Als Sir Arthur Conan Doyle 1887 seinen ersten Sherlock Holmes-Roman "A Study in Scarlet" ("Eine Studie in Scharlachrot") veröffentlichte, ahnte er wohl nicht, dass er gerade den Grundstein für einen der größten Mythen, der sich sogar bis ins 21. Jahrhundert retten konnte, gelegt hatte. Über 100 Schauspieler haben bis heute die Rolle des Sherlock Holmes gespielt, darunter die beinahe ebenso legendären Jeremy Brett, Basil Rathbone oder in einer der neuesten Versionen Robert Downey Jr. Die Umsetzungen sind dabei so unterschiedlich, wie es überhaupt nur möglich wäre, doch die beiden ausführenden Produzenten Mark Gatiss und Steven Moffat kommen dieses Mal mit einer noch ungewöhnlicheren Idee daher, die dem ganzen eine neue interessante Komponente mitzugeben verspricht, denn die aktuelle BBC-Miniserie "Sherlock" wurde inhaltlich in die Gegenwart des heutigen Londons versetzt und damit um die Möglichkeit bereichert, sämtlichen angestaubten Details einer Generalüberholung zu unterziehen. Vorerst stellt sich dabei große Ernüchterung ein, verspricht das moderne und mit seinen Hochhäusern und Wolkenkratzern recht graue und kahle London nicht die Atmosphäre, die man aus den Kostümfilmen früherer Zeit gewohnt ist. Doch kann man nach "Ein Fall von Pink" lediglich feststellen, dass all das der Kultfigur zu keinem Zeitpunkt geschadet hat. Dabei ist das Herzstück des Filmes die gelungene und gewählt ausgesuchte Besetzung, allen voran der beispiellos agierende Benedict Cumberbatch. Man möchte behaupten, dass noch nie (die Guy-Ritchie-Filme außen vor) der brillante Meisterdetektiv jemals so lebendig und voller Energie auf einen gewirkt hätte, was alleine seinem sehr nuanciertem Spiel zu verdanken ist. Genau wie bei seinem Watson-Kollegen Martin Freeman ist deutlich der Spaß an der Sache, aber auch der Enthusiasmus spürbar, den sie beide offenkundig an den Tag gelegt haben. Doch richtig großartig sind die beiden erst im direkten Zusammenspiel, wenn sie in irrwitzigen Dialogen die Möglichkeit bekommen, sich den Ball zuzuspielen und sich beinahe gegenseitig zu Höchstleistungen anstacheln. Folglich hat man den Fokus auch voll auf diese beiden Charaktere gelegt und viele Szenen nur von ihrem Miteinander profitieren lassen. Inspektor Lestrade und Mycroft Holmes sind mit Rupert Graves und Mark Gatiss ebenfalls hervoragend besetzt, wobei bei letzterem auch noch der große Wurf gelingt, dem Publikum erst einzureden, es wäre Moriarty, den wir da vor uns haben. Wie dieser in späteren Filmen funktionieren wird, wird sich dann zeigen müssen, erstmal gelingt seine "Einführung" gut und wirft auf eine schöne Art und Weise bereits ein paar Fragen auf. Auch sonst funktioniert der Plot als Aufhänger für das Kennenlernen der beiden Protagonisten sehr schön und ist dabei nur selten vorhersehbar. In der finalen Konfrontation wird es dann sogar ungemein aufregend und ehrlich spannend, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt effekthascherisch zu wirken. Dieses Kunststück gelingt Regisseur Paul McGuigan auch bei all den kleinen Spielerein, die man einsetzt, um Holmes Gedankengänge zu visualisieren und vor allem bei den Anspielungen an die berühmten Originalwerke, die immer wieder geschickt eingeflochten werden. Neben der Frage ob "Rache" oder "Rachel" ("Studie im Scharlachrot") wäre da natürlich auch noch Watsons Bein/Schulterverletzung ("Das Zeichen der Vier") und das Drei-Pfaffen-Problem ("Die Liga der Rothaarigen"), das mal so eben in ein Drei-Pflaster-Problem umgetauft wird. Dieser selbstironische Umgang mit der Vorlage ist insofern wichtig, als das damit das Kunststück gelingt, den alten Fans ein paar Insider auf den Weg mitzugeben und man gleichzeitig trotzdem nicht allzu sehr davon eingenommen ist, um die neue Generation, für die man im Dialogbuch ein paar nicht minder geniale Wortgefechte bereithält, damit zu verschrecken.
Fazit: Ja, vielleicht ist man vom starken letzten Drittel des Filmes etwas zu euphorisiert und verzeiht daher etwas leichtfertig die Tatsache, dass anfänglich alles etwas zu konstruiert daherkommt, einige Entwicklungen zu schnell verlaufen und wichtige Details für den Fortgang der Handlung nur so nebenbei als Randnotiz erwähnt werden. Doch warum muss sowas denn immer zwanghaft auf die Goldwaage gelegt werden? "Ein Fall von Pink" ist eine faszinierende und längst überfällige Neuauflage einer der interessantesten Persönlichkeiten, die die britische Literatur je vorher gebracht hat und dabei gelingt ihr auch noch das Kunststück, der weltberühmten Vorlage selbst für die größten Experten noch weitere ungeahnte Facetten abzugewinnen und ihnen diese auf erfrischende Art zu präsentieren. Am wichtigsten wird auch für die folgenden Filme die Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellern und die gelungene Vermischung von altbewährten Traditionen und neuen Elementen sein, damit diese bislang einzigartige Kombination noch viele spannende Abenteuer bereithalten kann. Wenn das gewährleistet ist, kann man sich in späteren Folgen dann vielleicht auch noch etwas mehr Zeit nehmen, um Atmosphäre und nachvollziehbare Entwicklungen aufzubauen. Denn genau wie es Arthur Conan Doyle 1887 tat, ist der Grundstein für etwas viel größeres nun gelegt. Man darf gespannt sein, was daraus gemacht wird.
