Folge in einer Vielzahl an (Ver-)Wirrungen immer wieder von neuem entlädt. Die beständig eingeworfenen historischen Aufnahmen vom Mauerfall ("Hasselhoff is in town") bieten den argumentativen Hintergrund für die existentialistischen Dialogzeilen rund um Verrat und Loyalität, geben aber auch die Chronologie der Entmythologisierung der Akteure vor. Je näher der Fall der Mauer kommt, umso näher kommt auch der Fall der Masken, welche die Charaktere tragen.

Doch bei "Atomic Blonde" ist der Stil zu jedwedem Zeitpunkt der Taktgeber, und nirgendwo wird das deutlicher als bei der Songauswahl. Wave-Hörer der 80er erleben eine Vielzahl an nostalgischen Momenten, wenn "Blue Monday" von New Order, "Fight The Power" von Public Enemy, "Under Pressure" von Bowie und Queen, "London Calling" von The Clash oder "Behind The Wheel" von Depeche Mode ertönen und der Film sich ganz ihrem jeweiligen Takt unterordnet. Auch die zeitgemäße Neue Deutsche Welle wird zitiert, ob Nenas "99 Luftballons" einen blutig-tödlichen Twist erhält oder "Major Tom" von Peter Schilling mit ungeahnter soundtechnischer Tiefe daherkommt, die Leinwand scheint sich stets pulsierend der Musik hinzugeben und geht in Wirkung und Ausstrahlung eine beinahe hypnotische audiovisuelle Symbiose ein, die alleine schon verlockend genug ist, sich der Comic-Strip-artigen Inszenierung voll und ganz hinzugeben. Wem das nicht reicht, der bekommt mit Charlize Theron in der Hauptrolle eine atemberaubende Performance geboten, die voller Körperlichkeit und gefährlicher Sinnlichkeit ist. Theron ist so gut, dass sie stets in nur kurzen Momenten die emotionalen Abgründe ihrer Figur bloß anzudeuten braucht, um ehrfürchtiges Staunen eimzuheimsen. Neben ihr wirken ihre Co-Stars Toby Jones, James Faulkner, Eddie Marsan oder John Goodman wie pure Staffage, einzig James McAvoy als diabolischer Verbindungsmann und Sofia Boutella als naive Bettgespielin können neben ihr bestehen. Speziell für deutsche Kinobesucher aber dürfte ein Kurzauftritt Til Schweigers als Uhrenmacher gewaltiges Kultpotenzial besitzen.

Theron ist sogar so gut, dass sie nicht nur glaubhaft auf der Leinwand Zigaretten qualmt, Vodka schlürft, Frauen vernascht und Geheimnisse aufdeckt, sondern auch in den explosiv-energetischen Nahkämpfen hinreißend ausschaut, trotz der Brutalitäten. Unter Leitch bekommt Brutalität glatt eine neue Bedeutung. Seine wenigen, aber wahnsinnig effektiven Kämpfe und Verfolgungsjagden heben sich auch filmisch vom restlichen Geschehen ab. Der Soundtrack verstummt und der sonst dominierende Pulp-Ästhetizismus weicht fast schon dokumentarisch gestalteten Nahaufnahmen und poetischen Plansequenzen, in denen die staatlichen Auftragsmörder sich mit allerlei tödlichen Accessoires, vom Lampenschirm bis zum Stiletto, blutig bearbeiten. Am eindrucksvollsten gerät eine 10 minütige Kamerafahrt durch ein Betongebäude, in welchem Theron und mehrere KGB-Schergen sich in drastisch gewalttätiger Härte gegenseitig zu Klumpen verarbeiten, ehe sie mit ihren entstellten, geschundenen Körpern weniger gegen ihren Feind und nur mehr gegen die Schwerkraft und Erschöpfung ankämpfen. In dieser Hinsicht wartet Leitch mit dem einvernehmendsten Zweikampf auf, den das Actionkino seit Jahren gesehen hat. Gerade diese Unvermitteltheit, die ruckartig einsetzende Plastizität, gibt den Actionszenen eine unerwartete Dynamik, die für das Genre langfristig eine waschechte stilistische Bereicherung sein könnte und verleiht "Atomic Blonde" eine unverwechselbare cineastische Identität.

