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von LivingDead » 05.09.2021, 12:39
Klar, du hast vollkommen recht: Wir leben in einem absolut privilegierten Land mit Zugang zu modernster Medizin/Impfstoffen. Das ist unser großes individuelles Glück. Und eine Impfquote von >60% (und >80% bei Ü60) ist grundsätzlich auch gut und besser als nichts. Zudem ist es quasi das erste Mal in der Menschheit, dass gegen eine Pandemie angeimpft wird/werden kann. Dennoch tun sich eben wieder altbekannte Bilder auf: Privilegierte Staaten horten Impfstoffe, die ärmeren Länder bleiben außen vor. Hochentwickelte Länder wie unseres neigen zur Spaltung, da ein Pieks in den Arm mit Faschismus gleichgesetzt wird. Mir fehlt es an Solidarität. Und sicherlich trägt die krisenmüde Regierung dazu bei, dass dies nicht besser wird. Es scheint fast so, je besser es uns geht, umso lethargischer reagieren wir auf Dynamik bedürfende Situationen. Man konnte ja schon in der Vergangenheit sehen, dass hoch entwickelte Kulturen (technologisch/gesellschaftlich) urplötzlich zugrunde gingen. Je weiter sich eine Kultur entwickelt, umso schwerfälliger scheint sie zu werden.
Und das Coronavirus ist ja nun wahrlich kein Killervirus (da gab es in der Menschheitsgeschichte ganz andere Kaliber). Und dennoch zeigt es uns auf, wie fragil unser aktuelles Gesellschaftsgebilde ist. Yuval Noah Harari spricht ja von drei großen Herausforderungen, denen sich die Menschheit in naher Zukunft stellen muss: Klimawandel, Atomkrieg und technologische Brüche. Mir fehlt gerade die Vorstellungskraft, dass unsere aktuellen Strukturen diese zu bewältigen im Stande sind, in denen immer noch zu sehr in eng gefassten Kategorien gedacht wird und die Spaltung unvermeidliche Konsequenz ist. Pavel Meyer spricht davon, dass moderne und erfolgreiche politische Systeme „demokratische, sozialistische, liberale und kapitalistische Elemente, dazu gegentlich feudale und religiöse Überreste“ kombinieren und versuchen, das alles miteinander auszutarieren. Dies ist auch ein Grund, dass unser aller Verständnis von Demokratie mehr Mythos ist und wenig mit dem zu tun hat, wie es tatsächlich funktioniert. Mit Volksherrschaft hat es schon an dem Punkt nichts mehr zu tun, wenn Kapitalanhäufung zu mehr Machteinfluss führt (in dem Sinne ist sogar die Volksrepublik China demokratischer). Insofern zeigen die aktuellen Krisen immer mehr die Unzulänglichkeiten unserer politischen Systeme auf.
Ich will nicht zu weit ausholen, aber gerade der Afghanistan-Einsatz hat uns doch nochmal vor Augen geführt, dass sich politische und gesellschaftliche Systeme nicht einfach wie eine Schablone auf andere Länder kopieren lassen. Ein modernes politisches System ist ein komplexes, stetig gewachsenes Konstrukt aus Institutionen und Regeln, das eine hinreichend gebildete und ausgebildete Bevölkerung, einen gewissen Wohlstand, Stabilität und Sicherheit benötigt. Und das entwickelt sich nicht von Heute auf Morgen, sondern bedarf Jahrhunderte. Und es wäre auch völlig irrsinnig zu glauben, dass der demokratische Westen schon in der letzten Entwicklungsstufe angekommen ist. Und ich habe den Eindruck, dass dies vielen Menschen (gerade im eher „konservativen Lager“) zur Zeit vor Augen geführt wird, und einen Fluchtreflex ins verklärt Nostalgische auslöst.
Mit freundlichem Gruß
LivingDead