Fazit: Zwei Zähne unter anderem sollen Theron die Stuntarbeiten für den furiosen Actionfilm gekostet haben. "Atomic Blonde" ist ihr Film, eine One Woman Show in exzessiver 80er Neon Optik mit Kalter Kriegs Atmosphäre, unterlegt mit Wave Music und Synthie-Pop. "Atomic Blonde" ist zudem grandiose Action-Kunst und darin derzeit konkurrenzlos, spätestens wenn Lorraine und ihr Gegner als Silhouetten vor der Leinwand eines Andrei Tarkowsky Films kämpfen, stehen alle Münder im Kinosaal offen. Und "Atomic Blonde" ist bei aller Optik und Gestus auch ein Film über Berlin und seinen Spirit, seine Quintessenz. Wie sang schon so schön einst Ideal? "Musik ist heiß, das Neonlicht strahlt. Irgendjemand hat mir 'nen Gin bezahlt, die Tanzfläche kocht, hier trifft sich die Scene, ich fühl' mich gut, ich steh' auf Berlin!"

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Alle hassen Leistungsdruck, aber Karl Marx!

Beitrag von Wallnuss » 14.09.2017, 14:17

Jugend ohne Gott: Ein Film über die Liebe

Als der österreich-ungarische Schriftsteller Ödön von Horváth 1937 seinen Roman "Jugend ohne Gott" veröffentlichte, wurde dieser nur kurz darauf von den Nationalsozialisten der Gestapo wieder verboten. Seine literarische Sozialkritik hätte im damaligen Zeitgeist aktueller nicht sein können: Ein Lehrer besucht mit seiner Klasse ein Ferienlager, dass sich schnell als militärische Ausbildungsstätte entpuppt und verzweifelt zusehends an der Amoralität und Gleichschaltung seiner Schüler, die vom System gefordert wird. Der Höhepunkt bei Horváth ist schließlich ein Mord unter dem Schüler-Kollektiv. Ganze achtzig Jahre später wagt sich Regisseur Alain Gsponer an eine Verfilmung - und damit an eine Übertragung in das 21 Jahrhundert, eine Untersuchung, was heute den Platz der Nazis eingenommen hat und sich für eine "gottlose" Jugend verantwortlich zeichnet. Die Lösung seines Films für diese Neuinterpretation liegt dabei nicht in der Gegenwart, sondern einer unfreien Zukunft.

"Jugend ohne Gott" wird so zur futuristischen Dystopie. Formte das paramilitärische Jugendcamp Horváths einst Soldaten, so werden die jugendlichen Studenten in Gsponers alpinen Assessment-Center zu Managern und Funktionären einer kapitalistischen Ellenbogengesellschaft im Endstadium ausgebildet. Ohne Gott, das bedeutete schon in der Buchvorlage nicht zwangsläufig eine anti-religiöse Erziehung des Nachwuchses, sondern viel mehr eine junge Gesellschaft ohne Wertesystem, ohne moralischen Kompass, die zusammen abgerichtet werden. Es geht nicht mehr um Entfaltung, sondern ums Funktionieren. Derselben Zwangslage sehen sich auch Zach, Nadesh und Loreen ausgesetzt, denn während "Jugend ohne Gott" sich im gesellschaftlichen Rahmen nur modernisieren ließ, gibt es narrativ eine bedeutende Änderung. Gsponer erzählt seine Version aus der Sicht der Schüler, und verlagert den Fokus damit auf eine direkt empathische Nachempfindung derer Probleme, als sie wie im Buch aus den Augen eines Beobachters wahrzunehmen. Der Lehrer spielt auch in seinem Film eine wichtige Funktion, wird aber erst viel später dann doch noch als eigentlicher Entscheidungsträger herausgearbeitet. Sein Film erzählt nämlich gleich aus drei Perspektiven dieselbe Geschichte, und das hintereinander, also mit chronologischen Sprüngen, die den Film jedes Mal von vorne am selben Punkt beginnen lassen. Dramaturgisch ist so primär der mit jedem Neustart zunehmende Erkenntnisgewinn durch den erweiterten Blickwinkel der Antriebsmotor der Szenen-Collage, die besonders den räumlichen Kontrast zwischen der sterilen High-Tech-Schulkulisse und der ruralen Alpen-Landschaft hervorragend zu verorten weiß.

Doch so lobenswert die Neugestaltung des bekannten Schulstoffes für ein zeitgemäßes Publikum auf den ersten Blick sein muss, stellt sich das Konzept im Verlauf der mit zwei Stunden viel zu langen Erzählung als zu löchrig und schwach durchdacht heraus. Die Kritik an einer Elitegesellschaft mit höchstem Leistungsdruck und der ständig vorgehaltenen Angst, in die abgelegenen Stadtsektoren (als Parabel auf weitreichende Gettoisierungen, wie man sie in Neu-Delhi oder Hongkong in Extremfällen vorfindet) abzurutschen, mit ihrer aktuellen pädagogischen Botschaft in allen Ehren, gelingt es selten, wirklich ethische Überlegungen anzustellen oder gar zu vermitteln. So sehr sich die deutschen Jungstars Jannik Schümann, Alicia von Rittberg und Jannis Niewöhner auch Mühe geben, ihr kompetentes Spiel kann nur selten verbergen, dass die Charaktere zu stereotyp und leblos gezeichnet sind, als dass deren Schicksal echte Anteilnahme verspüren lassen würde. Rittberg's Figur verkommt schnell zur nervigen Quasselstrippe, Schümann muss als Titus durchgehend eine inkohärente Charakterzeichnung aufrecht erhalten, und der stärkste im Ensemble, Niewöhner, darf sich eine unglaubwürdig konstruierte, weil zu schnell und kitschig entwickelte Romanze mit der unterforderten Emilia Schüle teilen. Letztere porträtiert Ewa, eine Illegale (die moderne Version der Hovráthschen "Gauner"), wobei selten klar wird, wie genau der Illegalenstatus in dieser abstrakten Zukunftsgesellschaft eigentlich zustande kommt.

Etwas besser erwischt es da nur Fahri Yardım, der sehr eindringlich als namenlos bleibender Lehrer jene Rolle übernimmt, die achtzig Jahre zuvor noch alleiniger Protagonist gewesen ist. Seine Handlungen sind die interessantesten, weil aus ihnen am besten die Unverständlichkeit dafür aufzubringen ist, in welches Korsett sich die Teenager zwängen lassen (müssen). Da er durch die hier veränderte Gestalt der Vorlage jedoch erst sehr spät gezündet wird, setzt der tatsächlich autoritätskritische Charakter der Verfilmung gefühlt zu spät ein, um dem vorher stattfindenden glatten Jugenddrama die nötige Tiefe zu verleihen, die sie gebraucht hätte und sichtbar anstrebt. So verbleibt die dank Komponist Enis Rotthoff überaus anständig musikalisch (in einer reizvollen Kombination aus elektronischen und orchestralen Einheiten) unterlegte Veranstaltung zahnlos auf ihrer ihr zugestandenen Oberflächenspannung stagnierend. Wirklich problematisch für die Glaubwürdigkeit des Geschehens sind unterdessen Details: Warum kann es überhaupt zum zentralen Mord oder anderen Verbrechen kommen, wenn die Studenten doch mit Drohnen, Peilsender-Implantaten und Kameras fortwährend überwacht werden? Und wie kann eine als emotionslos eingeführte Figur durch eine einzige sentimentale Geste zu einer moralischen 180-Grad-Wendung überzeugt werden? Unterforderung darf dann eben auch nicht sein und ein Ende, dass so vorhersehbar wie dieses ist, obwohl es einzig und allein aus einem geschalteten Deus Ex Machina resultiert, muss Gsponer erstmal einer nachmachen.

Fazit: Zuvor mochte es noch so klingen, doch zumindest der Vorwurf, mit der modern gehaltenen "Jugend ohne Gott" Adaption auf den derzeitigen Dystopien-Zug aufspringen zu wollen, ist in diesem Zusammenhang unangebracht. Gsponer verfolgt mit seiner Änderung, von den faschistoiden Herrschaftsstrukturen zur darwinistischen Maximierungsgesellschaft, ehrbare Ziele, doch versagt darin, diese auf einer menschlichen Ebene auf Augenhöhe mit seinem Publikum zu vermitteln. Es fehlt ein direkter Zugang zu den Charakteren, der dem Geschehen auf der Leinwand mehr Spannung entlocken würde als der so leider oberflächlich bleibende Krimi. Im Roman noch wurde dem Lehrer "Humanitätsduselei" vorgeworfen, als er einen Schüler darauf hinwies, dass Schwarze ebenfalls Menschen seien. Eben von jener "Humanitätsduselei" hätte diese Version etwas mehr vertragen dürfen.

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Staranwalt Keanu Reeves: Im Auftrag des Alltagsmenschen

Beitrag von Wallnuss » 11.10.2017, 10:22

The Whole Truth: Lügenspiel

"At some point, every defense lawyer has to choose between his own need to know the truth and the best interests of his client." - Es ist keine einfache Verhandlung für Strafverteidiger Richard Ramsay, als er für seine Freundin Loretta den Fall ihres minderjährigen Sohns Mike übernimmt. Der soll nämlich seinen reichen Vater erstochen und die Tat direkt im Anschluss bei der polizeilichen Vernehmung gestanden haben. Seit dem jedoch schweigt er und weigert sich partout, selbst mit seinem Anwalt zu reden. Ramsay ist nun in der unglücklichen Situation, eine Verteidigung aufbauen zu müssen, ohne die Wahrheit zu kennen. Und dabei ist es doch gerade die, auf die man sich vor Gericht berufen muss: "Do you solemnly swear that you will tell the truth, the whole truth, and nothing but the truth, so help you God?" Dieses moralische Dilemma dient Regisseurin Courtney Hunt als Aufhänger für ihren 2016er Gerichtsfilm, der seinem Genre alle Ehre macht und sich - bis auf ein paar Rückblenden - wirklich ganz auf den Gerichtssaal beschränkt.

Im Vorfeld wurde "The Whole Truth" mit einiger Besorgnis beachtet. Der eigentlich als Hauptdarsteller vorgesehene Daniel Craig stieg nur wenige Tage vor Beginn der Dreharbeiten aus der Produktion aus unbekannten Gründen aus, auf den letzten Drücker musste Keanu Reeves als Ersatz rangeholt werden. Umso überraschender ist es, dass sich hinter "The Whole Truth" ein durchaus ansprechender und interessanter Genrebeitrag verbirgt, der sich visuell der Reduziertheit verschreibt und weniger aufgeladen daher kommt als die klassischen Justizdramen der 90er Jahre. Das beginnt schon mit dem Gerichtssaal selbst, der spärlich eingerichtet, unauffällig beleuchtet und absolut nüchtern als das inszeniert wird, was er ist: ein Handlungsort. Hunt sucht nicht nach der großen menschlichen Tragödie oder den tiefschürfenden soziologischen Milieuuntersuchungen. "The Whole Truth" ist keine Parabel, sondern ein bewusst allgemein gehaltenes Verfahren eines konkreten Tathergangs, und entwickelt darin einen eigenen Charme. Reeves, der den Film nicht nur tragen muss, sondern aus dem Off auch als Erzähler fungiert, ist dann auch kein ideologisch motivierter John Grisham Akteur oder gar Jim Garrison Verschnitt, sondern gefällt als aus dem Leben gegriffener Anwalt, der durch seine persönliche Motivation und eine unkonventionelle, aber geerdete Herangehensweise an das Verfahren auffällt. Dass der "Matrix"-Star auch als vergleichsweise biederer Smoking-Träger charismatisch genug ist, um durch die 90 Minuten zu führen, ist dabei ein Gewinn für das wendungsreiche Drehbuch und die ganz auf die Geschichte fokussierte Inszenierung.

Die restliche Besatzungsliste weiß ebenfalls, die auf dem Papier gerade zu betont durchschnittlichen Charaktere mit Leben zu füllen. Renée Zellweger macht in ihrem Comeback nach 6 Jahren Abstinenz vom Filmgeschäft eine gute Figur als mitleidende Mutter des Angeklagten, Jim Klock hat sichtliche Freude daran den aggressiven Rechtsanwalt zu geben und die reizende Gugu Mbatha-Raw ist als Ramsays neue Assistentin Janelle nicht nur optisch ein Hingucker, sondern verkörpert glaubhaft jene unbefangene, von der Alltagsarbeitsroutine unverdorbene Sichtweise, die als Gegenpol zur Reeveschen Abgeklärtheit passend gesetzt wird. Am meisten Spaß macht der Film ironischerweise daher außerhalb des Gerichtssaals, wenn entweder Reeves und Mbatha-Raw über die Verpflichtungen ihrer berufsbedingten Verantwortung debattieren oder in Rückblenden der Mord selbst visuell rekonstruiert wird. Letztere profitieren vor allem von zweierlei Eigenschaften. So weiß einmal Jim Belushi als Mordopfer und fieses Arschloch vom Dienst schauspielerisch aufzutrumpfen und sticht positiv heraus. Und außerdem ist der Untertitel "Lügenspiel" hier Programm: Jeweils passend zu dem, was die aus der (falschen) Erinnerung nacherzählende Figur gerade von sich gibt, unterstreichen oder demaskieren die Szenenfragmente das gesprochene Wort, wenngleich sich der Zuschauer nie darauf verlassen sollte, es in diesem Fall mit einer aufrichtigen Erzählweise zu tun zu kriegen. Da Ramsay ohnehin alle Zeugen für Lügner hält, ist die Fallhöhe des Behaupteten auf eine spannende Art und Weise ambivalent und, ohne dabei das Rad neu zu erfinden, versteht es Hunt sehr gut, ihren Film geschickt als Lügenkonstrukt so aufzubauen, dass es undurchsichtig bleibt, wann man den Figuren und der filmischen Aufmachung glauben darf.

Nun könnte man glauben, dass diese Komponenten zwar sicher einen großen Freiraum für die Darsteller abgibt, doch wo bleibt darin die Bewandnis, diese Geschichte als Spielfilm groß aufzuziehen? "The Whole Truth" etabliert schnell einen Rahmen, in dem sich diese Frage nicht gestellt werden muss. Woran Hunt genau interessiert ist, ist insofern weniger klar zu umreißen, als dass es keine unbedingte Moral gibt, die sie an den Mann oder die Frau bringen will. Eher legitimiert sich das im "Law & Order" Stil gestaltete Geschehen in seiner Diskrepanz zwischen den Sichtweisen eines Anwalts auf Lüge, Wahrheit und Schweigen und denen des Zuschauers. Während der Zuschauer die Wahrheit herauskriegen und sie deshalb so lange wie möglich nicht vorgesetzt bekommen möchte, verzweifelt Ramsay daran, Lügen selbst entlarven und Erkenntnisse gewinnen zu müssen, da es seiner Tätigkeit unglaublich hinderlich ist. Das Verlangen von Protagonist und Publikum mag also dasselbe Ziel haben, aber aus ganz unterschiedlichen Motivationen, was durch die zusätzliche Gestaltung Ramsays als Off-Kommentator eine vielversprechende Distanz zwischen den Parteien aufbaut. Spannend ist dann vor allem, wie Hunt in den letzten 10 Minuten mehrere Wendungen auffährt und den Film dabei gleich mehrmals komplett auf den Kopf stellt. Das mag in diesem drastischen Maß an plötzlicher Verkomplizierung im Widerspruch zur neutralen realistischen Herangehensweise an die vorherige Handlung stehen und gerät vielleicht eine Spur zu reißerisch, ist aber neben seiner Funktion, den Wiederschauwert des Films zu erhöhen eine nette Spielerei, die den gesamten Film selbst als "Lügenspiel" offenbart.

Fazit: "The Whole Truth", der sich am Ende als "The Whole Lie" entpuppt, ist kein visuell überragendes Meisterwerk, sondern ein verspielter betont kleiner Themenbeitrag, der dem mittlerweile in den TV-Sektor abgewanderten Genre gegenüber besonders in der verschobenen Sichtweise auf die Charaktere mit interessanten Aspekten aufwarten kann und darüber hinaus dank kompetenter Regie und fähigen Darstellern absolut sehenswert ausfällt.

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Fröstelnder Blick in tiefe seelische Abgründe

Beitrag von Wallnuss » 25.10.2017, 13:04

Schneemann

Ein estnisches Sprichtwort lehrt: "Der Sommer kommt und küsst das Kind, der Winter kommt und tötet es." In der ersten Szene von "Schneemann" wird dieser Ausspruch beinahe zum Programm: Ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter im verschneiten norwegischen Niemandsland lebt, bemerkt den Besuch seines Onkels Jonas, welcher die Mutter sofort in rege Aufregung versetzt. Bald schon erschließt sich, woher die Unruhe rührt: Onkel Jonas fragt seinen Neffen eindringlich historische Eckdaten ab. Für jede falsche Antwort kassiert die Mama einen Faustschlag. Als der Junge diese Gewalt nicht mehr aushält, verlässt er das Haus und baut einen Schneemann… In wenigen eindringlichen Bildern etabliert Regisseur Tomas Alfredson hier das Leitmotiv seines Films: Destruktive Lebensstrukturen, die vor dem Hintergrund einer Landschaft seziert werden, bei welcher der Schnee als Handlungselement stets in seiner bedeutendsten Stellungen kulminiert: als Lebensfeind oder Freudenbringer. Dass all dies vor dem Hintergrund einer spannenden Tätersuche geschieht, ist ein Gewinn für das Krimi-affine Publikum.

Warum Alfredson sich nach 6 Jahren Leinwandabstinenz aus Jo Nesbøs Buchreihe über den versoffenen, verwitterten Ermittler Harry Hole ausgerechnet den siebten Band "Schneemann" für seine Rückkehr auserwählt hat, wird sofort offensichtlich: Die Kälte der überwätigenden Landschaftsaufnahmen seines Kameramanns Dion Beebe ist dermaßen stechend, dass die fröstelnde melancholische Ausstrahlung der Drehorte gefühlsmäßig direkt übertragbar wird. Selten hält sich die Kamera in Innenräumen auf, und wenn, dann immer mit direkter Fenstersicht, sodass der Film durchgehend in ein unendliches Weiß getaucht wird. Schnell stellt sich dabei heraus, dass Oslo und Umgebung geradezu prädestiniert dafür sind, unter Alfredsons gar ehrfürchtiger Führung zu erscheinen, denn dessen größte Stärke ist es, seiner Inszenierung kühle Eleganz und bedächtige Konzentration beizumengen. Primär dreht sich sein Thriller wie auch der Roman um den titelgebenden Serienkiller, der Mütter enthauptet und ihre Köpfe auf am Tatort zurückgelassenen Schneemännern drapiert, doch nähert sich seine Regie diesem Plot stets von außen. Alfredson sucht anders als andere Krimi-Regisseure nicht den Weg ins Innenleben seiner Figuren, sondern in ihr Außenleben, beziehungsweise ihr nicht vorhandenes Außenleben, wie ohnehin nichts in Norwegen zu leben scheint. Der Schnee, der biologisch wie phänologisch die tote Jahreszeit darstellt, steht hier auch für das gefühlstote Empfinden der Akteure. Wenn also nun ein fantastisch aufgelegter Michael Fassbender als Hole immer wieder verkatert und desillusioniert nach Fußspuren im Schnee sucht, dann ist er eine Personalisierung seiner Umgebung, besser noch, er ist das direkte und logische Produkt seines Umfelds.

Alfredson bedient sich hier einer Bildsprache, die schon in den perversen Taten des Killers selbst veranlagt ist. "Schneemann" ist ein Film, den man immer wieder auch als Planbeispiel für die Ästhetisierung und Pervertierung der Natur deuten kann. So ist der Schneemann selbst im übertragenen Sinne seit jeher eine Verniedlichung, welche den Schnee, der für viele Melancholie, Kälte und Gefahr bedeutet (und nicht zuletzt seit Beginn der Menschheit genau das eben auch biologisch bedeutet), nutzt, um eine harmlose Gestalt zu erschaffen. Parallel dazu stehen die Taten des Killers, welcher nun eben jene Gestalt wiederrum benutzt, um ihre bizarre Widersprüchlichkeit durch seine morbiden Taten zu potenzieren. Auch Alfredson kennt diesen Widerspruch. Nicht von ungefähr wirkt die Natur bei ihm oft denkbar aufwendig idealisiert, um dann eine krasse, fast bittere Gegenwirkung zu erhalten. In "Schneemann" geht es überaus brutal zur Sache, wenn Vögelschwärme sich über zerstückelte Frauenleichen her machen, abgetrennte Gliedmaßen an Türen genagelt und Köpfe per Schrotflinte sauber vom Hals entfernt werdem. Der Kontrast aus Blutrot und Schneeweiß ist das Herzstück des Films und wirkt besonders in der entschleunigten Erzählweise. Gehetzt wird seitens der Regie nie und die grotesken Gewalteskalationen vor viel zu schönem Hintergrund müssen mit meditativer Gelassenheit ertragen werden, will man den Höhepunkt erreichen. Dem Zuschauer wird dabei einiges abverlangt, er muss selbst Initiative ergreifen, um sich in dem Gewirr aus Handlungssträngen zurecht zu finden.

Immer wieder droht man, vor lauter Namen und Subplots, die nicht mal alle wirklich auf ein Ziel hinsteuern, regelrecht verloren zu gehen. Dieser Effekt ist jedoch beabsichtigt. Alfredson will kein rätselhaftes Puzzlespiel aufziehen, sondern dahin, wo Menschen aufeinander prallen, die von derselben Umwelt unterschiedlich geprägt wurden. So dienen ihm als Spiegelung von Fassbenders Hole gleich zwei unterschiedliche Figuren. Einmal die von Rebecca Ferguson gespielte Katrine, die als neue Partnerin Holes eine deutlich humanere Note aufweist, aber dabei finsterere Motivationen als er verfolgt, während in einer häufiger gesetzten Rückblendenhandlung ein blendend besetzter Val Kilmer als Ermittler auftritt, der 9 Jahre vor dem Hauptplot den ersten Mord des Schneemanns untersucht. Überhaupt ist die Besetzung formidabel gelungen. Wer glaubt, dass Darsteller wie J.K. Simmons, Jonas Karlsson, James D'Arcy, Genevieve O'Reilly, Toby Jones oder Charlotte Gainsbourg in Nebenrollen verschenkt wären, der irrt, denn sie alle tragen dazu bei, durch ihr Mimenspiel die Abgründe ihrer Figuren da zu erahnen, wo Taten nicht mehr für sich sprechen können und helfen gleichzeitig durch ihre Einprägsamkeit der Orientierung des Zuschauers, die Figuren zuordnen zu können. Richtig stark wird es, wenn "Schneemann" sich einen finalen dritten Akt leistet, der mit mehreren hochklassigen Wendungen aufwartet und sich dann auch noch traut, entgegen der Konventionen die Tätersuche in beinahe poetischer Einfachheit versanden zu lassen.

Fazit: "Schneemann" ist eine konzentrierte Studie darüber, wie Menschen und ihre Taten durch ihr Umfeld bedingt werden und dabei wieder ihr Umfeld selbst beeinflussen. In impressionistischen Bildern ergibt sich so ein schlüssiges, wenngleich für den ein oder anderen Zuschauer vermutlich sperriges Gesamtbild, welches genügend Interpretationsspielraum offenlässt, um danach darüber zu diskutieren… oder sich zu freuen, dass wieder ein Mörder seine gerechte Strafe erhalten hat.

:liquid8:

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Beitrag von freeman » 25.10.2017, 17:51

Wow, nach wirklich einhelliger Kritikerschelte und amtlichen Verrissen mal eine gute Review zu dem zu lesen, erstaunt doch sehr. Bin gespannt, wann sich der Regisseur vom Film distanziert. Der klang ja zuletzt auch sehr unglücklich.

In diesem Sinne:
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Beitrag von StS » 26.10.2017, 11:09

Jip, ist wohl so eine "einer gegen den Rest der Welt Meinung". :lol:
Da der echt mies sein soll, hab ich meinen Kinobesuch schnell noch abgesagt.
Werd mir stattdessen mal das Buch zulegen. :wink:

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Beitrag von freeman » 26.10.2017, 18:09

Hab auch Geostorm vorgezogen :lol: ;-)

In diesem Sinne:
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Beitrag von Wallnuss » 26.10.2017, 18:45

StS hat geschrieben:Jip, ist wohl so eine "einer gegen den Rest der Welt Meinung". :lol:
Hab von den vielen miesen Kritiken erst nach meinem Kinobesuch erfahren. Geht eben nichts über ne eigene Meinung.

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Thor feat. Led Zeppelin: Is this the way to Valhalla?

Beitrag von Wallnuss » 06.11.2017, 09:32

Thor: Tag der Entscheidung

"We come from the land of the ice and snow | From the midnight sun, where the hot springs flow | The hammer of the gods..." - Es ist im doppelten Sinne kein Zufall, wenn der Oldie-Rock-Hit "Immigrant Song" von Led Zeppelin gleich zweimal im neuen Marvel-Hit "Thor: Tag der Entscheidung" ertönt: Einmal erzählten die Rocker damit schon 1970 eine Geschichte über die nordischen Götter, die nach dem als Götterdämmerung bekannten Event Ragnarok die heiligen Hallen von Valhalla betreten. Andererseits ist es aber die Art, wie sie es erzählten, die für den neuen Auftritt des Donnergottes den Ton angibt: Funkig, laut, mit Krawall und Sprit. Shakespeare-Experte Kenneth Branagh und "Game of Thrones"-Regisseur Alan Taylor hatten sich in den Vorgängern am Hammerschwinger versucht, waren aber stets trotz aller Selbstironie am Kitsch der Comic-Vorlage gescheitert. Comedy-Visionär Taika Waititi wagt im dritten Anlauf den Ausbau von Trash und Pulp und trumphiert auf ganzer Linie: Thor 3 ist der beste Blockbuster des Kinojahres 2017 und einer der kreativsten Filme seiner Art!

Man möchte es Frischzellenkur nennen, doch eigentlich ist auch der neuste "Thor" Marvel-typischer alter Wein in neuen Schläuchen: Wer nach dem Kinobesuch versucht, die Handlung zu rekonstruieren, wird dabei die Formelhaftigkeit und Routine im Script erkennen. Und doch könnte das Resultat nicht frischer wirken. Schon in vergangenen Episoden hatte das Marvel-Team rund um Kevin Feige gut getan, ihre dröge werdenden Blockbuster jungen, engagierten Regisseuren in die Hand zu geben. James Gunn als Verantwortlicher für die "Guardians of the Galaxy" oder Scott Derrickson mit seinem "Doctor Strange" sorgten hierbei für goldiges Entertainment. Mit Waititi können sie aber beide nicht mithalten: Der Neuseeländer bringt schon in den ersten 7 Minuten eines der besten Openings der letzten Jahre in die Lichtspielhäuser. In einer surrealen Höhlenkulisse muss sich Thor dem Feuerriesen Surtur gegenüber behaupten und baumelt daran an einer Kette hängend von der Decke. Blöd nur, dass die sich immer dann wegdreht, wenn Surtur grade zur schurkischen Ansprache ansetzt. Slapstick trifft auf clevere Genreparodie. Als Thor sich befreien kann, und dann das erste Mal "Immigrant Song" erklingt, dürfte das Herz aller 80er Fans höher schlagen. Ganz offensichtlich bedient sich Waititi im Look und im Ton großzügig bei filmischen Vorbildern jener Zeit: "Krull", "Tron", "Flash Gordon", "Masters of the Universe" und das mal mehr, mal weniger offensichtlich. Das Surtur von "Highlander"-Schurke Clancy Brown vertont wird, ist da sogar nur mehr ein zusätzliches Bonbon.

Die Frischzellenkur erfolgt im ersten, schnell erzählten Drittel. In wenigen Minuten wird der Cliffhanger aus dem Vorgänger betont unspektakulär abgefrühstückt, Anthony Hopkins als Odin (dessen Besetzung allein für die prätentiöse theatralische Schwere der Thor-Filme steht) zu einem Cameo-Auftritt verdammt, und als endlich Cate Blanchett, rustikal gegen den Strich besetzt als Lack-und-Leder-Luder, auftaucht, macht sie erstmal Thors Hammer kaputt und schießt ihn auf einen kunterbunten Müll-Planet ins All. Mit einer schier endlos Anzahl an gelungenen Gags (Selfie mit Thor!) verknüpft Waititi spielerisch leicht eine Retro-Sci-Fi-Show ohne Widersprüche mit zeitgemäßen Effekten, führt die junge Action-Besetzung (Chris Hemsworth, Tom Hiddleston, Idris Elba) mit Altstars (Jeff Goldblum, Cate Blanchett) zusammen und verbindet eine popkulturelle Achterbahnfahrt rigoros mit den erwarteten Verknüpfungen mit anderen Filmen des Marvel-Universums. Während also einerseits Jeff Goldblum einem Nero Tribut zollt und Chris Hemsworth, sichtlich profitierend von der neuen humorigen Ader, mit Kurzhaarfrisur Heldenbilder vergangener Kino-Epochen persifliert, haben weitere Avenger ihre Auftritte. Benedict Cumberbatch gibt sich für einen kurzen Gag als Doctor Strange erneut die Ehre, ein anderer sorgt für das Highlight der Chose. Mark Ruffalo ist als Hulk zurück, und nach beiläufiger, aber eigentlich egaler Erklärung, wie der vom Ende von "Avengers: Age of Ultron" jetzt ins All zu "Thor" gelangt ist, gibts auf die Mütze: In einem Gladiatorenkampf müssen die beiden Arbeitskollegen sich fetzen, der Hulk (analog zum gleichnamigen Fußballer) von begeisterten Fans umjubelt. Modernes, traditionelles, bewährtes, innovatives; ein faszinierendes Konglomerat Massenunterhaltung, dass wahnwitzig Waititis Film in 5 Minuten zusammenfasst.

In all dem gibt es aber auch eine ernste Seite, denn Waititi vergisst seine Franchise-Zugehörigkeit nicht. Ironischerweise wirkt es fast, als nähme der dynamische Jungregisseur die nordische Mythologie sogar deutlich ernster, als seine weniger komödiantisch erzählenden Vorgänger. Dem im englischen titelgebenden Großereignis "Ragnarok" wird er visuell definitiv gerecht. Futuristische und anachronistische Elemente müssen immer dann weichen, wenn die Mythologie Luft zum atmen bekommt. Dann dürfen die Helden auch wieder archaisch sein, und dann wird es auch mal bedächtig und staunend im Saal, nicht zuletzt dank der überragenden Musik von Mark Mothersbaugh. Allerdings bleibt - passend zur Müllplanet-Kulisse - die Entrumpelung der Marvel-Mechanismen durchgehend präsent. Mit der Macho-Attitüde des Helden wird laufend gebrochen, da Tessa Thompson als versoffene Valkyire eh männlicher als ihre Co-Stars auftritt. Die rasanten Actiongewitter mit Raumschiffen sind mehr Arcade-Automat als "Star Wars". Und wenn es mal krawallig wird, dann stets so stümperhaft (man denke nur an den köstlichen Steinmenschen Korg), dass es postheroisch anmutet. Alles, was Waititi tut, ist den mythologischen Ansatz konsequent zu betonen - und dadurch umso deutlicher hervorzustellen, warum die Götterwelt Thors und Odins in einem Sci-Fi-Setting als Superheldenfilm verpackt großer Blödsinn ist. Und als klar wird, dass auch die Regie um diesen Quatschkram weiß, und ihn sogar offen zur Schau stellt, fühlt man sich als Zuschauer von Marvel so ernst genommen wie schon lange nicht mehr. Großes Tennis!

Fazit: Ein gutes hat der neue "Thor" sogar für Leute, die mit Comic, Comedy, Videospielen und Action gar nichts anfangen können. Man wird endlich wieder an einen guten Song-Klassiker erinnert. So wird auch der Marvel-faulste Zuschauer singend aus dem Kino wandern: "We'll drive our ships to new lands | To fight the horde, and sing and cry | Valhalla, I am coming!" So viel Spaß kann der Weltuntergang machen!

:liquid9:

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